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Full text of "Deutsche Wirtschaftsgeschichte, 1815-1914"

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Ec.H 


Deutsche 


Wirtschaftsgeschichte 


1815-1914 


Von 


.A^-^ 


A.  Sartorius  von  Waltershausen 


Zweite,  ergänzte  Auflage 


43547G 


Jena 


Verlag  von  Gustav  Fischer 

1923 


Alle  Rechte  vorbehalten 


<sy 


„Alle  Systeme,  durch  die  die  Parteien  sich  getrennt  und  gebunden  fühlen, 
kommen  für  mich  an  zweiter  Linie,  in  erster  Linie  kommt  für  mich  die  Nation, 
ihre  Stellung  nach  außen,  ihre  Selbständigkeit,  unsere  Organisation  in  der  Weise, 
daß  wir  als  große  Nation  in  der  Welt  frei  atmen  können." 

Fürst  von  Bismarck  1881. 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2010  witii  funding  from 

University  of  Ottawa 


littp://www.archive.org/details/deutschewirtschaOOsart 


Inhalts- Verzeichnis. 

Seite 
Die  wissenschaftliche  Aufgabe i 

Erster  Abschnitt. 
Einleitung:  Übersicht  über  das  deutsche  Wirtschaftsleben  nach  den 

Befreiungskriegen. 

I.  Politische  Zustände.  Enttäuschung  des  Liberalismus  nach  der  nationalen 
Befreiung.  —  Der  Deutsche  Bund.  —  Keine  einheitliche  deutsche  Volks- 
wirtschaft.   —     Aufgaben     der    Einzelstaaten.    —    Partikularismus     und     grolS- 

staatliches  Ideal 4 

II.  Die  Landwirtschaft.  Agrarstaat  und  Eigenwirtschaft.  —  Stadt  und  Land.  — 
Betriebssysteme.  —  Veraltete  Technik  in  der  Landwirtschaft.  —  Umformung 
der  sozialrechtlichen  Verfassung.  —  Verteilung  des  ländlichen  Eigentums   ...  6 

III.  Handwerk,  Hausindustrie,  Fabrik.  Vergrößerung  einzelner  Wirtschafts- 
gebiete. —  Preußen  nach  1806.  —  Heimische  Rohstoffe.  —  Standort  der  Ge- 
werbe. —  Handwerk  als  Grundlage  der  gewerblichen  Produktion.  —  Haus- 
industrie in  der  Stadt  und  auf  dem  Lande.  —  Entstehung  der  Fabriken.  — 
Staatliche  Aufsicht  und  Konzession.  —  Gewerbefreiheit.  —  Liberale  National- 
ökonemie 14 

IV.  Transportverkehr  und  Handel.  Reisen  und  Personenverkehr  am  Anfang 
des  19.  Jahrhunderts.  —  Landstraßen.  —  Gütertransport.  —  Binnenwasserstraßen.  — 
Stapelrechte.  —  Briefpost.  —  Großhandel.  —  Flößerei.  —  Handel  mit  dem  Aus- 
land. —  Messen.  —  Wechsel  und  Effekten.  Kleinhandel.  —  Geld-  und  Münz- 
wesen            22 

Literatur  zum  ersten  Abschnitt      3° 

Zweiter  Abschnitt. 
Die  Zeit  von   I815  — 1833. 

I.     Allgemeines.     Langsame  wirtschaftliche  Erholung  nach   den  Kriegen.  —  Die 

Epigonen.    —    Die    Romantik.    —  A.  Müller.    —    Preußens    Zweiteilung    ...       31 
II.     Übervölkerung  und  Auswanderung.    Volkszahl.  —  Hungersnot  1816/17.  — 

Auswanderung   nach  Nordamerika   und  Rußland.  —  Stand    der  Lebenserhaltung       34 

III.  Die  Agrarkrise.  Ursachen  und  Ausdehnung  der  Agrarkrise  der  zwanziger 
Jahre.  —  Staatliches  Eingreifen  und  Rückwirkung  auf   die  Städte.  —  Vergleich 

mit  der  Krise  seit  den  siebziger  Jahren 38 

IV.  Deutschland  und  das  Ausland.  Der  Deutsche  Bund.  —  Die  Kontinental- 
sperre Napoleons  und  ihre  Folgen.  —  Überlegenheit  der  englischen  Industrie.  — 
Überflutung  mit  englischen  Waren.  —  Das  preußische  Zollgesetz  von  1818.  — 
Ergebuisse  der  preußischen  Zollpolitik      41 


"yj  Inhalts- Verzeichnis. 


Seite 
V.     Staatsschulden   und  Bankiergewerbe.     Kriegsverschuldung.   —  Neue  An- 
leihen.   —    Die    Privatbankiers.    —    Frankfurt    als    Börsenplatz.    —    Das    Haus 

Rothschild.  —  Agiotage 54 

VI.  Die  Gründung  des  Deutschen  Zollvereins.  Der  Zollverein  als  Vorstufe 
der  deutschen  Einheit.  —  Finanzlage  der  Einzelstaaten  und  Notwendigkeit  der 
Zolleinnahme.  —  Nachteile  des  bestehenden  kiemstaatlichen  Zollwesens.  — 
Wirtschaftliche  Aussichten  des  vergrößerten  Wirtschaftsgebietes.  —  Fr.  List  und 
K.  F.  Nebenius.  —  Zollanschlüsse.  —  Preußisch-hessischer  Vertrag.  —  Organi- 
sation des  Vereins.   —   Um  den  Verein  verdiente  Männer 58 

Literatur  zum  zweiten  Abschnitt 7° 

Dritter  Abschnitt. 
Die  Zeit  von   1833  — 1848. 

I.  Einführung.  Beginnender  volkswirtschaftlicher  Aufschwung.  —  Die  Juli- 
revolution. —  Hegeische  Staats-  und  Geschichtsphilosophie.  —  Der  Zinsfuß  und 
seine    Wandelungen.    —    Beginn    technischer    Neuerungen    in    der    Industrie.    — 

W.  Siemens 72 

II.  Die  Fortbildung  des  Zollvereins.  Die  Industrie.  Der  Steuerverein.  — 
Das  Königreich  Hannover.  —  Braunschweig.  —  Luxemburg.  —  Handelsverträge 
mit  Holland,  England,  Belgien.  —  Erste  Krise  des  Zollvereins.  —  Halb-  und 
Ganzfabrikate.  —  Freihandel  und  Schutzzoll.  —  Eisenzollfrage.  —  Garnzölle.  — 
Deutsche  Theoretiker.  —  ,,Das  nationale  System  der  politischen  Ökonomie."  — 
Fortschritte  im  Zollverein.  —  Das  rückständige  Leinewandgevverbe.  —  Baumwoll- 
industrie. —  Seide.  —  Wolle.  — -  Leder.  —  Papier.  —  Tabak.  —  Spielwaren.  — 
Bergbau.  —  Eisen  und  Stahl.  —  Friedrich  und  Alfred  Krupp 77 

III.  Landstraßen,  Eisenbahnen,  Schiffahrt.  Staatliche  und  kommunale 
Chausseen.  —  Gebühren.  —  Opposition  gegen  Eisenbahnen.  —  Eisenbahnen 
und  deutsche  Einheit.  —  Planlosigkeit  des  ersten  Bahnbaues.  —  Langsame 
Besserung.  —  Zunehmender  deutscher  Export.  —  Industrien,  die  sich  an  den 
Bahnbau  anlehnen.  —  Berlins  Gewerbegeschichte.  —  Privalbahnen  und  Staats- 
bahnen. —  Binnenschiffahrt.  —  Schiffahrtsakten.  —  Konkurrenz  zwischen  Schiff 
und  Bahn.  —  Seeschiffe  auf  der  Ostsee.  —  Bremen  und  Hamburg.  —  England 
und  die  Hansestädte.  —  Handel  und  Auswanderung.  —  Rechtsform  der  See- 
rhederei.   —  Ausfuhrhandel  und  Auslandsdeutsche 94 

IV.  Die  Fortschritte  der  Landwirtschaft.  A.  Thaer.  —  J.  H.  v.  Thünen.  — 
Abänderung  der  Dreifelderwirtschaft.  —  Übersicht  über  deutsche  Länder  und 
Provinzen.  —  Die  Zuckerrübe.  —  Agrar-soziale  Zustände.  —  Gutsbesitzer.  — 
Bauern.  —  Flureinteilung.  —  Zusammenlegung  der  Grundstücke.  —  Teilung  der 

Gemeinheiten.  —  Ländliche  Lohnarbeiter      116 

Literatur  zum  dritten  Abschnitt 132 

Vierter  Abschnitt. 
Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848 — 187 1. 

I.     Vorbemerkung.  Erster  Schritt  zum  Industriestaat.  —  Englands  Überlegenheit.  — 

Reichtumszunahme  und  künstlerische  Kultur 135 

II.  Die  Revolution  von  1848/49,  Handwerker  und  Lohnarbeiter.  Bürger- 
lich-demokratische  Bewegung.    —    Teuerung    von    1848.    —    Agrar-    und    Steuer- 


Inhalts- Verzeichnis.  VII 


Seite 
politische  Folgen  der  Revolution.  —  Die  Handwerker  seit  1815.  —  Handwerker- 
parlament. —  Karl  Mario.  —  Gesellenbewegung.  —  Umgestaltung  der  preu- 
ßischen Gewerbeordnung.  —  Ungünstige  Lage  des  Handwerks.  —  Erstes  Ent- 
stehen der  industriellen  Lohnarbeiterkiasse.  —  Französischer  Sozialismus  und 
W.  Weitling.  —  Arbeiterkongreß  Borns  in  Berlin.  —  Kommunistenverband.  — 
K.  Marx.  —  Fr.  Engels.   —  Kölner  Arbeiterbewegung 139 

III.  DieKrise  des  deutschen  Zollvereins  und  der  deutsch-österreichische 
Handelsvertrag  von  1851.  Deutsch-österreichischer  Zollvereinsgedanke.  — 
Aufnahme  des  Steuervereins  in  den  Zollverein.  —  Februarvertrag  1851.  —  Un- 
günstige Ergebnisse  desselben.  —  Wirtschaftliche  Möglichkeit  der  Zollunion  um  1850     152 

IV.  Die  Fortschritte  der  landwirtschaftlichen  und  industriellen  Güter- 
erzeugung. Goldgewinnung  in  Kalifornien  und  Australien.  —  Rückwirkung  auf 
Europa.  —  Steigende  Preise  landwirtschaftlicher  Produkte.  —  Getreideausfuhr.  — 
J.  Liebig.  —  Rodbertus  Jagetzow.  —  Immobiliarkredit.  —  Hypotheken-Aktien- 
Banken.  — •  Steinkohlen.  —  Erze.  —  Roheisen.  —  Halb-  und  Ganzfabrikate  aus 
Stahl  und  Eisen.  —  Textilindustrien.  —  Andere  Industrien.  —  Pariser  Welt- 
ausstellung  1867.  —  Weiterentwicklung  Berlins      156 

V.  Das  Geld-  und  Bankwesen.  Dresdener  Beschlüsse  von  1838.  —  Landes- 
währungen. —  Münzvertrag  von  1857.  —  Diskont-  und  Lombardgeschäft.  — 
Papiergeld.  —  Geschichte  der  Notenbanken.  —  Die  preußische  Bank.  —  Noten- 
liberalismus         180 

VI.  Die  Wirtschaftskrise  von  1857.  Beginn  des  volkswirtschaftlichen  Auf- 
schwunges. —  Kapitalismus.  —  Aktiengesellschaften.  —  Effektenbanken.  —  Der 
Telegraph.  —  Börsengeschäfte.  —  Konjunkturumschlag  von  1857.  —  Spätere 
Krisen  in  Deutschland.  —  Technische  Neuerungen  in  der  Industrie.  —  Erfolg- 
reiche Erfinder 187 

VII.  Arbeiterfrage  und  Sozialdemokratie.  Unsichere  und  schlechte  Lage  der 
Lohnarbeiter.  —  Neues  Unternehmertum  in  der  Großindustrie.  —  F.  Lassalle.  — 
Allgemeiner  Deutscher  Arbeiterverein.   —  Gewerkschaften.   —  Das  „Kapital"  von 

Marx.  —  Das  Gothaer  Programm 198 

VIII.  Die  Freihandelsära  des  Zollvereins.  Statistik  des  Zollvereins.  —  Eng- 
lischer Freihandel.  —  Stellung  der  Parteien  nnd  Eiwerbsgruppen  zur  Handels- 
politik. —  Volkswirtschaftliche  Kongresse.  —  Schulze-Delitzsch  und  die  freien 
Genossenschaften.  —  Cobdenvertrag.  —  Preußisch-französischer  Handelsvertrag.  -■ 

Bismarck  Ministerpräsident.  —  Auswanderung  von    1830 — 1870        208 

IX.  Der  Norddeutsche  Bund.  Kompetenz  des  Bundes  in  wirtschaftlichen 
Dingen.  —  Umgestaltung  des  Zollvereins.  —  Liberale  Handelspolitik  und  Steiier- 
bewilligung.  —  Handelsverträge,  Generalisierung  des  Tarifs.  —  Freizügigkeit,  — 
Notgewerbegesetz.  —  Gewerbeordnung  von  1867.  —  Streiks.  —  Allgemeines 
Stimmrecht.  —  Verschiedene  Wirtschaftsgesetze.  —  Maß-  und  Gewichtsordnung.  — 

Postwesen  und  Einheitstarif.  —  Rückblick       223 

Literatur  zum  vierten  Abschnitt 234 

Fünfter  Abschnitt. 
Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen    Reichs   187 1  —  i8go. 

I.    Vorbemerkung.      Einfluß   der   Reichsgründung  auf   das   Wirtschaftsleben.    — 

Preußen  als  politischer  Schwerpunkt.  —  Kulturelle  Zustände  nach    187 1     .    .    .      237 
IL    Der    Frankfurter    Friede.      Lothringen    und    seine   Eingliederung  in 
das    deutsche    Wirtschaftsleben.       §   11     des    Frankfurter    Friedens.     — 


VIII  Inhalts- Verzeichnis. 


Seite 
Bevölkerungsbewegung    in    Elsaß- Lothringen.    —    Baumwollindustrie    des    Ober- 
elsaß.    —     Lothringische    Eisenindustrie.     —     Kleinere    Industrien.     —     Land- 
wirtschaft.   —    Weinbau.    —    Wald.    —    Verkehrswesen.  —  Straßburg.  —  Ver- 
fehlte staatsrechtliche  Stellung  des  Reichslandes 243 

III.  Die  Reichsgesetze  über  das  Geld-  und  Bankwesen.  Vorbereitung  der 
Goldwährung.  —  Reichsgesetze  von  187 1  und  1873  und  ihre  Durchführung.  — 
Vielartigkeit  der  Notenbanken.  —  Reichsbankgesetzgebung  und  ihre  Resultate.  — 
Urheberrecht 261 

IV.  Hochkonjunktur,  Gründungsschwindel  und  Wirtschaftskrise 
1871  —  73.  Konjunkturbewegung  der  sechziger  Jahre.  —  Gotthardlinie.  —  Suez- 
kanal. —  Französische  Kriegsentschädigung  mit  5  Milliarden.  —  Aktienrecht.  — 
Internationaler  Aufschwung.  —  Gründungsmanie.  —  Strousbergbahnen,  —  General- 
enterprise. —  Neue  Banken.  —  Gründungen  und  Börsenschwindel.  —  Die  Krise 
von  1873.  —  Depression.  —  Deutsche  Ware  auf  der  Weltausstellung  zu  Phila- 
delphia. —  Tiefpunkt  des  Niederganges.  —  Antisemitische  Bewegimg.  — 
Dachauerbanken.  —   Wirtschaftliches  über  Berlin  nach   1870 271 

V.  Die  Verstaatlichung  der  Eisenbahnen.  Staats-  und  Privatbahnen.  — 
Tarifchaos.  —  Das  Reichseisenbahnamt.  —  Bismarcks  Reichseisenbahngedanke.  — 
Ablehnung  desselben-  —  Verstaatlichung  der  preußischen  Privatbahnen.  —  Ver- 
einheitlichung des  deutschen  Verkehrswesens  unter  dem  Staatsbahnsystem    .    .    .      294 

VI.  Die  Handels-  und  Finanzpolitik  des  Fürsten  von  Bismarck.  Ausbau 
des  Reichs  im  Innern.  —  Passiver  Freihandel  in  Deutschland.  —  Beseitigung 
der  Eisenzölle.  —  Rücktritt  Delbrücks.  —  Massenpetition  zur  Aufrechterhaltung 
der  Eisenzölle.  —  Interpellation  E.  Richters  wegen  russischer  Goldzölle.  — 
Abwehrmaßregel  gegen  französische  Exportprämien,  —  Antrag  Varnbüler.  — 
Bismarcks  Pläne  von  1878.  —  Finanzreform.  —  Gesamtauffassung  des  Reichs- 
kanzlers. —  Vergleich  mit  H.  Ch.  Careys  System.  —  Zolltarif  von  1879.  — 
Nationale  Handelspolitik.  —  Zentralverband  deutscher  Industrieller.  —  Tech- 
nische Umgestaltung  der  Eisenindustrie.  —  Internationale  Getreidekonkurrenz.  — 
Steuer-  und  Wirtschaftsreformer.  —  Ergebnisse  und  Weiterbildung  der  Zoll- 
reform. —  Handelspolitischer  Streit  mit  Rußland.  —  Einschluß  von  Hamburg 
und  Bremen  in  die  deutsche  Zollininie 303 

VIT.  Die  Reichssozialpolitik.  Hetz-  und  Wühlarbeit  der  Sozialdemokratie.  — 
Das  Sozialistengesetz  und  seine  Wirkungen.  —  Gewerkschaften.  —  Geheim- 
organisation und  Presse  der  Sozialdemokratie.  —  Mißlungenes  staatliches  Vor- 
gehen. —  Die  historische  Schule  der  Nationalökonomie.  —  Verein  für  Sozial- 
politik. —  Sozialpolitik  der  Parteien  und  der  Kirche.  —  Bismarcks  Eingreifen 
mittels  der  Gesetzgebung.  —  Kassenzwang  und  Zwangskassen.  —  Kranken- 
kassen. -  -  Unfallversicherung.  —  Alters-  und  Invalidenversicherung.  —  Reichs- 
versicherungsordnung. —  Ergebnisse  des  Versicherungszwanges 327 

VIII.  Die  deutsche  Kolonialpolik.  Übervölkerung  und  Auswanderung.  — 
Koloniale  Vorkämpfer.  —  Bismarcks  Mäßigung.  —  Geschichte  der  Erwerb- 
ungen. —  Südwestafrika.  —  Ostafrika.  —  Kamerun.  —  Togo.  —  Neu-Guinea.  — 
Kiautschou.    —    Verwaltung    der    Kolonien.    —    Arbeiterfrage.    —    Wert    der 

Kolonien  für  Deutschland      35^ 

Literatur  zum  fünften  Abschnitt 373 


Inhnlts- Verzeichnis.  IX. 


Seite 

Sechster  Abschnitt. 
Die  Zeit  von  1890 — 1914. 

I.  Einleitung.  Das  ökonomische  Zeitalter.  Bürgerliches  Gesetzbuch.  — 
Entlassung  des  Fürsten  von  Bismarck.  —  Auswärtige  und  inneie  Politik.  — 
Anschwellen  des  Erwerbswillens  und  Zunahme  des  Reichtums.  —  Die  geistige 
Kultur,  Schule,  Universitäten.  —  Die  Kunst.  —  Die  Naturwissenschaft.  — 
Die  Nationalökonomie.  —  Änderung  der  Lebenshaltung.  —  Demokratisierung 
der  Bedürfnisse.  —  Wohlleben  und  Luxus.  —  Neue  Technik.  —  Eroberung 
der  Luft.  —  Die  Reichshauptstadt 378 

IL  Der  neue  Kurs.  Kaiser  Wilhelm  II.  und  die  Ai beiterfrage.  —  Interrationaler 
Arbeiterschutz.  —  Aufhebung  des  Sozialistengesetzes.  —  Erfurter  Programm.  — 
Umschlag  der  äußeren  Handelspolitik.  —  Die  neuen  Handelsverträge  mit  Tarif- 
bindung       402 

III.  Die  Handelspolitik  und  Deutschlands  Stellung  in  der  Welt- 
wirtschaft. Allgemeine  Konjunktur  des  Wirtschaftslebens  von  1892 — 1914.  — 
Die  deutsche  Landwirtschaft  unter  den  Caprivlschen  Verträgen.  —  Bund  der 
Landwirte.  —  Neuer  Zolltarif  von  1902.  —  Neue  Handelsverträge.  —  Meist- 
begünsligungsverträge.  —  Deutschland  im  Verkehr  mit  Österreich-Ungarn.  — 
Belgien.  —  Den  Niederlanden.  —  Italien.  —  Der  Schweiz.  —  Frankreich.  — 
Großbritannien  mit  seinen  Kolonien.  —  Den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika.  — 
Südamerika.  —  Nordischen  Staaten.  —  Nahem  und  fernem  Orient.  —  Kapital- 
anlage im  Ausland.  —  Auswanderung.  —  Auslandsdeutsche.  —  Einwanderung.  — 
Weltwirtschaf  tspolitk.  —  Imperialismus 411 

IV.  Die  Landwirtschaft.  Technische  Fortschritte.  —  Intensivere  Betriebs- 
führung. —  Spiritusbrennerei.  —  Zuckerrübenbau.  —  Viehhaltung.  —  Genossen- 
schaftswesen. —  Landwirtschaftlicher  Unterricht.  —  Landwirtschaftliche  Ver- 
eine. —  Eigentumsverteilung.  —  Landfideikommisse.  —  Anerbenrecht.  — 
Stammgüter.  —  Pachtsystem.  —  Die  Arbeiterfrage  auf  dem  Lande.  —  Innere 
Kolonisation.   —  Polenfrage 449 

V.  Die  Industrie.  Industrie-  und  Agrarstaat.  —  Hauptzentren  der  Industrie.  — 
Halb-  und  Fertigindustrie.  —  Industrielle  Gruppen.  —  Hausindustrie.  —  Hand- 
werk. —  Mittelstandsbewegung.  —  Zwangsinnungen.  —  Befähigungsnachweis.  — 
Großbetrieb.  —  Frauenarbeit.  —  Produktionsfortschritte.  —  Kombinierte 
Werke.  —  Krupp-Essen.  —  Kartelle  und  Syndikate.  —  Gegen  die  Arbeiter 
gerichtete  Untemehmerverbände,  —  Arbeitsnachweis.  —  Industriearbeiterschaft,  — 
Abgekürzte  Arbeitszeit.  —  Lohnerhöhungen.  —  Gewerkschaften.  —  Sparkassen.  — 

Soziale  und  individuelle  Auslese.  —  Demokratie 486 

VI.  Handel,  Bankwesen,  Transport.  Berufszählung.  —  Großhandel.  —  Waren-, 
Kauf-  und  Versandhäuser.  —  Konsumvereine.  —  Handlungsgehilfen.  —  Ein- 
und  Ausfuhrhandel.  —  Agenten,  Kommissionäre.  —  Produktenbörse.  —  Effekten- 
börse. —  Reichsbörsengesetz.  —  Emissionsgeschäft.  —  Terminhandel.  —  Deutsche 
Kreditbanken.  —  Depotgesetz.  —  Liquidität,  Zwischenbilanzen.  —  Bankkonzen- 
tration. —  Privatbankier.  —  Banken  und  Industrie.  —  Hypothekenbanken.  — 
Banken  und  Auslandsgeschäft.  —  Banken  und  Börsengeschäft.  —  Technische  Fort- 
schritte im  Eisenbahnwesen.  —  Kleinbahnen.  —  Kraftfahrzeuge.  —  Künstliche 
Wasserstraßen.  —  Binnenschiffahrt.  —  Deutsches  Wasserstraßennetz.  —  Staats- 
verwaltung. —  Seeschiffahrtsstatistik.  —  Ostseeschiffahrt.  —  Neuzeitliche  Technik.  — 
Passagierdampfer.  —  Die  Rhederei  als  Privatbetrieb.  —  Gefahr  der  Entnationali- 
sierung. —  Deutsche  Schiffsbaupolitik.  —  Fortschritte  des  Postverkehrs.  —  Post- 
scheck. —  Seekabel  und  drahtlose  Telegraphie.  —  Geschichte  der  Preise.  —  Preis- 
steigerung seit  1895  und  deren  sozialwirtschaftliche  und  weltwirtschaftliche  Ursachen     532 


X  Inhalts-Verzeichnis. 


Seite 
VII.  Schlußbetrachtung  zu  1890  — 1914.  Ergänzungen.  Allgemeine  Rück- 
blicke. Bevölkerungszunahme.  —  Statistik  der  Eheschließungen  und  Geburten.  — 
Die  Motive  der  abnehmenden  Geburtenziffer.  —  Rückgang  der  Sterblichkeit.  — 
Bevölkerungspolitik.  —  Großstädte.  —  Städtische  Konzentration.  —  Typus  des 
Großstädters.  —  Gemeindeausgaben  und  einnahmen.  —  Städtischer  Boden- 
schutz. —  Wohnungsnot.  —  Stadtausbau.  —  Cilybildung.  —  Bodenreformer.  — 
Unverdienter  Wertzuwachs.  —  Reichsfinanzen.  —  Steuerknauserei.  —  Finanz 
reformen.  —  Zunehmende  Schuld  des  Reiches.  —  Kritik  der  Ausgabewirtschaft.  — 
Matrikularbeiträge  und  Überweisungen.  —  Hochkonjunktur  und  Krisen.  —  Be- 
wegung des  Zinsfußes.  —  Schätzungen  des  Volksvermögens  und  Volksein- 
kommens. —  Theorie  der  Einkommensverteilung.  —  Verteilung  der  industriellen 
und  agraren  Macht.  —  Wirtschaftsorganische  Entwicklung  und  ihre  Hemmun- 
gen.  —  Tradition  der  produktiven  Kräfte 593 

Literatur  zum  sechsten  Abschnitt      '    .     .    .      632 


Die  wissenschaftliche  Aufgabe. 

Die  hundertjährige  Ausbildung  des  wirtschaftlichen  Lebens  seit 
1815  auf  dem  Gebiete  des  1871  gegründeten  deutschen  Reichs  zu 
einer  in  sich  arbeitsteilig  gegliederten,  verkehrsmäßig  verbundenen, 
staatlich  geschlossenen  und  politisch  geführten  Einheit  zu  schildern, 
ist  die  Aufgabe  der  nachfolgenden  Darstellung.  Die  Ergebnisse  dieser 
Vorgänge  sind  in  der  steigenden  Leistungsfähigkeit  der  Gütererzeugung 
und  der  reichlicheren  und  vielseitigeren  Bedürfnisbefriedigung  die 
größten.  Aber  es  mußte  mit  ihnen  manches  in  Kauf  genommen 
werden:  die  Störung  des  kunstvoll  aufgebauten  Werkes  durch  Ereig- 
nisse vom  Ausland  her  oder  durch  die  innere  nicht  wirtschaftliche 
Politik,  während  ehedem  die  selbständigen  örtlichen  oder  individuellen  1 
eigenwirtschaftenden  Kräfte  solche  Anstöße  parierten  oder  nur  be- 
schränkt sich  fortzupflanzen  gestatteten;  das  Aufsaugen  der  vielen 
kleinen  beruflichen  Mittelpunkte  durch  immer  wenigere  große  mit  weit- 
greifender Speiche;  die  andauernde  Umschichtung  des  Reichtums  der 
Einzelnen,  der  Berufsgruppen,  der  Landesteile;  die  Zusammenballung 
wirtschaftlich  sozialer  Klassen  zu  Gegensätzen  durch  das  ganze  Volk; 
die  Abhängigkeit  der  Einzelpersonen  bei  Erzeugung  und  Verbrauch 
als  winziger  Teile  des  Gesamtbetriebes  von  diesem  Ganzen  und  die 
Abhängigkeit  dieses  Ganzen  von  der  ausländischen  Zufuhr. 

Die  Vorgänge  sollen  im  Fluß  der  Geschichte  verdeutlicht 
werden.  Sie  erschöpfen  sich  daher  nicht  in  einer  Aneinanderreihung 
von  abstrakten  Zustandsbildern.  Sie  verlangen  eine  Mitteilung  von 
Neu-  und  Umformungen,  über  deren  bewegende  Kraft  Rechenschaft 
zu  geben  ist,  von  erfolgreicher  und  erfolgloser  Wirtschaftspolitik,  von 
sozialen  und  nationalen  Taten,  die  auch  wirtschaftlichen  Ausgang  gehabt 
haben,  von  Persönlichkeiten,  mögen  sie  für  die  öffentlich  rechtliche 
Ordnung  und  die  privatwirtschaftliche  Technik  oder  für  die  national- 
ökonomische Wissenschaft  Fruchtbares  gebracht  haben. 

Die  Anschauung,  die  sich  die  neuzeitliche  Volkswirtschaft  derart 
denkt,  daß  die  Erfindungen  der  Gütererzeugung  und  des  Verkehrs,  die 
von  dem  Erwerbstrieb  der  Einzelnen  ergriffen  werden,  alles,  ins- 
besondere die  Änderung  der  Betriebsweisen,  der  gesellschaftlichen 
Schichtung,  der  wirtschaftspolitischen  Verwaltung  erklären,  wird  somit, 
ohne  im  einzelnen  unterschätzt  zu  werden,  als  einseitig  abgelehnt. 
Unserer    Anschauung    nach    sind    Staat    und  Nation    die    wichtigsten 

A.  Sartorius  v.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.  1 


Die  Wissenschaftliche  Aufgabe. 


Faktoren  in  der  Geschichte,  wenn  man  diese  als  ein  Ganzes  eines 
Landes  nimmt.  Diesem  Vorrang  kann  sich  die  Wirtschaftsgeschichte 
niemals  entziehen,  da  Sicherheit,  Stetigkeit  und  Ordnung  die  unbedingten 
Voraussetzungen  jeder  Produktion  und  jedes  Verkehrs  sind.  Die  Grund- 
lagen des  deutschen  Staatswesens  waren  in  den  größeren  Einzelstaaten 
des  i8.  Jahrhunderts  schon  geschaffen  worden,  ehe  man  von  der 
Dampfmaschine  und  der  Nutzbarmachung  der  Elektrizität  etwas  wußte, 
und  hatten  sich  als  selbständige  Kräfte  ihren  Weg  vorgeschrieben,  den 
die  Überlieferung  als  gangbaren  anerkannte.  Der  Staat  Friedrich 
Wilhelms  I.  und  Friedrichs  des  Großen  war,  wie  der  in  Bayern  und 
Sachsen  und,  selbst  diesem  Beispiele  nachgehend,  in  einigen  kleineren 
Ländern,  mit  der  Wirtschaft  aller  Untertanen  eng  verwachsen,  und  das 
berufsmäßig  ausgebildete  Beamtentum  und  das  verläßliche,  diszipli- 
nierende Offizierkorps  stammt  aus  dieser  Zeit.  Das  Vertrauen  des 
Volkes  zu  dem  Person  und  Eigentum  schützenden  Staat,  zur  Führung 
von  oben,  die  Pflichterfüllung  der  Regierungen  gegen  die  Gesamtheit 
durchziehen  die  Wirtschaftsgeschichte  des  19.  Jahrhunderts  und  heben 
das  Bild  der  deutschen  von  der  englischen  oder  französischen  Volks- 
wirtschaft in  mancher  Hinsicht  ab.  Doch  liegt  es  auch  in  dem  anthropo- 
logisch Vorhandenen  und  dem  geschichtlichen  Kulturergebnis,  daß  die 
Nation  anders  fühlte,  dachte  und  wollte  als  ihre  Nachbarn.  Wenn 
daraus  der  Drang  erwuchs,  sich  zu  einem  Ganzen  zusammenzuschließen, 
gegenüber  anderen  Völkern  unabhängig  zu  sein,  auf  der  Erde  mit- 
sprechen zu  können,  so  mußte  dies  auch  in  der  Gestaltung  der  Volks- 
wirtschaft und  deren  Auftreten  in  der  Weltwirtschaft  sichtbar  werden. 
Der  Wille,  als  Staat  und  Nation  zu  leben,  hat  ebenso  die  Technik  und 
die  Ökonomik  in  seinen  Dienst  gestellt,  wie  beide  in  ihren  Erfolgen 
das  Bewußtsein  der  politischen  Leistungskraft  gehoben  haben. 

Die  Einteilung  der  zu  schildernden  wirtschaftsgeschichtlichen 
Wandlungen  und  Ereignisse  in  Zeitabschnitte  ist  durch  das  eigentüm- 
liche Zusammentreffen  politischer  und  wirtschaftlicher  Tatsachen  fest 
gegeben.  Die  beiden  für  die  nationale  Einheit  entscheidenden,  die 
Gründung  des  Zollvereins  1833  und  die  des  Deutschen  Reiches  187 1, 
gliedern  den  ganzen  Stoff  in  drei  Perioden.  Zwei  Jahre  nach  der  Zoil- 
einigung  wird  die  erste  Eisenbahn  gebaut,  mit  deren  Nachfolgern  der 
alte  örtliche  Handel  und  Wandel  in  die  Fern  Wirtschaft  übergeführt 
wird.  Zwei  Jahre  hatte  das  Reich  bestanden,  als  die  größte  Wirt- 
schaftskrise des  Jahrhunderts  einsetzte,  die  den  20jährigen,  voraus- 
gehenden, raschen  Aufschwung  von  einer  ebensolangen  Stockung  oder 
jedenfalls  viel  langsameren  Fortbewegung  abtrennte.  An  die  politischen 
Jahre  von  1848  und  1849  schlössen  sich  die  erste  große  Hochkonjunktur 
und  die  Überspekulation  an,  die  Deutschland  erlebt  hat,  und  die 
Epoche  vom  Anfang  der  neunziger  Jahre  bis  zum  Ausbruch  des  Welt- 


Literatur.  7 

krieges  19 14,  die  die  glänzendste  ökonomische  Kraftentfaltung  gebracht 
hat,  fällt  mit  der  Regierungszeit  Kaiser  Wilhelms  II.  zusammen,  die 
von  anderen  politischen  Ideen  beherrscht  wird  als  das  Bismarcksche 
Zeitalter.  So  erscheint  auch  in  jeder  Unterabteilung  das  Zwillings- 
paar von  Wirtschaft  und  Politik. 

Wenn  Geschichte  schreiben  heißt,  das  gegenseitige  Sicherfassen 
aller  offensichtlichen  Tatsachen  und  der  im  Stillen  wirkenden  Kräfte 
zu  einem  Ganzen  nach  eigener  Persönlichkeit  verstehen  zu  wollen,  so 
ist  für  die  nachfolgende  Ausführung  die  Richtschnur  gegeben.  Mehr 
als  Umrisse  in  einem  Bande,  der  nicht  mehr  als  ein  bisher  fehlendes, 
über  die  Veränderungen  des  deutschen  Wirtschaftslebens  in  dem  an- 
gegebenen Sinne  orientierendes  Lesebuch  für  Studierende  und  andere 
an  der  Nationalökonomie  Interessierte  sein  will,  geboten  zu  haben,  wird 
niemand  verlangen  wollen,  der  je  einen  Einblick  in  das  gewaltige 
Material  getan  hat,  dem  der  Forscher  des  ig.  Jahrhunderts  gegenüber- 
steht. Wird  hier  und  da  unternommen,  der  Skizze  einen  Anflug  von 
Kolorit  zu  verleihen,  das  aus  Betrachtungen,  Beispielen,  Einzelausführungen 
gewonnen  wird,  so  können  diese  Ausführungen  keinen  anderen  Inhalt 
haben,  als  die  wissenschaftlichen  Erfahrungen,  besonderen  Studien  und 
politischen  Überzeugungen,  die  der  Verfasser  nach  seiner  40jährigen 
Forschungs-  und  Lehrtätigkeit  sein  eigen  nannte. 

Es  gibt  verschiedene  im  Literaturanhang  genannte  Werke  über 
das  deutsche  Wirtschaftsleben  der  verflossenen  hundert  Jahre.  Sie  sind 
als  abstrakte  „Entwicklungen"  wirtschaftlicher  Zustände  ausgeführt. 
Sozialökonomischen  Umwandlungen  und  Differenzierungen  ist  auch  in 
diesem  Buch  ein  erheblicher  Platz  eingeräumt,  aber  sie  sind  im  Gegen- 
satz zu  anderen  Darstellungen  im  Verlauf  der  konkreten  Geschichte 
behandelt  worden,  zu  deren  Wesen  es  gehört,  daß  die  Voraussetzungen 
der  Entwicklungen  auch  politisch  und  anderweitig  bedingt  aufgefaßt 
werden.  Wie  sehr  das  hundertjährige  Ergebnis  des  deutschen  wirt- 
schaftlichen Strebens  durch  den  Weltkrieg  durchbrochen  worden  ist, 
kann  hier  nicht  erörtert  werden,  aber  diese  Tatsache  gerade  zeigt,  mit 
welcher  Vorsicht  soziologische,  von  historischen  Ereignissen  absehende 
Reihen  des  ökonomischen  Werdens  aufgenommen  werden  müssen. 

Aus  dem  vorhandenen  Schatz  der  reichen  Quellen  und  der  um- 
fangreichen Literatur  wird  nur  das  Wichtigste  am  Schlüsse  der  Ab- 
schnitte angegeben,  aus  dem  vornehmlich  geschöpft  wurde.  Es  soll 
zum  Nachweis  für  das  Gesagte  dienen  und  schließt  sich  in  seiner  Auf- 
zählung dem  Textverlauf  an.  Manches  Urteil  innerhalb  der  Dar- 
stellung ist  der  Niederschlag  von  Erwägungen,  zu  denen  der  Verfasser, 
der  einen  erheblichen  Teil  dessen,  was  er  bringt,  freudig  miterlebt 
oder  auch  miterlitten  hat,  schon  vor  Jahren,  und  daher  nicht  immer 
für  ihn  selbst  nachweisbar,  irgendwie  angeregt  wurde. 


A  I.  Abschnitt.     Einleitung:  Übersicht  über  das  deutsche  Wirtschaftsleben  usw. 

L  Abschnitt. 

Einleitung:  Übersicht  über  das  deutsche  Wirtschaftsleben 
nach  den  Befreiungskriegen. 

I.  Politische  Zustände.  Nach  drückender  Fremdherrschaft 
und  langen  Kriegsnöten  hatten  sich  die  deutschen  Volksstämme  unter 
Preußens  Vorangehen  und  Leitung  die  nationale  Befreiung  erkämpft. 
Für  die  kommende  Friedenszeit  erhofften  sie  jetzt  ein  materielles  und 
geistiges  Erblühen.  Überall  verlangten  die  führenden  Köpfe  der  ge- 
bildeten bürgerlichen  Klasse  die  Erbschaft  des  vergangenen  Jahr- 
hunderts, den  theoretisch  aufgebauten  Liberalismus  in  ihrem  ganzen 
Umfange  praktisch  anzutreten,  indem  sie  überzeugt  waren,  daß  die 
politische  und  wirtschaftliche  Freiheit  des  Einzelnen  die  sicherste  Bürg- 
schaft für  das  Wohl  des  Ganzen  sein  werde.  Gleichzeitig  im  Gefühle 
der  gemeinsam  erfochtenen  Siege  erhoben  im  Norden  und  Süden  des 
Vaterlandes  einsichtsvolle  und  begeisterte  Männer  ihre  Stimme,  daß 
damit  Ernst  gemacht  werde,  ein  starkes,  entwicklungsfähiges  Reich 
zu  schaffen,  in  das  die  nationale  Zusammengehörigkeit,  die  nur  als 
ein  wenig  geordnetes,  wenn  auch  wertvolles  Nebeneinander  von  Kultur- 
kräften bestand,  umzuschmieden  sei. 

Große  Enttäuschungen  und  tiefe  Niedergeschlagenheit  traten  je- 
doch bald  an  die  Stelle  froher  Erwartungen.  Die  Gründung  des  nach 
außen  schwachen,  im  Innern  lahmen  deutschen  Bundes  war  sowohl 
das  Ergebnis  des  partikularistischen  Eigenwillens  seiner  3  g  souveränen 
Regierungen,  als  auch  der  wohlüberlegten  Politik  Englands,  Frank- 
reichs, Rußlands,  welche  Staaten  die  Entstehung  einer  starken  Macht 
im  Herzen  Europas  zu  verhindern  wußten  und  das  neugebildete  Ver- 
tragsgefüge  dazu  benutzten,  Preußen  und  Österreich  in  einen  fortge- 
setzten Hader  um  die  Vormachtstellung  zu  verwickeln. 

Somit  waren  den  einzelnen  Bundesgliedern  die  inneren  politisch 
wirtschaftlichen  und  die  sozialen  Reformen  überlassen  worden,  die  von 
ihnen  in  sehr  verschiedener  Weise  in  Angriff  genommen  wurden. 
Die  wieder  in  den  Besitz  ihrer  Länder  gelangten  Monarchien,  in 
Hannover,  Kurhessen,  Braunschweig,  wollten  am  liebsten  die  Neue- 
rungen des  letzten  Jahrzehnts  aus  dem  Gedächtnis  ihrer  Untertanen 
weggewischt  wissen,  während  die  Südstaaten  die  von  Frankreich 
übernommenen  oder  aufgedrängten  Einrichtungen  preiszugeben  keine 
Veranlassung  sahen.  Preußen  war  aus  einem  östlichen  und  einem 
westlichen  Teile  zusammengesetzt,  in  denen  sich  die  rechthchen  und 
tatsächlichen  Grundlagen  der  Wirtschaft,  der  Gesellschaft  und  der 
Finanzen  stark  voneinander  unterschieden,  und  mußte  zunächst  ganz 
darin  aufgehen,  diese  Schwierigkeiten  zu  heben.  Österreich  blieb  ab- 
seits   von    den    wirtschaftlichen  Aufgaben    der    übrigen   Bundesstaaten 


I.  Politische  Zustände. 


und  kannte  nur   das   eine  Ziel,   seine  Sonderwünsche    in  Abschließung 
und  Zoll  gegen  das  Ausland  zu  befriedigen. 

Im  Jahre  1815  gab  es  auf  dem  Gebiete  des  heutigen  Reiches 
eine  einheitliche,  auch  nur  locker  gefügte  Volkswirtschaft  keineswegs: 
keine  gemeinsame  Zollinie,  kein  zusammenhängendes  Straßennetz,  kein 
deutsches  Geld,  keine  gemeinsamen  Steuern  und  öffentlichen  Ausgaben 
für  das  Ganze,  kein  übereinstimmendes  privates  und  soziales  Recht, 
keine  durchgreifende  arbeitsteilige  Produktionsgliederung  nach  örtlich 
natürlichen  oder  geschichtlich  gegebenen  Vorbedingungen.  Nur 
kulturell  im  unpolitischen  und  nichtwirtschaftlichen  Sinne  war  auf 
Grund  der  Stammesverwandtschaft  und  des  gemeinsam  Erlebten  im 
Bewußtsein  der  Gebildeten  eine  Einheit  geblieben,  bestimmt  des  näheren 
durch  die  gleiche  Sprache  und  Literatur,  durch  dieselbe  Wertung  der 
im  Kampf  gegen  Frankreich  neu  belebten  Geschichte,  durch  mancherlei 
ethische  und  rechtliche  Ideale,  Anschauungen,  Sitten  und  Gebräuche. 
Diese  geistige  und  gefühlsmäßige  Verbindung  darf  jedoch  für 
die  Wirtschaftsgeschichte  der  folgenden  Jahrzehnte  nicht  unterschätzt 
werden.  Es  entstand  immer  wieder  aus  diesem  Empfinden  heraus  eine 
Sehnsucht  nach  einem  zusammengehörenden  Ganzen,  dessen  Endziel 
die  staatliche  Einheit  war. 

Der  deutsche  Trieb  nach  politischer  Absonderung,  der  seit  Jahr- 
hunderten das  alte  Reich  zersetzt  hatte,  feierte  in  dem  allein  völker- 
rechtlich gefügten  Deutschen  Bund  einen  neuen  Triumph.  Die  Ab- 
grenzung der  Staaten  fiel  nur  in  beschränkter  Weise  mit  den  Stammes- 
niederlassungen zusammen.  In  der  Hauptsache  beruhte  sie  auf  ge- 
schichtlichen Ereignissen.  Es  unterscheiden  sich  die  Ostpreußen  und 
Pommern  von  den  Westfalen  und  Rheinländern  ebenso,  wie  in  Bayern 
die  Franken,  Schwaben  und  Altbayern,  oder  in  Hannover  die  Nieder- 
sachsen und  Friesen.  Dynastie  und  Staatsverwaltung  faßten  zu  ihren 
Zwecken  die  Bevölkerung  zusammen,  die  in  diesem  Partikularismus 
eine  Befriedigung  ihres  Heimatgefühles  zu  finden  glaubte.  Die  wirt- 
schaftliche Verkehrsgestaltung  über  die  Schlagbäume  hinaus  mußte 
darunter  schwer  leiden. 

Unter  den  Staatsmännern  und  Ministern  der  Einzelstaaten  waren 
wohl  manche,  die  auch  politisch  nationale  Pläne  im  stillen  Busen  pflegten, 
aber  bei  ihrer  praktischen  Betätigung  wollten  die  meisten  keine  anderen 
Aufgaben  anerkennen,  als  dem  Aufbau  ihres  Landes  nach  allen  Rich- 
tungen hin  zu  dienen.  In  demselben  Maße,  als  ihnen  dies  glückte, 
mußte  das  Bestreben  lebhafter  werden,  mit  den  Nachbarn,  bei  denen 
sich  ähnliche  wirtschaftliche  und  soziale  Bedürfnisse  geltend  machten, 
in  nähere  vertragsmäßige  Verbindung  zu  treten,  zumal  die  Landesteile 
oft  geradezu  ineinander  verwoben  oder  voneinander  umschlossen  waren, 
so   daß    Menschen    gleichen   Typus,    gleicher   Sitte,   gleichen  Dialektes 


5  I.  Abschnitt.     Einleitung:  Übersicht  über  das  deutsche  Wirtschaftsleben  usw. 

und  gleicher  wirtschaftlicher  Lebensart  verschiedenen  Landesherren 
zu  gehorchen  hatten.  Die  deutsche  Stammesmannigfaltigkeit  mit  ihrem 
Reichtum  an  eigentümlicher  Begabung  konnte  durch  den  Austausch 
von  guten  Köpfen  und  unter  gegenseitiger  Anregung  nicht  recht 
nutzbar  gemacht  werden.  Der  kleinstaatliche  Wille,  der  sich  darin 
äußerte,  Fremde  fernzuhalten  und  Land,  Erwerbsgelegenheit  und  Staats- 
krippe den  Einheimischen  zu  lassen,  führte  in  seiner  eigensinnigen 
Selbstüberschätzung  der  Staatseinrichtungen  und  der  Befähigung  ihrer 
persönlichen  Träger  ebenso  zu  einem  politischen  Hemmnis  großzügiger 
Vereinigung,  wie  zur  Festhaltung  von  Arbeitskräften  und  Kapitalien, 
die  für  einen  weiteren  Wirkungskreis  geschaffen  waren.  Die  freie 
Bewegung  aller  Deutschen  untereinander,  die  später  zu  einer  Haupt- 
quelle schöpferischer  Ausgestaltung  geworden  ist,  konnte  daher  da- 
mals nur  höchst  unvollkommen  einsetzen. 

So  sehen  wir  zwei  Richtungen  während  des  19.  Jahrhunderts  in 
stetem  Kampfe  miteinander  liegen,  von  denen  die  eine  in  wirtschaft- 
lichen und  politischen  Notwendigkeiten  der  Annäherung  und  des  Aus- 
gleiches, die  andere  in  der  angeborenen  Zähigkeit  egoistischen  Sonder- 
lebens und  in  der  Macht  überkommener  Gewohnheiten  wurzelte.  Die 
Ordnung  des  deutschen  Wirtschaftslebens  erfolgte,  soweit  das  Gebiet 
mehrerer  Staaten  in  Frage  stand,  bis  1867  zögernd,  schrittweise  durch 
völkerrechtlichen  Vertrag,  dann  durch  Gesetz.  Der  deutsche  Zollverein 
war  der  wichtigste  der  Verträge,  auch  deshalb,  weil  einige  andere 
Angelegenheiten  durch  seine  Vermittelung  vereinheitlicht  wurden. 
Neben  ihm  standen  die  Postverträge,  Anschlußverträge  für  die  Land- 
straßen, für  die  Schiffahrt  auf  Strömen,  Seen  und  Meer,  die  Eisen- 
bahn- und  Telegraphenabkommen,  die  Einführung  der  allgemeinen 
deutschen  Wechselordnung  und  des  deutschen  Handelsgesetzbuches. 
Diese  und  andere  Vereinbarungen  haben  segensreich  gewirkt,  wenn 
sie  auch  unzureichend  waren,  und  es  wäre  undankbar  in  späterer  Zeit, 
in  der  wir  uns  des  sprungweise  fortschreitenden  Reichsrechtes  als  etwas 
Selbstverständliches  erfreuten,  die  ungeheuren,  patriotisch  erduldeten 
Mühsale  zu  vergessen,  die  dem  Zustandekommen  jener  Verträge  voraus- 
gehen mußten. 

IL  Die  Landwirtschaft.  Deutschland  war  während  der  Na- 
poleonischen Kjriege  ganz  überwiegend  Agrarland.  Seine  Bevölkerung, 
die  18 16  auf  dem  späteren  Reichsumfange  mit  24,81  Millionen  berechnet 
wurde,  lebte  zu  mehr  als  ^4  ^^f  dem  Lande.  Von  den  Städten  hatten 
die  kleinen  zudem  ein  großdörfliches  Gepräge.  Weimar  ist  nach  Her- 
ders Ausspruch  ein  unseliges  Mittelding  zwischen  Hofstadt  und  Dorf. 
Viele  Bewohner  hatten  Gärten  vor  den  Toren,  und  manche  übten  im 
Hauptberuf  als  Ackerbürger  die  Landwirtschaft  aus.  Als  in  der 
französischen  Zeit  Hunderte  der  kleinsten  Territorien  des  alten  Reiches 


II.  Die  Landwirtschaft. 


zertrümmert  wurden,  bildeten  die  neuen  Machthaber  viele  Duodez- 
städtchen, an  denen  das  Reich  einen  Überfluß  besaß,  und  die  oft 
genug  keine  500  Einwohner  hatten,  wieder  rechtlich  in  Dörfer  um, 
die  alsbald  eine  ganz  ländliche  Physiognomie  annahmen.  Großstädte 
waren  selten.  Berlin  hatte  18 16  noch  nicht  200000  Einwohner,  Ham- 
burg mit  Vororten  die  Hälfte,  Breslau  und  München  60000,  Nürn- 
berg (1812)  26000,  Augsburg  (18 12)  29000,  Frankfurts  Landgebiet 
von  4Y3  Geviertmeilen  um  1831  erst  52000,  die  sich  auf  eine  Stadt, 
einen  Marktflecken  und  6^/2  Dörfer  verteilten. 

Die  agrarstaatlichen  Verhältnisse  haben  sich  im  Verlaufe  der 
folgenden  Jahrzehnte  gründlich  verändert.  1804  wurden  von  den 
Preußen  80°/^  der  Bewohner  der  Landwirtschaft  im  weiteren  Sinne, 
d.  h.  die  Gärtnerei,  die  Fischerei  und  das  Forstwesen  einbegriffen, 
zugerechnet,  1849  nur  noch  64,  1867  48.  In  den  übrigen,  größeren 
Staaten  ist  der  Vorgang  ein  ähnlicher  gewesen. 

Auf  dem  Lande  war  die  Eigenwirtschaft,  in  der  die  Ver- 
sorgung der  Familie  mit  Einschluß  der  Dienstboten  und  zum  Teil 
auch  der  Arbeiter  mit  selbstgefertigten  Verbrauchsgegenständen  ganz 
überwiegend  vorgenommen  wird,  weit  mehr  als  heute  üblich.  Die 
Bauern  waren  auch  Bäcker,  Metzger,  Maurer,  Zimmerleute,  Spinner, 
Weber,  Besenbinder,  Bürstenmacher,  Mattenflechter,  Holz-  und  Knochen- 
schnitzler.  Ihre  Bedürfnisse,  die  sie  nicht  selbst  befriedigen  konnten, 
deckten  sie  aus  der  nahen  Stadt,  sei  es  bei  den  Handwerkern,  sei 
es  bei  den  Kaufleuten,  die  Kolonialwaren,  feinere  Kleidungsstücke, 
Schmuck,  Eisen-  und  Stahlwerkzeuge,  Töpfergut  und  Glas  auf  Lager 
hatten.  Vielfach  wurden  Schuhmacher,  Schneider,  Sattler  ins  Haus 
des  Eigenwirtschaftlers  genommen,  dort  beköstigt  und  gelohnt,  um  die 
vorhandenen  selbstproduzierten  Rohstoffe  zu  verarbeiten,  was  man  auf 
die  Stör  gehen  nannte.  Das  Salz  wurde  aus  den  staatlichen  Magazinen 
bezogen.  Den  Überschuß  der  landwirtschaftlichen  und  daheim  vielfach 
verarbeiteten  Erzeugnisse  über  den  eigenen  Bedarf  führten  sie  dem 
Wochenmarkt  oder  unmittelbar  den  einzelnen  städtischen  Verbrauchern, 
größere  Mengen  wie  Mehl  und  Öl,  die  auf  ländlichen  Wind-  und 
Wassermühlen  oder  Ölmühlen  hergestellt  waren,  den  Kaufleuten  zu. 
Auf  den  Gutshöfen  oder  Herrensitzen  war  die  Lebenshaltung  eine 
höhere,  die  Eigenwirtschaft  noch  eine  vielseitigere,  auch  unter  Aus- 
nutzung der  Arbeitsteilung,  die  dem  Gesinde  zugewiesen  war.  Oft 
wurde  die  Hauswirtschaft  durch  festangestellte  Gutshandwerker,  wie 
Schmiede,  Sattler,  Stellmacher,  Maurer  ergänzt.  Die  selbständigen 
Landhand  werk  er  waren  zugleich  Acker-  und  Gartenbauer  im  kleinen. 
Die  wenigen  freien  Arbeiter  wurden  überwiegend  in  Naturalien  ab- 
gelöhnt. Geld  sah  man  im  Verkehr  nicht  häufig.  Die  Produktenpreise 
waren  niedrig. 


8  I.  Abschnitt.     Einleitung:  Übersicht  über  das  deutsche  Wirtschaftsleben  usw. 

Die  ausgedehnte  Eigenwirtschaft  ist  während  des  ig.  Jahrhunderts, 
besonders  in  dessen  zweiter  Hälfte  rasch  zurückgegangen,  am  schnellsten 
in  den  Städten,  wo  sie  am  Beginn  desselben  auch  noch  bedeutend 
war.  Ein  anschauliches  Bild  der  städtisch-ländlichen  Hauswirtschaft 
ist  in  „Hermann  und  Dorothea"  das  Gasthaus  zum  „Goldenen  Löwen", 
das  mit  seinen  doppelten  Höfen,  den  Scheunen,  Ställen  und  dem  Obst- 
garten bis  an  die  Mauern  des  Städtchens  reichte,  jenseits  deren  sich 
die  wogenden  Kornfelder,  die  Wiese  und  der  umzäunte  Weinberg  mit 
Gutedel  und  Muskateller  anschlössen.  Ländlich  Gewerb  war  mit 
Bürgergewerb  gepaart.  Es  werden  die  Fremden  beherbergt  und  aus 
eigener  Wirtschaft  beköstigt,  die  Pferde  dem  Postwagen  gestellt.  Die 
Wohnstube  ziert  Spinnrad  und  Spinnrocken,  die  Truhen  sind  gefüllt 
mit  selbstgefertigten  Linnen  und  Kleidervorrat  für  Jahre. 

Selbst  in  den  mittleren  Städten  fehlte  der  landwirtschaftliche 
Anhang  dem  Hausbesitz  nicht.  Das  Hörn  des  Hirten  rief  die  Stadt- 
kühe zur  Herde  zusammen,  die  auf  der  städtischen  Gemeinweide  des 
Tags  über  graste.  In  Berlin  sogar  hatten  die  Häuser  in  den  Hauptstraßen 
nach  hinten  große  Gärten  mit  Obst-  und  Gemüsebau.  Vom  Hand- 
werker bis  zu  den  Exzellenzen  hielt  man  sich  Rindvieh  und  Schweine, 
und  auf  dem  Markt  „Im  Rondel",  dem  heutigen  Belle-Alliance-Platz, 
wurden  Wrukenblätter  und  anderes  Futter  für  die  „Viehmästers"  feil- 
gehalten. Die  Spargelpflanzungen  in  den  Vorstädten  waren  berühmt. 
Die  Familien,  die  Sonntags  aufs  Land  hinausspazierten,  kehrten  bei 
dem  Bauer  ein,  bei  dem  sie  auf  dem  Markte  einzukaufen  pflegten. 
Denn  das  Landgastliaus  war  nur  Trinkstube  und  Kegelbahn.  Stadt 
und  Land  boten  zwar  Gegensätze,  waren  aber  durch  persönliche  Be- 
ziehungen weit  mehr  als  später  verbunden. 

Die  berufliche  Aussonderung  oder  die  Auflösung  der  Eigenwirt- 
schaft setzt  sich  mit  verbesserten  Werkzeugen,  Arbeitsmethoden 
Maschinen,  mit  der  wachsenden  Vielseitigkeit  der  Bedürfnisse,  der 
Schaffung  größerer  Betriebe  durch.  Sie  leistet  Billigeres,  oft  Hand- 
licheres, Hübscheres,  wenn  auch  nicht  immer  so  Dauerhaftes.  Jede  Ver- 
besserung der  Verfrachtungsmittel  befestigt  sie.  Die  alten  gewerb- 
lichen Hausarbeiten  werden  verlernt,  und  je  mehr  das  Geldwesen 
eindringt,  um  so  weniger  Neigung  ist  vorhanden,  sie  etwa  in  Zeiten 
schlechten  Erwerbs,  die  sie  nahe  legen,  wieder  aufzunehmen.  Im 
schwer  zugänglichen  Gebirge  später  als  in  der  Ebene,  in  dem  weit 
abgelegenen  Dorfe  und  in  der  Kleinstadt  langsamer  als  in  der  Groß- 
stadt, nicht  so  schnell  im  Osten  als  im  Westen  des  Vaterlandes  voll- 
zieht sich  der  Übergang  von  der  Eigen-  zur  Verkehrsproduktion. 

Der  technische  Betrieb  der  Landwirtschaft  war  rückständig. 
Vorherrschend  war  auf  großen  und  mittleren  Gütern  die  seit  unvor- 
denklicher  Zeit   geübte  Dreifelderwirtschaft,   bei   der  in   drei  Schlägen 


II.  Die  Landwirtschaft. 


der  Flur,  Winterung,  Sommerung  und  Brache  aufeinanderfolgten. 
Doch  waren  keineswegs  überall  zwei  Drittel  angebaut,  oft  scheint  es 
nur  die  Hälfte  gewesen  zu  sein,  indem  die  vom  Hofe  weit  entfernten 
oder  die  wenig  fruchtbaren  Felder  nur  von  Zeit  zu  Zeit  einmal 
Roggen  nach  längerer  Ruhe  trugen.  Bei  dem  Mangel  an  Vieh  und 
einer  geregelten  dauernden  Stallfütterung  —  in  der  wärmeren  Jahreszeit  war 
das  Vieh  auf  der  Acker-  oder  der  Gemeindeweide,  in  der  kalten  wurde 
es  vor  allem  mit  Stroh  mangelhaft  ernährt,  durchgehungert,  sagte 
man  —  war  in  vielen  dieser  Betriebe  die  Düngererzeugung  so  rück- 
ständig, daß  bei  schlechten  Ernten  nichts  Erhebliches  über  die  doppelte 
Einsaat  gewonnen  wurde.  Nach  I.  G.  Koppe  bot  die  Dreifelderwirt- 
schaft in  vielen  Teilen  Deutschlands  ein  wahres  Jammerbild  dar.  Un- 
gefähre Berechnungen  aus  pommerschen  und  ostpreußischen  Wirt- 
schaftsbüchern jener  Tage  belehren  uns,  daß  die  durchschnittlichen 
Roherträge  an  Getreide  sich  auf  ein  Viertel  bis  ein  Drittel  der  heutigen 
beliefen.  Mit  6 — 7  Doppelzentnern  Weizen,  Roggen,  Gerste  auf  einen 
Hektar  konnte  man  sehr  zufrieden  sein.  Als  Durchschnitt  von  1 6  Jahren 
nach  1816  erzielten  in  der  Mark  Brandenburg  beim  Roggen  nur  die 
tüchtigsten  Landwirte  das  5,2  te  Korn,  nachdem  die  Betriebsweise  schon 
verbessert  worden  war. 

Indessen  gab  es  auch  Ausnahmen  von  dieser  primitiven  Wirt- 
schaftsweise. Friedrich  der  Große  hatte  auf  einer  Reihe  von  Domänen 
an  die  Stelle  der  Brache  schon  Futterkräuter  und  eine  Vierfelder- 
wirtschaft anbefohlen,  den  Privaten  dringend  geraten,  die  englische 
Betriebsart  nachzuahmen  und  staatliche  Unterstützung  den  Willfährigen 
zugesagt.  In  der  Goldenen  Aue,  bei  Magdeburg,  in  Teilen  Schlesiens 
war  um  1820  die  unbebaute  Fläche  schon  ziemlich  eingeschränkt. 
Kartoffeln,  Kohl,  Hülsenfrüchte,  Futterkräuter  bedeckten  manchen 
Acker.  Das  galt  als  ein  Fortschritt  gegen  den  Anfang  des  Jahrhunderts, 
als  man  in  Deutschland  die  Verdrängung  der  Brache  auf  nur  2 — 3% 
des  ihr  unterworfenen  Drittels  veranschlagte,  obwohl  sich  der  Kleebau, 
der  durch  den  Österreicher  Schubart  bekannt  geworden  war,  prak- 
tisch bewährt  hatte. 

In  der  Mark  Brandenburg  bestand  zwischen  1800  und  1820  auf 
manchen  großen  Gütern  das  Bestreben,  mit  der  Dreifelderwirtschaft 
endgültig  zu  brechen.  Die  Bevölkerung  war  gestiegen,  und  die  An- 
sprüche der  Residenzstadt  forderten  zu  einer  Mästung  des  Rindviehes, 
zum  Verkauf  der  Kälber,  zur  Erzeugung  von  Milch,  Butter  und  Käse 
auf.  Die  Stallfütterung  wurde  häufiger,  und  die  Holländerei,  d.  h.  die 
Milchwirtschaft,  die  durch  holländische  herbeigerufene  Kolonisten  ein- 
geführt worden  war,  schloß  sich  öfters  an.  Auch  das  merkantilistische 
Wollausfuhrverbot,  das  die  Schafzucht  unrentabel  gemacht  hatte,  hatte 
das  Aufziehen  von  Kühen    und  Ochsen    und    damit    den    planmäßigen 


lO  !•  Abschnitt.     Einleitung:  Übersicht  über  das  deutsche  Wirtschaftsleben  usw. 

Futteranbau  gefördert.  In  Sachsen  hingegen,  wo  die  Wollausfuhr 
frei  war,  blieb  die  Dreifelderwirtschaft  unangetastet,  da  sie  den  exten- 
siven Weidebetrieb,  bei  dem  die  Gutsherren  die  Schaftrift  auch  auf 
dem  Bauernlande  ausnutzen,  gestattete.  Hier,  wie  in  Anhalt,  im 
Magdeburgischen  und  Halberstädtischen  war  die  Rindviehzucht  vor- 
wiegend in  den  Händen  der  Bauern,  deren  Betrieb  für  das  Halten 
von  Schafen  zu  klein  war. 

In  der  Nähe  norddeutscher  Städte,  oder  auch  in  einzelnen  Gegen- 
den, wo  Wiesen  und  Weiden  im  Überfluß  waren,  es  aber  an  Grund- 
stücken zur  Beackerung  fehlte,  kannte  man  eine  ziemlich  intensive, 
wenn  auch  willkürliche  Zweifelderwirtschaft,  im  ersten  Jahre,  in  dem 
gedüngt  und  der  Boden  mit  dem  Spaten  umgegraben  wurde,  den  Anbau 
von  Kartoffeln,  Rüben,  Tabak,  Kohl,  Hirse  und  Lein,  im  zweiten 
Winter-  oder  Sommerroggen,  Gerste,  Hafer.  In  der  Nähe  von  Dres- 
den fand  Koppe  „gemeine  Leute"  in  der  Weise  wirtschaften:  im 
ersten  Jahre  Kartoffeln  und  Kohl,  im  zweiten  und  dritten  Gerste  mit 
Klee,  im  vierten  Roggen  und  Wicken,  im  fünften  Hafer;  im  Alten- 
burgischen  Fr.  Schmalz  eine  ziemlich  freie  Behandlung  des  Brache- 
jahres, je  nach  Bodenbeschaffenheit  und  Absatzmöglichkeit,  mit  Klee 
und  Hülsenfrüchten;  im  Moselgebiet  I.  N.  Schwerz  die  Tatsache  eines 
Fruchtwechsels,  welcher  dem  berühmten  Norfolker  ähnlich  war,  aber 
bei  sehr  mangelhafter  Bearbeitung  des  Bodens  sich  nicht  bewährte 
und  als  ein  uralter  gemeindeüblicher  Schlendrian  von  ihm  bezeichnet 
wurde;  in  Ostfriesland  und  Jever  Fr.  Arens  eine  sich  besser  be- 
währende Einteilung  von  4 — 8  Schlägen  mit  dem  Wechsel  des  Ge- 
treides und  der  Blattfrucht  in  dem  Anbau  von  Bohnen. 

Es  gab  im  nördlichen  Deutschland  außer  der  Dreifelderwirtschaft 
noch  andere  extensive  Wirtschaftssysteme,  so  in  der  Emsgegend  die 
Brandkolonien,  in  denen  nach  Abbrennen  der  Moorfläche  3 — 8  Jahre 
Buchweizen  gesät  wurde,  worauf  sich  der  Boden  10 — 20  Jahre  aus- 
ruhen mußte.  Verbreitet  war  im  Holsteinischen  die  Koppelwirtschaft, 
die  mit  10 — 14  Koppeln  seit  alter  Zeit  bestand,  im  Mecklenburgischen 
eine  ähnliche,  die  den  Körnerbau  und  die  Schafhaltung  mehr  berück- 
sichtigte, im  Märkischen  eine  neunschlägige,  die  neueren  Ursprungs 
war.  Diese  Systeme  der  Feldgraswirtschaft,  bei  denen  die  ewige  Weide 
beseitigt  ist,  die  Felder  zur  Hälfte  oder  mehr  der  Umtriebsjahre  der 
Grasung  unterworfen  sind,  ermöglichten  eine  andauernde  und  gleich- 
mäßige Rindviehzucht,  für  deren  Produkte  Absatz  gesucht  werden 
mußte,  durchbrachen  die  Eigenproduktion  also  stärker  als  die  alte 
Körnerwirtschaft.  Sie  bewährten  sich,  ebenso  wie  auch  heutzutage,  in 
ihrer  rationell  durchgebildeten  Form  dort  am  besten,  wo  ein  feuchtes, 
insbesondere  ein  Seeklima  den  Graswuchs  begünstigte,  oder  auch  dort, 
wo,  wie  im  Gebirge,   auf  eine   regelmäßige   Bewässerung   der  Wiesen 


II.  Die  Landwirtschaft.  j  j 


ZU    rechnen    war   und    der  Getreidebau,    wie    auf   den    Hofgütern    des 
badischen  Schwarz waldes,  hinter  der  Viehhaltung  zurücktrat. 

Sie  kommen  daher  auch  in  Süddeutschland  vor.  In  Bayern  war 
der  Getreidebau  im  ganzen  noch  mehr  zurück  als  in  Preußen,  so  daß 
das  Land  noch  gelegentlich  einführen  mußte,  und  im  Anschluß  an  die 
Dreifelderwirtschaft,  die  man  gar  nicht  selten  noch  50  Jahre  später 
antraf,  war  auch  die  Viehzucht  von  schlechter  Beschaffenheit.  Der 
Hopfenbau  stand  jedoch  auf  höherer  Stufe,  und  im  Main-  und  Rhein- 
kreise war  der  Kleinbetrieb  des  Weines,  des  Tabaks,  der  Ölgewächse, 
des  Flachses  und  des  Hanfes  in  gutem  Stande.  Ähnlich  in  den  tief 
gelegenen  Teilen  von  Baden  und  Württemberg.  In  der  Pfalz  hatte 
Möllinger  schon  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  die  Esparsette 
eingeführt  und  damit  die  Reform  der  Landwirtschaft  angebahnt.  Von 
der  badischen  nördlichen  Pfalzgrafschaft  berichten  L  W.  Schmidt 
und  Peter  Wund  um  1800,  „daß  die  Viehzucht  zu  dem  Ackerbau 
in  gutem  Verhältnisse  stehe  und  den  nötigen  Dung  zu  der  Anpflanzung 
des  Weines  sowohl  als  der  Getreidearten  darreiche".  Die  allgemeinen 
Weiden  seien  aufgehoben  und  die  Stallfütterung  größtenteils  vorhanden. 
Ahnliche  Zustände  bestanden  in  der  badischen  Markgrafschaft,  deren 
Vielseitigkeit  in  dem  Anbau  von  Obst,  Wein,  Tabak,  Kartoffeln,  in 
der  Wiesenkultur  und  in  dem  Kleebau  hervorgehoben  wurde. 

Der  spätere  Wohlstand  in  der  Rheinebene,  begünstigt  durch 
Klima,  Bodenreichtum  und  wertvolle  Weidestücke,  geht  auf  diese  Tat- 
sache der  schon  um  1815  fortgeschrittenen  Landwirtschaft  zurück.  Be- 
fördert wurde  er,  besonders  in  dem  wohlgepflegten  badischen  Land, 
durch  eine  Staatsregierung,  die  die  Eigenarten  des  bäuerlichen  Mittel- 
standes nicht  antastete  und  alle  zu  schnellen  Bewegungen  in  der 
Politik  und  Wirtschaft  hintanhielt,  allerdings  sich  auch  infolge  der 
hergebrachten  Behaglichkeit  des  Lebens  gefallen  lassen  mußte,  daß 
manche  späteren  Fortschritte  der  Technik  und  Verwaltung  erst  von 
außen  her  übernommen  wurden. 

Zusammenfassend  ist  zu  sagen,  daß  im  ersten  Viertel  des  Jahr- 
hunderts die  deutsche  Landwirtschaft  noch  überwiegend  an  einer  ver- 
alteten Technik  hing  und  als  verbesserte  sich  nur  ausnahmsweise  über 
größere  Flächen  erstreckte,  wobei  sie  durchweg  roh  empirisch  verfuhr 
Jedoch  reichte  in  der  Regel  das  Erzeugnis  an  Lebensmitteln  aus,  um 
die  deutsche  Bevölkerung  zu  ernähren,  zumal  der  Anspruch  an  Fleisch 
bezüglich  Menge  und  Beschaffenheit  nicht  groß  war.  In  den  Ostsee- 
gebieten hatte  man  einen  Überschuß  zur  Ausfuhr,  die  sich  nach  Eng- 
land, Holland  und  den  nordischen  Reichen  bewegte. 

Die  sozialrechtliche  Verfassung  auf  dem  Lande  war,  als  der 
Frieden  wieder  hergestellt  worden  war,  in  einer  Umformung  begriffen. 
Die   gesellschaftliche   Gliederung    des   absoluten    Staates,   in  der  jedem 


12  I.  Abschnitt.     Einleitung :  Übersicht  über  das  deutsche  Wirtschaftsleben  usw. 

Stand  nach  Geburt,  Beruf  und  Erwerb  sein  Platz  angewiesen  war, 
der  adlige  und  bäuerliche  Besitz  streng  voneinander  getrennt  waren 
und  beide  als  solche  erhalten  bleiben  sollten,  war  mit  dem  liberalen 
Rechtsstaat,  der  sich  seit  1789  in  Westeuropa  durchsetzte,  wenigstens 
im  Grundsatz  aufgehoben  worden.  Die  Rückständigkeit  der  Land- 
wirtschaft wurde  zum  großen  Teil  den  rechtlichen  Fesseln  und  den 
Lasten  zugeschrieben,  die  den  Betrieb  überall  lähmten.  Freies  Eigen- 
tum und  Bewegungsfreiheit  des  Individuums  sollten  den  Erwerbssinn 
der  Bauern  und  Gutsbesitzer  beleben  und  den  Anbau  heben. 

In    den    preußischen  Gebieten    östlich   der  Elbe  war  im   18.  Jahr- 
hundert die  Lage  der  Domanialbauern   schon  verbessert  worden.     Die 
Privatbauern    genossen     in     Brandenburg,    Schlesien,     Pommern     den 
Bauernschutz,  demgemäß  es  dem  Gutsherrn  verboten  war,  Bauernland 
einzuziehen,    aber    die    Erbuntertänigkeit,    die    Frohnden,    unter    denen 
die  Rittergüter  bewirtschaftet  wurden,   und  das  schlechte,   zweifelhafte 
Besitzrecht    bestanden    überall    so    lange    fort,    bis    die    Änderung   der 
sozialen    und    teilweise    der    politischen    Grundlagen    des    Königreichs 
nach  seinem  Niederbruch  von  1806  dringend  geboten  war.     1807  wurde 
unter   Steins   Ministerium    zuerst   die   Erbuntertänigkeit,   der    gemäß 
die    Untertanen    das    Gut    ohne    Erlaubnis    nicht   verlassen  sollen,    der 
Heiratsgenehmigung    bedürfen    und    ihre    Kinder   zu    Zwangsgesinde- 
diensten vorzustellen  haben,  sobald  sie  erwachsen  sind,  beseitigt,   dann 
folgte  die  sogenannte  Regulierung  der  gutsherrlichen  und  bäuerlichen 
Verhältnisse    181 1,   die  sich  an  den  Namen  Hardenberg  anknüpfte. 
Die    Ausführung    der    letzteren    wurde    zwar    anbefohlen,    durch    die 
kommenden  Kriegsjahre  aber  zunächst  verhindert,  erst  nach  18 16,  unter 
einer,    die  Bauern    ungünstiger   treffenden  Auslegung  des  Ediktes  von 
18 II    in    Angriff    genommen.     Die   spannfähigen,  katastrierten  Bauern 
vertauschten   ihr  hergebrachtes,   mehr   oder   minder   schlechtes    Besitz- 
recht mit  dem  vollen  Eigentum  und  sollten  von  Frohnden  und  Natural- 
abgaben befreit  werden.     Dafür  gingen  sie  der  Unterstützung  in  Not- 
fällen von  Seiten  des  Gutsherren    und  etwaiger  Rechte  am  Gutswalde 
verlustig  und  hatten  von  ihrem  Lande   '/g   bei  erblichem,  Y2  ^^i  nicht- 
erblichem   Besitz   dem    Gutsherren    abzutreten.     Der  alte  Bauernschutz 
fiel  mit  der  allgemeinen  Veräußerungsfreiheit  des  Bodens.    Für  Bauern 
mit   gutem    Besitzrecht,   Eigentümer,  Erbzinsleute,  Erbpächter  erfolgte 
1820    eine    Ablösungsordnung,    d.    h.    die    Leistungen     und    Abgaben 
wurden  in  eine  Geldrente  verwandelt,  die  mit  einem  25  fachen  Kapital- 
betrag  sofort   getilgt   werden   konnte.      In    vollem    Maße   waren    auch 
hierfür   nur   die   spannfähigen  Bauern  berechtigt,   so   daß   die   Inhaber 
kleiner  Wirtschaften,  Kossäten,  Häusler  oder  wie  sie  sonst  hießen,  die 
alten    Lasten    noch    weiter   zu  tragen  hatten,  falls  eine  vertragsmäßige 
Aufhebung  nicht  erzielt  worden  war. 


II.  Die  Landwirtschaft.  i  -> 


Auch  in  den  übrigen  deutschen  Gebieten  wurden  die  alten 
ständischen  Rechte  und  Pflichten,  die  sich  in  sehr  verschiedenen  Ein- 
zelformen darstellten,  wenigstens  im  Grundsatz  überall,  in  den  beiden 
ersten  Jahrzehnten  des  Jahrhunderts  beseitigt,  wenn  sich  auch  die  volle 
Durchführung  über  die  dann  folgenden  hinschleppte.  Das  Untertänig- 
keitsverhältnis fiel  in  Bayern  1808,  in  Nassau  18 12,  in  Württemberg 
181 7,  in  Hessen-Darmstadt  und  Baden  1820,  in  Kurhessen  182 1.  In 
Süd-  und  Westdeutschland,  wo  schon  in  der  Rheinbund-  bzw.  fran- 
zösischen Zeit  der  Anfang  gemacht  worden  war,  war,  abgesehen  von 
dort,  wo,  wie  im  Schwarzwald,  im  Allgäu,  in  Altbayern,  auch  größere 
einheitliche  Herrengüter,  wie  im  Osten  Preußens  bestanden,  das  bereits 
meist  vorhandene  Landeigentum  der  überwiegenden  Kleinbetriebe  mit 
ziemHch  intensiver  Wirtschaft  nur  von  den  Grund-,  Gerichts-  und 
leibherrschaftlichen  Abgaben,  von  Weide-  und  Jagdrechten  des  ehemals 
bevorrechtigten  Standes  und  von  Frohnderesten  zu  befreien,  was  teils 
durch  Aufhebung  ohne  Entschädigung,  wo  das  französische  Recht 
eingriff,  teils  gegen  Rentenentschädigung  unter  dem  Plan  der  Ablösung 
zu  geschehen  hatte.  Das  Verschwinden  der  zahlreichen  kleinen  Terri- 
torien mit  der  Auflösung  des  alten  Reiches  war  hier  für  den  Klein- 
bauern besonders  segensreich  gewesen,  da  die  neuen  großen  Staaten 
darin  wetteiferten,  den  alten  Steuerdruck  und  die  feudalen  Lasten  zu 
beseitigen,  um  ihren  Untertanen  den  guten  Willen  zur  Neuordnung 
zu  zeigen. 

In  Nordwestdeutschland,  in  Hannover  und  Westfalen,  wo  eben- 
falls der  herrschaftliche  Großbetrieb  nicht  ausgedehnt  war,  verschwanden 
mit  der  neuen  Zeit  das  Meierrecht  und  die  Eigengehörigkeit  als  grund- 
herrliche Einrichtung,  und  die  Grundlasten,  Zinsen,  Zehnten  wurden 
mittelst  Geldrente  oder  Kapitalzahlung  von  den  bäuerlichen,  meist 
mittelgroßen  Gütern  abgelöst. 

Die  Verteilung  des  landwirtschaftlichen  Eigentums  nach  Größen- 
klassen während  des  19.  Jahrhunderts  geht  auf  diejenige  in  der  Haupt- 
sache zurück,  wie  sie  schon  vor  1820  aus  der  Vergangenheit,  nun 
allerdings  unter  neuem  Rechte,  bestand.  Wo  damals  der  Großgrund- 
besitz, wie  in  Preußen  östlich  der  Elbe  und  in  Mecklenburg,  überwog, 
herrschte  er  auch  nach  100  Jahren  noch  vor,  während  in  Hannover, 
Schleswig-Holstein,  Westfalen,  Altbayern  der  größere  Bauernbesitz,  im 
Westen  und  Südwesten,  am  Rhein,  am  Main,  am  Neckar  der  Klein- 
besitz typisch  geblieben  ist. 

Die  Bedeutung  der  sozialen  Reform  für  die  Landwirtschaft  und 
die  agraren  Klassen  werden  wir  weiter  unten  zu  verfolgen  haben. 
Für  die  neue  Rechtsordnung,  die  öffentHche  Landwirtschaftspflege  und 
das  landwirtschafthche  Unterrichtswesen  traten  die  Einzelstaaten  des 
deutschen  Bundes  als  allein  zuständig  ein.     Das  reichte  auch  zunächst 


I^  I.  Abschnitt.     Einleitung:  Übersicht  über  das  deutsche  Wirtschaftsleben  usw. 

aus,  da  ein  Agrarland,  wie  es  damals  Deutschland  war,  der  Getreide- 
und  Fleischzölle  nicht,  oder  nur  ausnahmsweise  bedurfte.  Trotzdem 
zeigte  sich  bald,  daß  der  politische  Partikularismus  auch  für  die  Land- 
wirtschaft ein  Übel  war.  Die  Ausfuhr  ihrer  Produkte  wurde  von  den 
großen  europäischen  Nachbarn  allein  nach  ihrem  Ermessen  zugelassen 
oder  gehemmt,  und  die  Staaten  in  Deutschland  hatten,  weil  sie  ent- 
weder zu  klein  waren,  oder  noch  in  veralteten  Zoll-  und  Steuer- 
einrichtungen stecken  geblieben  waren  keine  handelspolitischen  Mittel, 
dieser  Übermacht  zu  begegnen.  Untereinander  schnitten  sie  sich  die 
Lebensmittelzufuhr  ab,  wie  es  ihnen  gerade  paßte,  so  daß  der  entferntere 
Absatz  unter  Benutzung  der  Flüsse  oder  der  neuen  Landstraßen  zum 
Schaden  der  Überschuß  wirtschaften  und  der  Verbraucher  unmöglich  wurde. 
IIL  Handwerk,  Hausindustrie,  Fabrik.  Mit  der  Auf- 
lösung des  alten  Reiches  und  der  Bildung  des  Rheinbundes  war  im 
Südwesten  und  Süden  Deutschlands  die  schlimmste  Kleinstaaterei  mit 
ihrer  Verkehrshemmung  von  Ort  zu  Ort  beseitigt  worden,  als  einige 
Hundert  Territorien  von  Hessen,  Baden,  Württemberg  und  Bayern 
aufgesogen  wurden.  Ihre  Binnenzölle  beseitigten  die  neuen  Staaten 
zwischen  1807  und  181 2,  und  teils  hierdurch,  teils  unter  dem  Schutze 
der  gegen  England  gerichteten  Kontinentalsperre  entsproß  eine  be- 
scheidene Blüte   gewerbhchen  Lebens. 

In  Preußen  hingegen,  das  durch  die  Niederlage  von  1806  und 
die  daraus  hervorgehenden  Kriegskontributionen  und  durch  die  feind- 
liche Besetzung  völlig  erschöpft  war,  konnte  man  vor  der  Friedenszeit 
nicht  daran  denken,  das  Finanz-  und  Binnenzollwesen  zu  ordnen,  ob- 
wohl man  die  hergebrachten  Verkehrsbeschränkungen  als  durchaus 
nicht  mit  der  begonnenen  liberalen  Sozialgesetzgebung,  der  allgemein 
gestatteten  Freizügigkeit  und  der  neuen  Gewerbefreiheit  in  Überein- 
stimmung erachtete. 

Preußen  ist  selbst  in  der  Zeit  seines  kleinsten  Bestandes  mit 
nichten  ein  rechthch  einheitliches  Wirtschaftsgebiet.  Der  Binnenhandel 
ist  dadurch  unterbunden,  daß  man  die  Provinzen  als  abgesonderte 
Landesteile  mit  eigenen  Ein-  und  Ausfuhrverboten  verwaltet,  und 
innerhalb  derselben  haben  einzelne  Abschnitte,  wie  sie  geschichtlich 
geworden  waren,  oft  noch  eigene  Akzisetarife,  deren  man  in  der  ganzen 
Monarchie  47  zählt.  Stadt  und  Land  sind  rechtlich  getrennt.  Alle 
Kaufleute  wohnen  in  der  ersteren,  wohin  sie  alle  Waren,  die  sie  aus- 
wärts einkaufen,  kommen  lassen  müssen.  Die  Lagerung  findet  zunächst 
in  den  städtischen  Packhöfen  statt,  um  dort  für  Rechnung  der  Staats- 
kasse verakzist  zu  werden.  Alsdann  wird  der  Absatz  an  die  städtischen 
und  ländlichen  Verbraucher  gestattet.  Zu  dieser  somit  jeden  Landes- 
bewohner treffenden  Abgabe  kommt  noch  hinzu,  daß  alles,  was  vom 
Lande   an  Lebensmitteln  in  die  Stadt  eingeht,   ebenfalls  zugunsten  des 


III.  Handwerk,  Hausindustrie,  Fabrik.  j  c 


Staates  verzollt   wird,   wofür  zum  Ausgleich  die  Bauern   eine  Grund- 
steuer, Kontribution  genannt,  zu  entrichten  haben. 

Wie  nachteilig  die  Absonderung  der  alten  Landesteile  von- 
einander auf  das  ganze  Königreich  zurückwirkte,  erläutert  in  einer 
Memoire  von  1 8 1 1  der  im  Freiheitskrieg  viel  genannte  General 
F.  W.  von  Bülow:  „Der  Staat  war  von  jeher  in  seinen  einzelnen 
Teilen  durch  Herkommen,  Verfassung  und  innere  Einrichtung  getrennt, 
so  daß  eine  jede  Provinz  nur  ihr  eigenes  Interesse  beobachtete  und 
zum  Zweck  hatte;  das  allgemeine  Staatsinteresse  aber  war  nur  wenigen 
aufgeklärten,  patriotisch  denkenden  Köpfen  anschaulich;  da  nun  keine 
Einheit  im  Staate  existierte,  so  konnte  auch  kein  eigentlicher  National- 
geist hervorgebracht  werden.  Zu  den  Zeiten  Friedrich  des  Großen 
existierte  etwas,  was  einen  solchen  Nationalgeist  ähnlich  sah;  allein 
es  war  nur  ein  während  der  Kriege  durch  die  Großtaten  dieses  großen 
Mannes  hervorgebrachtes  militärisches  Ehrgefühl,  welches  bei  der  da- 
maligen Generation  sehr  lebhaft  und  kräftig  wirkte,  welches  aber  bei 
den  kommenden  Generationen  schwinden  mußte,  da  es  nicht  mehr 
gleichmäßig  genährt  und  unterhalten  werden  konnte".  Das  letztere 
Problem  behandelt  Willibald  Alexis  in  seinem  geistreichen  Roman 
„Ruhe  ist  die  erste  Bürgerpflicht":  „Daß  der  große  Mann  die  Seele 
des  Staates  gewesen  und  nun  eine  neue  Seele  in  den  verlassenen 
Körper  fahren  müsse,  daran  dachten  die  Bürger  nach  seinem  Tode 
nicht.  Sie  dachten  vielmehr  nur,  jetzt  hören  die  Kaffeeriecher  auf, 
und  vielleicht  auch  die  Tabaksregie". 

Man  kennt  damals  ebenso  wie  heute  Handwerk,  Hausindustrie 
und  Fabrik,  die  man  auch  Manufaktur  heißt,  als  drei  Betriebsformen 
nebeneinander.  Aber  während  die  letztere  heute  die  wichtigste  ist, 
steht  sie  damals  an  dritter  Stelle.  Von  den  Roh-  und  Hilfsstoffen 
wird  fast  alles  in  Deutschland  erzeugt.  Eine  wichtige  Ausnahme 
machen  der  indische  Rohrzucker,  der  amerikanische  Tabak,  der 
russische  Hanf,  die  Baumwolle.  Bayern  stellt  das  nötige  Malz  und 
den  Hopfen  für  sein  Bier  selbst  her.  Überall  gibt  es  Wälder,  die 
Holz  für  den  Hausbau,  die  Tischlereien  und  die  die  Meilerkohle  liefern. 
In  Preußen  werden  1819  g  000 000  Schafe  ermittelt,  darunter  839548 
Merinos,  2900000  halbveredelte  Tiere.  Die  Provinz  Sachsen'  ist  noch 
für  die  Schafzucht  wertvoll,  hinter  Pommern,  Schlesien  und  Branden- 
burg stehen  Posen,  West-  und  Ostpreußen  zurück.  Der  Flachsbau 
gedeiht  am  besten  in  Schlesien,  Ravensberg,  der  Kurmark,  bei  Halber- 
stadt, der  Hanfbau  ist  demgegenüber  gering.  Der  meiste  Tabak,  nur 
gewöhnlicher  Qualität,  wächst  in  Süddeutschland,  der  beste  preußische 
in  der  Uckermark.  Krapp  kommt  vorzugsweise  aus  Schlesien,  Waid 
aus  der  Provinz  Sachsen.  Die  Eisen-  und  Stahlgebiete  sind  Rhein- 
land, Westfalen  und  Oberschlesien. 


l5  !•  Abschnitt.     Einleitung:  Übersicht  über  das  deutsche  Wirtschaftsleben  usw. 

Der  Standort  des  stoffverarbeitenden  Gewerbes  war  zunächst  der, 
daß  alle  gTößeren  Städte  ein  vielseitiges  Handwerk  besaßen.  Einige 
von  ihnen  hatten  es  zur  Ausfuhr-Spezialität  ausgebildet,  wie  Nürnberg, 
dessen  Bleistifte,  Dosen,  Ahlen,  Kaffeemühlen,  Leuchter  und  andere 
Hausgeräte  aus  Messing,  Kunstgegenstände  aus  Elfenbein  und  Holz, 
und  hundert  Arten  von  Kinderspielzeugen  nach  Nord-  und  Südeuropa 
und  über  See  gegangen  waren;  oder  wie  Augsburg,  mit  seinen  feinen 
Waren  aus  Gold,  Silber,  Kupfer  und  kleinen  Musikinstrumenten;  oder 
wie  die  rheinischen  Städte  mit  ihren  weltberühmten  Waren,  Aachen- 
Burtscheid  mit  den  Nadeln,  Stolberg  mit  Messingwaren,  Solingen  mit 
Klingen  und  Scheren,  Remscheid  mit  Stahlwerkzeugen.  Alle  diese 
Gewerbe  waren  örtlich  an  ihre  alteingesessene,  höchst  ausgebildete, 
nicht  bewegliche  Arbeiterschaft  gebunden,  die  sich  selbst  oder  auch 
durch  Kaufleute  die  Rohmaterialien,  oft  aus  größerer  Entfernung,  be- 
schaffen mußte,  wodurch  dann  hausindustrielle  Zustände  vorbereitet 
wurden. 

Hausindustrie  und  Fabriken  waren  über  das  ganze  deutsche 
Gebiet  zerstreut,  je  nachdem  sich  die  Rohstoffe  aus  Holz,  Erde,  Metall 
und  Faserstoff  vorfanden,  doch  hatte  sich  schon  hier  und  da  eine  Zu- 
sammenballung in  einzelnen  Landesteilen  vollzogen,  wie  die  Spinnerei 
und  Weberei  im  Königreich  Sachsen  und  in  Schlesien,  Die  Ver- 
hüttung der  Erze  war  den  Erzgruben  nahe,  konnte  aber  nur  dort 
erfolgreich  sein,  wo  sie  aus  nahen  Wäldern  die  Holzkohle  beziehen 
konnte.  Sie  wurde  daher  an  vielen  Orten  im  kleinen  betrieben  und 
war  in  ihrer  Ausstattung  auch  von  der  vorhandenen  Wasserkraft,  die 
die  Blasebälge  der  Öfen  und  die  Wasserhebung  in  den  Gruben  zu 
besorgen  hatte,  abhängig.  Diese  Naturkraft  wies  auch  den  Eisen- 
hämmern, den  Getreide-  und  Sägemühlen,  auch  weiterhin  den  mechanisch 
betriebenen  Textilfabriken  den  Platz  an,  von  denen  die  ersteren  den 
Hüttenwerken  möghchst  nahe  gehalten  wurden.  Der  Schiffsbau  wurde 
in  den  größeren  Städten  an  den  Flüssen  und  nahe  dem  Meere,  die 
Holzindustrie  in  besonders  waldreichen  Gegenden  der  süddeutschen 
Gebirge  zusammengefaßt,  die  Eisengießerei,  bei  Aachen  und  an  der 
Saar,  baute  sich  auf  dort  vorhandener  Steinkohle  auf.  Aber  auch 
politische  Zustände  waren  nicht  selten  für  den  gewerblichen  Standort 
entscheidend  gewesen.  In  vielen  kleinen  Residenzen  waren  Porzellan- 
und  Glasmanufakturen  gegründet  worden,  die  hier  ihren  Hauptabsatz 
erwarteten.  Die  Abschließung  der  Territorien  durch  Einfuhrverbote 
wirkte  überwiegend  negativ,  so  daß  die  Entfaltung  zu  größerer  Unter- 
nehmung gehindert,  oft  nur  der  schwächliche  Betrieb  künstlich  erhalten 
wurde.  Endlich  konnte  auch  die  Willkür  der  absoluten  Staatsregierung 
bestimmend  gewesen  sein.  Die  Zuckerraffinerien,  die  ehemals  in  den 
den    Rohzucker   einführenden   Seestädten   am   besten   gediehen    waren, 


III.  Handwerk,  Hausindustrie,  Fabrik.  I  y 

verteilte  Friedrich  der  Große  über  das  Staatsgebiet.  Mehrfach  war 
auch  die  Ansiedelung  von  Ausländern  die  Veranlassung  zur  Ein- 
führung und  Festlegung  von  Gewerben  geworden.  Die  preußischen 
Könige  haben  durch  Pfälzer  und  Württemberger,  die  sächsischen  Landes- 
herren durch  Leute  aus  der  Schweiz,  die  von  Hessen- Homburg  und 
Hessen-Kasse],  die  pfälzer  Rhein grafen  und  die  badischen  Markgrafen 
durch  Niederländer,  französische  Hugenotten  und  später  durch  Refugies 
die  Gewerbetätigkeit  ihrer  Länder  gehoben.  Zuletzt,  während  der 
Napoleonischen  Zeit,  hatte  die  Kontinentalsperre  die  Entstehung  einiger 
Werke  begünstigt,  wobei  teils  die  natürlichen  Standorte  bevorzugt 
wurden,  teils  die  neuen  Landesgrenzen  und  die  damit  gegebenen  Ab- 
satzmöglichkeiten bestimmend  gewesen  waren. 

Die  Technik  der  verarbeitenden  Gewerbe  gestaltete  sich  langsam 
um,  war  im  Handwerk  fast  beständig  zu  nennen.  In  den  städtischen 
Manufakturen  hatte  die  Arbeitsteilung  Fortschritte  gemacht,  so  daß 
man  darin  ihre  Überlegenheit  zu  sehen  gewohnt  war.  Verglichen  mit 
den  Zuständen  weniger  Jahrzehnte  später  und  mit  dem  damaligen  Eng- 
land steht  die  gewerbliche  Arbeit  auf  niedriger  Stufe.  In  der  Textil- 
industrie leisten  Handspinner  und  Handweber  so  gut  wie  alles,  dem 
Handwerk  ist  die  Werkzeugmaschine  unbekannt.  Der  Bergbau  ist 
noch  auf  den  Stollenbetrieb  eingestellt,  der  wenig  tiefe  Schächte  als 
Anhang  kennt.  Die  Wasserhebungsapparate  werden  außer  durch  die 
Kraft  der  Gebirgsbäche  durch  den  Pferdegöpel  bewegt.  Die  Verhüt- 
tung des  Eisens  geschieht  mit  der  Holzkohle,  die  Stahlgewinnung  in 
der  alten  Form  des  Herdfrischens.  Die  Verarbeitung  des  Rohmetalls 
vollzog  sich  zuerst  im  Hammerwerk. 

Das  Handwerk  war  die  Grundlage  der  gewerblichen  Produktion, 
wenn  es  auch  in  seiner  technisch-wirtschaftlichen  Ordnung  rückständig, 
in  seiner  sozialen  gelockert  war.     Aus  ihm   waren  die  meisten  Manu- 
fakturarbeiter und  viele   Hausindustrielle  hervorgegangen.     Es  wurde 
rechtlicher  Vorschrift  gemäß  in  den  Städten   ausgeübt,  war  seit  Jahr- 
hunderten in  Zünften  oder  Innungen  gegliedert,   die  sich  streng  nach 
der  Beschäftigungsart  voneinander  abschlössen.     Es   war  Kleinbetrieb. 
Durch  mancherlei   Vorschriften,   wie  Verbot  der  Kompagniegeschäfte, 
Festsetzung  einer  geringen  Lehrlingszahl,  Beschränkung  der  Arbeits- 
mittel, der  Arbeitszeit  der  Gesellen,  des  Einkaufs  von  Rohstoffen,  so- 
gar  gelegentlich  der  herzustellenden  Waren,   war  dafür  gesorgt,  daß 
es  diese  seine  Eigenschaft  nicht  verlor.     Auf  dem  Lande  gab  es,   wie 
Schmiede,  Sattler,  Müller,  nur  einzelne  Handwerker,  die  dem  Landwirt 
unentbehrHch   waren,  und  die  die  Erlaubnis  zur  dortigen  Arbeit  von 
der   Staatsregierung  erhalten  hatten.     Es   war  sonst   das  flache  Land 
ganz  auf  die  Handwerksware  derjenigen  Stadt  angewiesen,  die  es  um- 
gab, wofür  es  seinerseits  diese  mit  Getreide,  Fleisch,  Milch  usw.,  mit  Ver- 

A.  Sartorius  v.  Wal  t  ersh  aus  e  n  ,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        2 


l8  !•  Abschnitt.     Einleitung:  Übersicht  über  das  deutsche  Wirtschaftsleben  usw. 

arbeitungsstoffen,  Häuten,  Wolle,  Holz  versah.  Ein  sehr  erheblicher 
Teil  der  Güterzirkulation  vollzog  sich  daher  auf  dem  Gebiete  von  nur 
wenigen  Geviertmeilen.  Diese  Wirtschaftsweise  war  weder  einer  Über- 
produktion, noch  einem  schwierigen  Aufsuchen  des  Verkaufs  ausgesetzt. 
Die  Bauersfrauen  brachten  Lebensmittel  auf  die  Wochenmärkte  und 
die  Handwerker  arbeiteten  für  Kunden  auf  Bestellung,  und,  soweit  sie 
ihre  Ware  auf  den  Jahrmärkten  ausstellten,  war  ihnen  der  Bedarf  des 
geringen  Umfangs  wegen  wohl  übersehbar.  Allgemeine  große  wirt- 
schaftliche Störungen,  die  sich  über  das  ganze  Land  hinzogen,  konnten 
wohl  durch  Kriege,  Mißernten  oder  Seuchen  hervorgebracht  werden, 
nicht  aber  durch  die  planlose  Anlage  übergroßer  Kapitahen,  die  nicht 
vorhanden  waren,  und  selbst  bei  ihrem  Angebot  keine  Gelegenheit  ge- 
habt haben  würden,  sich  zu  betätigen. 

Die   Hausindustrie   wurde  teils  in   den   Städten,  teils  auf  dem 
Lande,  im  mittleren  und  südlichen  Deutschland  oder  in  Schlesien  und 
Sachsen,  vorzugsweise  im  Gebirge,  wie  von  Webern,  Spinnern,  Spitzen- 
klöpplern,  Nagel-,  Löffel-,  Messerschmieden,  Holzschnitzern,  Strohflech- 
tern,    Uhrmachern,  Scherenschleifern,  Töpfern  u.  a.  m.  ausgeübt.     Der 
Verleger,    der   die   weder  im   Handwerk   noch   in   der   Landwirtschaft 
voll  beschäftigte  Bevölkerung  mit  Rohstoffen,  Halbfabrikaten,  Arbeits- 
mitteln und  Geld  versah,  die  Arbeitsprodukte  abnahm,  sie  auch  fabrik- 
mäßig vorarbeiten  ließ,  wie  im  Seidenge  webe,  oder  nacharbeiten  durch 
Färben,   Walken   und  Appretur,   sie   oft  weithin   auf   Jahrmärkte  und 
Messen  brachte  und  selbst  im  Auslande  vertrieb,  hatte  als  Kaufmann 
seinen  Sitz  in  der  Stadt,   wo  die  Zunftmeister,   die  bisweilen  selbst  an 
ihn  lieferten,  ihn  zu  dulden  hatten,  wie  er  auch  auf  Grund  der  Kon- 
zession die  Kleinbauern  oder  Häusler  auf  dem  Lande  beschäftigte.    Je 
nach  der  Konjunktur  des  Warenmarktes  waren  die  Arbeiter  von  ihm 
in    größerer    oder   geringerer   Abhängigkeit,    die   durch   Geldverschul- 
dung noch  gesteigert  werden  konnte.    In  „Wilhelm  Meisters  Wander- 
jahren" wird  eine  in  voller  Harmonie  der  Unternehmer,  Zwischenmän- 
ner und  Arbeiterfamilien  gut  gedeihende  Industrie  von  Spinnern  und 
Webern  auf  das  genaueste  geschildert.     Nur  die  Bedrohung  durch  die 
Maschine  wirft  ihre  Schatten  auf  das  freundliche  Gebilde  voraus.    In  der 
Kriegsperiode  und  unter  der  Kontinentalsperre,  die  den  Verkehr  viel- 
fach unterbrachen,   wurden  viele  Hausindustrien  schwer  betroffen,   so 
daß  sie  sich  zum  Beginn  der  weiterhin  zu  erzählenden  Zeitverhältnisse 
in   einer  wenig  beneidenswerten  Lage  befanden.     Es  zeigte  sich,   daß 
die    Absatzfrage    für    sie    die    wichtigste    geworden    war,    die    immer 
schärfer  hervortrat,  je  mehr  andere  Länder  zum  Wettbewerb  übergingen, 
und  je   mehr  die  politischen    Umwälzungen    die   Zollinien   verschoben. 
Die  Fabriken  waren  teils  von  Kaufleuten,  die  ihre  Hausindustri- 
ellen zu  Lohnarbeitern  gemacht  hatten,  teils  von  unternehmenden  Hand- 


ni.  Handwerk,  Hausindustrie,  Fabrik.  ig 


werkern,  teils  vom  Staate  begründet  worden.    Sie  waren  vorzugsweise 
ein    städtisches    Gewerbe,    das    vom    Merkantilismus    durch    Prämien, 
Monopole,   Geldzuschüsse,    durch   Einfuhrverbote    konkurrierender   Fa- 
brikate, durch  Ausfuhrverbote  der   erforderlichen   Rohstoffe   geschützt 
worden   war,  jedenfalls  wenn   ihre  Inhaber  den   Nachweis  erbrachten, 
daß  sie  viele  Arbeiter  beschäftigten,    Geld   in    das  Land  ziehen   oder 
durch  Lohnzahlung  das  Geld  im  Lande  erhalten  wollten.     In  Preußen 
hatte  Friedrich  der  Große  besonders  die  Seiden-,  WoU-,  Hut-,  Leinen-, 
Glas-  und  Porzellanmanufaktur,  die  Berg-  und  Hüttenbetriebe  gepflegt. 
Sie    waren    rasch    vorangekommen,    ohne    die    sichere    Grundlage    zu 
gewinnen,  die  sie  sich  in  weiterer  Konkurrenz  erkämpft  haben  dürfen. 
Ein   nicht   städtisches  größeres  Gewerbe  waren  die  Metallhütten. 
Die  Eisenerzeugung  war  ihres  Holzkohlenverbrauches  wegen  ganz  von 
dem    Waldbestand    abhängig,    über    den    die    Grund-    und    Territorial- 
herren die  Verfügung  hatten.    In  Schlesien  besaßen  die  Magnaten  die 
Erz-  und  Kohlenlager,  die  sie  in  eigener  Regie  ausbeuteten.  Im  Westen 
übten  die  größeren  Landesherren,    oft  im  Anschluß  an  ihre  Domänen, 
den  Berg-  und  Hüttenbetrieb  aus,  teils  hatten  sie  und  andere  berech- 
tigte  Grundherren   ihr   Bergregal    privaten    Unternehmern    überlassen, 
die  von  ihnen  das  nötige  Holz  bezogen.    Die  rheinischen  Unternehmer 
waren   um    1800   schon   meist   zu   voller   Selbständigkeit   gelangt,   und 
wir  treffen  hier  schon  manche  der  später  bekannten  Firmen  an.     Mit 
der  verfeinerten  Eisenverarbeitung  hatten  sie  nichts  zu  tun;  Eisengießerei 
war  mit  ihren  Öfen  gelegentlich  verbunden.    Während  der  Franzosen- 
zeit  wurden    die    Reste    der   Feudalherrschaft    auf  dem  linken  Rhein- 
ufer  beseitigt.     Die   Hütten    wurden   freies   Eigentum,   die   alten    Ab- 
gaben, die  Holzschutzgesetze  und  Holzlieferungsverträge  verschwanden. 
Der  Holzhandel  wurde  dem  freien  Kauf  unterstellt.    Am  rechten  Rhein- 
ufer blieben  in  Hessen  und  Nassau  einige  der  ehemaligen  Rechtsverhält- 
nisse fortbestehen.   In  Preußen  galt  die  Gewerbefreiheit,  unter  der  viele 
kleine   Hüttenbetriebe   zugrunde   gingen.     Am   besten   hielten  sich  die 
alten  Werke  in  Schlesien,  an  der  Saar  und  der  Mosel. 

Handwerk,  Hausindustrie  und  Fabrik  hatten,  so  einfach  sie  sich 
begrifflich  voneinander  abtrennten,  in  der  Praxis  diese  strenge  Schei- 
dung nicht.  Das  erstere  bedurfte  der  Kaufleute  zum  Fernabsatz  und 
geriet  so  in  die  Zustände  der  zweiten  hinein;  diese  hatte  die  Technik 
der  dritten  nötig,  um  das  Gewerbe  zu  vervollständigen,  und  die  Fabriken 
waren  oft  so  klein,  daß  sie  die  regelmäßige  Kundenversorgung  zur 
Hauptsache  machten. 

Die  gesamte  gewerbliche  Produktion  war  der  staatlichen  Auf- 
sicht bis  zum  Anbruch  der  neuen  Zeit  unterworfen  gewesen.  Die 
Selbstverwaltung  der  Zünfte  war,  als  sie  zu  Mißbräuchen  geführt  hatte, 
beschränkt  worden,  ihr  Statut  wurde  geprüft,  die  Gerichtsbarkeit  ihnen 


20  !•  Abschnilt.     Einleitung:  Übersicht  über  das  deutsche  "Wirtschaftsleben  usw. 

in  der  Hauptsache  genommen.  Die  Beamten  griffen  in  das  Verhältnis 
von  Meistern  und  Gesellen  ein,  beanstandeten  das  Meisterstück,  durch 
dessen  Anfertigung  der  Geselle,  nachdem  er,  aus  der  Lehrlingsschaft 
entlassen,  mehrere  Jahre,  um  seine  Arbeiten  vielseitig  zu  erlernen,  von 
Stadt  zu  Stadt  gewandert  war,  seine  Befähigung  zum  selbständigen 
Betrieb  nachweisen  mußte.  Die  Güte  und  Preiswürdigkeit  der  Hand- 
werksware sind  unter  polizeilicher  Aufsicht. 

Auch  für  die  Hausindustrie  bestanden  staatliche  Ordnungen,  die 
für  das  technische  und  wirtschaftliche  Ineinandergreifen  so  vieler  zer- 
streuter Kräfte  und  für  die  gute  Beschaffenheit  der  Waren  zu  sorgen 
und  die  Heimarbeiter  vor  Übervorteilungen  zu  behüten  hatten.  Für 
das  schlesische  Leinengewerbe  war  z.  B.  1788  eine  eingehende  Gesetz- 
gebung erlassen  worden,  die  den  Flachshändlern,  Spinnern,  Garnsamm- 
lern, Blattbindern,  Leinwand-  und  Schleierwebern,  Schaumeistern, 
Stemplern,  Leinwandsammlern  und  Kaufleuten  vorschrieb,  was  sie  zu 
tun  und  zu  lassen  hatten.  Schauämter  und  Oberschauämter,  Kon- 
zessionen und  Kriminalstrafen,  Revisionen  und  Denunziationen  sollten 
untereinander  wetteifern,  um  die  Staatsregierung,  die  Verbraucher  und 
alle  am  Gewerbe  Beteiligten  zufrieden  zu  stellen. 

Im  preußischen  Bergbau  auf  dem  rechten  Rheinufer  unterwarf 
das  allgemeine  preußische  Landrecht  die  Privatwirtschaft  der  Direktion 
der  Staatsbehörden.  Der  Staat  erteilte  die  Erlaubnis  zum  Betrieb 
allein  und  überwachte  ihn  vom  ersten  Tage  seiner  Anlage  an,  griff 
nicht  nur  in  die  technische  Produktion  und  in  das  Arbeitsverhältnis 
zu  den  Knappen  und  deren  Kassen  ein,  sondern  regelte  auch  Preise, 
Ausbeute,  Zubuße  und  selbst  den  Absatz.  Damit  die  Produktenpreise 
nicht  gedrückt  würden  und  der  Staat  seine  Einnahmen  aus  den  Berg- 
werken nicht  verlöre,  konnte  die  Erlaubnis  des  Betriebes  entzogen  werden, 
bis  das  Angebot  mit  der  Nachfrage  wieder  ausgeglichen  war.  Diese 
kunstvolle  Regelung  des  Marktes  ist,  nachdem  sie  in  der  Mitte  des 
Jahrhunderts  von  der  liberalen  Wirtschaftspolitik  fortgefegt  worden 
war,  am  Ende  desselben,  wenn  auch  unter  anderen  Motiven,  von  dem 
Verein  der  privaten  Bergwerksbesitzer  dann  wieder  aufgenommen 
worden. 

Die  staatliche  Aufsicht  und  Unterstützung,  so  segensreich  sie 
zeitweise  gewirkt  hatten,  waren  im  Anfang  des  neuen  Jahrhunderts 
zu  einer  schematischen  Reglementierung  entartet,  weil  die  individuellen 
Fortschritte  in  der  Vielartigkeit  der  Produktion  und  des  Verkehrs 
unübersehbar  geworden  waren.  Die  Zünfte  mit  ihren  Monopolen 
hatten  sich  überlebt,  waren  erstarrt,  nachdem  sie  Jahrhunderte  die 
Meister  sichergestellt  und  eine  soziale  aufsteigende  Klassenbewegung 
gewährt  hatten;  ihre  Abgrenzung  führte  jetzt  zu  unaufhörlichen  Rechts- 
und Kompetenzstreitigkeiten,  seitdem  die  Arbeit  sich  mehr  spezialisierte. 


III.  Handwerk,  Hausindustrie,  Fabrik.  2  I 

Sie  hemmten  sich  gegenseitig  und  bekämpften  gemeinsam  die  Fabriken 
und  Hausindustrien,  die  ihnen  oft  überlegen  waren.  Die  strenge  so- 
ziale Gliederung  war  durchbrochen,  das  Wandern  der  Gesellen  über- 
flüssig geworden,  die  Ausbildung  der  Lehrlinge  war  unvollkommen, 
und  die  Ausschließung  der  fremden  Konkurrenz  hatte  den  Meistern 
ein  übertriebenes  Sicherheitsgefühl  anerzogen,  so  daß  sie  ihre  Pflichten 
vergaßen,  die  sie  der  Stadt  und  dem  Gewerbe  schuldeten. 

Kein  Wunder,  daß  die  Lehre  von  der  wirtschaftlichen  Freiheit, 
die  die  französischen  Physiokraten  und  der  Schotte  Adam  Smith 
mit  der  menschlichen  Gleichheit  des  Erwerbstriebes,  der  besten  wirt- 
schaftlichen Einsicht  jedes  Einzelnen,  der  Übereinstimmung  des  Einzel- 
interesses mit  dem  der  Gesamtheit  begründeten,  in  Deutschland  rasch 
Zustimmung  für  die  stoffverarbeitenden  Gewerbe  fand. 

Die  Ideen  des  Smith  sehen  Buches  „Über  den  Reichtum  der 
Nationen"  wurden  in  Übersetzungen  von  Schiller  und  Garve  und 
in  Auszügen,  Verarbeitungen  unter  Kritik  einzelner  Punkte  und  An- 
passung an  die  deutschen  Verhältnisse  —  zu  nennen  sind  die  Werke 
von  Ch.  J.  Kraus,  H.  L.  v.  Jacob,  J.  F.  E.  Lotz,  G.  Sartorius 
welch  letzterer  zu  den  ersten  gehörte,  die  durch  ihre  Vorlesungen 
und  Praktika  der  Nationalökonomie  auf  deutschen  Universitäten  das 
Bürgerrecht  verschafften  —  rasch  verbreitet  und  genossen  bald  eines 
größeren  Ansehens  hinsichtlich  der  Gewerbepolitik  als  in  England, 
das  die  Zünfte  nicht  mehr  kannte. 

Was  die  neue  Lehre  in  der  Praxis  verlangte,  war  überwiegend 
negativ,  die  Beseitigung  aller  gewerblichen  öffentlich-rechtlichen  Fesseln. 
Zu  den  großen  Reformen  in  Preußen  gehörte  auch  die  Einführung 
der  Ge Werbefreiheit  (1808 — 181 1),  die  wie  in  Frankreich  den  selb- 
ständigen Gewerbebetrieb  unbescholtener  Personen  lediglich  von  der 
Lösung  eines  Gewerbescheines  und  der  Zahlung  der  Gewerbesteuer 
abhängig  machte,  den  Prüfungsnachweis  nur  von  wenigen  Gewerben, 
bei  deren  „ungeschicktem  Betrieb  gemeine  Gefahr  obwaltet",  ver- 
langte und  die  Zünfte  als  freie  Verbände  fortbestehen  ließ.  Der  recht- 
liche Unterschied  von  Stadt  und  Land  wurde  für  das  Gewerbe  beseitigt, 
die  Monopole  der  Zwangs-  und  Bannrechte  fielen  gleichzeitig,  Das 
Gesetz  galt  zwar  nur  für  das  kleine  Preußen  damaligen  Bestandes. 
Zu  derselben  Zeit  wurden  jedoch  ähnliche  Maßregeln  westlich  der  Elbe 
verwirklicht,  soweit  die  französische  Herrschaft  selbst  mittelbar  reichte. 
Für  Bergbau,  Hütten  und  Fabriken  war  linksrheinisch  das  Konzessions- 
system Rechtens  geworden,  das  größere  Kapitalzusammenfassungen 
gestattete,  wenn  es  sonst  auch  lästig  empfunden  wurde.  Was  im 
Westen  1815  preußisch  wurde,  behielt  das  französische  Gewerberecht 
bei,  während  die  Gebiete  des  Königreichs  Westfalen,  Hannover,  Olden- 
burg,  Kurhessen  und    auch  Bremen    die   Innungen,   zwar   mit   einigen 


22  I-  Abschnitt.     Einleitung:  Übersicht  über  das  deutsche  Wirtschaftsleben  usw. 


Abweichungen  gegen  früher,  wieder  aufleben  heßen.  In  den  von 
Preußen  neu  erworbenen  sächsischen  Landesteilen  ließ  man  sie  als 
rechtliche  Anomalie  fortbestehen.  Obwohl  im  östlichen  Bayern  nach 
dem  Edikt  von  1818  —  die  Pfalz  behielt  das  französische  Recht  — 
das  staatliche  Konzessionssystem  für  jedes  verarbeitende  Gewerbe  bei- 
behalten wurde,  so  hatte  doch  die  Zunftverfassung  auch  hier  einen 
starken  Stoß  erhalten  und  wurde  von  der  Regierung  nirgends  ernstlich 
geschützt.  Um  1820  konnte  ein  wandernder  Geselle,  nur  mit  dem 
Zeugnis  seiner  Ortsbehörde  versehen,  in  ganz  Deutschland  Arbeit 
suchen,  ohne  daß  sich  jemand  um  seine  zünftige  oder  unzünftige  Eigen- 
schaft bekümmerte. 

Vom  Standpunkt  der  Ausbildung  Deutschlands  zu  einer  einheit- 
lichen Volkswirtschaft  war  die  Einführung  der  Gewerbefreiheit  eine 
geschichtliche  Notwendigkeit.  Nur  unter  ihr  konnten  die  örtlich 
zwischen  Stadt  und  Land  abgeschiedene  Wirtschaftsweise  und  die 
Eigenproduktion  beseitigt  werden.  War  die  Hinfälligkeit  des  alten 
Systems  schon  in  der  Zeit  nach  dem  Tode  Friedrichs  des  Großen 
erkannt  worden,  als  Straßen  und  Posten  den  Fernverkehr  zu  beleben 
begannen,  und  die  Fabriken  und  Hausindustrien  Verbesserungen  vor- 
nahmen, so  mußte  dies  nach  18 15  um  so  mehr  empfunden  werden,  als 
alle  größeren  deutschen  Staaten  auf  Transport-  und  Nachrichten- 
erleichterung drangen,  und  das  Maschinenwesen  und  der  Dampfmotor 
vom  Ausland  hineinzukommen  sich  anschickten.  Die  freie  Konkurrenz 
wurde  als  das  geeignetste  Mittel  erkannt  der  persönhchen  Tüchtigkeit 
alle  Neuerungen  zugänglich  zu  machen  und  durch  die  Vermittelung 
der  Auslese  eine  soziale  Schichtung  zu  ermöglichen,  die  den  Ansprüchen 
der  modernen  Technik  am  sichersten  entsprach.  Rauh  und  hart  mußte 
sie  zwar  in  das  Dasein  derer  eingreifen,  die  nicht  folgen  konnten. 
Aber  die  Periode  des  Überganges,  das  Chaos  von  alt  und  neu  konnte 
den  wirtschaftlichen  Individualismus  nicht  entbehren,  auch  um  neue  Mög- 
lichkeiten des  Zusammenschlusses  auszuprobieren.  Alle  Bestrebungen 
nach  1815,  dem  alten  Zunftwesen  wieder  Leben  einzuhauchen,  mußten 
erfolglos  bleiben,  weil  sie  der  wirtschaftlichen  Umwälzung  der  Zeit 
nicht  angepaßt  waren.  Erst  an  der  Grenze  des  nationalen  Wirtschafts- 
gebietes war  dem  freien  Wettbewerb  ein  Halt  zuzurufen,  weil  das  in 
einem  Lande  sich  vollziehende  Produzieren  Selbstzweck  seiner  Ent- 
wicklung ist,  solange  eine  zwischenstaatliche,  rechtlich  geordnete 
Staatengemeinschaft  nicht  besteht. 

IV.  Transportverkehr  und  Handel.  Sich  die  Personen- 
beförderung am  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  vorzustellen,  ist  für  jeden, 
der  mit  der  schönen  Literatur  jener  Zeit  nur  einigermaßen  vertraut 
ist,  nicht  schwer.  Goethe  ist  viel  gereist  und  hat  Aufzeichnungen 
auch    über    seine    äußeren   Reiseerlebnisse    hinterlassen.      Aus    Jean 


IV.  Transportverkehr  und  Handel.  2  '^ 


Paul  erfahren  wir,  eine  wie  umständliche  Sache  es  für  Dr.  Katzen- 
berger  war,  einige  Meilen  vorwärts  zu  kommen,  um  seine  Badereise 
auszuführen,  der  Dichter  spottet  aber  auch  über  die  Besorgnisse  des 
vermutlichen  katechetischen  Professors  Attila  Schmelzle,  der  bei  seiner 
Ferienreise  nach  Flätz  Schienen  gegen  Arm-  und  Beinbruch  für  das 
gefürchtete  Wagenumstürzen  mitzunehmen  nicht  vergessen  hatte. 
W.  V.  Kügelgen  erzählte  in  den  , .Jugenderinnerungen  eines  alten 
Mannes"  seine  Winterreise  nach  Thüringen  von  1814,  auf  der  der 
Wagen,  nachdem  er  auf  der  Straße  lange  wie  ein  Trunkenbold  von 
einer  Seite  zur  andern  getaumelt  war,  in  einem  Schneeloch  wie  ange 
nietet  stecken  blieb,  bis  ein  Detachement  russischer  Soldaten  die  un- 
glücklichen Insassen  erlöste. 

Neben  dem  Reiseroman  sind  die  Reisebeschreibungen  der  Rhein-, 
Schweiz-  oder  Italienfahrten  häufig,  aus  denen  sich  die  Entfernungen 
zusammenrechnen  lassen,  die  man  täglich  zurücklegen  konnte. 

Uns    kommen   die   Zustände  unbehaglich   vor,   unter  denen    eine 
Tagesfahrt  von  6  Meilen  als  eine  durchschnittliche  Leistung  der  Post- 
kutsche galt,  aber  man   kannte   es  damals  nicht    anders    und  war    zu- 
frieden, wenn  man  sich  einen  guten  Platz   gesichert  hatte,   die   Pferde 
trabten  und  die  Wirte  einen  nicht  zu  arg   prellten,  gegen   deren  Ver- 
fahren uns  Knigges   Buch  „Umgang  mit  Menschen"   Maßregeln   er- 
halten hat.     Wer  es  sich  gönnen   konnte,    einen    eigenen   Reisewagen 
zu  halten,  und  keine  Ausgaben  für  Relais  zu  scheuen   hatte,   kam  bei 
gutem  Wetter  auch  damals  schon  rasch  vorwärts.     Der  eigene  Wagen 
gehörte    zu    den    Bedürfnissen    der    wohlhabenden    Klasse.     Daß    auch 
dieser  auf  der  schlechten  Straße  einmal  zusammenbrach  und  dann  eine 
Hauptreparatur    nötig   hatte,  ist  ein   mehrfach    gebrauchter  Ausgangs- 
punkt von  Novellen,  die  an   den    unfreiwilligen  Aufenthalt  anknüpfen. 
Eduard    Genast    gibt   in    seinen  „Erinnerungen    eines   alten   Schau- 
spielers"   eine    anschauliche    Beschreibung    der    Fürstlich    Thurn    und 
Taxisschen    Postkarosse    von    1816:     „Auf    zwei    mit   Kuhhaaren    ge- 
polsterten,   mit    Leder    überzogenen    Bänken,    die    in    Riemen    hingen, 
konnten  sechs  Personen  bequem  Platz  nehmen,  wenn  nämlich  ihr  Hüften- 
umfang   das  Maß   von  je    15  Zoll   nicht   überstieg.     Der   Wagen    war 
langgestreckt,   damit   im    Hintergrunde    desselben    das   Gepäck   aufge- 
nommen werden  konnte;  wenn  umgeworfen  wurde,  lief  man   weniger 
Gefahr,  den  Hals  zu  brechen,  als  von  Kisten  und  Kasten  totgeschlagen 
zu  werden".     Dieser  Luxus,   setzt   er   hmzu,    galt   nur   für   die   Haupt- 
straße, auf  den  Nebenlinien  waren   die  Fuhrwerke    weniger   glanzvoll. 
Sie  bestanden    aus  Leiterwagen,   auf   denen    zwei   Bretter   mit   Ketten 
befestigt  waren,   und    obdachlos   fuhren    die    armen    Passagiere    dahin. 
Genasts  Reise  von  Weimar  nach  Stuttgart   ging  sehr  langsam.     In 
5  Stunden    erreichte   die    Karosse  Erfurt,   wohin    er    in    4  Stunden    zu 


24  I-  Abschnitt.     Einleitung:  Übersicht  über  das  deutsche  Wirtschaftsleben  usw. 

Fuß  gelangen  konnte.  Man  wußte  mit  immer  neuen,  frischen  Pferden 
auch  anders  voranzukommen,  Napoleon  fuhr  1806  in  zweimal  24 
Stunden  in  seinem  Schlafwagen  von  München  über  Straßburg  nach 
Paris,  wozu   19 14  der  beste  D-Zug  noch   15  Stunden   gebrauchte. 

Ein  sicheres  und  schnelleres  Reisen  begann  mit  der  Anlage  von 
Straßen  auf  Steinunterbau.  Zur  Zeit  der  Befreiungskriege  war  sie 
noch  selten.  Die  erste  vollkommene  östlich  der  Elbe  war  1791/93  von 
Berlin  nach  Potsdam  gebaut  worden.  In  Süddeutschland  hatte  man 
schon  in  den  fünfziger  und  sechsziger  Jahren  einige  verbesserte  Straßen 
angelegt.  Die  Chausseen  waren  anfangs  schmal  und  steil,  nur  mit 
den  allernötigsten  Brücken  versehen  und  mit  zu  großen  Steinen  be- 
schottert. Vor  allem  waren  sie  ein  Fortschritt  für  den  Güterverkehr. 
Auf  größere  Entfernungen  konnten  vor  ihrem  Entstehen  Massengüter 
wie  Holz,  Eisen,  Getreide  der  Kosten  wegen  mittels  Achse  nicht  ver- 
frachtet werden.  Man  berechnete  es  als  ein  ungemeines  Ersparnis, 
daß  auf  den  Chausseen  5  Pferde  dasselbe  ziehen  konnten,  wie  15  auf 
den  alten  Landwegen  und  25  über  weichen  Lehmboden.  Benachbarte 
Städte  konnten  daher,  je  nach  der  örtlichen  Ernte,  ganz  verschiedene 
Marktpreise  haben.  Im  Hungerjahr  1805  kostete  der  Scheffel  Weizen 
in  Breslau  8  Tlr.  13  Sgr.,  in  Löwenberg  13  Tlr.,  Roggen  in  Breslau 
7  Tlr.  8  Sgr.,  in  Haynau   10  Tlr. 

Die  Unmöglichkeit  einer  großen  Zufuhr  an  Nahrungsmitteln  — 
nur  das  magere  Vieh  brachte  sich  selbst  vorwärts,  worauf  1826 
Thünen  in  seinem  „Isolierten  Staat"  den  Wirtschaftsbetrieb  einer  weit 
von  dem  Markt  entfernten  Zone  begründet  hatte  —  verhinderte  das 
Anwachsen  der  Städte,  falls  nicht,  wie  von  Köln,  Mainz,  Hamburg, 
Berlin  aus  die  Wasserstraße  des  Flusses  oder  des  Meeres  ausgenutzt 
werden  konnte,  worauf  schon  A.  Smith  aufmerksam  gemacht  hatte, 
als  er  die  Grenzen  der  gewerblichen  Arbeitsteilung  in  der  Stadt  unter- 
suchte. 

Wenn  wir  die  relativ  niedrige  Stufe  der  Gütererzeugung  des 
damaligen  Deutschland  mit  der  überlegenen  Kraft  Englands  und  auch 
Frankreichs  vergleichen,  so  werden  wir  die  schlechten  Transportmittel 
mit  dafür  verantwortlich  machen  dürfen.  Letzteres  war  reich  an  natür- 
lichen Wasserstraßen,  die  durch  Kanäle  verbunden  waren,  und  des 
ersteren  Küsten-  und  Flußschiffahrt  so  entwickelt,  daß  die  vielen 
Hafenstädte  an  den  tiefen  Seeeinbuchtungen  leicht  miteinander  in  Ver- 
bindung traten.  Den  deutschen  Binnenstädten  war  es  nur  mit  wert- 
vollen Fabrikaten  möglich,  das  Meer  zu  erreichen  und  an  dem  Welt- 
handel teilzunehmen.  Im  östlichen  Deutschland  hatten  der  Große  Kur- 
fürst und  Friedrich  der  Große  den  Binnenwasserstraßen  ihre 
Fürsorge  zugewandt,  während  im  Westen  und  Südwesten  die  Klein- 
staaterei   weder   Mittel   noch   Übereinstimmung   zu   so   großen    Unter- 


IV.  Transportverkehr  und  Handel.  2  S 


nehmungen  besessen  hatte.  Der  Verkehr  auf  den  schiffbaren  Strömen 
wurde  durch  mancherlei  Zölle  und  Abgaben  erschwert.  Die  Straße 
des  Rheins,  der  Elbe,  der  Weser,  der  Donau,  des  Mains  waren  durch 
Zollstätten  dicht  besetzt.  Vor  der  französischen  Eroberung  des  linken 
Ufers  gab  es  auf  dem  Rhein  nicht  weniger  als  30  Orte  für  die  Zoll- 
erhebung, von  Bingen  bis  Koblenz  auf  einer  Strecke  von  5  Meilen  9. 
Öfters  lagen  die  Zollhäuser,  je  nachdem  die  Landesgrenzen  wechselten, 
ziemlich  nahe  beieinander,  aber  auf  dem  entgegengesetzten  Ufer,  so 
daß  die  Schiffer  genötigt  waren,  hin  und  her  zu  kreuzen.  Zwischen 
Hannovrisch-Münden  und  Bremen  haben  21  Abgabestätten  gelegen. 
Zu  diesen  Plackereien  kamen  noch  die  Stapelrechte,  die  ursprünglich 
im  berechtigten  Interesse  der  mittelalterlichen  städtischen  Entwicklung 
und  der  Sicherheit  des  Handels  entstanden  waren,  die  Auslage  der 
Waren  für  einige  Zeit  verlangten,  damit  die  Käufer  sich  nach  ihrer 
Wahl  versorgen  konnten.  Sie  hatten  sich  längst  überlebt.  Die  zum 
Durchgang  bestimmten  Güter  mußten  umgeladen  werden  und  wurden 
von  anderen  Schiffern  weiterbefördert.  Die  Schiffergilden  hatten  das 
Verfrachtungsmonopol,  das  räumlich  beschränkt  war.  Der  Wiener 
durfte  auf  der  Donau  nur  bis  Regensburg,  der  Regensburger  bis  Ulm 
fahren,  Köln,  Mainz,  Worms  und  Speyer  übten  das  Stapelrecht  auf  dem 
Rhein  aus,  Trier  auf  der  Mosel,  Alagdeburg  auf  der  Elbe.  Die  Be- 
seitigung brachte  für  den  Rhein  die  Wiener  Kongreßakte,  für  die  Elbe 
das  preußische  Zollgesetz  von  18 18.  Passau  gab  erst  1842  das  Um- 
laderecht gegen  Entschädigung  auf. 

Daß  bei  den  unvollkommenen  Transporteinrichtungen  die  Brief- 
post nur  langsam  arbeiten  konnte,  versteht  sich  von  selbst.  Post- 
büros hatten  nur  die  Städte,  aus  denen  die  Landbewohner  ihre  Sen- 
dungen abholen  mußten.  Die  größeren  Staaten  hatten  ihrer  Ordnung 
doch  schon  viel  Umsicht  zugewandt  und  die  verwickelten  Territorial- 
verhältnisse, soweit  es  ging,  berücksichtigt.  In  der  Periode  von  1804/15, 
in  der  die  überkommene  Staatsabgrenzung  über  den  Haufen  geworfen 
worden  war,  wurde  der  alte  Zusammenhang  zerrissen  und  rücksichts- 
los die  Briefbeförderung  in  den  politischen  und  militärischen  Dienst 
des  Eroberers  gestellt.  Es  war  daher  eine  völlige  Neuordnung  nach 
dem  Friedensschluß  nötig.  Preußen  hatte  für  den  Rest  seines  Be- 
sitzes bereits  mit  einer  Regierungsinstruktion  von  1808  vorgearbeitet, 
und  zwar  in  der  Betonung  des  damals  ganz  neuen  Gedankens,  „daß 
das  Institut  der  Posten  mehr  einen  staatswirtschaftlichen  als  einen 
finanziellen  Zweck  habe,  letzterer  zwar  nicht  zu  vernachlässigen,  jedoch 
im  Kollisionsfalle  dem  ersteren  untergeordnet  sein  müsse". 

Der  Großhandel  konnte  sich  bei  den  bestehenden  Transport- 
einrichtungen auf  den  Bezug  oder  Verkauf  von  billigen  Massenprodukten 
nur  einlassen,  wenn  ihm  eine  Wasserstraße  zur  Verfügung   stand,  wie 


20  !•  Abschnitt.     Einleitung:  Übersicht  über  das  deutsche  Wirtschaftsleben  usw. 

z.  B.  Berlin   von    den   nahen    Provinzen   mit  Getreide   versorgt  wurde, 
oder   wie   bei   der   Holzflößerei   vom   Schwarzwald   nach   Holland,   die 
noch  bis  in  die  Mitte  des   19.  Jahrhunderts  bedeutend  war,  bis  sie  der 
Konkurrenz    der    norwegischen    und    amerikanischen    Hölzer    und    der 
billigen  Eisenbahnfracht  erlag.  Nachdem  die  Tannenstämme  und  eichenen 
Holzstücke   durch   die  Wildflößer   auf   den    Nebenflüssen,    wie  Neckar 
und    Kinzig,    zum   Rhein    herabgeschwemmt    waren,    wurden    sie    hier 
von  den  Langflößern,  die  wie  jene  in  der  Staatsverwaltung  unterstellten 
Gilden    mit  Rheinvogt,  Rheingeschworenen,  deren  ältester  der  Rhein- 
fähndrich hieß,  zusammengefaßt  waren,  zu  einem  Langfloß  verbunden. 
Von    einem   1802    von    Mannheim   abgehenden    wird   berichtet,    daß   es 
732  Fuß  lang,  84  Fuß  breit  und  7  Fuß  tief  gewesen  sei.    450  Ruder- 
knechte  trieben    es   mit  52  Schlagrudern   im  Takte  vorwärts,   den   die 
Floßmeisterknechte    nach    dem    Winke    des    auf    dem    18    Fuß   hohen 
Steuerstuhl  sitzenden  Steuermannes  mit  einer  Gerte  vorschlugen.     Man 
verglich  das  Floß,  auf  dem  außer  den  Vorgenannten   noch  80  Anker- 
knechte,  der   Floßherr,   d.  h.    der   Holzeigentümer   mit  seiner  Familie, 
Proviantmacher  und  Köche  wohnten    und   speisten,  mit  einem   kleinen 
Staat,  der  sich   nach  zwölfwöchentlicher  Fahrt   in  Holland,  wo  das  zu 
Schiffsplanken    und    Mastbäumen    dienliche    Holz    versteigert    wurde, 
auflöste. 

Viele  Gegenstände,  die  heute,  sei  es  von  den  Fabriken  direkt 
oder  durch  Großhändler  an  die  Kleinhändler  verschickt  werden,  wie 
Schuhe,  Leder-  und  Sattelzeug,  Kleider,  Hüte,  kamen  überhaupt  kaum 
in  den  Handel,  da  sie  bei  den  Handwerkern  bestellt  wurden,  auch 
dann  noch,  als  der  Zunftzwang  gefallen  war.  Der  Kaufmann  hatte 
es  im  Binnenlande  vor  allem  mit  zwei  Gruppen  wertvoller  Waren  zu 
tun,  die  der  hohen  Fracht  gewachsen  waren:  erstens  mit  den  aus- 
ländischen, die  das  Inland  nicht  herstellte,  Pelzwerk,  Juchten,  Tee  aus 
Rußland,  Tabak  und  Zucker  aus  Nordamerika  und  Westindien,  Wein 
aus  Frankreich,  Portugal,  Spanien,  Gewürze  aus  dem  fernen  Orient, 
Südfrüchte,  Seide,  Olivenöl  aus  Italien;  zweitens  mit  den  in  den  Haus- 
industrien und  Fabriken,  seltener  im  Handwerk  hergestellten  wertvollen 
Waren,  die  hauptsächlich  aus  Deutschland,  im  Westen  aber  auch  aus 
Frankreich  und  den  Niederlanden,  und  seit  dem  letzten  Viertel  des 
18.  Jahrhunderts  in  steigender  Weise  auch  aus  England  herstammten. 
Der  Ausfuhrhandel  an  der  Ostsee  erstreckte  sich  vor  allem  auf 
Getreide,  an  zweiter  Stelle  auf  Bauholz,  Wolle  und  Leinwand  von 
Elbing,  Königsberg,  Stettin,  Stralsund,  Lübeck  und  Rostock  aus,  auch 
von  Danzig,  das  jedoch  seit  der  Teilung  Polens  gelitten  hatte,  da  die 
preußische  Zollpolitik  die  Durchfuhr  aus  Russisch-Polen  erschwerte. 
Hamburg  und  Bremen  handelten  mit  allen  europäischen  Staaten,  die 
auf  dem  Meere  erreichbar  waren,  ferner  mit  Nord-  und  Mittelamerika. 


IV.  Transportverkehr  und  Handel.  27 

Während  des  amerikanischen  Unabhängigkeitskrieges  hatten  sie  als 
Neutrale  viel  verdient  und  den  Handel  Hollands  zum  Teil  an  sich 
gerissen,  als  auch  dieses  Land  in  den  Krieg  verwickelt  wurde.  Englands 
Zwischenhandel  zwischen  seinen  abtrünnigen  Kolonien  und  dem  euro- 
päischen Festlande  wurde  durch  direkten  Verkehr  der  Hanseaten  ab- 
gelöst. Unter  dieser  günstigen  Konjunktur  entstanden  im  zollfreien 
Hamburg  mancherlei  Industrien,  die  sich  auf  die  Ausfuhr  zur  See 
begründeten,  aber  auch  der  Zwischenhandel  zwischen  England  und 
Frankreich  einerseits,  Rußland  und  den  nordischen  Staaten  andererseits, 
brachte  damals  viel  ein.  Die  Liste  der  Hamburger  Ausfuhrgüter  war 
eine  lange  geworden,  manches  davon  kam  elbaufwärts  aus  dem  inneren 
Deutschland.  Die  Neutralität  während  der  Revolutionskriege  brachte 
neue  Vorteile,  in  8  Jahren  war  die  Zahl  der  jähriich  einlaufenden 
Schiffe  um  450  gestiegen.  Das  Geschäft  war  teils  auf  eigenen  Schiffen 
betrieben  worden,  teils  kamen  wieder  holländische  und  englische,  bis 
ihnen  die  Kontinentalsperre  den  Weg  verlegte.  Die  süddeutschen 
Handelsstädte,  wie  Nürnberg  und  Augsburg,  suchten  ihren  Absatz 
auch  in  der  Schweiz,  Österreich,  Italien.  Sie  hatten  damals  viel  von 
ihrer  ehemaligen  Blüte  eingebüßt.  Der  Wechselhandel,  der  bei  der 
Vielartigkeit  des  Geldwesens  dringend  geboten  war,  hatte  seinen 
Hauptsitz  in  Frankfurt  a.  M.,  an  zweiter  Stelle  kam  Augsburg. 

Die  Großkaufleute  einer  binnendeutschen  Hauptstadt,  die  mit 
vielerlei  einheimischen  Gewerbeerzeugnissen  handelten,  wandten  sich 
an  andere  der  erzeugenden  Städte,  die  ihrerseits  den  Herstellern  Auf- 
träge erteilten,  einkauften,  verpackten,  verfrachteten  und  verkauften. 
Etwaiges,  vom  Ursprungsort  her  nicht  direkt  von  ihnen  Verlangtes 
nahmen  sie  auch  in  Kommission.  Soweit  sie  inländische  Rohstoffe 
oder  Kolonialwaren  vertrieben,  bezogen  sie  von  Großaufkäufern  in 
ländlichen  Bezirken,  z.  B.  Wolle,  Flachs,  Raps,  Häute,  oder  von  Ham- 
burger oder  Bremer  Importeuren  westindischen  Zucker,  kubanischen 
Kaffee,  mexikanisches  Farbholz,  chinesischen  Tee  usw.,  alles  in  größeren 
Mengen,  die  sie,  nach  Bezahlung,  in  ihren  Räumen  aufstauten,  um 
sie  in  Teilen  an  die  Kleinhändler  des  Ortes  oder  der  Provinz  weiter- 
zugeben, nachdem  diese  sich  das  Benötigte  durch  Augenschein  aus- 
gesucht hatten.  Gustav  Freytag  gibt  uns  in  „Soll  und  Haben" 
eine  eingehende  Schilderung  einer  solchen  Breslauer  Großhandlung  mit 
ihren  Packhöfen,  gewölbten  Kellern,  Speichern,  mit  ihren  Frachtwagen, 
Krahnen,  Ballen,  Kisten,  Fässern,  Säcken,  zwischen  denen  waren- 
kundige Kommis,  Buchhalter,  Schreiber,  Packer,  Auf-  und  Ablader 
unter  Aufsicht  des  alles  übersehenden  und  anordnenden  Geschäfts- 
herrn walten.  Ist  schon  dieser  kommerzielle  Mikrokosmus  durch  seine 
ineinandergreifende  Technik  ein  Ganzes  für  sich,  so  wird  dieser  Zu- 
stand   durch    die    soziale  Gliederung    noch   dadurch    gefestigt,   daß  die 


28  I-  Abschnitt.     Einleitung:  Übersicht  über  das  deutsche  Wirtschaftsleben  usw. 

unverheirateten  Angestellten  und  Lehrlinge  im  Hause  des  Kaufmannes 
wohnen  und  seiner  Disziplin  auch  im  privaten  Leben  unterstellt  sind, 
daß  alles  Personal  nur  selten  die  Stelle  wechselt  und  von  unterer  zu 
höherer  Stufe  bei  guter  Führung  und  Befähigung  im  Verlaufe  der 
Jahre  aufsteigt. 

Eine  andere  Form  des  Großhandels  war  die  Messe,  die  sich  durch 
Ein-  und  Ausläuten  noch  die  Erinnerung  an  die  ehemaligen  Kirchen- 
feste und  Wallfahrten  bewahrt  hatte.  In  Bayern  wurde  sie  Dult 
genannt.  Großkaufleute,  Fabrikanten,  Verleger,  brachten  ihre  Ware 
in  langen  Wagenzügen  herbei,  aus  vielen  Gebieten  Deutschlands  und 
aus  dem  Auslande,  z.  B.  nach  Frankfurt  a.  M.  Wolle,  Leder,  Kolonial- 
waren, Seiden-,  Woll-  und  Baumwollfabrikate.  Die  Käufer  waren 
Groß-  und  Kleinhändler,  nebenbei  versorgten  sich  die  Verbraucher 
des  Ortes.  Der  Handel  in  Leipzig  begann  mit  dem  effektiven  Groß- 
handel in  Tuchen,  Leder,  Pelzwerk,  am  Schluß,  in  „der  Bäckerwoche", 
löste  er  sich  in  einen  Jahr-  und  Trödelmarkt  auf.  Die  Messen  waren 
einmal  oder  auch  mehrere  Male  im  Jahre  und  dauerten  einige  Wochen. 
In  der  Vorwoche  wurde  ausgepackt,  in  der  Meßwoche  verkauft,  in 
der  Zahlwoche  bezahlt,  und  in  ihr  waren  die  Meßwechsel  fällig.  Leipzig, 
damals  schon  durch  seinen  Buchhandel  im  Anschluß  an  die  Univer- 
sität berühmt,  Frankfurt  a,  M.  und  a.  O.,  Braunschweig  waren  die 
wichtigsten  Plätze,  dann  folgten  Naumburg,  Kassel,  Breslau,  Offenbach, 
Danzig,  Kiel  und  München. 

Die  Händler  waren,  um  sie  heranzuziehen,  mit  Privilegien  aus- 
gestattet, mit  Zollkrediten,  Meßkonti  und  Freiheiten.  Der  spätere  Zoll- 
verein erkannte  die  Rechte  nur  für  die  größeren  Messen  an,  die  sich 
daher  hielten,  nachdem  sie  sich  zeitgemäß  umzubilden  verstanden  hatteen. 
Jede  Messe  hatte  ehemals  ihre  örtliche  Bedeutung,  z.  B.  Frankfurt  a.  M. 
vermittelte  den  Austausch  zwischen  Nord-  und  Süddeutschland  und 
der  Schweiz,  Leipzig  zwischen  Rußland  und  Frankreich,  zwischen 
Sachsen  und  Preußen,  Braunschweig  zwischen  Hannover  und  Thüringen. 

Die  beiden  wichtigsten  Orte  für  die  Börse  in  Wechseln  und 
Effekten  waren  Frankfurt  a.  M.  und  Berlin.  Das  Geschäft  in  letzteren 
war  gering,  eigentlich  im  ersten  Entstehen.  In  Berlin  wurden  1813 
im  ganzen  17  Wertpapiere  gehandelt:  Berliner  Banko-Obligationen, 
4°/oige  Staatsanleihen,  verschiedene  Pfandbriefe  der  Landschaften  und 
holländische  Staatsschuldverschreibungen.  Die  kleinen  Verhältnisse 
und  der  Kapitalmangel  in  der  preußischen  Notzeit  werden  dadurch  ge- 
kennzeichnet, daß  die  sogenannte  Schickler'sche  Staatsanleihe  von  1808, 
I  Million  Tlr.,  binnen  3  Jahren  nicht  untergebracht  werden  konnte. 
In  Frankfurt  hatte  sich  im  Anschluß  an  die  Messe  der  Börsenverkehr 
während  des  18.  Jahrhunderts  vornehmlich  in  Wechseln  und  Valuten 
bewegt.     Das  Haus  Bethmann  (1748)  war  das  angesehenste  Bankhaus 


IV.  Transportverkehr  und  Handel.  20 

der  Stadt  und  hatte  das  Anleihegeschäft  mit  eigenen,  dann  auch  frem- 
den, durch  Partialobligationen  herangezogenen  Geldern  zur  Ausbildung 
gebracht.  Einzelne  Anleihen  wurden  an  der  Börse  in  den  neunziger 
Jahren  vermittelt.  Um  1804  brachte  der  Kurszettel,  der  privater 
Natur  war,  26  Werte.  Dieser  bescheidene  Effekten  verkehr  verblaßte 
in  der  folgenden  Kriegszeit,  um  dann  18 15  unter  günstigen  Ver- 
hältnissen aufgenommen  zu  werden,  so  daß  er  alsbald  eine  internationale 
Bedeutung  gewann. 

Der  Kleinhandel  mit  Lebensmitteln  vollzog  sich  auf  den 
städtischen  Wochenmärkten,  auf  denen  die  Bauersfrauen  dreimal  die 
Woche  sie  verhökerten,  mit  gewerblichen  Waren  auf  den  Jahrmärkten, 
zu  denen  die  Landbevölkerung  viermal  im  Jahre  zusammenströmte. 
In  den  Zwischenmonaten  mußte  der  Kramladen  der  nächsten  Stadt 
aushelfen,  der  nur  in  den  größeren  Orten  ausnahmsweise  durch  einzelne 
Läden  mit  Beschränkung  auf  wenige  Warengruppen  ersetzt  worden 
war,  oder  der  Hausierer,  der  mit  Tüchern,  Knöpfen,  Nadeln,  Nähfaden 
von  Dorf  zu  Dorf  wanderte  und  als  lebende  Chronik  die  neuesten  Er- 
eignisse der  Residenz  oder  von  Krieg  und  Frieden  auf  das  abgelegene 
Land  verbreitete. 

Wo  Gewerbefreiheit  bestand,  konnte  sich  der  Groß-  und  Klein- 
handel im  allgemeinen  unabhängig  vom  Staat  bewegen.  Auch  im 
rechtsrheinischen  Bayern  wurde  er  der  Konzession   nicht  unterworfen. 

Keine  geringe  Schwierigkeit  zur  Abwickelung  der  Geschäfte 
machte  das  Geld-  und  Münzwesen.  Entsprechend  der  Vielheit 
der  deutschen  Bundesstaaten,  von  denen  jeder  Münzhoheit  und  Regal 
beanspruchte,  stand  das  Geldwesen  im  Zeichen  der  Vielartigkeit.  Der 
Reisende,  der  in  wenigen  Tagen  oder  an  einem  mehrere  Grenzen  zu 
überschreiten  hatte,  mußte  ebenso  oft  mit  Verlust  seine  Barschaft  um- 
wechseln, und  der  Kaufmann,  der  Zahlungen  von  Land  zu  Land  zu 
machen  hatte,  wurde  durch  die  zahlreichen  Kursschwankungen  und 
Münzveränderungen  geplagt.  Es  bestand  zwar  durchweg,  mit  Aus- 
nahme von  Bremen,  die  Silberwährung  als  Grundlage  des  Zahlungs- 
verkehrs, aber  sie  verteilte  sich  auf  fünf  verschiedene^Münzfüße,  die  nicht 
immer  unverrückbar  festgehalten  wurden.  Am  übelsten  war  der  Zu- 
stand bei  der  Ausprägung  der  Scheidemünzen,  bei  denen  der  Schlag- 
schatz finanziell  ausgenutzt  wurde.  Zwischen  1820  und  30  erhoben 
Nassau,  Coburg  und  Hildburghausen  einen  solchen  zwischen  2 1  und 
87°/q  des  auszumünzenden  Feinsilbers,  und  man  bezeichnete  es  mit 
Recht  als  Falschmünzerei,  wenn  diese  Länder  die  guten  bayerischen 
Dreier  und  Sechser  aufsammelten,  nach  ihrem  System  umprägten  und 
dann  die  Nachbargebiete  mit  ihren  schlechten  Stücken  überschwemmten. 
Dazu  kam,  daß  ausländische  Sorten,  wie  Brabanter  Gulden,  öster- 
reichische   und  französische    Münzen,    in    Süd-    und    Mitteldeutschland 


■2Q  I.  Abschnitt.     Einleitung:  Übersicht  über  das  deutsche  Wirtschaftsleben  usw. 

neben  einheimischen  umliefen,  und  daß  die  Goldmünzen  zu  den  silbernen 
kein  festes  Verhältnis  besaßen.  In  Hamburg  wurden  1807  an  der 
dortigen  Börse  gehandelt:  Dukaten,  Louis-  und  Friedrichsdor,  Karohn, 
Gold  al  mark o,  schleswig-holsteinisches,  preußisches,  Hamburger  Kurant, 
Laubtaler,  Albertstaler,  sächsische  Konventionsmünzen,  Feinsilber,  Piaster. 
Der  deutsche  Bund  kam  zur  Ordnung  des  Geld-  und  Münz- 
wesens über  einige  Resolutionen  nicht  hinaus.  In  Norddeutschland 
waren  die  Verhältnisse  besser  als  im  Süden,  da  Preußen  die  guten 
Bestimmungen  des  Ediktes  von  1864  aufrecht  erhalten  und  in  das 
Gesetz  von  1821  in  der  Hauptsache  übernommen  hatte.  Hannover 
und  Braunschweig  schlössen  sich  1834  dem  preußischen  14  Talerfuß  an. 
1837  vereinbarten  Bayern,  Württemberg,  Baden,  Hessen-Darmstadt, 
Nassau  und  Frankfurt  einen  Münz  vertrag,  nach  dem  sie  aus  der 
Cölnischen  Mark  feinen  Silbers  das  Kurantgeld  von  24I/2  Gulden 
ausbrachten,  von  denen  jeder  in  60  Kreuzer  zerlegt  wurde. 

Literatur. 

Die    mit    einem  *  bezeichneten  Werke   sind    auch    in    den    nachfolgenden    Abschnitten 
benutzt  worden. 

*  W.  Sombart,  Die  deutsche  Volkswirtschaft  im   19.  Jahrhundert,    1905. 

*  L.  Pohle,  Die  Entwicklung  des  deutschen  Wirtschaftslebens  im  19.  Jahrhundert,  1920. 

*  G.  G.  Neuhaus,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte  vom    19.  Jahrhundert,   1919. 

*  K.  F.  W.  Dieterici,  Der  Volkswohlstand  im  preußischen  Staate,   1846. 

*  H.  V.  Festenberg-Packisch,   Geschichte  des  Zollvereins,   1846. 

*  G.    von    Gülich,    Geschichtliche    Darstellung    des    Handels,    der    Gewerbe    und    des 

Ackerbaues,    1830. 

Eduard  zu  Putlitz  (1789 — 1881),  Ein  Stück  Familiengeschichte,   1903. 

J.  G.  Koppe,  Revision  der  Ackerbausysteme,    1818, 

Fr.  Schmalz,  Die  altenburgische  Landwirtschaft,   1820. 

J.  N.  Schwerz,  Beschreibung  der  Landwirtschaft  Westfalens  und  der  Rhein- 
provinz,  1836. 

J.  W.  Schmidt  und  Peter  Wund,  Geographisch-statistische  Beschreibung  vom 
Kurfürstentum  Baden,   1804. 

J.  D.  Rumpf,  Die  preußische  Monarchie,    1825. 

J.  Rudhart,  Über  den  Zustand  des  Königreichs  Bayern,    1827. 

J.  Seybold,  Darstellung  des  Handwerks-  und  Gewerbewesens  im  Königreich 
Bayern,   1825. 

K.  von  Rohrscheid,   Vom  Zunftzwange  zur  Gewerbefreiheit,   1898. 

*  Eberhard  Gothein,  Wirtschaftsgeschichte  des  Schwarzwaldes,   1892. 
E.  H,  Meyer,  Badisches  Volksleben,    1900. 

*  Oskar  Teubert,  Die  Binnenschiffahrt,   1912. 

*  H.  Stephan,  Geschichte  der  preußischen  Post,   1859. 

V.  Zedlitz,  Die  Staatseinkünfte  der  preußischen  Monarchie,   1828. 
Falke,  Geschichte  des  deutschen  Handels,   1860. 

*  A.  Soetbeer,  Über  Hamburgs  Handel,    1840. 

*  S.  Spangenthal,  Geschichte  der  Berliner  Börse,   1903. 

*  O.  Stillich,  Die  Börse  und  ihre  Geschäfte,    1909. 


IL  Abschnitt. 
Die  Zeit  von  1815 — 1833. 

I.  Allgemeines.  Die  erste  Periode  deutscher  Wirtschafts- 
geschichte nach  den  Befreiungskriegen  rechnen  wir  bis  zur  Begründung 
des  deutschen  Zollvereins.  Politische  Störungen  mit  wirtschaftlichen 
Folgen  brachten  nur  die  griechischen  Unruhen  und  verstärkt  die  Juli- 
revolution von  1830,  im  allgemeinen  blieb  das  Vertrauen  zum  Frieden 
gewahrt,  das  stets  den  Handel  und  die  Güterherstellung  begünstigt. 
Allein  die  großen  Hoffnungen,  die  man  auf  eine  ruhige  Zeit  gesetzt 
hatte,  gingen  doch  nur  in  bescheidenem  Maße  in  Erfüllung.  Es  waren 
die  Kapitalvernichtungen  des  letzten  Jahrzehnts  —  am  härtesten  waren 
Preußen  und  die  Hansastädte  getroffen  worden  —  durch  Kontributionen, 
feindliche  Ausraubungen,  Kriegsanleihen,  Produktions-  und  Verkehrs- 
schädigungen so  groß  gewesen,  daß  ein  Ersatz  nicht  so  leicht  zu 
schaffen  war,  als  man  gedacht  hatte.  Ferner  hörte  die  Nachfrage  in 
der  Kriegsausrüstungsindustrie  auf,  ohne  daß  etwas  anderes  an  die 
Stelle  trat,  und  für  mancherlei  Gewerbe  fiel  der  Schutz  der  Kontinen- 
talsperre gegen  das  Ausland  fort.  Dann  kam  18 16  ein  sehr  schlechtes 
Erntejahr  mit  einer  Hungersnot,  und  am  Anfang  der  20er  Jahre  setzte 
eine  mehr  als  zehnjährige  Agrarkrise  mit  ungemein  sinkenden  Preisen 
der  landwirtschaftlichen  Erzeugnisse  ein. 

Die  Periode  nach  dem  Kriege  sollte  jedenfalls,  so  war  die  all- 
gemeine Ansicht,  eine  solche  der  wirtschaftlichen  Erholung  werden, 
und  sie  ist  es  auch  gewesen,  aber  nur  mit  sehr  langsamen  Taktschlag. 
Nach  den  großen  psychischen  Erregungen  und  Kraftäußerungen,  wie 
sie  dem  ganzen  Volke  der  nationale  Unabhängigkeitskrieg  zugemutet 
hatte,  konnte  eine  Ermüdungsreaktion  nicht  ausbleiben,  die  sich  in  den 
Staaten,  deren  Regierungen  von  liberaler  Verfassung  und  sozialen  Frei- 
heitsrechten nichts  wissen  wollten,  wie  meist  in  Norddeutschland,  mit 
einem  tiefen  Gefühl  der  politischen  Enttäuschung  paarte.  Die  Lebens- 
haltung des  Volkes,  besonders  der  besitzenden  Klasse,  ist  stark  herab- 
gesetzt worden.  In  Preußen  ist  man  um  1830  noch  nicht  auf  den 
Stand  von  1805  zurückgekommen.  Die  Umgestaltung  des  Agrarrechtes 
und  die  Gewerbefreiheit  vermögen  hier  die  erwarteten  wohltätigen 
Ergebnisse  kaum  zu  zeigen.  Der  Staat  ist  nirgends  untätig,  die 
Kriegswunden    zu    heilen,    die  Finanzen    werden    durch    Anleihen   und 


■22  II.  Abschnitt.     Die  Zeit  von    1815 — 1833. 

Steuern  in  das  Gleichgewicht  gebracht.  Preußen  wendet  sich  an  das 
Ausland,  um  die  Landeskapitalien  den  Gewerben  nicht  zu  entziehen, 
die  Kleinstaaten  gehen  an  den  inneren  Markt.  Die  Ersparnisse  der 
Nation  bleiben  gering,  und  das  Schlimmste  ist,  daß  sie  von  der  Güter- 
produktion und  dem  Handel  nicht  erfaßt  werden,  da  beide  nur  wenig 
Gewinn  versprechen.  Ein  Teil  der  disponiblen  Gelder  fließt  daher  fest- 
verzinslichen ausländischen  Werten  zu,  in  denen  sich  alsbald  eine  wilde 
Spekulation  entwickelt. 

Das  gesamte  Wirtschaftsleben  von  1815 — 1833  findet  einen  Aus- 
druck in  der  Bewegung  des  Zinsfußes.  Der  Diskont  ist  großen 
Schwankungen  ausgesetzt,  da  die  Nachfrage  nach  Kapital  und  das 
Angebot  jeder  Stetigkeit  ermangeln.  Mit  dem  Frieden  verliert  der 
Zins  bei  den  Staatsanleihen  die  hohe  Assekuranzprämie  zwar,  aber 
bis  in  die  Mitte  der  20  er  Jahre  bleibt  er  noch  hoch,  weil  sich  die  Rück- 
zahlungen der  Anleihen  verzögern  und  die  Papiergeldwirtschaft  nur 
langsam  schwindet.  Dann  nimmt  er  eine  weichende  Richtung  für 
Hypotheken,  Pfandbriefe  und  Staatspapiere  an,  und  das  ruhige  öko- 
nomische Dahinleben  mit  seinem  niedrigen  Geschäftsgewinn  setzt  in 
der  schwachen  Nachfrage  auf  dem  Leihkapitalmarkt  dem  Fallen  keinen 
Widerstand  entgegen. 

Ein  Lichtpunkt  des  volkswirtschaftlichen  Fortschrittes  ist  die 
preußische  Zollgesetzgebung  von  1818.  Ihre  günstigen  Wirkungen 
treten  nur  nach  und  nach  in  der  Monarchie  hervor,  die  übrigen  deut- 
schen Staaten  wurden  im  Gegensatz  dazu  zunächst  nachteilig  von  ihr 
betroffen,  so  daß  die  Bilanz  für  ganz  Deutschland  kein  auffallendes 
Plus  aufweist.  Die  volle  Rückständigkeit  des  durch  die  Kleinstaaterei 
gehemmten  Schaffens  wird  um  so  richtiger  abgeschätzt,  wenn  man 
ihr  den  raschen  Aufschwung  Frankreichs  und  Englands  gegenüberstellt. 

Den  wirtschaftlichen  Verhältnissen,  die  nicht  vorankommen,  aber 
aus  denen  man  doch  gerne  heraus  will,  standen,  von  einem  ähnlichen 
Empfinden  bedrückt,  die  sozialen  zur  Seite.  Man  hat  diese  Miß- 
stimmung als  die  der  „Epigonen"  bezeichnet,  für  die  K.  Immermann 
in  seinem  gleichnamigen  Roman  einen  dichterischen  und  wahrhaften 
Ausdruck  gefunden  hat.  In  dem  1 8.  Jahrhundert  mit  seiner  Freiheits- 
schwärmerei sah  man  jetzt  nichts  als  eine  Verirrung  und  konnte  sich 
doch  nicht  von  ihm  losmachen.  Der  Adel  wollte  sich  mittelalterlich 
restaurieren  und  verfiel  damit  der  Lächerlichkeit,  weil  er  die  Geld- 
wirtschaft und  den  neuzeitlichen  Staat  nicht  zu  entbehren  vermochte. 
Ein  Anhang  von  Ideologen  schwärmte  für  Burgen  und  Turniere. 
Manche  wollten  bis  zu  Götz  von  Berlichingen  zurück,  andere  bis 
Friedrich  Barbarossa  oder  gar  bis  zu  Karl  dem  Großen.  Der  industri- 
elle Kapitalismus  glaubte,  daß  die  Welt  seinen  Talern  gehöre,  versuchte 
sich   in   Arbeitsteilung,  Trucksystem   und   Lohnherabsetzung   und   war 


I.  Allgemeines.  23 

zugleich  darauf  bedacht,  den  Betrieb  patriarchalisch  zu  meistern.  Die 
demokratische  Bewegung  trug  einen  studentischen,  unreifen  Charakter, 
und  die  Staatsmänner  trieben  partikularistische  Politik,  beschäftigten 
sich  nur  in  ihren  Mußestunden  mit  schönen  Theorien,  wie  sie  ein 
deutsches  Reich  herstellen  könnten.  Über  allen  schwebte  in  der 
Philosophie,  Dichtung  und  Staatslehre  die  Romantik,  welche  als 
Erlösungsschwärmerei  oder  Betäubungsmittel  die  Geister  verwirrte  und 
sie  zum  energischen  Handeln  unfähig  machte.  Es  fehlte  ihr  nicht  an 
begabten  Köpfen  und  am  inneren  Drang  zum  Wollen.  Man  verirrte 
sich  im  Suchen  nach  Zielen  in  einem  dunkelen  Zukunftsnebel.  „Man 
hat"  schreibt  Immermann  „unsere  Tage  mit  denen  der  Völker- 
wanderung verglichen.  Das  Reich  zerfiel,  und  die  Germanen  traten 
an  dessen  Stelle.  Auch  wir  hatten  so  ein  römisches  Reich  an  der 
Autokratie  der  Fürsten  oder  gewisser  allgemeiner  Begriffe.  Beides 
neigte  sich  seinem  Untergange,  und  die  Individualitäten  in  ihrer  schranken- 
losen Entbindung  stehen  als  Germanen  der  Gegenwart  da.  Noch  haben 
sie  nur  zerstört,  nicht  das  geringste  Neue  ist  von  ihnen  bisher  er- 
funden und  gebildet  worden." 

Auch  die  Nationalökonomie  hat  einen  bedeutenden  Romantiker 
in  dem  Konvertiten  Adam  Müller  (1779  — 1829)  gehabt,  der  alle 
Schwächen  und  Stärken  dieser  Schule  besaß.  In  manchem  sind  seine 
Vorstellungen  der  Zeit  voraus,  etwa  wenn  er  die  individuahstischen 
und  materialistischen  Lehrmeinungen  A.  Smiths  kritisiert,  statt  der 
atomistisch  aufgefaßten  die  organische  Volkswirtschaft  als  Ziel  begrüßt, 
die  Aufgaben  des  Staates,  insbesondere  des  nationalen,  betont,  oder 
den  Zusammenhang  von  Produktion  und  Konsumtion  untersucht.  Seine 
Gedankenbhtze  beleuchten  grell  die  Zustände  der  Gegenwart,  allein 
die  Zusammenfassung  des  Ganzen  zu  etwas  Einheitlichem  ist  ihm  nicht 
gelungen.  Verzwickte  Ansichten  mit  unklaren  mystischen  Zukunfts- 
idealen zerstören  dem  Autor  zahlreicher  Werke  (Elemente  der  Staats- 
kunst 1809)  die  gesunden  Wirklichkeitsvorstellungen,  die  er  aus  seiner 
Lebenserfahrung  mochte  gewonnen  haben.  Er  schwärmt  für  den 
christlichen  Staat  des  Mittelalters,  den  er  ökonomisch-historisch  nicht 
versteht,  während  ihm  die  Gegenwart  für  etwas  Neues  nur  die  Vor- 
stufe ist,  auf  der  er  die  Macht  des  seit  1789  siegreichen  Bürgertums 
verkennt.  Das  adelige  Familienfideikommiß,  dessen  konservative  Ge- 
schlossenheit er  dem  unsicheren  beweglichen  Vermögen  gegenüber 
lobt,  ist  ihm  eine  herrhche  Verschmelzung  von  Person  und  Sache, 
der  feudalistische  Ackerbau  ein  Paladium  der  Nationalexistenz.  Dem 
großen  Völkerbund,  den  er  Kirche  nennt,  ist  eine  überstaatliche  Zu- 
kunft vorbehalten.  Das  Geldwesen  nennt  er  Sklaverei,  gleichzeitig 
ist  ihm  die  staatliche  Natur  des  Papiergeldes  nicht  fremd,  wie  er  die 
internationale  des  edelmetallischen  durchschaut.     Er  moralisiert  zu  viel, 

A-Sartorius  v.  Waltershausen.  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        ^ 


o  .  II.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1815— 1833. 


erkennt  aber  die  frei  schaffende  Persönlichkeit  an,  über  die  das  sach- 
liche Vermögen  nicht  Herr  werden  dürfe. 

Preußen  war  in  der  Periode  nach  18 15  noch  'vor  die  besondere 
Aufgabe  gestellt  worden,  die  beiden  Landesteile,  den  Osten,  in  den  es 
zudem  das  neue  Sachsen  einzugliedern  hatte,  und  den  Westen  zu  einer 
staatlichen  Einheit  zu  verschmelzen.  Der  Anschauung,  daß  man  die 
neu  erworbenen  Provinzen  durch  politische  Verwaltung,  Finanzen  und 
Kultureinrichtungen  zu  nationalisieren  habe,  stellten  sich  in  der  Praxis 
unübersteigbare  Hindernisse  entgegen.  Die  Verhältnisse  beider  Teile 
waren  sehr  ungleich,  und  das  Vertrauen  der  Regierenden  zu  sich  selbst 
nicht  stark  genug,  um  den  Gegensatz  zu  überwinden.  Zunächst  be- 
reitete der  Unterschied  der  Konfession  eine  tiefe  Kluft,  dann  der  des 
agraren  Ostens  und  des  industriellen  Westens.  Die  rein  politischen 
Überzeugungen  und  Wünsche  waren  auf  ganz  verschiedene  Voraus- 
setzungen eingestellt.  Im  Osten  war  das  Ideal  des  friederizianischen 
Staates  nicht  erloschen,  das  Volk  nahm  die  führende  Beamtenschaft, 
mit  der  die  oberen  Klassen  eng  verbunden  waren,  als  etwas  Selbst- 
verständliches. Alle  lebten  ihren  häuslichen  und  Familienzwecken,  auf 
die  das  Leben  auf  dem  Lande  die  meisten  hinwies.  Im  Westen  mit 
seinen  alten  Reichsstädten,  Bischofsitzen,  einem  begüterten  Adel,  der 
aus  früheren  Dynasten  hervorgegangen  war,  und  mit  seinen  freien 
wohlhabenden  Bauern  war  wenig  Neigung  für  eine  politisch-militärische 
Zentralisation,  wie  sie  die  HohenzoUern  geschaffen  hatten.  Ein  lokales 
öffentliches  Leben,  in  dem  jeder  Begüterte  etwas  zu  sagen  hatte,  da  ihm  die 
Überlieferung  darauf  hinwies,  ließ  eine  weitgehende  Autonomie  er- 
wünscht erscheinen.  Ost  und  West  haben  sich  lange  Zeit  nicht  ver- 
standen, erst  nach  der  Mitte  des  Jahrhunderts  konnte  die  Gesetzgebung 
der  direkten  Steuern  eine  einheitliche  werden,  und  das  französische 
Zivilrecht  blieb  noch  50  Jahre  länger  im  Rheinlande  in  Kraft.  Die 
Hinneigung  zur  französischen  Kultur  wich  nur  schrittweise  zurück. 
1864  hielt  es  Bismarck  politisch  noch  für  wünschenswert,  „daß  den 
westfälischen  Bataillonen,  die  bis  dahin  keine  Gelegenheit  gehabt 
hätten,  unter  preußischer  Führung  ihre  Tapferkeit  zu  bewähren,  der 
Vortritt  gelassen  werde",  und  erst  nach  1866,  als  alle  Preußen  ge- 
meinsam auf  dem  Schlachtfelde  von  Königgrätz  gefochten  hatten,  ist 
die  Verschmelzung  zu  einem  Ganzen  wenigstens  in  der  Hauptsache 
gelungen. 

IL  Übervölkerung  und  Auswanderung.  Die  Bevölkerung 
auf  dem  späteren  Reichsgebiet  war  zwischen  18 16  und  1830  von 
24,833  auf  29,520  Millionen  gestiegen.  Dieser  erhebliche  Zuwachs 
wurde  in  manchen  Landesteilen  unter  dem  wenig  veränderten  Wirt- 
schaftszustande als  Übervölkerung  gedeutet,  die  die  Regierung  ein- 
zudämmen  die   Pflicht  habe.     Die  Malthussche  Lehre  wurde   in   die 


II.  Übervölkerung  und  Auswanderung.  7c 

politische  Praxis  einbezogen,  in  süd-  und  mitteldeutschen  Staaten  griff 
man  zu  dem  Mittel  der  Ehebeschränkung.  So  wurde  in  Württemberg 
bestimmt,  daß  jeder  Gemeindebürger  oder  Beisitzer  sich  vor  seiner 
Verehelichung  vor  der  Obrigkeit  über  einen  genügenden  Nahrungs- 
stand auszuweisen  habe,  in  Bayern,  daß  keinem  Staatsbürger  die  Ver- 
ehelichungserlaubnis  erteilt  werde,  der  nicht  die  gesetzlichen  Bedingungen 
der  Ansässigmachung  erfüllt  habe,  worunter  ein  gewisser  Geld-  oder 
Grundbesitz  oder  die  x\nstellung  im  Staats-  oder  Gemeindedienst  ver- 
standen wurde.  In  Baden,  in  Hessen,  Kurhessen,  Hannover,  den  thüringi- 
schen Ländern  waren  ähnliche,  oft  noch  strengere  Maßregeln  ergriffen 
worden.  In  Preußen,  mit  seiner  inneren  rechtlichen  Bewegungsfreiheit 
von  Menschen  und  Gütern,  befolgte  man  diese  Grundsätze  nicht. 

Der  Glaube  an  die  Übervölkerung  war  durch  die  starke  Aus- 
wanderung genährt  worden,  die  bald  nach  dem  Kriege  begann.  Im 
i8.  Jahrhundert  waren  schon  viele  Tausende  Deutscher  nach  Nord- 
amerika gezogen,  über  deren  Schicksale  uns  Fr.  Kapp  in  seinen 
Büchern  Auskunft  gibt.  Während  des  Unabhängigkeitskrieges  hatte 
diese  Völkerwanderung  aufgehört,  und  auch  während  der  europäischen 
Kriege  bis  1815  war  sie  nur  gering  gewesen.  18 16/17  gingen  nach 
Kapp  20000  Deutsche  nach  den  Vereinigten  Staaten,  im  Anfang  der 
20  er  Jahre  läßt  der  Fortzug  nach,  nimmt  aber  in  der  Mitte  wiederum 
zu.  Nach  Hübners  Jahrbüchern  betrug  er  damals  jährlich  1 1 000, 
1830  15000,  1833  wieder  20000.  Franz  Löhers  Berechnungen 
bringen  noch  größere  Zahlen. 

Die  unmittelbare  Veranlassung  zur  Auswanderung  war  die 
Hungersnot  von  1 816/17  gewesen.  Ein  naßkalter  Sommer  mit  an- 
dauernden Gewittern  und  Hagelschlag  hatte  das  Getreide  nicht  reifen 
lassen,  die  Kartoffeln  waren  im  Boden  verfault,  die  Wein-  und  Obst- 
ernten vernichtet,  die  Viehbestände  durch  schlechtes  Futter  der  Seuche 
verfallen.  Aus  den  Vorjahren  des  Krieges  waren  keine  Lebensmittel 
übriggeblieben.  18 15  hatte  schon  eine  schlechte  Ernte  gebracht.  Das 
wenige  Getreide,  das  im  Südwesten  noch  vorhanden  gewesen  war, 
war  zu  hohen  Preisen  nach  Frankreich  verkauft  worden.  Einfuhr  aus 
dem  sonstigen  Auslande,  das  selbst  wenig  hatte,  war  so  gut  wie  aus- 
geschlossen. Die  deutschen  Staaten  untereinander  verhinderten  durch 
Ausfuhrverbote  jeden  Ausgleich.  Im  badischen  Oberlande  war  man 
gezwungen,  Brot  aus  Baumrinde  zu  backen,  in  Schlesien,  im  Erzgebirge, 
in  der  Eifel  aßen  die  armen  Leute  Wiesen kräuter,  die  sie  zu  Mus 
verkochten  und  mit  Hafermehl  verrührten.  Die  Winter  hatten  furcht- 
bare Kälte  gebracht.  Die  Arbeit  stockte  in  den  Städten,  da  das  Land 
nichts  kaufen  konnte.  Die  entlassenen  Soldaten,  die  aus  Frankreich 
zurückkehrten,  suchten  vergebens  Beschäftigung  und  vermehrten  das 
Arbeitsangebot. 

3* 


2 6  II'  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1815  — 1833. 

Die  badische  Regierung  suchte,  als  der  Malter  Kartoffeln  10  Gulden 
und  das  sechspfündige  Laib  Brot  57  Kr.  kostete,  mit  Geld  Unterstützung 
und  Rumfordtschen  Suppenanstalten  zu  helfen,  und  als  das  nichts 
nützte,  wurden  alle  Getreidevorräte  unter  öffentliche  Aufsicht  gestellt 
und  beschlagnahmt  und  erst  im  Herbst  1817  wieder  freigegeben.  Auch 
in  Bayern  klagte  man  darüber,  daß  die  geringen  Getreidebestände 
durch  die  Spekulation  zurückgehalten  würden,  genau  so  wie  es  hundert 
Jahre  später  wieder  geschehen  ist. 

Während  des  Sommers  18 16  sah  man  zahlreiche  Auswanderer 
vom  Oberrhein  den  Fluß  hinab  nach  Holland  fahren.  Im  folgenden 
Frühjahr  schwoll  die  Zahl  zu  einer  bisher  ungekannten  Höhe  an.  Vom 
I. — 15.  Juni  kamen  5517  Personen  an  Mainz  vorüber.  Auch  auf  der 
Donau  ging  es  lebhaft  zu.  Am  17.  Juni  wird  von  5000  Württembergern 
berichtet,  die  auf  der  Reise  nach  Rußland  bei  Neuburg  übernachteten. 

Die  Wanderbewegung  war  ohne  Plan  und  Leitung,  nur  auf  Ge- 
rüchte hin  erfolgt,  daß  Segelschiffe  nach  Nordamerika  führen,  wo  Land 
billig  oder  umsonst  zu  haben  sei.  In  den  Hafenstädten,  wie  Amster- 
dam, stauten  sich  die  Leute  auf,  denen  das  Geld  zur  Überfahrt  fehlte. 
Schon  auf  der  Hinreise  dorthin,  die  viele  zu  Fuß  antraten,  und  bei  der 
sie  ihre  Habe  auf  Karren  vor  sich  herschoben,  gingen  Kinder,  Greise 
und  Gebrechliche  zugrunde.  Die  Sterblichkeit  in  den  Seestädten  und 
auf  den  Schiffen  war  ungeheuer.  Von  Holland  wurden  die  ganz 
Mittellosen  abgeschoben  und  mußten  sich  in  die  Heimat  zurückbetteln. 
Andere  wurden  an  der  Themsemündung  ausgesetzt,  wo  man  sie  ihrem 
Schicksal  überließ.  Von  diesen  wurde  der  Rest,  der  durchkam, 
schließlich  nach  Kanada  befördert,  wo  er  das  Überfahrtsgeld  in  jahre- 
langer Halbsklaverei  abzuverdienen  hatte.  Ihre  Habe  hatten  die 
meisten  bei  der  monatelangen  Reise  in  die  neue  Welt  verloren.  Wer 
Geld  gehabt  hatte,  mußte  es  betrügerischen  Agenten  überlassen. 

Von  Rußland  aus  waren  Aufforderungen  zur  Auswanderung  ver- 
breitet worden.  Polen  und  Südrußland  waren  die  Gebiete,  die  auf- 
gesucht werden  sollten.  Da  die  Regierung  die  Ansiedelung  in  die 
Hand  genommen  hatte,  fand  wenigstens  ein  Teil  der  Ankömmlinge 
schließlich  eine  notdürftige  Unterkunft.  Es  wurde  ganz  willkürlich 
über  sie  verfügt.  Das  versprochene  Land  erhielten  keineswegs  alle. 
Wenn  es  dem  Beamten  paßte,  wurden  die  Einwanderer  in  Polen  den 
neuerrichteten  Fabriken  zugewiesen.  Einzelne  kamen  von  dort  zum 
Rhein  zurück,  um  zu  erzählen,  wie  Hunderte  zugrunde  gegangen 
waren.  Speyerer  Familien  waren  in  der  Krim  nach  unsagbaren  Reise- 
mühen angelangt,  wo  sie  das  verheißene  Dorf  beziehen  sollten.  Aber 
es  war  nichts  als  ein  Pfahl  zu  finden,  den  ihnen  ein  Kosak  zeigte, 
dort  wo  die  Ansiedelung  stattfinden  dürfe.  Das  mußten  sich  die 
Deutschen    damals    im    Auslande    bieten    lassen.      Erstaunlich   ist   hier 


II.  Übervölkerung  und  Auswanderung.  ay 


ihre  Zähigkeit  gewesen,  sich  aus  diesem  Nichts  zum  Wohlstand 
hinaufzuarbeiten. 

In  den  Kleinstaaten  war  man  froh,  die  Menschen  los  zu  sein. 
Die  Landwirtschaft  wollte  überall  keinen  rechten  Aufschwung  nehmen. 
Nach  Engel  vermehrte  sich  in  Preußen  von  1816 — 2z  die  Menschen- 
zahl um  130,  der  Rindviehbestand  um  58,  der  Schweinebestand  von 
70  auf  1000.  In  Süddeutschland  machte  die  Bodenzersplitterung  rasche 
Fortschritte,  die  bei  der  unveränderten  Anbauweise  das  Ernährungs- 
minimum der  Familien  herabsetzte.  Die  Städte  konnten  den  Über- 
schuß der  Landbevölkerung  nicht  aufnehmen,  da  die  Fabriken  meist 
ohne  Leben  waren,  und  das  Handwerk  sich  in  die  Aufhebung  seiner 
alten  Vorrechte  nicht  finden  konnte.  Manchen  trieb  auch  die  politische 
Reaktion  von  dannen,  da  die  versprochene  Freiheit  nicht  kam.  Daher 
auch  gelegentlich  die  Klage,  daß  nicht  nur  die  Armen,  sondern  auch 
besser  Gestellte  zum  Wanderstab  gegriffen  hätten. 

Damals  machten  die  Menschen  nur  geringe  Ansprüche  an  den 
Verbrauch.  Deutschland  hatte  sich  von  den  schweren  Verwüstungen 
des  30jährigen  Krieges  um  1800  noch  nicht  erholt.  Um  1820  schreibt 
Zelter  an  Goethe,  daß  man  noch  die  Wiederherstellungsarbeiten  an 
den  Greifswalder  Häusern  zu  erkennen  vermöge,  in  die  einst  die 
Kriegsfackel  geschleudert  worden  sei. 

Von  dem  ehemaligen  Reichtum  in  der  Renaissancezeit  war  nicht 
einmal  die  Erinnerung  geblieben.  Nach  dem  siebenjährigen  Kriege 
war  allerdings  das  friederizianische  Preußen  in  der  Friedenszeit  durch 
innere  Kolonisation,  Agrarkredit,  Manufakturschutz,  Reform  der  Steuern 
und  des  Geldwesens  wirtschaftlich  erstarkt.  Einen  mittleren  Wohl- 
stand treffen  wir  auf  den  Gütern  des  Adels  an,  und  auch  in  den  bes- 
seren bürgerlichen  Kreisen  hatte  der  Glanz  des  Rokkoko  Einzug  ge- 
halten. I.  H.  Voß  hat  uns  in  seiner  „Luise"  ein  anmutiges  Bild  eines 
begüterten  Pfarrhofes  hinterlassen,  wo  auf  dem  zierlich  gebauten 
Tisch  mit  glänzend  weißem  Gedeck  die  silberne  Kaffeekanne,  die 
Dresdener  Porzellantassen  und  die  Zuckerdose  von  violigem  Glas 
prangen,  wo  der  goldrahmige  Spiegel,  der  stattliche  Ofen,  das  Klavier, 
der  Kupferstich  einer  Raffaelischen  Madonna,  die  schön  gebundene 
Büchersammlung  das  Wohnzimmer  schmücken,  wo  bei  den  Ausflügen 
in  Wald  und  Feld  die  mit  köstlichem  Gebäck,  Obst  und  Käse  wohl- 
gefüllten Körbe  die  Familie  begleiten. 

Die  Masse  der  Bevölkerung  lebte  höchst  einfach.  Nach  der  Be- 
rechnung von  Dieterici  entfielen  auf  den  Kopf  in  Preußen  jährlich 
am  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  etwa  15  Quart  Bier,  3  Quart  Brannt- 
wein, 3/^  Quart  Wein,  1V2  Pfund  Tabak,  i  —  1V2  Pfund  Zucker,  2/3  Pfund 
Kaffee,  für  Vio  Tlr.  Gewürze,  Vio  Pfund  Reis,  V2  — V4  Ellen  Tuch, 
4  Ellen    Leinewand,    ^4    Pfund   Baumwollgarn,    1/4  Pfund   Seidenware. 


ß8  II'  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1815 — 1833. 


Nun  kamen  die  Napoleonischen  Feldzüge,  die  die  besitzenden  Klassen 
am  meisten  schädigten,  da  die  kleinen  Leute  nur  wenig  oder  nichts 
zu  verlieren  hatten.  Adel  und  Bürger  mußten  ihr  Silberzeug  und 
ihren  Schmuck  hergeben,  die  Kaufleute  ihre  Waren,  die  Gutsherren 
und  Bauern  ihre  Pferde.  Das  Metallgeld  wurde  durch  die  Kontri- 
butionen aufgesogen  und  ausgeführt.  Daß  das  wirtschaftlich  nieder- 
getretene Preußen  den  Feldzug  von  18 13  führen  konnte,  ist  erstaunlich, 
selbst  wenn  man  die  englischen  Subsidien  dabei  in  Anschlag  bringt. 
In  schwerer  Not  war  die  moralische  Tüchtigkeit  ungebrochen  gewesen. 
Darauf  setzte  man  auch  nach  dem  Kriege  die  Hoffnung  des  wirtschaft- 
lichen Erstarkens.  Das  war  zwar  kein  Trugschluß,  aber  es  bedurfte 
einer  längeren  Zeit,  als  man  damals  glaubte,  bis  die  Erholung  bemerk- 
bar wurde. 

III.  Die  Agrarkrise.  Der  Markt  für  die  Produkte  der  preußi- 
schen Landwirtschaft  war  am  Ende  des  alten  und  zu  Beginn  des  neuen 
Jahrhunderts  nicht  ungünstig  gewesen.  Die  Güterpreise  waren  nicht 
bloß  hierdurch,  sondern  vor  allem-  durch  den  leicht  erreichbaren  und 
nicht  teueren  Grundkredit,  der  zu  Käufen  anlockte,  in  die  Höhe  ge- 
trieben worden.  Betriebserweiterungen  waren  die  Folge,  die  auch 
trotz  der  beiden  schlechten  Erntejahre  vor  1806  nicht  aufhörten,  da 
sich  die  Ausfuhr  bei  den  hohen  Auslandspreisen  des  Getreides  lohnte. 
Die  Bodenspekulation  mußte  nach  der  Schlacht  von  Jena  im  ganzen 
Staat  zusammenbrechen,  und  auch  das  landwirtschaftliche  Gewerbe 
wurde  unmittelbar  durch  die  militärischen  Bedrückungen  und  Geld- 
lasten des  Krieges  lahmgelegt.  Die  Kontinentalsperre  schränkte  die 
Ausfuhr  zudem  stark  ein,  so  daß  die  Inlandspreise  des  Getreides  schnell 
sanken. 

Nach  dem  Frieden,  den  man  bei  der  allgemeinen  Erschöpfung 
Europas  als  einen  langdauernden  ansprach,  wurde  die  Erweiterung 
der  Anbaufläche  von  neuem  lebhaft  in  Angriff  genommen.  Die  Land- 
wirtschaft im  großen  war  jetzt  auch  Bürgerlichen  zugänglich  geworden, 
die  als  Käufer  auftraten  und  zeitgemäß  wirtschaften  wollten.  Bauern- 
land war  billig  zu  erwerben,  da  der  Bauernschutz  fortgefallen  war, 
und  nicht  alle  Bauern  sich  in  die  Bewirtschaftung  auf  freiem  Eigentum 
zu  finden  wußten.  Die  Änderung  der  gutsherrlichen  Verhältnisse  legte 
den  Grundbesitzern  manche  Aufgaben  auf.  Neue  Gebäude  waren  bei 
der  vergrößerten  Fläche  nötig,  mehr  Zugvieh  und  sonstiges  Inventar 
anzuschaffen,  Arbeiterwohnungen  zu  errichten.  Ohne  Kredit  waren 
Mehorationen  nicht  möglich.  Das  Privatleihkapital  war  selten,  und  die 
Provinziallandschaften,  die  Kreditinstitute  aus  der  alten  Verwaltung 
unter  Benutzung  der  SoHdarhaft  der  Schuldner,  konnten  ihre  Pfand- 
briefe zu  5  %  nicht  mehr  absetzen,  so  daß  der  hypothekarische  Zins 
stieg.     Dennoch,  obgleich  dieses  Hinaufgehen  und  ebenso  die  Steuerlast 


III.  Die  Agrarkrise.  •jg 


eine  Warnung  hätte  sein  müssen,  setzte  bald  nach  dem  Befreiungs- 
kriege der  Landgüterhandel  wieder  ein,  und  die  Besitzer  erhofften 
unter  der  neuen  sozialen  Freiheit  die  Verluste  der  letzten  Jahre  wieder 
einzubringen  und  die  hohen  Bestandauslagen  gewinnbringend  zu  machen. 
Viele  Großgüterpreise  in  Mecklenburg,  Holstein,  Ober-  und  Niedersachsen 
stiegen  bis  aufs  doppelte,  die  Verpachtungen  der  preußischen  Domänen 
stellten  der  Staatskasse  unerwartete  Einnahmen  in  Aussicht.  Der 
Feldbau  erweiterte  sich  auf  denjenigen  preußischen  Ländereien,  welche 
bisher  wegen  ihrer  Beschaffenheit  als  ewige  Weide  liegen  gelassen 
waren,  den  Lehden,  die  man  1810  in  dem  verkleinerten  Staat  auf  ^40 
der  Gesamtfläche,  auf  beinahe  soviel  als  die  der  Domänen,  ohne  Wald, 
geschätzt  hatte.  Die  Viehhaltung  sollte  mit  kreditiertem  Gelde  ver- 
bessert, der  Klee-  und  Esparsettenbau  häufiger,  die  Düngung  regel- 
mäßiger werden. 

Die  Kriegszeit  und  die  Kontinentalsperre  hatten  England  zur 
Erweiterung  des  Getreidebaues  erfolgreich  angespornt.  In  Frankreich 
war  man  mit  der  Vermehrung  des  freien  bäuerlichen  Kleinbetriebes 
unter  Beseitigung  der  Zehnten  und  des  gemeinschaftlichen  Weide- 
rechtes zu  einer  intensiveren  Bestellung  fortgeschritten,  die  den  inneren 
Markt  reichlicher  versorgte.  Auch  Schweden,  Spanien,  Holland,  Italien, 
Sizilien  hatten  bei  der  Unterbindung  des  Seehandels  in  steigender 
Weise  den  eigenen  Bedarf  gedeckt.  Überall  bemühte  man  sich,  das 
Gewordene  zu  behaupten  und  hatte  wenig  Neigung,  die  fremden  Zu- 
fuhren zuzulassen.  England  schloß  sich  mit  hohen  Zöllen  gegen  die 
fremde  Konkurrenz  ab,  um  seinen  unter  großen  Kosten  ausgedehnten 
Fruchtwechsel  nicht  preiszugeben,  Frankreich  und  die  Niederlande 
folgten.  Die  Getreideausfuhr,  die  aus  Danzig  und  Elbing  180 1/5  im 
jährlichen  Durchschnitt  76547  Last  betragen  hatte,  war  von  1821/25 
auf  Y?  gefallen,  und  dabei  waren  die  Getreidepreise  sehr  gesunken, 
als  in  ganz  Europa,  besonders  aber  in  Deutschland,  eine  vorzügliche 
Ernte  die  andere  abgelöst  hatte.  Die  Preise  gingen  auf  die  Hälfte, 
ja  vielerorts  auf  1/3  ^^s  früheren  Hochstandes  zurück.  1824  brachte 
die  Tonne  Weizen  in  Berlin  99,5  Mark,  Roggen  40,1,  Gerste  58,3. 
Die  Viehpreise  schlössen  sich  an,  wenn  auch  nicht  ganz  in  dem  Maße. 
In  Thaers  Möglinschen  Annalen  der  Landwirtschaft  weisen  Zu- 
schriften auf  Zuschriften  nach,  daß  die  laufenden  Betriebskosten  nicht 
gedeckt  werden  können.  Das  gleiche  wurde  in  der  bayerischen 
Kammer  der  Abgeordneten   1825  behauptet. 

Überall  in  Deutschland  hat  die  Agrarkrise  gewütet  und  10  Jahre 
angedauert.  Die  nächste  Folge  war  das  Sinken  der  Güterpreise,  und 
da  viele  Güter  hoch,  oft  zu  hoch  hypothekarisch  belastet  waren,  fiel 
bei  den  Zwangsversteigerungen  ein  Teil  der  Forderungen  aus.  Zwischen 
1826  und   1829  wurden  in  Westpreußen  98  Güter  verkauft,  bei  denen 


AO  II.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1815  — 1833. 

die  Landschaft  einen  Verlust  von  690000  Tlr.  hatte.  Nach  einem 
dem  Abgeordnetenhause  erstatteten  Bericht  des  Abgeordneten  von 
Lavergne-Peguilhen  von  1851  verloren  im  östlichen  Preußen  80 "/o 
der  Rittergutsbesitzer  während  der  Krise  ihre  Güter.  Die  soziale 
Agrarreform  verlangsamte  sich.  Denn,  was  hatte  der  Bauer  von 
seiner  Freiheit,  wenn  er  das  Getreide  nicht  verkaufen  konnte  und  in 
die  Hand  des  Wucherers  geriet?  Die  antijüdische  Bewegung  in  der  Mitte 
der  zwanziger  Jahre,  bemerkt  von  Treitschke,  entsprang  auf  dem 
preußischen  Provinziallandtage  nicht  einer  unklaren  christlichen  Schwär- 
merei, wie  sie  die  Burschenschaft  vertrat,  sondern  der  wirtschaftlichen 
Bedrängnis  des  Landvolkes,  denn  unsägliches  Elend  hatten  die  jüdischen 
Wucherer  und  Güterschlächter  während  der  Krise  über  Gutsherren 
und  Bauern  gebracht. 

Ebenso  war  das  rechtsrheinische  Bayern  als  vorwiegend  acker- 
bautreibendes Land  von  der  Krise  hart  betroffen  worden.  Die  Güter- 
preise waren  auf  die  Hälfte  in  wenigen  Jahren  gesunken,  und  von 
Subhastationen  wird  andauernd  berichtet,  da  die  Landwirte  ihre  Schulden, 
auch  die  Steuern,  nicht  bezahlen  können  und  selbst  zu  hohen  Zinsen 
kein  Geld  zu  leihen  vermögen. 

Der  Staat  suchte  mit  seinen  Mitteln  zu  helfen,  die  ritterschaftliche 
Privatbank  in  Stettin  mit  ihren  Bankbillets.  Die  Landschaften  gaben, 
was  sie  konnten,  waren  aber  genötigt,  ihre  Gütertaxen  herabzusetzen, 
um  weiter  bestehen  zu  können. 

Die  Krise  ging  vom  Land  auf  die  Städte  über.  Der  Groß-  und 
Kleinhandel  in  Getreide  war  gelähmt.  Bankerotte  der  Kaufleute, 
Ausfall  der  Hypothekenzinsen  und  Kapitale  städtischer  Gläubiger, 
Unsicherheit  des  Geschäftes  wurden  die  allgemeine  Klage.  Wo  der 
Gutsbetrieb  aussetzte  oder  die  Steuerexekution  die  Bauern  austrieb, 
gab  es  Arbeitslose,  die  in  den  Städten  als  Bettler  vagabundierten. 
Die  neuen  Landbesitzer,  die,  um  ihre  Forderungen  zu  retten,  die  Güter 
übernommen  hatten,  konnten  den  Arbeitslosen  keine  dauernde  Be- 
schäftigung geben,  da  sie  bald  wieder  anderen  Besitzern  Platz  machen 
mußten. 

In  Gegenden,  in  denen  die  Bedingungen  für  Viehzucht  und 
Branntweinbrennerei  günstig  waren,  suchte  man  sich  durch  Betriebs- 
änderung zu  helfen.  Alsbald  kam  es  auch  hier  zur  Überproduktion, 
die  Wollpreise  gingen  seit  1825  herunter,  und  der  Branntwein  wurde 
unverkäuflich. 

Bedenkt  man,  daß  Deutschland  über  keine  Ausfuhrindustrie,  See- 
schiffahrt, auswärtige  Kapitalanlage,  keinen  Zwischenhandel  von  Be- 
deutung verfügte,  so  wird  man  verstehen,  daß  die  Stockung  zu  einer 
allgemeinen  werden  mußte,  welche  in  ihrer  Wirkung  den  späteren 
Industriekrisen  nicht  viel  nachgestanden  haben  dürfte.     Allein  die  Tat- 


IV.  Deutschland  und  das  Ausland. 


41 


Sache  der  Allgeraeinheit  bedarf  doch  noch  einer  Erläuterung.  Denn 
es  fehlten  die  Transportmittel,  wie  sie  in  späteren  Jahrzehnten  be- 
standen, so  daß  der  Güterumlauf  verörtlicht  war,  mithin  die  Fort- 
wirkung des  Übels  von  Stadt  zu  Stadt  nicht  ganz  verständlich  wird. 
Sicher  ist,  daß  die  Stockung  des  Körnerabsatzes  in  Ostdeutschland 
mehr  als  im  Westen  empfunden  wurde,  am  heftigsten  in  Mecklenburg 
und  den  Seeprovinzen  Preußens.  Die  Preise  sanken  aber  überall  und 
zugleich  war  nirgends  der  Überreichtum  der  Ernten  verkäuflich.  Der 
örtliche  Markt  war  nicht  in  der  Lage,  das  Angebot  aufzunehmen. 
Dafür  waren  drei  allgemeine,  unmittelbar  wirkende  Gründe  vorhanden 
erstens  war  der  Preisfall  so  bedeutend,  daß  jetzt,  trotz  der  schlechten 
Verfrachtungsgelegenheit,  die  Versendung  auf  weitere  Entfernungen  als 
sonst  durchgeführt  wurde,  also  die  Märkte  leichter  überfüllt  waren  als 
früher.  Zweitens  folgten  mehrere  sehr  gute  Ernten  aufeinander,  daß 
die  Bestände  des  Vorjahres  in  den  Städten  auf  die  neu  hinzukommenden 
drückten,  und  drittens  war  der  Getreidebau  in  manchen  Gegenden 
rascher  ausgedehnt  worden  als  der  Verbrauch  gewachsen  war. 

Zu  alledem  kam  noch  ein  weiterer  Grund  mittelbarer  Art  hinzu. 
Man  fragt  sich,  warum  die  Fülle  an  billigen  Lebensmitteln  und  indu- 
striellen Rohstoffen  keinen  Aufschwung  der  gewerblichen  Tätigkeit  im 
Gefolge  hatte,  wodurch  das  zu  große  Angebot  hätte  zum  Verschwinden 
kommen  müssen.  Wenn  60  Jahre  später  Deutschland  über  ungemein 
reiche  Ernten  zehn  Jahre  hintereinander  verfügt  hätte,  so  würde  ein 
gewaltiger  Aufschwung  der  Volkswirtschaft  unausbleiblich  gewesen 
sein.  Damals  lag  das  verarbeitende,  selbständige  Gewerbe  darnieder, 
ermangelte  des  Absatzes  im  In-  und  Auslande,  litt  unter  der  Konkur- 
renz der  englischen  Ware.  Es  war  ohne  Kaufkraft  und  Initiative. 
So  kam  es,  daß  man  wegen  des  Mangels  an  Beschäftigung  die  Über- 
bevölkerung beklagte,  während  die  Bauern  das  Getreide  auf  dem  Felde 
verfaulen  ließen,  weil  es  sich  nicht  lohnte,  es  zu  schneiden. 

Eine  Besserung  trat  nur  ganz  allmählich  ein,  als  einerseits  ge- 
ringere Ernten  kamen,  andererseits  in  den  dreißiger  Jahren  die  gewerb- 
liche Tätigkeit  im  Zollverein  erblühte  und  einen  steigenden  Bedarf 
nach  landwirtschaftlichen  Erzeugnissen  schuf. 

Der  landwirtschaftliche  Geschäftsniedergang,  der  um  die  Mitte 
der  siebziger  Jahre  durch  den  ausländischen  Wettbewerb  hervorgerufen 
wurde,  war  insofern  weniger  fühlbar,  als  er  nicht  so  niedrige  Preise  als 
von  1 821/31  brachte  und  auch  nicht  so  plötzlich  hereinbrach,  hingegen 
war  er  zeitlich  nachhaltiger  und  traf  die  Landwirte  deshalb  durchweg 
mehr,  weil  sie  die  alte  Eigenwirtschaft  zum  guten  Teil  aufgegeben,  also 
verhältnismäßig  mehr  Ware  auf  den  Markt  zu  bringen  hatten. 

IV.  Deutschland  und  das  Ausland,  Als  der  deutsche  Bund 
geschaffen    wurde,    hatte    es    an    Hoffnungen    für    eine    gemeinsame 


42  II.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1815 — 1833. 


Handelspolitik  nicht  gefehlt.  Nach  Artikel  19  der  Bundesakte  be- 
hielten sich  die  vertragschließenden  Mächte  vor,  bei  der  ersten  Zu- 
sammenkunft wegen  ihres  Handels  und  Verkehrs  untereinander  in 
Beratung  zu  treten.  Aber  es  ist  zu  nichts  gekommen,  und  nicht  ein- 
mal über  den  infolge  der  Mißernte  von  1816  von  Württemberg  ge- 
stellten und  von  Preußen  befürworteten  Antrag,  den  Handel  mit  den 
notwendigen  Lebensmitteln  im  Bundesgebiet  frei  zu  geben,  konnte 
man  sich  einigen.  Ein  Bundesbeschluß  setzte  die  Zustimmung  aller 
Mitglieder  voraus,  von  denen  jedes  seine  Rechte  eifersüchtig  hütete. 
Dazu  kam  der  stete  Gegensatz  zwischen  Preußen  und  Österreich  um 
die  Vormachtstellung,  der  zu  einer  fast  prinzipiellen  Ablehnung  jedes 
von  der  einen  Regierung  gemachten  Vorschlages  durch  die  andere 
führte. 

So  blieb  der  deutsche  Bund  von  den  Zollinien  seiner  35  Staaten 
und  vier  freien  Städten  durchsetzt,  und  der  Wunsch  eines  gemeinsamen 
Zollwesens  unerfüllt. 

Die  Beurteilung  der  Napoleonischen  Kontinentalsperre  für  die 
deutsche  Produktion  und  für  den  Handel  ist  in  der  Literatur  wider- 
spruchsvoll. Während  von  der  einen  Seite  die  Befreiung  von  dem 
englischen  Wettbewerb  gepriesen  wird,  die  das  Entstehen  neuer  wirt- 
schaftlicher Kräfte  und  die  Wiederbelebung  alter  im  Gefolge  gehabt 
habe,  wird  von  der  anderen  der  Absatzverlust  betont,  den  das  Export- 
gewerbe und  der  Handel  von  der  Schließung  des  englischen  und 
überseeischen  Marktes  erlitten  habe.  Die  Schriftsteller,  die  solche 
Vor-  und  Nachteile  gegeneinander  abwägen,  verfallen  leicht  in  den 
Fehler,  daß  sie  die  Schutzzollpolitik  bzw.  die  Grenzverschiebungen  des 
Kaiserreichs  mit  der  Sperre  identifizieren,  während  die  Wirkungen 
beider  verschieden  waren,  und  beide  auch  nicht  den  gleichen  Sinn 
hatten,  die  ersteren  die  wirtschaftliche  Blüte  Frankreichs,  die  zweite 
die  Schädigung  Englands  bezweckten.  Ebenso  müssen  die  Aufhebung 
der  Sperre  und  die  auf  dem  Wiener  Kongreß  vorgenommene  Neu- 
ordnung der  europäischen  Staaten  gesondert  betrachtet  werden,  wenn 
man  die  außenhandelspolitischen  Zustände  beschreibt,  die  nach  18 15 
in  Deutschland  bestanden.  Man  wird  also  nach  Ländern  und  Ge- 
werben spezialisieren  müssen. 

Schon  18 13  und  18 14  waren  deutsche  Industrien  östhch  des  Rheins 
dem  Druck  der  englischen  Konkurrenz  preisgegeben.  Er  war  keines- 
wegs etwas  ganz  Neues,  wenn  er  auch  niemals  so  stark  gewesen  war. 
Denn  schon  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  wird  in  Sachsen,  Schlesien 
und  Baden  die  Beschwerde  laut,  daß  ihnen  die  Auslandsmärkte  ver- 
schlossen würden,  weil  England  auf  dritten  Märkte"»  ^Um  Schaden 
der  Kontinentalindustrie,  die  mit  Prämien  unterstützten  eigenen  Waren 
unter   dem  Wert  vertrieb   und  die  Einfuhr  von  Rohstoffen  und  Halb- 


IV.  Deutschland  und  das  Ausland.  43 


fabrikaten  in  ihre  Gebiete  erschwerte.  Im  Vogtlande  war  die  Fabri- 
kation feiner  breiter  Musseline,  in  Chemnitz  die  der  feinen  weißen 
Gewebe  eingegangen.  Im  Erzgebirge  hatte  sich  die  Kattunweberei 
und  -Druckerei  zwar  gehalten,  hatte  aber  einen  schweren  Stand,  da 
tüchtige  Maschinenspinnerei  und  Walzdruck  der  Engländer  fehlten. 
Nach  1815  brachen  die  britischen  Fabrikanten  mit  den  alten  erprobten 
Methoden  in  das  Inland  ein.  Die  Wirkung  war  verschieden,  je  nach 
den  Begünstigungen,  welche  die  Gewerbe  bisher  genossen  hatten.  In 
dem  linksrheinischen  Deutschland,  das  dem  französischen  Kaiserreich 
einverleibt  gewesen  war,  hatte  der  Zoll  gegen  alle  Auslandswaren  eine 
längere  Reihe  von  Jahren  genützt,  und  die  Aachener,  Crefelder,  Saar- 
brückner  Industrie  rasch  vorangebracht.  Den  Rhein bundstaaten  hin- 
gegen, die  nur  bis  zu  10%  des  Wertes  die  französischen  Importe  be- 
lasten und  deren  Transit  nicht  hemmen  durften,  war  der  Markt  des 
Kaiserreiches  so  gut  wie  verschlossen  gewesen.  Aber  sie  empfanden 
doch  die  Fernhaltung  Englands  auf  dem  deutschen  Markt  als  eine 
Wohltat,  so  daß  es  in  den  Woll-,  Leinen-,  Eisen-  und  Stahlwerken 
lebhaft  zuging.  Von  der  Leipziger  Messe  des  Jahres  1810  wird  be- 
richtet, daß  sie  alle  ihre  Vorgängerinnen  übertroffen  habe,  und  daß 
das  Verlangen  nach  Ware  nicht  voll  zu  befriedigen  gewesen  wäre. 
Den  Fabrikanten  im  Großherzogtum  Berg,  das  der  Kaiser  seinem 
Schwager  Murat  verliehen  hatte,  in  Düsseldorf,  Elberfeld  und  Barmen, 
Solingen,  Remscheid,  Essen  und  Bochum  wurde  aus  Paris  der  Be- 
scheid, daß  sie,  als  sie  um  eine  Angliederung  an  Frankreich  ein- 
gekommen waren,  da  ihnen  der  französische  und  jeder  überseeische 
Markt  versperrt  sei,  genügend  Schutz  besäßen  und  im  Osten  ihren 
Absatz  frei  von  dem  englischen  Wettbewerb  suchen  möchten.  Im 
neuen  Baden,  wo  die  Beamtenschaft  hoffte,  Napoleon  möge  die  Schweiz 
annektieren,  damit  das  Wirtschaftsleben  dort  wieder  erwache  und  der 
badische  Transithandel  wieder  nach  dem  Süden  hin  etwas  zu  tun  habe, 
verlor  die  hausindustrielle  Stickerei  ihren  Absatz  nach  Italien,  Frank- 
reich und  Holland,  die  ganze  Textilindustrie  lag  darnieder  und  konnte 
gegen  die  durch  das  große  Kaiserreich  begünstigte  elsässische  nicht 
aufkommen. 

Linksrheinisch  führte  das  französische  Konzessionssystem  dahin, 
daß  kleinere  Werke  zu  größeren  verschmolzen  wurden,  und  daß  einzelne 
Familien  rasch  zu  Wohlstand  und  Ansehen  gelangten.  So  im  Esch- 
weiler Kohlenbezirk,  wo  1816  schon  318  Arbeiter  von  der  Firma 
Englerth  beschäftigt  wurden,  oder  in  der  Zinkproduktion  des  Alten- 
bergs bei  Morsenet,  oder  im  Bleierzbergbau  bei  Machernich.  Auch 
im  Saargebiet  griff,  wie  im  Aachener,  die  Konzentrierung  um  sich, 
bei  der  wir  schon  die  das  ganze  folgende  Jahrhundert  dort  führenden 
Namen    Stumm,    Röchling,    Böcking,    Krämer    vorfinden.      Um    1806 


44  II-  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1815 — 1833. 


besaß  die  erstgenannte  Familie  zwei  Hochöfen  und  vier  Frischfeuer, 
denen  sich  eigene  Hammerwerke  und  bald  auch  eine  Gießerei  an- 
schlössen. Als  das  Saargebiet  preußisch  wurde,  verfügte  sie  über  die 
Hälfte  aller  Saarhütten,  verlor  aber  ihren  Markt  im  Westen.  Rechts- 
rheinisch blieb  die  Montanindustrie  ohne  wesentliche  Ausweitung  und 
ohne  Zusammenfassung  der  Produktionsabschnitte  fortbestehen,  wenn 
ihr  auch  die  Beseitigung  der  englischen  Konkurrenz  das  deutsche 
Absatzgebiet  besser  zugänglich  machte.  Auch  in  Thüringen  war  die 
Metallverarbeitung,  besonders  die  Waffenherstellung  unter  der  Kriegs- 
nachfrage erstarkt,  in  Sachsen  das  Textilgewebe  wie  der  Kattundruck 
und  die  Kattunweberei,  ebenso  in  Augsburg,  wo  der  Übergang  von  der 
Hausindustrie  zur  Fabrik  angebahnt  wurde.  In  Schwabach  wurde  von 
dem  englischen  Druck  die  Nadlerzunft  befreit,  die,  als  er  sich  nach 
18 15  wiederholte,  ihm  nicht  gewachsen  blieb,  im  Gegensatz  zu  Aachen 
und  Iserlohn,  wo  sich  die  Unternehmer  mit  Fabriken  und  Maschinen 
der  neuen  Technik  angepaßt  hatten,  so  daß  sie  nach  dem  Falle  der 
Sperre  nicht  bloß  standhielten,  sondern  auch  im  Ferngeschäft  vorwärts 
kamen.  In  Baden  kam  die  Strohflechterei  und  Bürstenmacherei  hoch 
und  auch  die  kleinen  Metallindustrien  zogen  ihren  Vorteil  aus  dem 
Fortfall  der  englischen  Konkurrenz.  Im  früheren  Kloster  St.  Blasien 
entstand  die  erste  Maschinenfabrik  und  die  erste  mechanische  Spinnerei 
des  Landes,  die  beide  durchhielten,  bis  später  der  Zollverein  sie  unter 
seinen  Schutz  nahm.  Bei  Magdeburg  wurde  die  Zuckerrübe  angebaut 
und  industriell  verarbeitet,  auch  in  Schwarzach  in  Baden  entstand 
eine  größere  Fabrik,  als  Deutschland  nur  aus  dem  Schmugglergeschäft 
indischen  Zucker  beziehen  konnte.  Die  Landwirtschaft  •  hatte  also 
ebenfalls  einige  Vorteile  davongetragen.  Die  vermehrte  Leinenerzeugung 
erweiterte  in  einzelnen  Teilen  Deutschlands  den  Flachsbau,  die  Tuch- 
manufaktur die  Schafzucht.  Der  Krapp-,  Waid-  und  Tabakbau  ge- 
diehen, als  Kolonialwaren  und  Indigo  nur  zu  sehr  hohen  Preisen  zu 
haben  waren. 

Östlich  der  Elbe  ist  es  nur  die  Montanindustrie  Schlesiens,  die 
aus  der  Fernhaltung  Englands  vom  deutschen  Markte  Gewinn  zieht. 
Hier  sind  es  im  18.  Jahrhundert  weitblickende  Männer  des  großgrund- 
besitzenden Adels  gewesen,  die  auf  ihren  Gütern  Werke  errichtet 
haben.  Graf  Reden  wird  als  der  Begründer  der  oberschlesischen 
Eisenindustrie  genannt.  Sie  allein  sind  kapitalkräftig  genug,  um 
Unternehmungen  im  großen  wagen  zu  können.  Die  Bergordnung 
Friedrichs  des  Großen  steht  ihnen  bei,  indem  sie  das  Recht  der  Grund- 
herren auf  Eisenerz  anerkennt.  vSteinkohle  wird  zwar  zum  Regal  er- 
klärt und  dem  Bergwerkszehnt  und  der  staatlichen  Direktion  unter- 
stellt. Doch  erhalten  später  die  Grundherren  mancherlei  Begünstigung 
durch  Vor-  und  Mitbaurecht  gegenüber  den  Verleihungen,  die  Dritten 


IV.  Deutschland  und  das  Ausland.  a  c 


gewährt  sind.  1804  sind  in  Oberschlesien  4g  Hochöfen  und  158  Frisch- 
feuer vorhanden.  Es  gab  ein  Löschfeuer,  ein  Zementstahlwerk,  zwei 
Raffinierhämmer  und  13  Schlackenpochwerke.  An  Roheisen  wurden 
in  demselben  Jahre  rund  400000  Zentner  erzeugt,  an  Stabeisen 
240000  Zentner.  Der  Wert  der  Erzeugnisse  betrug  etwa  i  475000  Tlr. 
Graf  Henckel,  Thiele -Winckler,  Fürst  Pleß,  Fürst  Ratibor  werden 
schon  damals  als  Großindustrielle  genannt.  Neben  dem  Magnaten- 
betrieb gibt  es  den  staatlichen,  dessen  Technik  neben  dem  des  Grafen 
Colonna  und  Grafen  Renard  an  der  Spitze  steht.  Schon  1788  wird 
eine  Dampfmaschine  auf  der  fiskalischen  Friedrichsgrube  aufgestellt. 
Die  ersten  Koksöfen  haben  die  ebenfalls  staatliche  Gleiwitz-  und  die 
Königshütte,  die  1818  vier  Hochöfen  besitzt  und  als  die  großartigste 
Anlage  des  Kontinents  gilt.  1815  spaltet  sich  der  alte  Frischprozeß, 
als  das  Halbfabrikat  zu  Stabeisen  in  den  Walzwerken  ausgereckt 
wurde.     Die  Puddelöfen  finden  erst   1828  Eingang. 

In  der  Kriegszeit  1 806/1 807  wurde  die  schlesische  Industrie  zu- 
nächst arg  mitgenommen.  Unter  der  Sperre  erholt  sie  sich,  beherrscht 
den  ganzen  ostdeutschen  Eisen-  und  Stahlmarkt  und  dringt  bis  nach 
Mitteldeutschland  über  Berlin  hinaus  vor.  Nach  der  Aufhebung  kann 
ihr  England  in  ihrem  engeren  Gebiet  nicht  viel  anhaben,  teils  ihrer 
geographischen  Lage  wegen,  teils  infolge  ihrer  technischen  Fortschritte, 
teils  durch  das  für  die  Produktion  so  geeignete  Zusammenliegen  von 
Erz-  und  Kohlengruben.  Der  Verkauf  in  den  Gebieten  westlich  der  Elbe 
wird  ihr  jedoch  erschwert. 

Die  Exportindustrie  des  Ostens,  die  brandenburgische  Tuch-,  die 
Berliner  Seidenmanufaktur  wurden  durch  die  Schließung  der  Seewege 
überwiegend  geschädigt,  ebenso  die  schlesische  Leinenweberei,  die  schon 
während  der  vorausgehenden  Kriegsperiode  in  Not  geraten  war,  jetzt 
ihren  wichtigen  Ausfuhrhafen  Hamburg  verlor,  der  ihr  nach  dem  Frieden 
auch  nicht  mehr  viel  nützen  konnte,  da  inzwischen  England  ihr  früheres 
Absatzgebiet  erobert  hatte  und  mit  seiner  mechanischen  Flachsspinnerei 
und  dem  Maschinenwebstuhl  behauptete.  Seit  diesen  Tagen  hat  sich 
diese  schlesische  Hausindustrie  nicht  wieder  erholt  und  verlor  die 
Kraft,  sich  der  Neuzeit  anzupassen.  Auch  Hannover  litt  unter  dem 
gleichen  Druck,  von  wo  bis  1806  Leinen  nach  Nord-  und  Südamerika 
und  Westindien  versandt  worden  war.  Mit  dem  Niedergang  des 
Hamburger  und  Bremer  Handels  hatte  das  Land  auch  seine  landwirt- 
schaftliche Ausfuhr  zum  Verbrauch  in  den  Hansastädten  und  zum 
Weiterexport  teilweise  eingebüßt  und  seinen  Durchgangsverkehr  nach 
Mitteldeutschland  mit  Kolonialwaren  und  von  dort  mit  gewerblichen 
süddeutschen  nach  dem  Norden  einschränken  müssen.  Die  Nürnberger 
Luxusgewerbe   des   Gold-    und   Silberdrahtes   und   der  Spielwaren,   die 


a6  II.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1815 — 1833. 

Fayenceindustrie  von  Ludwigsburg  gingen   des  überseeischen  Marktes 
verlustig  und  brauchten  lange  Zeit,  um   neue  Beziehung   anzuknüpfen. 

Der  deutsche  Osten  war  nicht  nur  industriell  geschädigt  worden. 
Der  Getreidepreis  sank,  sobald  England  nicht  mehr  regelmäßig  ein- 
kaufte, das  Holz  war  nicht  mehr  abzusetzen,  die  Reederei  und  der 
Handel  der  Ostseehäfen  wurden  so  geschwächt,  daß  es  ihnen  nicht 
möglich  wurde,  dem  nach  18 15  rasch  vorwärts  drängenden  und  durch 
die  Lage  begünstigten  Nordseegeschäft  zu  folgen. 

Die  Hansastädte  hatten  durch  die  Blockade,  die  Sperre,  durch 
Davousts  unerhörte  Kontributionen  und  durch  die  Plünderung  der 
für  den  mitteleuropäischen  Handel  so  wichtigen  Bank  von  Hamburg 
an  ihrem  Silberschatz,  der  „als  toter  für  den  Kaiser  in  Bewegung 
gesetzt  werden  sollte",  ungemein  gelitten,  als  dieser  erklärt  hatte,  „die 
Städte  seien  nur  englische  Kolonien  auf  dem  Festlande,  privilegierte 
Werbeplätze  für  den  Handelsgewinn  der  Briten  und  brächten  die  Völker 
um  ihre  Barschaften".  Sie  erholten  sich  nach  Eintritt  des  Friedens 
rasch.  1826  waren  in  Hamburg  1946  große  und  kleine  Schiffe  ange- 
kommen, 9  aus  Ostindien,  70  aus  Westindien,  30  aus  Nordamerika, 
8  aus  Südamerika,  812  jedoch  aus  England.  Das  Londoner  Dampf- 
schiff hatte  im  Jahre  27  Fahrten  gemacht.  Das  Geschäft  mit  dem 
Auslande  war  bald  so  gewachsen,  daß  ein  neues  Börsengebäude  auf- 
geführt wurde.  Das  Seeassekuranzwesen  wurde  ein  blühendes  Geschäft- 
Aus  jener  Zeit  stammt  in  Hamburg  die  Vorliebe  für  englische  Sitten 
und  Einrichtungen  und  die  Gewohnheit,  junge  Leute  nach  London  zu 
senden,  um  dort  das  Geschäft  zu  erlernen.  In  den  zwanziger  Jahren 
verdienten  Hamburg  und  Bremen  reichlich  durch  Einfuhr  aus  England. 
War  auch  eine  süddeutsche  Stimme,  „die  Hamburger  seien  deutsche 
Barbaresken,  deren  Interessen  als  englische  Faktoreien  auf  Plünderung 
des  übrigen  Deutschlands,  auf  Vernichtung  seiner  Industrie  gerichtet", 
eine  agitatorische  Phrase  zugunsten  heimischer  Zölle,  kein  Zweifel,  die 
leichte  Einfuhr  englischer  Waren  in  die  meisten  deutschen  Länder 
brachten  ihnen  Entschädigung  für  den  Geschäftsausfall  der  Vorjahre, 
während  der  sie  keine  französischen  Luxuswaren  im  Zwischenhandel 
auf  dem  Seewege  mehr  beziehen  konnten  und  Kolonialwaren  nur  im 
Wege  des  gefährlichen  Schmuggels  einbrachten.  Tönningen  erblühte 
unter  ihm.  Auf  der  kleinen  Insel  Helgoland  hatten  unter  der  Sperre 
30  englische  Firmen  ihre  Niederlagen,  deren  Schiffer  die  holsteinische 
Küste  und  die  Elb-  und  Wesermündung  aufsuchten. 

Von  den  Hansastädten  waren  die  eingeschmuggelten  Kolonial- 
waren und  englischen  Garne  in  das  Innere  von  Deutschland  zuerst 
noch  leidlich  weitervertrieben  worden.  Dagegen  richtete  sich  das 
„Kolonialsystem"  Napoleons  von  18 10 — 13,  nach  dem  für  die  Mittel- 
punkte   des    Handels    und    der  Weiterverarbeitung    der    Kolonialware 


IV.  Deutschland  und  das  Ausland. 


47 


angeordnet  wurde,  daß  sie  solche  nur  aus  den  nördlichen  Departements 
Frankreichs  beziehen  durften  und  mit  Ursprungszeugnissen  die  dortige 
Zollbezahlung  nachzuweisen  hatten.  Güter  englischer  Herkunft  wurden 
verbrannt.  Handel  und  Fabrikation,  z,  B.  in  Erfurt,  wurden  durch 
das  französische  Monopol,  zu  dessen  Preisaufschlag  noch  der  einheimische 
Zoll  hinzukam,  in  kurzer  Zeit  zugrunde  gerichtet  und  haben  nicht 
wieder  gesunden  können. 

Es  ist  auf  die  Vorgänge  von  1806 — 15  mit  zurückzuführen,  daß 
der  Osten  Preußens  überwiegend  auf  die  landwirtschaftliche  Produktion 
hingewiesen  blieb,  der  Westen  auf  die  industrielle.  Das  hat  zu  Gegen- 
sätzen geführt,  die  sich  auch  politisch  fühlbar  machten,  als  aristokratische 
Neigung  dort,  als  demokratische  hier.  Wenn  der  Osten  im  Sinne  des 
Merkantilismus  des  18.  Jahrhunderts  industriell  nach  1815  so  fortge- 
schritten wäre,  als  er  begonnen  hatte,  so  würde  die  Landv/irtschaft 
ihren  Schwerpunkt  bald  in  dem  inneren  Markt  gefunden  haben.  Unter 
den  bestehenden  Verhältnissen  wurde  sie  auf  das  Ausland  angewiesen, 
und  der  Westen  mußte  sich  fernerhin  mit  fremdem  Getreide  versorgen, 
um  die  rasch  wachsende  Bevölkerung  zu  ernähren. 

Als  nun  die  Sperre  fiel,  hatten  die  deutschen  Verbraucher  zwar 
bessere  Tage,  viele  heimische  Erzeuger  aber  schwere  zu  erwarten. 
Am  meisten  hat  die  Textilindustrie  zu  leiden  gehabt.  Denn  die  eng- 
lische hatte  in  dem  letzten  Jahrzehnt  große  Schritte  vorangemacht.  Ark- 
wrigths  Spinnmaschine  und  Cartwrigths  mechanischer  Webstuhl  be- 
herrschten die  Preise,  und  Watts  Dampfmaschine  war  praktisch  ins 
Große  gesetzt  worden  und  wurde  andauernd  verbessert.  1801  wurden 
54  Mill.  Pfund  Baumwolle  versponnen,  eine  geringe  Menge  gegenüber 
der  heutigen,  damals  eine  gewaltige  im  Vergleich  zu  dem,  was  das 
Festland  mit  seiner  Handarbeit  erzeugte.  Die  Exportindustrie  der 
englischen  textilen  Fertigware  war  ebenfalls  trotz  der  Schließung  des 
europäischen  Kontinents  lebenskräftig  fortgeschritten,  da  "sie  auf  vielen 
überseeischen  Märkten  heimisch  geworden  war.  So  brauchte  sie  die 
Schmuggelstationen  am  Schwarzen  und  mittelländischen  Meer,  an  der 
Ost-  und  Nordsee  nicht  einmal  aufzusuchen,  die  hauptsächlich  für 
Kolonialwaren  und  Baumwollgarne  Stapelplätze  gewesen  sind. 

Auch  in  vielen  anderen  Industrien  hatte  England  während  der 
Kriegszeit  technisch  alle  anderen  Länder  überholt,  wie  das  von  J.  H. 
M.  Poppe  in  dem  „Geist  der  englischen  Manufakturen"  mit_  zahl- 
reichen Beispielen  18 12  geschildert  wird.  Die  Namen  von  Weg~wood 
und  Boulton  werden  rühmend  genannt.  Die  Erfindung  des  Gußstahles 
war  gemacht  und  der  Kleineisenindustrie  für  Messer,  Scheren,  Nadeln, 
Feilen,  Gewehren  dienstbar  geworden.  Der  hohe  Stand  der  Leder-, 
Steingut-,  Strumpf-,  Hut-,  Bleiweiß-,  Papierindustrie  wird  den  Deutschen 
zur  Nachahmung  empfohlen,  in   dem    naiven  Glauben,    daß    man    alles 


^8  II-  Abschnitt,     Die  Zeit  von   1815  —  183J 


alsbald  nachmachen  könne,  wenn  man  nur  die  Herstellung  begriffen 
habe.  Vielerlei  Werkzeugmaschinen  waren  damals  schon  im  Gebrauch: 
Walz-,  Feilhauer-,  Bohr-,  Hufeisenschlag-,  Spinn-,  Web-,  Scheer-,  Druck-, 
Strohspalt-,  Knopfmaschinen.  Die  Dampfmaschine,  die  damals  nur 
70 — go  PS.  gab,  betrieb  nicht  nur  die  Textil werke,  wir  finden  sie  schon 
in  den  Brauereien,  Papiermühlen  und  Walzwerken.  1805  war  die 
erste  völlig  praktische  Lokomotive  Trevithicks  und  Vivians  von  Merthyr 
nach  Tydvil  gelaufen. 

Während  des  Krieges  war  England  der  unbestrittene  Herrscher 
der  See  gewesen,  und  wo  die  Kriegsschiffe  siegreich  einliefen,  folgten 
seine  Handelsschiffe  nach.  Politische  Machtmittel  zu  wirtschaftlichen 
Zwecken  zu  gebrauchen,  hat  es  immer  verstanden.  An  der  Gründung 
des  ohnmächtigen  deutschen  Bundes  auf  dem  Wiener  Kongreß  nahm 
es  lebhaften  Anteil.  Die  Nordseeküste  wurde  zerstückelt.  Das  König- 
reich der  Niederlande  wurde  durch  den  belgischen  Anhang  geschwächt. 
Das  matrosenreiche  Ostfriesland  mußte  von  Preußen  an  Hannover  ab- 
getreten werden,  dessen  Fürstenhaus  mit  dem  englischen  verwandt 
war.  Ein  Teil  der  Nordseeküste  gehörte  Oldenburg,  die  Hansastädte 
waren  souverän.  Es  gab  den  dänischen  Gebietsteil  Schleswig,  und 
das  Herzogtum  Holstein,  wenn  auch  dem  deutschen  Bund  angehörig, 
unterstand  dem  dänischen  König.  Das  englische  Helgoland  lag  vor 
der  Elb-  und  Wesermündung.  So  hatte  sich  das  Inselreich  ein  Vor- 
land gegen  Preußen  eingerichtet,  dessen  späterer  Rest  Belgien  um 
191 4,  wohl  dazu  vorbereitet,  noch  eine  strategische  Aufgabe  für  die 
britischen  Kriegsziele  zu  erfüllen  hatte.  Das  deutsche  Land  des  poli- 
tischen Glacis  war  wenigstens  nach  langen,  langen  Mühen  und  Ringen 
dahin  gebracht  worden,  wohin  es  gehörte. 

Nach  18 15  wurden  die  deutschen  Märkte  mit  englischen  Fabrikaten 
geradezu  überschüttet.  Man  wollte  die  Verbraucher  mit  billigen  Gaben 
ködern  und  den  Wettbewerb  sofort  zum  Schweigen  bringen.  Die 
enghsche  Regierung  begünstigte  dies  Ziel,  hatten  doch  berühmte  Parla- 
mentsmitglieder, wie  Henry  Brougham,  öffentlich  erklären  dürfen,  daß 
man  „die  Kontinentalfabriken  in  den  Windeln  ersticken  müsse".  Klügere 
Leute  sprachen  sich  vorsichtiger  aus  und  verkündeten  den  Segen  des 
Freihandels.  Einsichtsvolle  deutsche  Gegner  dieser  Beglückung  hatten 
die  Lehre  schon  1825  durchschaut.  So  heißt  es  in  Venturinis 
Chronik:  „Indessen  gibt  es  doch  unter  uns  Toren  genug,  die  von 
dem  Schwalle  der  Reden  im  britischen  Parlamente  über  die  Handels- 
freiheit betäubt,  sich  von  daher  die  glückHchste  Zukunft  für  Deutsch- 
lands Handel  und  Fabrikwesen  versprechen.  Daß  England  nicht  er- 
kannt worden  ist,  werden  künftige  Generationen  nicht  begreifen". 

Die  Selbsthilfe  der  betroffenen  Fabrikanten  wurde  angerufen. 
Nur    ausnahmsweise    vermochten    sie    einige    englische    Einrichtungen 


IV,  Deutschland  und  das  Ausland. 


49 


nachzuahmen.  So  führte  die  Greizer  Wollindustrie  die  Maschinen- 
spinnerei und  die  mechanische  Wollkämmerei  ein  und  erdrückte  die 
heimische  Handspinnerei.  Die  Weberei  dort  blieb  aber  in  der  Form 
der  alten  Hausindustrie  fortbestehen  und  geriet  in  zunehmende  Ab- 
hängigkeit von  den  Verlegern,  die  das  Maschinengarn  allein  in  der 
Hand  hatten.  Im  Königreich  Sachsen  faßte  die  Baumwollspinnerei 
mit  Maschinen  an  einigen  Orten  Fuß.  1820  wurde  im  Erzgebirge  der 
Kattunwalzdruck  zuerst  versucht. 

Da  der  deutsche  Bund  eine  handelspolitische  Abwehrmöglichkeit 
gegen  den  englischen  Vorstoß,  dem  Holland  gefügig  sekundierte,  nicht 
besaß,  so  mußten  sich  die  Einzelstaaten  zu  helfen  wissen,  wie  es  ging. 
Aber  nur  Preußen  war  groß  genug,  um  erfolgreich  etwas  durchsetzen 
zu  können. 

Das  vom  Generaldirektor  Maaßen  verfaßte  preußische  Zoll- 
gesetz von  1818  schuf  für  5000  Quadratmeilen  und  10^/2  Millionen 
Menschen  zum  ersten  Male  in  Deutschland  ein  großes  Wirtschafts- 
gebiet mit  innerer  Verkehrsfreiheit  und  einem  einheitlichen,  ehemals 
dem  alten  Reich  vorbehaltenen,  aber  niemals  ausgenutzten  Grenzzoll 
gegen  das  Ausland.  Es  beseitigte  die  provinzialen  und  sonstigen 
Akzisen,  sowie  die  Einfuhr-  und  Ausfuhrverbote  und  stellte  ein 
System  gemäßigten  Zolles  zum  Ersatz.  Es  trug  zugleich  einen  finanz- 
politischen Charakter,  da  die  Akzisen  wenig  eingebracht  und  unregel- 
mäßig den  Verbrauch  belastet  hatten.  Neben  den  Schutzzöllen  sollten 
Finanzzölle  besondere  Einnahmen  geben,  wie  die  auf  Kolonialwaren 
und  Weine,  bei  denen  man  bis  auf  20 — 30%  des  durchschnittlichen 
Wertes  hinaufging.  Die  Durchfuhrabgaben  von  1/3  Tlr.  auf  den  Zentner 
erwuchsen  sowohl  aus  finanziellen  Erwägungen  als  auch  daraus,  um 
auf  andere  deutsche  Staaten  einen  handelspolitisch  zu  verwertenden 
Druck  ausüben  zu  können.  Die  Zölle  wurden  nach  dem  Gewicht  auf- 
gelegt, worin  man  mit  Recht  die  einfachste  und  billigste  Erhebungs- 
art erblickte.  Daneben  waren  einzelne  Stückzölle  vorhanden.  Für 
Fabrik-  oder  Manufakturwaren  sollte  der  Zoll  etwa  10%  des  Wertes 
betragen,  wobei  man  sich  auf  eine  weitgehende  Qualitätsverschieden- 
heit nicht  einließ.  Fremde  Rohstoffe  wurden  frei  eingelassen,  bei  der 
Ausfuhr  wurden  wertvolle  einheimische  bezollt.  Die  Getreidezölle 
waren  gering,  in  den  westlichen  Provinzen  waren  Roggen,  Gerste, 
Buchweizen  frei.  Erst  1827,  unter  der  Agrarkrise,  wurden  gleichmäßige 
und  erhöhte  Getreide-  und  Viehabgaben,  jedoch  nicht  über  14%  des 
Wertes,  für  die  ganze  Monarchie  eingeführt. 

Das  Zollgesetz  ist  ein  glücklicher  Griff  gewesen.  Es  war  sowohl 
dem  gegebenen  wirtschaftlichen  Gesamtzustande  als  auch  der  inter- 
nationalen politischen  Lage  angepaßt.  Man  hatte  auf  die  ehemaligen 
Verbündeten  Rußland  und  England  Rücksicht  zu  nehmen,   und  wollte 

A.Sartorius  v.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        4 


CQ  II.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1815  — 1833. 


jenes  nicht  durch  hohe  agrare,  dieses  nicht  durch  hohe  industrielle 
Zölle  verstimmen.  Die  Landwirte  des  Ostens  fanden  sich  damit  ab, 
da  sie  ihre  Ausfuhr  zu  erweitern  zunächst  sich  stark  genug  fühlten. 
Die  Industriellen,  besonders  des  Rheins,  bestürmten  hingegen  die  Re- 
gierung, sich  ihrer  Wünsche  anzunehmen.  Ihnen  gegenüber  wurde 
von  dieser  das  Wohl  des  Gesamtstaates  geltend  gemacht.  Ein  hoher 
Industrieschutz  müßte  den  Gesuchstellern  vornehmlich  zugute  kommen, 
wodurch  nicht  nur  alle  Verbraucher,  die  nach  dem  Kriege  bei  der 
hohen  Steuerlast  wenig  leistungsfähig  seien,  zu  stark  belastet  würden, 
sondern  auch  die  sonstige  industrielle  Entwicklung  unter  der  Kon- 
kurrenz des  Westens  nicht  aufkommen  werde.  Der  geplante  Gewichts- 
zoll reiche  für  die  einfache  Ware  durchaus,  die  nun  überall  da  erzeugt 
werden  könne,  wo  die  Vorbedingungen  beständen.  Man  meinte  also, 
daß  ein  Land,  das  im  Ganzen  industriell  so  rückständig  wäre  wie 
Preußen,  zunächst  mit  einer  breiten  Erzeugung  gewöhnlicher  Güter 
sich  eine  Grundlage  schaffen  müßte,  der  Aufbau  der  feineren  würde 
dann  später  nachfolgen  können. 

Von  den  rheinischen  Unternehmern  gelang  es  bald  einer  Anzahl 
ihren  Betrieb  zu  vergrößern.  Ein  Beispiel:  Die  Aachener  Tuch  werke, 
die  vorwiegend  hausindustriell  waren,  hatten  nach  Verlust  des  franzö- 
sischen Marktes  schwere  Zeiten  durchzumachen.  Die  kleineren  gingen 
zugrunde,  und  von  den  Arbeitern  waren  bis  in  die  zwanziger  Jahre 
hin  nur  ein  Drittel  beschäftigt.  Die  kapitalkräftigeren  hielten  unter  dem 
gemäßigten  Schutz  durch.  1821  wurde  die  erste  Spinnmaschine  des 
Erbauers  Cockerill  aufgestellt.  Tuchscheer-  und  Waschmaschine 
wurde  mit  Hilfe  der  Regierung  beschafft  und  das  Appreturverfahren 
verbessert.  Erst  1833  galt  die  Krise  mit  der  Durchführung  des  Fabrik- 
systems für  überwunden,  als  nach  einer  Handelskammerschätzung 
80000  Stück  Tuch  zu  einem  Verkaufswert  von  4  Millionen  Tlr.  in 
Aachen  und  Burtscheid  hergestellt  worden  waren. 

Auf  Anregung  von  Anders  in  Elberfeld  wurde  die  rheinisch- 
westindische Kompagnie  182 1  gegründet  mit  der  Aufgabe,  deutschen 
Waren  in  überseeischen  Ländern  Eingang  zu  verschaffen.  Diese 
Aktiengesellschaft  litt  von  vornherein  daran,  daß  ihr  Kapital  von  einer 
Million  Tlr.  nicht  ausreichte,  und  daß  sie  als  Handelsunternehmen, 
das  eine  vollständige  Sammlung  aller  bedurften  Waren  bringen  wollte, 
diejenigen  auswärtiger  Herkunft  ausschloß,  für  die  in  Deutschland  noch 
kein  hinlänglicher  Ersatz  geboten  wurde.  Trotzdem  gedieh  das  Ge- 
schäft bis  1826  ganz  gut,  und  es  wurden  für  5^/3  Millionen  Tlr.  Güter 
konsigniert,  davon  3 1/3  aus  Preußen.  Allein  der  Schleuderkonkurrenz 
nach  der  englischen  Handelskrise  von  1828  war  es  nicht  gewachsen, 
obwohl  das  Kapital  mehrfach  erhöht  wurde,  woran  sich  auch  der 
König   von  Preußen   beteiligte.     Als  nun   politische  Wirren   in   West- 


IV.  Deutschland  und  das  Ausland. 


51 


indien,  Brasilien  und  Argentinien  den  Verkehr  hemmten,  mußte  1831 
dieses  verfrühte  patriotische  Unternehmen  liquidieren.  Nach  den  ersten 
Erfolgen  hatte  auch  ein  deutscher  Wettbewerb  eingesetzt,  u.  a.  durch  die 
Elb- Amerikanische  Kompagnie.  So  wurde  der  deutsche  Gesamtabsatz 
zersplittert,  während  damals  alles  hätte  getan  werden  müssen,  die  ge- 
ringe Kapitalmacht  für  die  Ausfuhr  zusammenzuhalten.  Auch  in 
Schlesien  wurde  1825  eine  westindische  Gesellschaft  errichtet,  die  mit 
der  Mehlversendung  nach  Südamerika  begann,  als  eine  Anzahl  ver- 
besserten Mühlenwerke  für  Feinmehl  entstanden  waren.  Ihr  war  eben- 
falls kein  Erfolg  beschieden. 

Die  erst  neu  zu  organisierende  Zollverwaltung  Preußens  sprach 
für  die  Niedrigkeit  des  Zolles.  Das  alte  System  mit  seinen  Verboten 
hatte  manche  Klage  über  Hinterziehung  und  Bestechung  laut  werden 
lassen.  Rückzölle  und  Prämien  waren  oft  nach  Gunst  gewährt  worden. 
Indem  man  ein  ganz  neues  Personal  von  höheren  Beamten  und  gut- 
bezahlten Grenzwächtern  anstellte,  kam  es  darauf  an,  es  nicht  in  Ver- 
suchung zu  führen,  die  bei  niedrigen,  den  Schmugglern  wenig  ge- 
winnbringenden Zöllen  gering  ist. 

Daß  eine  Anzahl  Werke  des  Schutzes  entbehrte,  den  sie  unter 
der  Sperre  genossen  hatte,  ist  richtig,  aber  vernichtet  wurden  nur 
wenige.  Der  große  Inlandmarkt  kam  ihnen  bald  zustatten  und  das 
um  so  mehr,  als  die  Transporteinrichtungen,  wenn  auch  nur  langsam, 
besser  wurden. 

Man  darf  zum  Verständnis  der  preußischen  Zollpolitik  von  1818 
ferner  nicht  vergessen,  daß  die  damalige  Nationalökonomie  von  der 
Freihandelslehre  Smiths  beherrscht  wurde.  Das  System  war  reich  an 
Gedanken  und  so  einheitlich  in  der  Gesamtauffassung  des  ökonomischen 
Liberalismus,  daß  das  gebildete  preußische  Beamtentum  sich  seinem 
Zauber  nicht  entziehen  konnte.  Endlich  machte  der  Tarif  mittlerer 
Linie  das  Gesetz  geeignet,  einmal  später  auf  ganz  Deutschland  aus- 
gedehnt zu  werden.  So  antwortete  der  Staatskanzler  Fürst  von 
Hardenberg  am  3.  Juni  18 18  niederrheinischen  Fabrikanten,  die  um 
Schutz  vorstellig  geworden  waren,  „es  liege  im  Geiste  des  Plans,  nicht 
allein  auswärtige  Beschränkungen  des  Handels  zu  erwidern,  sondern 
auch  Willfährigkeiten  zu  vergelten  und  nachbarliches  Anschließen  an 
ein  gemeinschaftliches  Interesse  zu  fördern". 

Es  kann  die  kurze  Betrachtung  des  preußischen  Zollgesetzes 
nicht  besser  als  mit  den  Worten  G.  Schmollers  abgeschlossen 
werden:  „Es  gehört,  wie  die  Städteordnung  von  1808,  das  bäuerliche 
Regulierungsedikt  von  181 1,  das  Wehrgesetz  von  18 14,  die  Landwehr- 
ordnung  von  18 15  zu  den  gesetzgeberischen  Höhepunkten  und  Groß- 
taten jener  Zeit,  durch  die  der  preußische  Staat  seinen  alten  Ruhm  ratio- 
nellen Fortschrittes  im  Sinne  der  Ideale  der  Zeit  aufs  neue  befestigte." 

4* 


52 


II.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1815 — 1833. 


Allerdings  mußten  die  andern  deutschen  vStaaten  sich  erst  von 
dem  inneren  Wert  der  neuen  Einrichtung  überzeugen  lassen,  ehe  sie 
zum  Anschluß  bereit  waren.  Sie  hatten  unter  dem  Druck  des  Aus- 
landes zunächst  noch  eine  Leidensschule  durchzumachen,  bis  sie  die 
Unzulänglichkeit  ihrer  eigenen  zersplitterten  Kräfte  begriffen. 

Die  seit  1825  zum  Vergleich  der  folgenden  Jahre  brauchbare 
Handelsstatistik  der  Ein-  und  Ausfuhr  läßt  ersehen,  daß  in  dem  ersten 
Jahrzehnt  nach  dem  Zollgesetz  der  ^Außenhandel  keineswegs  glänzend 
war.  Die  absoluten  Gewichtszahlen  sind  bescheidener  Art,  etwa 
1/2  —  ^4^/0  ^'O"^  dem,  was  das  Reich  19 13  im  Generalhandel  verzeich- 
nete, und  auch  nicht  gerade  schnell  gestiegen.  Der  ganze  Waren- 
verkehr, Eingang,  Ausgang  und  Durchfuhr  ist  dieser: 


Jahre 

1825           1826 

1827 

1828 

1829 

1830 

1831 

Zentner 

die  meisten  Wa- 
ren       .     .     . 

8  563  120 

8877464 

10325  914 

10  694  1 13 

10764675 

II  180  892 

12  313  340 

Scheffel 

Getreide,     Hül- 
senfrüchte 

8658836 

8823328 

9  594  547 

10  293  074 

10  409  602 

14  264  317 

10479894 

Stück 

Glas ,      Balken , 
Vieh    .     .     . 

4706474 

3  955  151 

4530156 

2  678  927 

I  331  990 

I  385927 

778506 

Klafter 

Brennholz     . 

49461 

44  146 

46  619 

50975 

54  129 

69839 

52247 

Schiffslasten 

Bretter,     Steine 

179729 

165  871 

153628 

184  617 

120  108 

133  010 

loi  952 

Tonnen 

Kalk,         Gips, 
Salz,  Heringe 

151  329 

177  736 

201  267 

200  403 

255  103 

312019 

270737 

Zum  Verständnis  der  Ein-  und  Ausfuhr  können  wir  hier  nur  drei 
Warengruppen  aus  der  Einzelstatistik  herausgreifen.  Die  Getreide- 
ausfuhr ist  wegen  der  hemmenden  ausländischen  Gesetzgebung  einem 
Agrarlande  wie  Preußen  keineswegs  entsprechend.  Erst  seit  1824  und 
25  wird  die  Roggen-  und  Weizenausfuhr  größer  als  die  Einfuhr.  Mit 
dem  Aufstand  in  Polen  von  1830  wird  dort  die  Erzeugung  unter- 
bunden, was  den  preußischen  Landwirte  zugute  kommt.  Für  die 
Textilindustrie  bleibt  die  im  Inland  verarbeitete  Rohbaumwolle 
von  1822/1831  der  Menge  nach  dieselbe,  die  Spinnereien  sind  nicht 
vorangekommen.  Hingegen  hat  sich  die  Einfuhr  von  Baumwollgarn 
verdoppelt,  die  mit  einer  Mehrtätigkeit  der  Webereien  zusammengeht. 
Die  Wollausfuhr  ist  mit  der  Erweiterung  der  Schafzucht  größer 
geworden.     In    den    drei   Jahren    1826/1828    beträgt   die    einheimische 


IV.  Deutschland  und  das  Ausland. 


53 


Wollproduktion  696384  Zentner,  fremde  Wolle  153428  und  die  Aus- 
fuhr und  Wiederausfuhr  3  17  2 19.  Der  Ausgang  von  rohem  gebleichten 
und  gefärbten  Leinwandgarn  und  von  Leinwandgewebe  übertrifft  zwar 
die  Einfuhr,  zeigt  aber  rückgängige  Zahlen,  während  derjenige  von 
seidenen  Geweben  eine  leichte  Besserung  bekundet.  Bei  der  Eisen - 
fabrikation  bilanziert  sich  in  den  zwanziger  Jahren  der  Handel  in 
Roh-,  Guß-  und  Abfalleisen  ungefähr,  im  Anfang  der  dreißiger  steht 
er  zu  Preußens  Ungunsten.  Die  Einfuhr  von  geschmiedetem  überwiegt 
die  Ausfuhr  dauernd.  Bei  dem  Eisenblech  ist  es  wie  beim  Roheisen, 
hingegen  ist  der  auswärtige  Verkauf  von  feinen  Fabrikaten,  nament- 
lich in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahrzehntes,  der  Einfuhr  um  einiges 
überlegen. 

Günstiger  als  der  Außenhandel  hat  sich  der  Verkehr  in  dem 
durch  die  Zollgesetzgebung  von  18 18  geschaffenen  Binnenfreihandels- 
gebiet entwickelt,  obwohl  die  Agrarkrise  eine  allgemeine  Hemmung, 
wie  oben  erzählt  wurde,  gewesen  ist. 

Fehlt  es  auch  an  einer  Erzeugungs-  und  Verbrauchsstatistik,  so 
läßt  sich  der  Beweis  des  Vorankommens  doch  indirekt  führen.  Der 
Gewerbesteuerertrag  ist  ohne  Veränderung  der  Sätze  von  1 824/1 831 
von  1652  551  Tlr.  auf  2 019  6 15  Tlr.  hinaufgegangen.  Die  Reihenfolge 
der  meistzahlenden  Städte  war  diese: 


1824 


Breslau  . 

•   161425 

Tlr. 

Breslau   .     . 

174  161  Tlr 

Berlin 

■   1 10349 

„ 

Düsseldorf  . 

144698     ,, 

Liegnitz  . 

.   106511 

,, 

Berlin      .     . 

135607     „ 

Düsseldorf 

•     .   101379 

,, 

Liegnitz .     . 

129367     „ 

Magdeburg 

•     •     93  345 

„ 

Potsdam .     . 

.   118206     „ 

Potsdam . 

.     92977 

„ 

Magdeburg 

II3323             M 

Königsberg 

.     87698 

,, 

Merseburg  . 

III924            „ 

Frankfurt  a 

0.     85377 

,, 

Frankfurt  a.  0 

105463             „ 

Erst  in  größerem  Abstände  folgen  Erfurt,  Arnsberg,  Dan  zig 
Oppeln,  Stettin.  Die  späteren  großen  Industriemittelpunkte  werden 
schon  sichtbar.  Doch  ist  die  Rheinprovinz  nur  mit  einer  Stadt  unter 
den  acht  vertreten.  Köln  zahlt  1824  nur  56842,  Aachen  50970  Tlr. 
Die  geringe  Gewerbetätigkeit  des  damaligen  Berlins  wird  uns  weiter 
unten  beschäftigen. 

Die  Gewerbetabelle  der  preußischen  Monarchie  von  1 83 1  mit 
der  von  18 19  verglichen  bringt  in  allen  Abteilungen  Beweise  der  Zu- 
nahme der  verarbeiteten  Gewerbe.   Es  wird  ein  kurzer  Auszug  gegeben 


54 


n.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1815 — 1833. 


Mecha- 
nische 
Künstler 
und  Hand- 

deren 
Gehilfen 

Buch- 
drucke- 
reien 

Ziegeleien, 
Kalkbren- 
nereien, 
Glas- 
hütten, 

Eisen-  und 
Kupfer- 
hämmer 

und  andere 
Hütten- 

Mehl- 
Grützen- 

urd 
Graupen- 

Gehende 
Webstühle 

Handels - 
gewerbe 
aller  Art 

werker 

Teeröfen 

werke 

mühlen 

I8I9 

276815 

142  149 

240 

3696 

1834 

Zählung 

1822 

239  962 

250380 

69742 

I83I 

328317 

181  054 

305 

5406 

1948 

25584 

343381 

98239 

Eine  Zunahme  der  inneren  Verkehrstätigkeit  wird  noch  weiter 
erbracht  durch  diejenigen  Betriebe,  die  ausschließlich  für  den  inneren 
Markt  arbeiten,  der  Handwerker,  Gast-,  Speise-  und  Schankwirte, 
Bäcker  und  Fleischer,  Bierbrauer,  Fracht-  und  Fuhrleute.  Die  Jahr- 
märkte, die  ausschließlich  dem  Binnenhandel  dienen,  und  die  Messen, 
die  es  zum  großen  Teil  mit  etwa  50%  in  Naumburg,  mit  73%  in 
Frankfurt  a.  O.  tun,  haben  ihre  Warenmengen  dem  Gewicht  nach 
verdreifacht.  Über  Landstraßen,  Wasserwege  und  Schiffahrt  wird 
weiter  unten  berichtet  werden.  Auch  hier  geht  es  voran,  freilich,  wie 
alle  mitgeteilten  Zahlen  zeigen,  in  geringen  absoluten  Größen.  Immer- 
hin sind  die,  wenn  auch  nur  mäßigen  Fortschritte  im  inneren  preußischen 
Verkehr  eine'  wertvolle  Propaganda  für  die  Zoll  Vereinsbestrebungen, 
die  am  Ende  der  zwanziger  Jahre  lebhaft  gepflegt  werden.  Ein- 
gehendere Angaben  über  die  damaligen  preußischen  Wirtschaftszustände 
finden  sich  in  den  Büchern  von  C  W.  Ferber,  die  nach  amtlichen 
Ermittelungen  ausgearbeitet  wurden,  doch  als  zu  rosig  gefärbt  mit 
Recht  beurteilt  worden  sind. 

V.  Staatsschulden  und  Bankiergewerbe.  Die  Staaten 
hatten  wohl  für  die  produktiven  Gewerbe  in  der  hier  besprochenen 
Periode  einige  Aufwendungen  gemacht,  aber  sie  waren  finanziell  nicht 
in  der  Lage,  in  größerem  Stile  etwas  zu  gewähren.  Die  lange  Kriegs- 
zeit hatte  durch  Schuldaufnahmen  und  Papiergeldausgabe  überall  die 
Finanzen  zerrüttet,  nicht  nur  in  Preußen,  das  so  lange  vom  Feinde 
besetzt  und  ausgesogen  worden  war,  sondern  auch  in  den  südwest- 
deutschen Gebieten  und  in  Sachsen,  die  von  Napoleon  die  bei  seinem 
Durchmarsch  requirierten  Gegenstände  nicht  ersetzt  erhielten  und  ihm 
bei  dem  russischen  Feldzug  Gefolgschaft  leisten  und  die  Mittel  dazu 
selbst  aufbringen  mußten.  Daran  hatten  sich  die  Anleihen  für  die 
Feldzüge  von  1813  — 15  angeschlossen,  die  teilweise,  z.  B.  in  Baden, 
zwangweise  nach  Vermögensabschätzungen  erhoben  worden  waren. 
Um  Zinsen  und  Tilgungen  einhalten  zu  können,  schwebende  Schulden 
zu  dauernden  umzuformen,  Papiergeld  einzuziehen,  die  Landesverteidigung 


V.  Staatsschulden  und  Bankiergewerbe.  ee 

ZU  sichern,  die  Truppen  neu  auszurüsten,  wurden  in  den  ersten 
Friedensjahren  Anleihen  aufgelegt,  die  durchweg  nur  zu  schweren 
Bedingungen  untergebracht  werden  konnten.  Im  ersten  Pariser  Frieden 
hatte  man  Frankreich  keine  Kriegsentschädigung  abgefordert,  im 
zweiten  nur  eine  mäßige,  so  daß  Deutschland  die  Kosten  seiner  Be- 
freiung überwiegend  selbst  hat  tragen  müssen.  Die  preußische  Schuld 
belief  sich  1820  auf  218,  die  sächsische  auf  21  Millionen  Tlr.,  die 
bayrische  1815  auf  100,  die  württembergische  auf  25,  die  badische  auf 
20  Millionen  Gulden.  Waren  diese  Summen  auch  gering  gegenüber 
den  englischen  oder  holländischen  Staatsschulden,  so  drückten  sie  bei 
der  damaligen  Armut  die  deutschen  Länder  schwer.  Das  moderne 
Staatsschulden wesen ,  das  den  alten  privatrechtlichen  Charakter  ab- 
gestreift hatte  und  das  ganze  Volk  als  Steuerzahler  haftbar  machte, 
war  eine  englische  Erfindung,  Kriege  mit  großen  Mitteln  führen  zu 
können.  Hatte  sie  daher  doch  schon  Kant  1795  in  dem  Aufsatz 
„zum  Ewigen  P>ieden"  heftig  angegriffen  — ,  „als  entgegenwirkende 
Maschine  der  Mächte  gegeneinander,  als  ein  Schatz  zum  Kriegführen, 
als  ein  Kreditsystem  ins  Unabsehliche  anwachsender  und  doch  immer 
für  die  gegenwärtige  Forderung  gesicherter  Schulden". 

Dies  Finanzmittel,  das  die  Lasten  der  Gegenwart  auf  die  Schultern 
künftiger  Geschlechter  wälzt,  und  daher  in  den  Parlamenten  leichter 
als  Steuern  bewilligt  wird,  gehört,  um  nicht  zu  entarten,  in  die  Hand 
von  Staatsmännern  mit  höchstem  Verantwortungsgefühl.  Die  preußischen 
Minister  jener  Tage,  wie  Rother,  waren  davon  durchdrungen  und 
machten  den  preußischen  Staatskredit  in  den  nächsten  Jahrzehnten  zu 
einem  der  besten  in  Europa,  allein  die  volkswirtschaftlichen  Folgen 
des  Schuldenwesens  konnten  sie  weder   voraussehen   noch  verhindern. 

Der  tiefe  Kursstand  der  Anleihen  —  die  preußischen  4%  igen 
standen  anfangs  Juli  18 13  auf  26  —  mußte  nach  dem  Frieden  die 
Spekulation  heftig  anregen  und  nach  jeder  übermäßigen  Hinauf- 
bewegung blieb  der  Rückschlag  nicht  aus.  Im  März  1816  erreichten 
die  Schuldtitel  8oV4%,  am  1.  September  18 18  637s,  am  3.  Januar  1825 
90V2,  am  31.  Dezember,  als  die  verheißene  große  Bank  nicht  zur 
Entstehung  gelangte,  87%.  Vermögen  wurden  gewonnen  und  ver- 
loren, und  manche  Kapitale  wurden  zu  Spielzwecken  der  produktiven 
Betätigung  entzogen.  Da  nun  von  1820/30  weder  in  der  Landwirt- 
schaft, noch  in  den  stoff  verarbeiten  den  Gewerben,  noch  im  Handel 
gut  und  sicher  verdient  wurde,  so  wußten  auch  vorsichtige  Privat- 
kapitalisten nichts  Besseres  zu  tun,  als  ihre  Ersparnisse  in  staatlichen 
Fonds  anzulegen,  konnte  man  doch  6%  Zinsen  bei  dem  damaligen 
Stand  mancher  Werte  verdienen  und  hatte  noch  die  Aussicht  auf  einen 
erheblichen  Kursgewinn. 


^6  !!•  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1815 — 1833 


So  kam  es,  daß  die  vielen  neuen  Anleihen  nicht  zurückgewiesen 
wurden,  und  dabei  beschränkte  sich  das  Publikum  nicht  auf  die  des 
eigenen  Landes,  sondern  griff  auch  bei  ausländischen  zu.  Aus  jener 
Zeit  stammt  die  erste  deutsche  Kapitalanlage  im  Auslande  größeren 
Umfanges.  Sie  hat  durch  das  ganze  Jahrhundert  angedauert  und  ist 
immer  dann  rasch  gewachsen,  wenn  die  produktive  Verwendung  in 
den  heimischen  Gewerben  wenig  gute  Aussichten  hatte. 

Österreich  brachte  1818  die  Metalliques  und  1820  zwei  Lotterie- 
anleihen in  Frankfurt  a.  M.  auf  den  Markt,  die  zusammen  100  Millionen 
Gulden  nominell  betrugen,  zum  Teil  auch  an  ausländischen  Börsen 
gezeichnet  wurden.  In  diese  Zeit  verlegt  man  die  Geburtsstunde  der 
Frankfurter  Effektenbörse,  als  die  kleinen  Anfänge  der  Vergangenheit 
vergessen  wurden  und  so  Großes  ins  Leben  trat.  Spanische  An- 
leihen und  2Y2%ige  holländische  Integrale  waren  ein  beliebtes  Um- 
satzpapier. Das  Bankhaus  Parish  in  Hamburg  vermittelte  russische 
und  österreichische  Anleihen.  In  Berlin  wurden  seit  dem  russisch- 
türkischen Krieg  von  1827/29  russische  und  polnische  Papiere  ge- 
handelt, in  Hamburg  dänische  und  skandinavische.  In  Berlin  hatten 
181 8  und  22  die  Gebrüder  Benecke  Norweger  Obligationen  im  Be- 
trage von  8,7  Millionen  M.  übernommen. 

Die  Vermittlung  zwischen  Staat  und  Gläubigern  besorgten  vor- 
nehmlich mit  eigenem  Kapital  die  Privatbankiers,  deren  erste  Blüte- 
zeit in  diese  Periode  fällt.  Die  öffentliche  Ausschreibung  konnte 
keinen  Erfolg  haben,  da  dem  Staat  der  verzweigte  Mechanismus  dazu 
fehlte,  und  bei  den  meisten  Anleihen  es  dem  Schuldner  darauf  ankam, 
das  Geld  rasch  zu  erhalten.  So  blieb  nur  der  große  Bankier,  der  gegen 
hohe  Provision  von  5  oder  6%  die  Summe  zur  Verfügung  stellte,  und, 
da  die  Kurse  auch  dann  noch  oft  unter  Pari  blieben,  eine  Steigerung 
nach  einigem  Abwarten  inszenierte  und  noch  einmal  verdiente.  Diese 
Bankiers  waren  Leute,  die  es  verstanden  hatten,  die  Kriegszeiten  zu 
benützen,  um  reich  zu  werden.  Während  der  Kontinentalsperre  hatten 
auch  unternehmende  Kaufleute  durch  den  Schmuggelhandel  große 
Vermögen  gemacht.  Wie  der  Frankfurter  Rothschild  durch  seine 
Beziehungen  zu  dem  Landgrafen  von  Hessen,  als  dieser  vor  den 
Franzosen  geflohen  war,  Millionen  für  ein  Jahrzehnt  zur  freien  Ver- 
fügung erhielt,  die  der  für  seine  Kasse  vorsorgende  Landesvater  von 
England  für  seine  zum  Kriegsdienst  verkauften  Landeskinder  erhalten 
hatte,  kann  man,  witzig  geschildert,  im  ersten  Kapitel  von  Immer- 
manns Münchhausen,  kritisch  in  der  Geschichte  des  Hauses  Rotschild 
nachlesen.  Ein  Hauptgeschäft  machte  ein  Mitglied  dieser  Familie  an 
der  Londoner  Stokbörse,  da  es  den  Ausgang  der  Schlacht  von 
Waterloo,  dem  es  als  Zuschauer  beigewohnt  hatte,  einen  Tag  früher 
kannte   als   seine    Konkurrenten,   denen    es   sein   Wissen   verheimlichte 


V.  Staatsschulden  und  Bankiergewerbe.  cj 


und  diese  zu  verkaufen  veranlaßte,  da  die  Sache  schlecht  stände.  Die 
Kriegsgevvinnsteuer  war  damals  noch  nicht  erfunden  worden. 

Daß  Frankfurt  der  wichtigste  Börsenplatz  Deutschlands  in  dem 
hier  behandelten  Zeitraum  wurde,  war  dem  Hause  Rothschild  an 
erster  Stelle  zu  verdanken.  Es  hatte  einen  europäischen  Ruf  und  war 
durch  vier  Brüder  des  Stammhausinhabers  in  London,  Paris,  Wien 
und  Neapel  vertreten,  von  denen  zwar  jeder  für  sich  wirtschaftete, 
aber  bei  großen  Finanzoperationen  mit  den  anderen  im  Einverständnis 
war.  Bis  1820  soll  die  Familie  Anleihen  bis  zu  1200  Millionen 
Gulden  abgeschlossen  haben.  In  allen  großen  Städten  lebten  Bankiers 
in  Abhängigkeit  von  dieser  Geldmacht,  welche  die  Börsen  beherrschte 
und  in  der  auswärtigen  Politik  ein  gewichtiges  Wort  mitzusprechen 
hatte.  Der  Glanz  des  Hauses  war  in  raschem  Aufsteigen  und  wird 
darauf  zurückgeführt,  daß  es  überriskante  Geschäfte  vermied  und  sich 
mit  mäßigem  Gewinn  bei  jedem  einzelnen  begnügte,  —  das  Börsen- 
geschäft, sagte  einer  von  ihnen,  sei  einem  kalten  Bade  vergleichbar, 
schnell  hinein  und  schnell  hinaus,  —  und  daß  die  FamilienmitgHeder 
einig  waren,  zu  welchem  Zwecke  ihnen  der  Begründer  des  Reichtums 
Anschelm  Mayer  Rothschild  im  Testament  empfohlen  hatte,  sämtlich 
bei  ihrem  israelitischen  Glauben  streng  zu  verharren.  Nach  fünfzig- 
jährigem Bestehen  war  der  Höhepunkt  der,  wie  man  ehedem  sagte, 
„kosmischen"  Berühmtheit  und  der  Macht  überschritten,  gegen  die- 
jenige mancher  Könige  verblaßt  war.  Auf  dem  Wiener  Kongreß 
hatte  das  Bankhaus  schon  hinter  den  Kulissen  seine  Fähigkeit  erprobt, 
die  in  den  Jahren  des  Bürgerkönigtums  in  Frankreich  noch  wachsen  sollte. 

Die  Großbanken  der  fünfziger  und  sechziger  Jahre  machten  dem 
Hause  schon  Schwierigkeiten,  seine  Unternehmungsfähigkeit  büßte 
es  aus  demselben  Grunde  wie  so  viele  andere  berühmte  Namen  ein.  Die 
Lebensenergie  der  Familie  erschöpfte  sich,  einzelne  Zweige  starben  aus 
und  andere  brachten  keine  Talente  und  Charaktere  mehr  hervor.  Ver- 
wandtenstreitigkeiten, die  zu  Feindschaften  anwuchsen,  und  übertriebene 
Beschäftigung  mit  anderen  Dingen  als  mit  wirtschaftlichen  waren  nur 
ein  Ausdruck  des  Verfalles. 

Die  Privatbankiers  der  zwanziger  Jahre  —  in  Frankfurt  sind  ferner 
die  Gebrüder  Bethmann,  die  Firmen  Schmidt,  Grunelius  &  Co., 
Gontard,  Metzler,  Neufville,  GoU,  in  Berlin  die  Gebrüder  Schick- 
ler, S.  Bleichröder,  J.  u.  A.  Mendelsohn,  Benecke,  Jacquier, 
Securius,  in  Leipzig  Frege  &  Co.  und  Reichenbach,  in  Hamburg 
Parish  zu  nennen  —  hatten  ihr  Geschäft  ganz  auf  Emmissionen  und 
Spekulationen  von  Staatspapieren  eingestellt.  Daneben,  doch  sehr  er- 
tragbringend an  zweiter  Stelle  stand  der  Handel  mit  Wechseln  und  das 
Geldumwechseln.  Handel  und  Industrie  hatten  kaum  Verbindung  mit 
Bankhäusern.     Das  Wechseldiskontieren  war  noch  selten,  an  kleineren 


^8  II'  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1815  — 1833. 

Orten  überhaupt  nicht  möglich.  Die  laufenden  Unkosten  der  Bankiers 
waren  gering.  Für  das  Effektengeschäft  genügte  eine  mäßige  Anzahl 
von  Kommis  und  ein  Kontor.  Noch  1846  wurden  in  ganz  Preußen 
nur  1100  Personen  ermittelt,  die  mit  Geld-  und  Kredithandel  zu  tun 
hatten,  davon  kamen  384  auf  Berlin.  Das  Effektengeschäft  entwickelte 
bereits  vor  hundert  Jahren  alle  wichtigen  Formen,  in  denen  es  sich 
auch  heute  bewegt:  das  spekulative  Zeitgeschäft,  das  Kaufen  gegen 
Prämie,  die  Effektenarbitrage,  die  Versicherung  gegen  Kursverlust. 
Dazu  kam  noch  das  mit  den  Lotterieanleihen  verbundene  Promessen- 
geschäft. Um  die  Zahlungen  auszugleichen,  wozu  die  Bestände  an 
Metall-  und  Papiergeld  nicht  ausreichten,  wurden  Ausgleichstellen  ge- 
schaffen, die  dem  Londoner  Clearing  nachgebildet  waren,  1823  der 
Berliner  Kassenverein,  an  dem  sich  1 1  Privatbankiers  und  ein  Agent 
als  stille  Kompagnons  beteihgten,  1824  der  Leipziger,  Der  Konto- 
korrent-, der  Giro-  und  Depositenverkehr  wurde  nur  ausnahmsweise  ge- 
pflegt, obwohl  sich  das  Publikum,  wie  oben  erwähnt,  lebhaft  am 
Effektenkauf  beteiligte.  Wie  alle  Welt  in  Frankfurt  im  Börsengeschäft 
verwickelt  war,  und  welche  Mannöver  vorgenommen  wurden,  um  die 
Kurse  zu  heben  und  zu  senken,  schildert  Hauff  anschaulich  in  seinen 
„Memoiren  des  Satan",  und  in  Venturinis  Chronik  von  1850  wird 
erzählt,  wie  man  sich  um  die  Tagungen  des  Bundesstaates  wenig  ge- 
kümmert habe,  gar  viel  dagegen  wie  man  Integrale  und  Partiale, 
Metalliques  und  Inskriptionen,  Kortes  und  Kanzbillets,  Aktien,  Fal- 
conetts  und  Rothschilds  notiere,  wie  man  Lügengeschichten  aussprenge 
zur  Erhaschung  Yg  ^j^  in  Mise,  Diskonto  und  Agio,  und  wie  überhaupt 
die'  Staatsangelegenheiten  beurteilt  würden  eigentlich  nur  in  Rücksicht 
auf  die  Staatspapiere. 

Das  Judentum,  welches  damals  im  Bankgeschäft  hochgekommen 
ist,  fühlte  sich  20  oder  30  Jahre  später  als  die  Aristokratie  unter  den 
Glaubensgenossen,  und  war  es  auch  im  geistigen  Sinne,  in  Sitte  und 
Lebensauffassung,  als  sich  manche  dieser  reichen  Leute  vom  Geldge- 
schäft auch  höheren  Lebenszwecken  zugewandt  hatten.  Die  von  Osten 
herandrängenden  Kleinhändler  gleicher  Rasse  wurden  von  ihnen  wenig 
geachtet.  Aber  das  neue  Element  wartete  nur  auf  die  Zeitumstände,  sich 
vom  Vieh-  und  Kleinhandel  zur  Börse  emporzuschwingen,  um  dann 
manche  jener  alten  Familien  unter  kulturloser  Rücksichtslosigkeit  aus 
dem  Sattel  zu  heben.  In  dem  Hermannschen  Roman  „Jettchen 
Gebert"  ist  dieser  Vorgang  für  Berlin  anschaulich  neuerdings  ge- 
schildert worden. 

VI,  Die  Gründung  des  Deutschen  Zollvereins  Es  kann 
nicht  die  Aufgabe  dieser  wirtschaftsgeschichtlichen  Skizze  sein,  dem 
Entstehen  des  Zollvereins  in  seinen  vielen  Versuchen  und  schwanken- 
den   Erfolgen,    ausgleichenden    Verhandlungen    und    dunklen    Intrigen 


VI.  Die  Gründung  des  Deutschen  Zollvereins. 


59 


offizieller  und  geheimer  Agenten,  patriotischen  und  partikularistischen 
Wünschen,  persönlichen  Eigenwilligkeiten,  Nachgiebigkeiten,  kurzfristi- 
gen Verträgen  und  Vertragsbrüchen  in  seinen  Einzelheiten  nachzugehen, 
was  alles  wiederholt,  am  anschaulichsten  in  H.  von  Treitschkes 
Deutscher  Geschichte  erörtert  worden  ist.  Wir  beschränken  uns  darauf, 
die  wichtigsten  Vorgänge  von  i8ig — 1836,  soweit  sie  für  die  wirt- 
schaftliche Einheit  bestimmend  waren,  und  die  Kräfte,  die  ihr  freund- 
lich und  feindlich  gesinnt  waren,  darzustellen. 

Ein  Zollverein  mit  innerer  Verkehrsfreiheit  und  gemeinsamer 
Zollgrenze  auf  weitem  Gebiete,  wie  es  Deufschland  auch  ohne  Öster- 
reich war,  mußte  für  die  angeschlossenen  Glieder  eine  Reihe  von 
leicht  faßlichen  Vorteilen  bringen,  wie  sie  der  Großstaat  bietet,  während 
die  politische  Selbständigkeit  der  Einzelstaaten  nur  vertragsmäßig,  zu- 
nächst keineswegs  weitgehend  und  wegen  der  zeitlichen  Beschränkung 
nicht  prinzipiell  eingefügt  zu  werden  brauchte.  Je  kleiner  die  Staaten 
waren,  um  so  sichtbarer  erschien  der  Nutzen.  Wenn  Preußen  demnach 
verhältnismäßig  am  wenigsten  zu  erwarten  hatte,  und  es  dennoch  die 
ganze  Sache  gemacht  hat,  so  mußte  es  noch  andere  Gründe  als  wirt- 
schaftliche und  finanzielle  haben.  Die  preußischen  Urheber  des  Werkes 
Motz  und  Maaßen,  neben  denen  Eichhorn  und  Kühne  zu  nennen 
sind,  erkannten  sie  wohl.  Der  Zollverein  galt  ihnen  als  die  Vorstufe 
der  deutschen  Einheit  unter  preußischer  Führung.  Aber  gerade  das 
letztere  war  es,  was  die  Kleinstaaten  nicht  wollten,  so  daß  sie  ihren 
eifersüchtig  partikularistischen  Dünkel  den  ökonomischen  Lebensbedürf- 
nissen nur  zu  gern  voranstellten.  Aber  schließlich  waren  diese  letz- 
teren doch  so  dringend  geworden,  daß  der  Widerspruch  gegen  das 
Einheitswerk  nach  und  nach  verstummen  mußte.  Der  Zollverein  hat 
mehrere  schwere  Krisen  durchgemacht,  aber  stets  ist  es  zur  Auflösung 
nicht  gekommen,  weil  der  Zwang  des  wirtschaftlichen  und  finanziellen 
Lebens  die  Übermacht  behauptete. 

Die  Finanzlage  der  Staaten  war  in  den  meisten  Fällen  die 
erste  Veranlassung  zu  Vereinbarungen.  Es  fehlte  an  Einnahmen. 
Das  kleine  Zollgebiet  kostete  zo  viel  zu  bewachen,  daß  die  Reinerträge 
der  Zölle  dahinschwanden.  Geht  man  von  der  Berechnung  aus,  die 
von  den  tatsächlich  oft  ausgezackten  Grenzen  absieht,  daß  eine  Grenz- 
meile so  viel  zu  bewachen  kostet,  als  eine  Quadratmeile  an  Rohertrag 
einbringt,  so  entfallen  auf  eine  quadratische  Fläche  von  10  Meilen  Grund- 
linie z.  B.  40%,  von  100  Meilen  nur  4%  auf  die  Erhebung.  Kurhessen 
mit  seinen  154  Quadratmeilen  besaß  154  Meilen  Zollgrenze,  so  daß 
von  der  Zollerhebung  fast  nichts  als  der  Betrag  der  Durchfuhrzölle 
übrig  blieb.  In  Hessen-Darmstadt  erklärte  die  Regierung  einen  großen 
Zollverein  für  eine  unaufschiebbare,  finanzielle  Notwendigkeit,  der 
bayerisch-württembergische  hatte  in  den  Jahren  1829 — 1831  44%  Kosten 


5o  II-  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1815— 1833. 


der  Roheinnahmen  verschlungen.  Im  Deutschen  Zollverein  minderte 
sich  der  Aufjvand  für  Bayern  zuerst  auf  16,  dann  10%.  Das  lang- 
gestreckte Baden  war  fast  zum  Freihandel  übergegangen,  weil  es  die 
Kosten  des  Grenzschutzes  nicht  tragen  konnte. 

Die  indirekten  inneren  Verbrauchsabgaben  waren  in  jedem  Lande 
besonders  geartet.  Das  bereitete  unzählige  Scherereien  an  der  Grenze, 
wenn  ein  besteuerter  Gegenstand  wie  Bier,  Wein,  Tabak,  Salz  ein- 
gebracht wurde,  wodurch  die  Erträge  der  Steuer  sanken.  Ganz  ließen 
sich  diese  Steuerschwierigkeiten  in  den  Verträgen  nicht  beseitigen, 
da  sich  die  Steuern  historisch  eingelebt  hatten.  Es  sind  daher  leicht 
zu  berechnende  und  zu  verwaltende  Ausgleichs-  oder  Ubergangsab- 
gaben  in  einzelnen  Fällen  beibehalten  worden. 

Ein  verderbliches  Übel  war  der  verbreitete  Schmuggel  und  der 
organisierte  Schmuggelhandel,  der  die  Moral  des  Volkes  vergiftete. 
Manche  kleinstaatlichen  Regierungen  unterstützten  ihn  und  richteten 
ihre  Zollpolitik  darauf  ein.  Der  Schleichhandel  aus  den  anhaltischen 
Gebietsteilen  nach  Preußen  war  zu  einer  wahrhaft  erschreckenden 
Größe  angewachsen.  Während  die  anhaltische  Bevölkerung  9  pro  Mille 
der  preußischen  betrug,  verhielt  sich  auf  den  Kopf  die  zollfreie  Ein- 
fuhr auf  der  freien  Elbe  zu  der  preußischen  wie  das  Siebenfache  zum 
Einfachen.  Solche  finanziell  unmöglichen  Zustände  konnte  nur  die 
Beseitigung  der  inneren  ZolHnien  abändern.  Die  Landesgrenzen  in 
Thüringen  oder  zwischen  Württenberg  und  Baden  waren  im  Gebirge 
gelegen  und  schwer  war  der  Geheimhandel  zu  hindern.  Die  Anlage 
von  Zollstraßen  unterblieb  in  manchen  Staaten  weil  es  an  Geld  fehlte, 
und  ein  Grenzzollbezirk  mit  besonderen  Maßnahmen  konnte  nicht  er- 
richtet werden,  weil  kein  Raum  dazu  vorhanden  war. 

Die  wirtschaftlichen  Vorteile  des  Vereins  waren  nicht  so  durch- 
sichtig wie  die  finanziellen  und  traten  auch  später  nicht  so  schnell 
hervor.  Die  produktiven  Entwicklungen  brauchen  ihre  Zeit.  Den  be- 
troffenen Geschäftsleuten  mangelte  es  während  der  Verhandlungen  gar 
zu  oft  am  Verständnis  für  weitausschauende  Pläne  des  Gesamtzustandes. 
Viele  sahen  nur  das  Nächstliegende  und  wußten  kleine  Ausfälle  in 
der  Gegenwart  nicht  gegen  die  großen  Zukunftsmöglichkeiten  abzu- 
wägen. Die  Kaufleute  der  Leipziger  Messe  fürchteten  ihren  Ruin, 
wenn  der  Zoll  etwas  höher  werde  als  bisher  oder  glaubten  kleinmütig, 
daß  sie  trotz  ihrer  großen  Kapitalkraft  mit  Naumburg  oder  Frank- 
furt a.  O.  nicht  zu  konkurrieren  vermöchten,  da  der  Staat  diesen  Orten 
einige  Privilegien  gewährt  habe.  Die  süddeutschen  Weber  meinten, 
daß  eine  kleine  Steigerung  des  Garnzolles  ihnen  das  Geschäft  ver- 
derben werde,  soweit  es  auf  schweizerischem  und  elsässischem  Baum- 
wollgarn   aufgebaut  war,   die  Badener,  daß  ihnen  aus  dem   von   ihnen 


VI.  Die  Gründung  des  Deutschen  Zollvereins.  5j 

gepriesenen   Freihandel    der   Durchgangsverkehr    ihres    schmalen    Ge- 
bietes verloren  gehen  werde. 

Eins  mußte  freilich  jedermann  einleuchten:  Dem  Auslande  gegen- 
über konnte  ein  großer  Zollverein  ganz  anders  auftreten,  als  es  unter- 
einander uneinige  Kleinstaaten  wagen  durften.  Daher  haben  sich 
England  und  Frankreich  redlich  bemüht,  alle  Unionspläne  zu  hinter- 
treiben, und  Österreich  schloß  sich  ihnen  an,  das  dabei  noch  seinem 
politischen  Sonderwunsche  nachging,  seinen  Einfluß  im  deutschen 
Bunde  nicht  zu  verlieren.  „Ihr  habt  nicht  recht",  rief  man  im  briti- 
schen Parlament  den  preußischen  Staatsmännern  zu,  „mit  anderen 
deutschen  Staaten  Verträge  zu  schließen,  die  dem  englischen  Handel 
zum  Nachteil  gereichen".  Die  Gesandten  und  Konsuln  der  orleanisti- 
schen  Regierung  boten  den  Kleinstaaten  Handelsverträge  an  und  be- 
mühten sich  durch  tausend  kleine  Mittel  die  Vereinsverhandlungen  zu 
stören.  Der  Staatskanzler  Österreichs,  Fürst  Metternich,  hatte  sich 
anfangs  über  die  Wichtigkeit  der  Vorgänge  und  die  handelspolitische 
Not  der  Kleinstaaten  getäuscht  und  rechnete  auf  deren  Eigensinnigkeit. 
Je  mehr  indessen  das  Einigungswerk  fortschritt,  um  so  mehr  war  er 
bemüht,  dagegen  den  „geheiligten  Deutschen  Bund"  auszuspielen.  Immer 
bis  1866  ist  Österreich  dem  deutsch-nationalen  Gedanken  offen  oder 
geheim  feindlich  gewesen. 

So  hatten  es  die  preußischen  Staatsmänner  wahrhaftig  nicht  leicht 
und  die  Schwierigkeiten  wurden  noch  verstärkt  durch  die  Befehdung 
seitens  der  liberalen  Parteien  im  Süden  und  in  der  Mitte  des  Vater- 
landes. Im  Innern  des  Staates  hatten  sie  wenigstens  Freiheit,  da  bei 
dem  Fehlen  einer  allgemeinen  Volksvertretung  die  Gegnerschaft  nicht 
zu  Worte  kam.  Mit  Recht  ist  gesagt  worden,  daß  nur  durch  den 
preußischen  Absolutismus  die  Handelspolitik  jener  Tage  gelungen  ist. 
Aber  gerade  diesen  haßten  die  süddeutschen  Demokraten  am  meisten 
und  stellten  ihre  Parteidoktrinen  höher  als  das  nationale  Wohl.  Die 
Ultramontanen  unterstützten  sie  eifrigst  in  enger  Fühlung  mit  den 
österreichischen  Diplomaten.  Die  Fürsten  und  ihre  Minister  hatten 
mehr  Sinn  für  das,  was  ihren  Staaten  so  nötig  war,  aber  nur  zögernd, 
schrittweise  wichen  sie  von  ihrer  partikularistischen  Selbstherrlichkeit 
zurück. 

Der  Körner  bauenden  Landwirtschaft  war  an  dem  Verein 
nichts  gelegen.  Sie  arbeitete  vorzugsweise  für  den  Nahabsatz  und  von 
einer  auswärtigen  Konkurrenz  war  damals  nicht  die  Rede,  Soweit  sie 
ausführte,  wie  in  den  Staaten  der  Nord-  und  Ostsee,  neigte  sie  dem 
Freihandel  zu.  Der  für  die  Industrie  gemäßigte  preußische  Zolltarif, 
der  auch  für  den  Verein  gelten  sollte,  entsprach  übrigens  im  ganzen 
ihren  Wünschen,  so  daß  es  nicht  zu  einer  offnen  Gegnerschaft  kam. 
Daß    ein    starker    Zollverein    mit   seinen    Handelsverträgen    das    beste 


52  n.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1815  — 1833. 

Mittel  war,  für  sie  den  Absatz  im  Auslande  vorzubereiten,  wurde  kaum 
erkannt.  Für  die  Woll-,  Wein-,  Tabakerzeuger  hingegen  war  das  Fallen 
der  Binnenschranken  von  leicht  sichtbarem  Nutzen.  Der  Wein  von 
Hessen-Darmstadt,  Nassau,  Baden  und  der  Pfalz  mußte  in  Norden  und 
Osten  um  so  mehr  gekauft  werden,  je  mehr  er  dort  dem  französischen 
und  spanischen  einen  Wettbewerb  bereiten  konnte. 

Im  Vordergrund  aller  Betrachtungen  stand  die  Industrie.  Sie 
bedurfte  des  Schutzes  gegen  das  Ausland  und  konnte  nur  auf  einem 
großen,  freien  inneren  Markt  erstarken.  Vermehrter  Absatz  bedeutete 
für  sie  vertiefte  Arbeitsteilung  innerhalb  der  Fabriken,  Spezialismus  für 
viele  der  Werke  in  der  Volkswirtschaft  und  Zunahme  des  Großbetriebes. 
Schon  18 17  waren  in  Leipzig  Fabrikanten  zusammengetreten,  um  Ab- 
wehrmaßregeln gegen  England  zu  beraten,  18 19  war  auf  der  Frühlings- 
messe zu  Frankfurt  a.  M.  von  5  —  6000  Fabrikanten  und  Kaufleuten 
ein  Verband  gegründet  worden,  „der  die  Aufhebung  aller  Separatdouanen 
und  die  Stiftung  eines  Handels-  und  Douanensystems"  bezweckte.  Der 
geistige  Führer  war  der  hochtalentierte,  agitatorisch  ungemein  reg- 
same, auch  theoretisch  originelle  Friedrich  List  gewesen.  Seine 
Beweisgründe  waren  packender  Art,  da  er  seine  historischen  Vergleiche 
mit  Sicherheit  zog  und  das  verhaßte,  den  Verkehr  hemmende  Schreiber- 
regiment und  die  Borniertheit  der  Kleinbürger  heftig  angriff.  Hatte 
doch  z.  B.  im  gleichen  Jahre  der  Handelsstand  in  Reuthngen,  seiner 
Vaterstadt,  auf  Anfrage  der  Regierung  über  den  Verfall  der  dortigen 
Gerberei  erklärt,  der  Grund  liege  darin,  daß  die  Juden  den  Bauern  bei 
Lebzeiten  des  Viehes  die  Häute  abkauften  und  sogar  ein  Schneider  in 
einem  benachbarten  Dorfe  mit  Leder  handele. 

Dem  Werden  des  deutschen  Zollvereins  hat  List  durch  seine 
Ausführungen  unschätzbare  publizistische  Dienste  geleistet,  bei  der 
unmittelbar  politischen  Ordnung  der  Dinge  hat  er  versagt.  Er  ist  ihr 
sogar  gelegentlich  hinderlich  geworden.  Mit  seinem  Fabrikantenverein 
wandte  er  sich  an  den  Deutschen  Bund,  von  dem  nicht  das  Geringste 
zu  erhoffen  stand,  da  Österreich  mit  seiner  Prohibitionspolitik  damals 
nicht  entfernt  daran  dachte,  der  Sache  näher  zu  treten  und  alle  Er- 
weiterungen der  Bundeskompetenz  heftig  bekämpfte.  Von  seiner 
Heimatregierung  wegen  politischer  Opposition  verfolgt,  lebte  List 
mehr  als  ein  Jahrzehnt  als  Flüchtling  im  Auslande  und  lernte  die 
Volkswirtschaften  Englands,  Frankreichs,  der  Schweiz  und  Nord- 
amerikas gründhch  kennen,  wodurch  seine  handelspolitische  Einsicht 
vertieft  wurde,  durch  die  er  seinen  Landsleuten,  die  die  Scholle  nicht 
verlassen  hatten,  gewaltig  überlegen  wurde,  als  er  endlich  zurückkehrte. 
Er  war  für  die  Zollvereinssache  theoretisch  bedeutender  als  der 
mehr  praktische  K.  F.  Nebenius,  der  auf  mehreren  Gebieten  des 
Finanz-  und  Wirtschaftslebens,  wie  durch  sein  Programm  des  gewerb- 


Vi.  Die  Gründung  des  Deutschen  Zollvereins.  63 


liehen  Unterrichts,  seinem  Vaterlande  Baden  ein  Pfadfinder  und  Neu- 
ordner geworden  ist,  und  dessen  staatsmännischer  und  nationaler  Ein- 
sicht der  Anschluß  Süddeutschlands  an  des  nördhche  Zollsystem  mit 
zu  verdanken  ist.  Seine  allgemeinen  Betrachtungen  gingen  aber  über 
die  Wissenschaft  seiner  Zeit  nicht  hinaus,  während  die  Listschen  für 
Jahrzehnte  nicht  aufgehört  haben,  umgestaltend  zu  wirken. 

Wenn  ein  großes  inneres  Freihandelsgebiet  geschaffen  wurde,  so 
meinte  man,  würden  die  bestehenden  Industrien  sehr  verschieden  be- 
troffen werden.  Diejenigen,  die  am  höchsten  ausgebildet  wären,  würden 
gewinnen  und  die  zurückgebliebenen  in  der  Konkurrenz  unterdrückt 
werden.  In  Süd-  und  Südwestdeutschland,  in  Bayern,  Württemberg, 
Hessen,  der  Pfalz,  Baden  war  wohl  unter  der  Kontinentalsperre 
mancherlei  Industrie  entstanden  oder  gekräftigt  worden,  aber  sie  be- 
wegte sich  als  fabrikmäßige  auf  schmaler  Grundlage  und  hatte  viel- 
fach noch  die  handwerksmäßig-heimindustrielle  Form,  wie  die  Töpferei 
in  Bayern,  die  Holzverarbeitung  im  Schwarzwalde,  die  Weberei  über- 
all. Sie  erzeugte  vorwiegend  für  den  Nahverkehr,  so  daß  die  Be- 
völkerung, was  auch  für  Wein,  Malz,  Tabak,  selbstverständlich  für 
die  Lebensmittel  galt,  das  vorzugsweise  verbrauchte,  was  dem  heimischen 
Boden  entnommen  war.  Nur  einige  Halbfabrikate  und  Verbrauchsartikei 
des  Auslandes  waren  von  besonderer  Wichtigkeit,  wie  Garn  aus  dem 
Elsaß  und  der  Schweiz,  Kupfer  für  die  bayerischen  Braugefäße  und 
für  die  Nürnberger  Industrie  zur  Nachahmung  von  Gold-  und  Silber- 
draht; Kolonialwaren,  insbesondere  Zucker,  der  im  Inlande  nicht  ge- 
wonnen wurde,  und  Luxusgegenstände,  z.  B.  feinere  Gewebe  aus  Baum- 
wolle und  Seide.  Diese  Einfuhrgegenstände  wurden  niedrig  bezollt 
und  die  Verbraucher  entwickelten  eine  heftige  Gegnerschaft  gegen 
die  Heraufsetzung  des  Tarifs,  wie  sie  das  preußische  Zollgesetz  von 
1818  als  Vorbild  für  den  Vereinstarif  bringen  mußte.  Anders  lagen 
die  Produktionsverhältnisse  im  Rheinland,  Westfalen,  einigen  thü- 
ringischen Gebieten,  in  Schlesien,  im  sächsischen  Erzgebirge,  Voigt- 
lande, der  Lausitz.  Hier  wurde  über  den  heimischen  Bedarf  hergestellt, 
der  Absatz  wurde  nicht  nur  in  den  Nachbargebieten,  die  sich  durch 
Grenzzölle  zu  schützen  suchten,  sondern  auch  im  nationalfremden  Aus- 
land gesucht.  Der  Rübenzucker  im  Magdeburgischen  und  in  Schlesien, 
die  Eisenfabrikate  im  westlichen  Preußen,  die  Garnspinnereien  waren 
unter  dem  Zoll  gehoben  worden,  den  sie  dem  Ausland  gegenüber 
nicht  entbehren  konnten,  und  nun  fürchteten  die  Staaten,  die  in  gleichen 
Geschäften  nicht  konkurrieren  konnten,  daß  sie  von  den  fortgeschrit- 
tenen Mittelpunkten  der  Industrie  mit  Waren  überschwemmt  werden 
würden.  In  Preußen  sahen  die  Fabrikanten  mit  Sorgen  auf  das  mög- 
liche Vordringen  der  Webereien  und  Druckereien  des  Erzgebirges, 
deren   niedrige  Löhne   bei   der   geringen   Lebenshaltung   der   Arbeiter 


54  II-  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1815  — 1833. 


die  Ware  billig  auf  den  Markt  zu  bringen  gestattete,  in  Hessen  auf 
die  Zufuhr  aus  Thüringen,  in  Baden,  Württemberg  und  Bayern  auf 
die  vom  Rheinland  und  Westfalen,  wo  überall  im  Gedränge  des  nahen 
Wettbewerbes  und  unter  gegenseitiger  Anregung  ein  Fortschritt  den 
'  andern  jagte.  In  Nassau,  wo  man  nur  mit  Rebgärten  und  Mineral- 
wasserbrunnen geschäftliche  Zwecke  größeren  Umfanges  verband, 
wollte  man  überhaupt  keine  Industrie  haben  und  Fabrikate  da  ein- 
kaufen, wo  sie  am  billigsten  zu  haben  waren.  Das  war  im  Ausland. 
In  Frankfurt  a.  M.  dachte  man  nicht  anders,  da  alle  wirtschaftliche 
Tätigkeit  sich  im  Zwischenhandel  und  Geldgeschäft  verdichtete.  Jeder 
Kleinstaat  hatte  seine  Zollpolitik  nach  seinem  augenblicklichen  Wirt- 
schaftszustand eingerichtet,  und  der  Sinn  für  die  Zukunft,  an  dem  es 
ja  nicht  immer  fehlen  mochte,  wurde  durch  Klagen  der  Erwerbsstände 
über  geplante  Neuerungen  übertäubt. 

Der  Handel  schloß  sich  den  Ansichten  der  Industrie  an,  soweit 
er  sich  auf  diese  eingerichtet  hatte.  In  Süddeutschland  hatte  er  Be- 
ziehungen zu  Frankreich,  der  Schweiz,  zu  Österreich  und  Italien,  die 
er  in  dem  großen  Zollgebiet  einzubüßen  glaubte,  ohne  die  Möglichkeit 
des  Ersatzes  zu  erwägen.  In  Frankfurt  a.  M.  sah  man  mit  den 
Neuerungen  die  englische  Einfuhr  von  Bremen,  in  Leipzig  die  von 
Hamburg  schwinden.  Manche  Kaufleute  waren  am  Schleichhandel 
reich  geworden  und  dachten  sorgenvoll  an  das  Versiegen  dieser  un- 
lauteren Quelle.  Andere  verdienten  am  Durchfuhrhandel  fremder 
Waren,  die  nun  nicht  mehr  so  billig  eingehen  sollten.  Die  Leipziger 
und  Frankfurter  Messen  prophezeihten  sich  ihren  Untergang,  wenn 
ihre  ausgelegten  Waren  höher  bezollt  würden  als  bisher. 

Allerdings  gab  es  auch  Kaufleute,  die  sich  den  Vorteilen  des 
weiten  inneren  Freihandels  nicht  verschlossen.  Die  Aufhebung  der 
Binnemauthen  mußte  der  Freiheit  der  Bewegung  ebenso  von  Nutzen 
sein  wie  die  Erleichterung  aller  Preisberechnungen,  wenn  nur  ein 
einziger  dauernder  Außenzoll  vorhanden  war.  Sie  waren  in  der  Minder- 
heit, die  Mehrheit  meinte,  daß  die  Staatsmänner  am  grünen  Tisch  nicht 
Sachverständige  seien  und  verwechselten  ihre  augenblicklichen  Sonder- 
wünsche mit  den  bleibenden  der  Nation. 

Als  nach  einem  Jahrzehnt  des  Bestehens  des  Zollvereins  sich  alles 
ganz  anders  gestaltet  hatte,  als  ehedem  die  angsterfüllten  wirtschafthch 
Zunächstbeteiligten  gefürchtet  hatten,  wollte  keiner  was  gesagt  haben. 
Es  ist  zugegeben,  daß  hier  und  da  ein  Geschäftsmann  unter  der  Neu- 
ordnung der  Dinge  Verluste  gehabt  hat.  Das  waren  vor  allem  solche, 
die  die  persönliche  Befähigung  sich  anzupassen  nicht  gehabt  hatten. 
Im  ganzen  wurde  die  deutsche  Wirtschaftskraft  überall  gehoben,  von 
einer  Erdrückung  einzelner  Erwerbszvveige  konnte  keine  Rede  sein. 
Überall  überragten  die  gewonnenen  Vorteile  die   geringen   Einbußen. 


VI.  Die  Gründung  des  Deutschen  Zollvereins.  5  5 

Man  muß  sich  in  die  Verhältnisse  jener  Zeit  hineinversetzen,  um 
es  zu  verstehen,  daß  die  Nachteile  der  Neugestaltung  für  die  örtlich 
oder  sachlich  ungünstig  Betroffenen  so  gering  ausgefallen  sind.  Viele 
Erzeugungsarten  waren  noch  im  Anfang,  eigentlich  im  ersten  Ent- 
stehen und  überall  noch  so  im  kleinen  betrieben,  daß  eine  Ausdehnung 
der  Konkurrenz  sich  mit  dem  Sinken  der  inneren  Zollschranken  nur 
langsam  und  schwer  fühlbar  machte.  Von  einer  Warenüberschwemmung 
wird  nirgends  berichtet.  Es  kam  hinzu,  daß  die  Transporteinrichtungen 
noch  unvollkommen  waren  und  der  Versendung  in  die  Ferne  ein 
Hemmnis  bereiteten.  Das  wurde  erst  anders,  als  die  Eisenbahnen  ge- 
baut wurden.  Es  war  ein  günstiger  Umstand  für  den  Zollverein,  daß 
dieses  umwälzende  Ereignis  noch  einige  Jahre  ausstand,  während 
welcher  sich  ein  Einleben  in  die  neuen  Zustände  vollziehen  konnte. 

Um  1833  brachte  der  befreite  innere  Verkehr  eine  solche  Summe 
von  ungenutzten  ökonomischen  Energien  in  Bewegung,  daß  ungünstig 
erfaßte  Gegenden  sich  in  neuen  Gewerben  und  Umwandlungen,  der 
veränderten  Rechtslage  entsprechend,  leicht  versuchen  konnten,  außer- 
dem verbürgte  das  vergrößerte  Absatzgebiet  die  Sicherheit,  daß  un- 
beschäftigte Arbeitskräfte  und  Kapitalien  in  den  bevorzugten  Betrieben, 
erstere  bei  der  noch  bestehenden  Beschränkung  der  Freizügigkeit 
wenigstens  in  jedem  Einzelstaat,  unterkommen  konnten,  falls  eine  Ge- 
schäftsaufgabe überhaupt  nötig  war. 

Endlich  ist  auch  nicht  zu  vergessen,  daß  namentlich  von  preußischer 
Seite  berechtigte  Bedenken  der  Vereinsglieder  anerkannt  wurden  und 
unter  sorgfältiger  Abwägung  von  Für  und  Wider,  weitgehendes  Ent- 
gegenkommen gezeigt  wurde.  Die  Steuerfragen  wurden  durch  Aus- 
gleichsabgaben aus  der  Welt  geschafft,  Frankfurt  a.  M.  wurde  bei  der 
Verteilung  der  gemeinsamen  Einnahmen  durch  ein  Präzipuum  be- 
günstigt, Baden  das  erwünschte  Grenzzollgebiet  gewährt,  der  Leipziger 
Messe  Einfuhrerleichterungen  zugestanden. 


Durch  das  preußische  Zollgesetz  von  18 18  wurden  zahlreiche 
kleine  Staaten,  die  von  Preußen  ganz  oder  bezüglich  einzelner  Landes- 
stücke umschlossen  waren,  geschädigt.  Wollten  sie  untereinander  oder 
mit  dem  Ausland  in  Verkehr  treten,  so  hatten  die  Waren  die  fremde 
Zollinie  zu  überschreiten  und  Durchfuhrabgaben  zu  entrichten.  Wenn 
sie  in  Preußen  einkaufen  wollten,  was  dort  verzollt  war,  so  kam  der 
Zoll  allein  der  preußischen  Kasse  zugute.  Diesen  Enklaven  blieb 
nichts  übrig,  als  sich  im  Wege  des  Zollanschlusses  der  fremden  Ver- 
waltung zu  unterwerfen,  wofür  sie  aus  den  Zollerträgen  einen  Anteil 
erhielten,  der  nach  der  Kopfzahl  ihres  Gebietes  bemessen  wurde.  Der 
erste   Vertrag   fand    18 19    mit    Schwarzburg-Sondershausen    statt    und 

A.  Sartorius  v.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        5 


66  II-  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1815 — 1833. 

wurde  für  spätere  Anschlüsse  typisch.  1822  folgte  Schwarzburg- 
Rudolstadt,  1828  Sachsen- Weimar  und  Eisenach  für  zwei  Ämter,  182Ö 
Lippe  und  Mecklenburg-Schwerin  für  einige  Gebietsteile.  Erst  nach 
langen  Verhandlungen  und  widerwärtigen  Streitigkeiten  entschlossen 
sich   1828  die  Anhaltschen  Häuser  zu  ähnlichen  Bedingungen. 

Auch  größere  Staaten  waren  durch  das  Gesetz  in  Verlegenheit 
gekommen.  Orten  wie  Nürnberg,  Leipzig,  Augsburg  wurde  z.  B.  der 
Absatz  in  Preußen  erschwert,  oder  wenn  etwa  Hannover  mit  Sachsen 
oder  Mecklenburg  mit  Thüringen  Handel  treiben  wollten,  hatten  die 
Kaufleute  Durchgangsabgaben  zu  entrichten.  Bei  den  Beratungen  der 
Wiener  Schlußakte,  welche  die  Bundesverfassung  ergänzten,  wurden 
solche  Beschwerden  laut,  das  preußische  Gesetz  wurde  angegriffen,  da 
es  dem  Art.  19  der  Bundesakte  widerspreche,  der  den  wirtschaftlichen 
Verkehr  im  Bundesgebiet  regeln  sollte.  Freilich  mit  Unrecht,  da  nichts 
in  dessen  Sinn  geschehen,  und  jeder  Staat  in  Zollsachen  souverän  war. 

Da  sich  der  Bund  nun  ganz  unfähig  erwies,  eine  handelspolitische 
Aufgabe  zu  lösen,  so  gab  es  für  die  Kleinstaaten  nur  die  beiden 
Wege,  entweder  sich  mit  Preußen  zu  verständigen  oder  sich  zu  einem 
Zollverein  ihrerseits  zusammenzuschließen.  Den  letzteren  beschritten 
Hannover,  Kurhessen,  Sachsen,  Braunschweig,  Nassau,  Frankfurt  a.  M., 
Bremen  und  thüringische  Kleinstaaten  mit  dem  mitteldeutschen  Verein, 
der  keinen  Bestand  hatte  und  bald  von  den  Vertragsschließenden 
willkürlich  gebrochen  wurde.  Den  anderen  wählte  1828  Hessen-Darm- 
stadt, als  mit  Preußen  der  erste  Zollverein  zum  Abschluß  gelangte. 
Das  Großherzogtum  grenzte  zwar  nur  mit  einem  schmalen  Streifen 
an  das  westliche  Preußen  an,  die  Vereinigung  war  aber  beiden  wert- 
voll, da  sie  beide  handelspolitisch  vergrößert  wurden.  Die  Vorteile, 
finanzieller  Art,  waren  besonders  auf  hessischer  Seite,  für  Preußen  war 
der  Vertrag  für  seine  Politik,  die  darin  bestand,  nur  im  Wege  der 
Einzelverhandlung  schrittweise  fortzuschreiten,  ein  erster  Erfolg.  Auf 
diese  Weise  konnte  es  stets  eine  Überlegenheit  gegen  den  an  Raum, 
Bevölkerung  und  Wirtschaftskraft  unterlegenen  Vertragsschließenden 
geltend  machen,  seine  Einrichtungen,  besonders  den  Zolltarif,  behaupten 
und  durch  wertvolle  Zugeständnisse  den  andern  nachgiebig  machen. 
In  dem  hessisch-preußischen  Abkommen,  das  für  alle  späteren  vor- 
bildlich geblieben  ist,  kommen  die  Grundsätze  zur  Anwendung,  daß 
in  jedem  Lande  die  Zollverwaltung  selbständig  ist,  jedoch  nach  dem 
Zollgesetz  von  18 18  geführt  wird,  und  daß  die  Zollerträge  nach  der 
Bevölkerungszahl  verteilt  werden  sollen.  Nach  einer  Reihe  von  Jahren 
ist  der  Vertrag  beiderseits  kündbar.  Bei  allen  Neuerungen  der  Handels- 
politik und  des  Zollwesens  ist  die  Übereinstimmung  beider  Parteien 
erforderlich.  Handelsverträge  mit  dem  Ausland  schließt  Preußen  als 
Vormacht  ab,  jedoch  hatte  jedes  Vereinsmitglied  das  Recht,  zuzustimmen 


VI.  Die  Gründung  des  Deutschen  Zollvereins.  5? 

und  abzulehnen.  Diese  somit  behauptete  Freiheit  hatte  darum  weniger 
Bedeutung,  da  Preußen  in  der  Regel  erst  nach  Anhörung  der  Wünsche 
der  Vereinsgenossen  vorging,  und  da  die  etwa  mangelnde  Zustimmung 
die  Union  zu  gefährden  drohte,  an  der  allen  um  so  mehr  lag,  je  länger 
sie  sich  einbürgerte.  y 

Auch  Bayern  und  Württemberg  schlössen  1827  einen  Sonderverein, 
der  sich  als  zu  klein  erwies.  Man  wußte  in  Bayern,  wo  man  keine 
Wasserwege  nach  Norden  und  Nordwesten,  also  in  bezug  auf  Ein-  und 
Ausfuhr  es  von  Natur  nicht  leicht  hatte,  um  so  weniger  je  südlicher 
die  Konsumtion  und  die  Produktion  gelagert  waren,  recht  wohl,  daß  man 
politischen  Hemmnissen  des  Verkehrs  entgegenzutreten  hatte.  Erklärte 
doch  von  Utzschneider,  als  Referent  für  das  Bankgesetz  von  1822: 
„Wir  haben  keinen  auswärtigen  Handel,  und  keinen  inneren  Verkehr, 
wie  England,  Frankreich  und  Österreich,  wir  sind  eine  von  allen  Seiten 
durch  Prohibitivsysteme  zusammengedrängte  Nation,  die  viel  vom  Aus- 
lande bedarf,  daß  noch  mehr  an  dasselbe  zu  bezahlen  hat  als  sie  von 
demselben  einnimmt.  Unser  Ackerbau  liegt  darnieder,  unsere  Gewerbs- 
leute sind  ohne  Arbeit;  Intelligenz,  Betriebskapital  und  Absatz  fehlen." 
Es  folgte  182g  eine  Annäherung  beider  Südstaaten  an  Preußen-Hessen 
in  einem  Handelsvertrag,  in  dem  die  künftige  Zollunion  in  Aussicht 
genommen  wurde.  1833  kam  der  Abschluß  derselben  zustande.  Von 
dem  mitteldeutschen  Verein  schloß  sich  Kurhessen  zuerst  an  Preußen 
an,  was  diesem  besonders  wichtig  sein  mußte,  weil  dessen  beide  ge- 
trennten Landesteile  jetzt  verbunden  wurden,  dann  kamen  die  thüringischen 
Staaten,  die  sich  zuvor  zu  einer  Einheit  gestalteten  und  als  solche  Mit- 
glied wurden.  Sachsen,  Baden,  Nassau  und  Frankfurt  a.  M.  sind  bis 
1836  hinzugetreten,  letzteres,  nachdem  es  durch  einen  Handelsvertrag 
mit  England,  Nassau  mit  einem  solchen  mit  Frankreich  das  Einigungs- 
werk erschwert  hatte.  Badens  Landwirtschaft  in  Handelsgewächsen, 
Wein,  Tabak,  Zichorie,  Krapp,  Hanf,  Hopfen  und  Ölsamen  war  durch 
den  von  vorhergehenden  Anschluß  von  Hessen-Darmstadt  und  der 
bayerischen  Pfalz  im  Westen  und  Norden  schlimm  getroffen  worden, 
da  sie  unter  gleichen  klimatischen  Bedingungen  wie  diese  Länder 
produzierte  und  nun  auf  den  heimischen  Verbrauch  fast  allein  an- 
gewiesen war.  Um  1840  war  die  Ausfuhr  schon  wiedergewonnen 
worden. 

Somit  war  das  innere  deutsche  Freihandelsgebiet  auf  8253  Geviert- 
meilen mit  25  Millionen  Einwohnern  angewachsen.  Die  Grenze  betrug 
1064  Meilen  Länge,  das  waren  q  Meilen  weniger,  als  Preußen  18 19 
zu  bewachen  hatte.  Eine  finanzpolitische  Sonderstellung  der  Zollvereins- 
staaten machten  die  vorhandenen  Monopole  auf  Salz  und  Spielkarten 
nötig.  Ferner  wurden  für  einige  besteuerte  Verbrauchsgegenstände, 
wie  Bier,  geschrotetes  Malz,  Traubenmost,  Wein,  Tabak   und   Brannt- 

5* 


58  n.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1815 — 1833. 

wein  bei  der  ungleichen  Belastung  die  schon  erwähnten  Übergangs- 
abgaben eingerichtet.  Das  Gebiet  der  Erfindungspatente  und  anderer 
Privilegien  wurde  nicht  berührt. 

Die  Organisation  der  Zollbehörden  und  deren  Ernennung  im 
deutschen  Zollverein  stand  jedem  Vereinsstaate  zu,  der  die  daraus  er- 
wachsenden Kosten  zu  tragen  hatte,  mit  Ausnahme  derjenigen  des 
Grenzschutzes,  die  von  den  erhobenen  Gefällen  in  Abzug  kamen.  Durch 
Vereinskontrolleure  nahmen  die  Regierungen  gegenseitige  Einsicht  in 
die  Tatsachen  der  Verwaltung.  Auf  den  jährlich  einmal  zusammen- 
tretenden Generalzollkonferenzen  wurde  endgültig  abgerechnet,  unaus- 
geglichene Beschwerden  kamen  hier  zur  Erledigung,  und  Abänderungen 
des  Tarifs  und  die  Handelsverträge  mit  dem  Auslande  standen  zur 
Beratung.  Alle  Beschlüsse  setzten  die  Einstimmigkeit  dem  völker- 
rechtlichen Verein  gemäß  voraus.  Preußen  hatte  rechtlich  nicht  mehr 
zu  sagen  als  Frankfurt  a.  M.  Tatsächlich  bestand  die  Überlegenheit 
der  großen  Staaten,  wenn  sie  auch  der  Willfährigkeit  der  kleinen  oft 
erst  nach  langem  Feilschen  gewinnen  konnten.  Die  größeren  Staaten 
waren  aber  keineswegs  immer  gesonnen,  untereinander  nachzugeben, 
und  so  blieben  notwendige  Reformen  wiederholt  ausgeschlossen.  Das 
Wirtschaftsleben  verschob  sich,  und  demgemäß  konnte  die  Tarifänderung 
nötig  werden.  Der  Majoritätsbeschluß  bestand  nicht,  so  daß  die  weiteren 
Gesichtspunkte  einer  nationalen  Handelspolitik  nur  dann  durchdringen 
konnten,  wenn  sie  durch  Sondervorteile  der  Widerstrebenden  erkauft 
und  damit  abgeschwächt  wurden.  Nur  dadurch,  daß  die  preußischen 
Staatsmänner  von  dem  Gedanken  beseelt  waren,  daß  ihrem  Staate 
die  politische  Führung  in  Deutschland  dereinst  zufallen  müsse,  ist  es 
verständlich,  daß  sie  bis  aufs  äußerste  nachgiebig  und  zu  Opfern  bereit 
gewesen  sind,  die  vom  Standpunkte  des  staatlichen  Egoismus  kaum 
zu  rechtfertigen  waren.  Allerdings  war  mit  der  Präsidialstellung  Preußens 
im  Zollverein  diesem  Staate  auch  ein  Zukunftsvorteil  erwachsen. 
Seine  Minister  und  Räte  lernten  nicht  bloß  alle  wirtschaftlichen  Eigen- 
heiten und  Einzelheiten  der  Vereinsländer  kennen,  sondern  übten  sich 
auch  in  der  richtigen  Behandlung  der  Bundesgenossen.  So  ist  der 
Zollverein  für  sie  eine  wertvolle  Vorschule  der  politischen  Verwaltung 
des  späteren  Reichs  geworden.  Blieben  solche  Vorgänge  auch  der 
ÖffentHchkeit  verborgen,  so  fehlte  es  jedoch  nicht  an  einigen  offen- 
sichtlichen Zukunftsideen,  welche  in  die  Verträge  mit  aufgenommen 
wurden.  Die  Vereinsstaaten  verpflichteten  sich,  für  ein  gleichmäßiges 
Münz-,  Maß-  und  Gewichtswesen  zu  sorgen,  die  Wasserzölle  zu  ver- 
mindern, eventuell  aufzuheben,  und  die  Weg-,  Chaussee-,  Kanal-, 
Schleusengelder  möglichst  nach  dem  Gebührenprinzip  zu  erheben. 

Der  gehässige  Staatspartikularismus,  den  die  Befreiungskriege 
zurückgedrängt   hatten,    war    aus    den    Streitigkeiten    der    Frankfurter 


VI.  Die  Gründling  des  deutschen  Zollvereins.  5g 

Bundesversammlung  rasch  wieder  hervorgewuchert,  und  die  Verhand- 
kmgen  über  den  Zollverein  zeigten  die  Giftpflanze  in  ihrer  vollen 
Blüte.  Und  dennoch  muß  man  sagen,  was  für  die  Beurteilung  anderer 
Zollvereine  späterer  Tage  nicht  zu  übersehen  war,  daß  der  deutsche 
Verein  in  der  kulturell  nationalen  Einheit  des  Volkes  eine  wichtige 
Vorbedigung  seines  Entstehens  und  später  seines  Gedeihens  gehabt 
hat.  Die  Gemeinsamkeit  der  Sprache,  der  Literatur,  die  gemeinsame 
geschichtliche  Überlieferung,  das  Verständnis  für  die  großen  Deutschen 
der  Vergangenheit  führten  indirekt  zu  mancher  Verständigung,  ohne 
daß  besondere  Beweise  dem  gegebenen  Empfinden  hinzugesetzt  zu 
werden  brauchten.  Ein  deutscher  Zollverein  ist  etwas  anderes  als  ein 
solcher,  in  dem  neben  den  Deutschen  Polen,  Ruthenen,  Magyaren,  Slo- 
venen,  Tschechen  und  andere  mehr  mitzureden  haben. 

Und  dann  noch  dies:  Der  deutsche  Verein  war  nicht  nur  eine 
wirtschaftliche  Angelegenheit.  Die  nationale  Unterströmung  haben 
manche  hervorragenden  Männer,  die  das  große  Werk  in  den  dreißiger 
Jahren  vollendeten,  in  sich  empfunden,  mochten  sie  auch  ihren  Ge- 
fühlen eine  noch  so  verschiedene  Form  verleihen:  der  feurige  Motz, 
der  bedächtige  weitblickende  Maaßen  in  Preußen,  die  führenden 
Minister  der  größeren  Einzelstaaten,  wie  Du  Thil  in  Hessen-Darm- 
stadt, von  Zeschau  in  Sachsen,  von  Mieg  in  Bayern.  Auch  die 
ökonomischen  Denker,  wie  List  und  Nebenius  hielten  unentwegt 
den  Blick  auf  die  außerdeutschen  Großstaaten  und  deren  Freude  an 
jeder  Störung  der  deutschen  Verständigung.  Endlich  verdankt  auch 
das  deutsche  Volk  einigen  seiner  Fürsten  die  Mitwirkung  ihrer 
patriotischen  Gesinnung:  dem  König  Ludwig  I.  von  Bayern  und 
König  Wilhelm  von  Württemberg  und  Karl  August  von 
Weimar.  Von  Friedrich  Wilhelm  III.  von  Preußen  bemerkt 
Treitschke,  daß  die  Pflicht  der  historischen  Gerechtigkeit  zu  dem 
Urteil  nötige,  daß  nur  das  feste  Vertrauen  auf  des  Königs  unverbrüch- 
liche Treue  die  deutschen  Fürsten  bewegen  konnte,  ihre  Souveränität 
freiwillig  zu  beschränken. 

Es  ist  ein  müßiges  Beginnen,  abwägen  zu  wollen,  wieviel  Ver- 
dienst einem  jeden  der  genannten  Männer  bei  der  Schaffung  des 
Vereins  zuzusprechen  ist.  Sie  alle  haben  in  sehr  verschiedener  Weise 
und  auf  ungleichen  Gebieten  angeregt,  geraten,  beschlossen,  gehandelt. 
Der  Zollverein  ist  aus  dem  tiefen  Bedürfnis  des  deutschen  Volkes  nach 
wirtschaftlicher  Einheit  heraus  eine  gemeinsame  Forderung  gewesen; 
ein  Glück  für  uns  war  es,  daß  wir  über  tüchtige  Köpfe  und  feste 
Charaktere  verfügten,  die  leitend  die  Zügel  in  die  Hand  zu  nehmen 
oder  die  Fahrstraße  für  den  Wagen  zu  ebnen  vermochten,  der  dem 
Ziele,  das  als  ideales  bei  vielen  geistig  höher  veranlagter  Deutscher 
Verständnis  gefunden  hatte,  entgegenrollen  sollte. 


yo  II.  Abschnitt.     Die  Zeit  von    1815  — 1833. 


Es  waren  nicht  bloß  Staatsmänner,  die  die  hochpolitische  Sache 
des  Zollvereins  gewürdigt  haben.  Auch  der  Dichter  als  Wahrsager 
der  Zukunft  hat  in  Hoffmann  von  Fallersleben  das  Rechte  ore- 
troffen,  als  dieser  in  seinen  „unpolitischen  Liedern"  verkündete: 

Schwefelhölzer,  Fenchel,  Bricken, 

Kühe,  Käse,  Krapp,  Papier, 

Schinken,  Scheren,  Stiefel,   Wicken, 

Wolle,  Seife,  Garn  und  Bier; 

Pfefferkuchen,  Lumpen,  Trichter, 

Nüsse,  Tabak,  Gläser,  Flachs, 

Leder,  Salz,  Schmalz,  Puppen,  Lichter, 

Rettich,    Rips,    Raps,    Schnaps,    Lachs,    Wachs ! 

Und  ihr  andern  deutschen  Sachen, 

tausend  Dank  sei  euch  gebracht! 

Was  kein  Geist  je  konnte  machen, 

ei,  das  habet  ihr  gemacht: 

Denn  ihr  habt  ein  Band  gewunden 

um  das  deutsche  Vaterland, 

und  die  Herzen  hat  verbunden 

mehr  als  unser  Bund,  dies  Band. 


Literatur. 

I.    *  J.  Kahn,  Geschichte  des  Zinsfußes  in  Deutschland  seit   1815,   1884. 
C.  Venturini,  Chronik  des   19.  Jahrhunderts,    1820 — 1830. 

*  H.  von  Treitschke,  Deutsche  Geschichte,   1906. 
Adam  Müller,  Die  Elemente  der  Staatskunst,   1809. 

*  Otto  Fürst  von  Bismarck,  Gedanken  und  Erinnerungen,    1898. 
K.  Immermann,  Die  Epigonen,  Reclamausgabe. 

II.       Kasseische  Allgemeine  Zeitung,   1816 — 1818. 

*  Fr.  Kapp,  Geschichte  der  deutschen  Einwanderung  in  Amerika,   1868. 
Fr.  Löher,  Geschichte  und  Zustände  der  Deutschen  in  Amerika,   1855. 

E.  V.  Pilippovich,   Auswanderung,   mit  Literaturangabe.     Hw.    Stw.,  Bd.  II,   1909. 
Fr.  Matthäi,  Die  deutsche  Auswanderung  in  Rußland,   1865. 
L.  Elster,  Bevölkerungslehre  und  Bevölkerungspolitik,  Hw.  f.  Stw.,  Bd.  II,   1909. 
K.  Hofmann,  Aus  badischen  Landen,    19 17. 

III.  Möglinsche  Annalen  der  Landwirtschaft,  herausg.  v.  Thaer  seit  18 17. 
A.  Ucke,  Die  Agrarkrisis  in  Preußen,    1888. 

J.  Conrad,  Agrarkrise,  Hw.  Stw.,  Bd.  I,   1909. 

N.   Palmeri,   Saggio    sulle   cause   ed   i   remedi    della    angustie    attuali  della    economia 
agraria,  Gesamtausgabe  der  Schriften,   1883. 

*  M.  Weyermann,  Zur  Geschichte  des  Immobiliarkredites  in  Preußen,   19 10. 

Graf  J.  von  Seinsheim,  Antrag  an  die   hohe  Kammer   der  Abgeordneten   über  die 

Wohlfeilheit  des  Getreides,    1825. 
M.  W.  von  Neu,  Über  die  Ursachen  und  Nachteile  des   gegenwärtigen  Unwerts  der 

liegenden  Güter,    1825. 

IV.  L.  Beck,  Geschichte  des  Eisens,   1899. 

*  K.  Wiedenfeld,  Ein   Jahrhundert    rheinischer    Montanindustrie    1815 — 1915,    1916. 

*  A.  Thun,  Die  Industrie  am  Niederrhein,    1879. 

*  H.  G.  Heymann,  Die  gemischten  Werke  im  deutschen  Großgewerbe,   1904. 


Literatur. 


71 


*  L.    Vischer,  Die  industrielle  Entwicklung  Württembergs,   1875. 

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Kießelbach,  Die  Kontinentalsperre,   1850. 
R.  Höniger,  Die  Kontinentalsperre,   1905. 

Albin  König,    Die  sächsische  Baumwollindustrie   am  Ende   des  vorigen  Jahrhunderts 
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J.   H.  M.  Poppe,  Geist  der  englischen  Manufakturen,   1812. 

L.  V.   Ranke,  Zur  Geschichte   der   deutschen,   insbesondere   der  preußischen  Handels- 
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Denkschrift  der  oberschlesischen  Eisenbahn-Bedarfs-A.-G.,   1917. 

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Derselbe,  Neue  Beiträge  zur  Kenntnis  der  gewerblichen  und  kommerziellen  Zustände 
der  preußischen  Monarchie,   1832. 
V.        P.  Schwartz,  Die    Entwicklungstendenzen  im  deutschen  Privatbankiergewerbe,   1915. 

Das  Haus  Rothschild,  seine  Geschichte  und  seine  Geschäfte,   1857. 

A.  Moser,  Die  Kapitalanlage  in  Wertpapieren,   1862. 

R.  Ehrenberg,  Große  Vermögen,  ihre  Entstehung  und  Bedeutung,   1901  — 1903. 

Geschichte  der  Frankfurter  Handelskammer,    1908. 
VI.        K.  L.  Aegidi,  Aus  der  Vorzeit  des  Zollvereins,  1865. 

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F.  Eckert,   Zur  Vorgeschichte  des  Zollvereins,  Schm.  Jb.,  Bd.  26. 
C.  W.  Asher,  Der  deutsche  Zollverein,   1841. 

J.  Bo wring,  Bericht  über  den    deutschen    Zollverband   an    Palmerston,    deutsch    1840. 
R.  V.  d.  Borght,  Handel  und  Handelspolitik,  Bibliographie  über  den  Zollverein,  1900 

*  Adam  Gutmann,  Bayerns  Industrie  und  Handel,    1906. 


III.  Abschnitt. 

Die  Zeit  von  1833  bis  1848. 

I.  Einführung.  Der  jetzt  zu  schildernde  Zeitraum  bedeutet  ein 
volkswirtschaftliches  Vorwärtskommen,  das  14  Jahre  währt  und  sich 
zwar  nicht  besonders  rasch,  doch  allgemein,  in  der  zweiten  Hälfte 
auffallender  als  in  der  ersten,  vollzieht,  Ein  Dauervorgang  dieser  Art 
hat  sich  nur  einmal  in  dem  Jahrhundert  ereignet.  Wir  haben  zwar 
seit  1850  wiederholt  Zeiten  der  aufsteigenden  Konjunktur  gehabt,  sie 
waren  stürmischer,  tiefer  und  weitergreifend,  aber  kürzer  und  zu- 
gleich Teile  eines  industriell-kapitalistischen  Kreislaufes,  liefen  in  Über- 
spekulation und  Krise  aus  und  hatten  einen  längeren  Niedergang  im 
Gefolge. 

Die  Erscheinung  des  regelmäßigen,  aus  innerem  eigenen  An- 
trieb erwachsenen  Wechsels  vom  Auf-  und  Zurückgehen  des  Wirt- 
schaftslebens, die  man  schon  seit  dem  Ende  des  18.  Jahrhunderts  in 
England  und  bald  darauf  auch  in  Frankreich  und  in  den  jugendlichen, 
aber  schon  verkehrsmäßig  und  kapitalistisch  lebenden  Vereinigten  Staaten 
kannte,  setzt  in  Deutschland,  wo  man  zwar  schon  seit  der  Mitte  der 
zwanziger  Jahre  Krisen  an  der  Börse  im  Handel  mit  Staatspapieren 
erlitt,  und  wo  man  auch  die  volkswirtschaftlichen  allgemeinen  Störungen 
des  Auslandes,  wie  1825  und  von  1837  — 1^39  ^^^  1847  unter  Ver- 
mittelung  des  Außenhandels  als  einen  Rückschlag  fühlte,  erst  in  den 
fünfziger  Jahren  ein.  Gewiß  gab  es  in  den  beiden  vorausgehenden 
Jahrzehnten  schon  Unternehmungen,  die  sich  ganz  in  den  Dienst  des 
unmittelbaren  Gewinnbezuges  stellten,  aber  der  Geist  der  Eigenwirt- 
schaft, der  hergebrachten  Landwirtschaft,  des  Hanwerks,  umspannt  so 
sehr  noch  alles  Tun,  daß  die  Schwankungen  der  Industrie  auf  dem 
Wege  des  Verkehrs  nicht  in  die  Tiefe  der  gesamten  volkswirtschaft- 
lichen Tätigkeit  einzudringen  vermochten.  Auch  war  der  Mut  des 
rastlosen  industriellen  Drauflosproduzierens,  in  der  Hoffnung,  man  werde 
durch  sein  Angebot  die  Nachfrage  von  Seiten  der  Unternehmungskraft 
aller  anderen  erzwingen,  erst  im  Werden,  dem  J.  ß.  Say  in  seiner  in 
Deutschland  bewunderten  „Theorie  der  Absatzwege"  ebenso  empfohlen, 
wie  ihn  der  französische  Sozialismus  als  rücksichtslosen  Bereicherungs- 
trick gescholten  hatte. 


I.  Einführung.  y  -i 

In  der  Praxis  war  man  vorsichtig.  Als  man  1836  in  Baden  eine 
Rübenzuckerfabrik  auf  Aktien  errichtete,  empfahl  man  versuchsweise 
nur  im  kleinen  vorzugehen  und  das  gezeichnete  Kapital  erst  dann  ganz 
einzuziehen,  wenn  man  feste  Abnehmer  für  das  Produkt  gefunden  hätte. 

Die  Julirevolution  von  1830  hatte  in  Frankreich  die  Bourgeoisie 
zu  Macht  und  Ansehen  gebracht,  und  die  Parole  des  Bürgerkönigs 
Louis  Philippe  ,,Enrichissez-vous"  fand  auch  rechtsrheinisch  ihre  An- 
beter. Allein  das  Geldmachen  sowohl  mit  Arbeit  und  Erfindung  als 
auch  mit  Spekulation  und  Ausbeutung  beherrschte  die  öffentliche 
Meinung  noch  nicht  in  den  dreißiger  und  vierziger  Jahren,  wie  in  den 
beiden  folgenden  Jahrzehnten.  Der  Biedermeier  war  noch  der  ange- 
sehene Mann,  nicht  bloß  in  Krähwinkel,  wenn  auch  die  Weitschauenden 
das  Heraufkommen  einer  neuen  erwerbenden  Volksklasse  mit  dem 
Hegeischen  Satz  „alles  was  ist,  ist  vernünftig",  zu  preisen  verstanden. 
Die  bürgerliche  Demokratie,  die  an  die  idealistische  Phrase  fest  glaubte, 
daß  sie  die  Vormacht  der  Tüchtigsten  verbürge,  war  mit  ihren  unge- 
hobelten Sitten,  mit  ihrer  antiaristokratischen  Lebensführung  in  Wohnung 
und  Kleidung  noch  nicht  offenkundig  durchgedrungen  und  verbarg 
ihr  Triebwerk,  die  Herrschaft  des  beweglichen  Besitzes  den  weniger 
begehrlichen  Familien,  die  den  Nachschlag  der  guten  alten  Zeit  in  sich 
zu  erleben  hofften.  Aber  ein  Riß  war  doch  in  das  nationale  Leben 
durch  den  Sturm  im  Westen  gekommen,  neue  Quellen  sprudelten  aus 
der  Tiefe  empor,  bald  trüber,  bald  klarer  Flut.  Die  Umwälzung  setzte 
wohl  ein,  erst  nach   1848  wirkte  sie  im  großen. 

Der  wirtschaftliche  Liberalismus  war  1840  rechtlich  noch  nicht 
so  vollendet,  wie  25  Jahre  später,  daher  jede  soziale  Wendung  gegen 
ihn  in  den  Kinderschuhen  steckte.  Es  wurden  an  seine  Ausgestaltung 
große  Hoffnungen  gesetzt,  und  da  die  Arbeiterfrage  erst  in  undeutlichen 
Umrissen  auftauchte,  wurde  der  Staatseingriff  in  sie  von  den  Schrift- 
stellern kaum  erwähnt. 

Der  Wunsch  des  Bürgertums  an  Gesetzgebung  und  Verwaltung 
des  Staates  teilzunehmen,  wird  seit  den  dreißiger  Jahren  in  ganz  Deutsch- 
land beobachtet  und  findet  einen  Ausdruck  in  der  Kritik  und  den  An- 
griffen gegen  die  Engherzigkeit  und  Verknöcherung  des  hergebrachten 
Beamtentums.  Der  Aufruf  zu  politischen  Neuerungen  ging  vornehm- 
lich von  Süddeutschland,  besonders  Südwestdeutschland  aus,  wo  in  den 
Kammerverhandlungen  eine  Schulung  für  liberale  Politiker  und  Redner 
geschaffen  worden  war.  Eine  starke  ideell-politische  Beeinflussung 
des  Nordens  durch  den  Süden  ist  in  dieser  Periode  nachweisbar,  was 
auch  bald  in  der  Praxis  bei  der  Verteidigung  wirtschaftlicher  Interessen 
fühlbar  wurde. 

In  Preußen  hatten  bis  1830  die  Regierenden  einer  überkonser- 
vativen Richtung  gehuldigt,  die  in  den  Kreisen  der  Gebildeten  durch 


nA  III.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1833  — 1848. 

die  Hegeische  Staats-  und  Geschichtsphilosophie,  in  welcher  sich  ver- 
möge der  dialektischen  Methode  das  revolutionäre  und  das  erhaltende 
Prinzip  zu  einer  höheren  Einheit  zusammenfanden,  gestützt  wurde. 
Der  Staat  ist  für  den  Philosophen,  der  von  18 10 — 30  in  Berlin  als 
Professor  wirkte»  und  seine  Lehre  als  Staatsdogma  verherrhcht  erlebte, 
nichts  anderes  als  Verwirklichung  der  sittlichen  Idee,  die  jetzt  in  der 
Synthese  der  sozialliberalen  Gesetzgebung  von  1808 — 181 2  mit  der 
Restaurationspolitik  erkannt  wurde.  Nach  der  Julirevolution  wurde 
jedoch  die  Lehre,  die  ein  ewiges  neues  Werden  zugleich  proklamiert 
hatte,  vorwiegend  umgekehrt  fortschrittlich  gedeutet  und  diente  weiter- 
hin auch  den  Wirtschaftssoziologen  wie  Lassalle,  Marx,  Engels 
zum  Ausgangspunkt  ihres  Radikalismus.  Mit  der  dialektischen  Formel 
ließ  sich  alles  beweisen,  was  man  nur  wünschte.  So  kam  es,  daß 
die  süddeutsche  Praxis  und  die  norddeutsche  Theorie  denselben  Strang 
zogen,  zuerst  mehr  in  verborgener,  seit  1840,  als  mit  dem  Regierungs- 
antritt Friedrich  Wilhelm  IV.,  mit  dem  man  eine  liberale  Zeit  er- 
wartete, in  unverhüllter  Weise,  in  der  sich  die  Vorgänge  von  1848 
vorbereiteten. 

Der  Zinsfuß  war  seit  den  zwanziger  Jahren  in  Deutschland  ge- 
fallen und  behielt  bis  in  die  Mitte  der  vierziger  Jahre  diese  Richtung 
bei,  ein  Beweis,  daß  der  steigende  Gewinn  noch  nicht  so  verbreitet 
war,  um  ihn  nach  oben  zu  treiben.  Das  Nachlassen  der  staatlichen 
Nachfrage  nach  Anleihegeldern,  das  Festlegen  der  Ersparungen  in 
sicheren  Anlagen,  drücken  auf  ihn,  obwohl  der  Zollverein  seine  pro- 
duktive Wirkung  bereits  zeigte,  der  Eisenbahnbau  eingesetzt  hatte  und 
die  Landwirtschaft  nach  Überwindung  ihrer  Krise,  sowohl  aus  eigenem 
Willen  heraus  als  auch  unter  der  Anregung  jener  beiden  Vorgänge 
anfing,  sich  emporzuarbeiten.  Um  die  Mitte  bis  Ende  der  vierziger 
Jahre  waren  Industrie  und  Landwirtschaft  indessen  so  vorangekommen, 
daß  der  Kapitalmarkt  nicht  mehr  in  seiner  Ruhe  beharren  konnte. 
Die  Epoche  des  steigenden  Zinses,  die  bis  1873  anhält,  beginnt.  Der 
Fernverkehr  wird  durch  die  Eisenbahnen  auf  eine  breitere  Grundlage 
gebracht,  und  die  Schiffahrt  stellt  sich  ebenfalls  in  seinen  Dienst.  Die 
Wirtschaftskräfte  ballen  sich  zusammen,  und  die  Bedürfnisse  nach  neuen 
Formen  für  ihre  Betätigung  werden  empfunden.  Inmitten  dieses  deut- 
lichen, erst  kurzen  Vorwärtsstrebens,  das  kaum  zum  Bewußtsein  seiner 
selbst  gelangt  ist,  schlägt  die  Revolution  von  1848  wie  ein  Ungewitter 
ein,  von  einem  Bürgertum  hervorgerufen,  das  sich  auf  eine  ökonomische 
Macht  stützte,  die  in  den  30  vorausgegangenen  Friedensjahren  ge- 
wonnen, zugleich  nicht  stark  genug  war,  die  Gesetzgebung  so  in  ihren 
Dienst  zu  nehmen,  wie  es  sich  vorgenommen  hatte. 

Die  Industrie  war  in  den  dreißiger  Jahren  in  bezug  auf  die 
Technik   von  England   und    Frankreich   abhängig   geblieben,    wo   eine 


I.  Einführung.  je 

praktische  Neuerung  die  andere  verdrängte.  Man  rühmte  es  noch  1844, 
daß  die  Kattundruckerei  in  Preußens  Hauptstadt  den  Walzen-  und 
Plattendruck  des  Auslandes  eingeführt  hatte,  das  englische  Frischver- 
fahren in  der  Rheinprovinz  heimisch  wurde,  die  amerikanische  Methode 
Nägel  kalt  aus  Blechen  zu  fertigen,  in  Sömmerda  gelungen  war,  die 
Zuckerfabrikation  bei  Magdeburg  die  Erfindungen  von  Howard  und 
Hawkins  zu  benützen  gelernt  hatte,  als  in  Berlin  die  erste  größere 
Gewerbeausstellung  eröffnet  wurde,  an  der  sich  alle  Zollvereins-Länder, 
die  übrigen  deutschen  Staaten  und  auch  Österreich  beteiligten.  Ihre 
Statistik  kommt  uns  heute  armselig  vor,  damals  sah  man  in  ihr  den 
Ausdruck  ungemeinen  Aufschwunges.  3093  Personen  hatten  ausgestellt, 
und  240000  Eintrittskarten  waren  in  2 14  Monaten  gelöst  worden. 
Eine  von  Borsig  gebrachte  Lokomotive  erregte  die  höchste  Auf- 
merksamkeit damals,  als  gleichzeitig  Maffei  die  erste  Lokomotive  für 
die  bayerische  Staatsbahn  erbaut  hatte,  ein  hübsches,  kleines  Dampf- 
boot war  nach  zwanzigstündiger  Fahrt  zur  allgemeinen  Besichtigung  auf 
der  Spree  eingetroffen.  In  der  Maschinenabteilung  herrschten  die 
Druckmaschinen  vor,  bei  denen  neuzeitliche  Verbesserungen  vorgeführt 
wurden.  Eine  Torfpresse  wurde  umständlich  in  den  Zeitungen  be- 
schrieben. Eine  Eisenplatte,  32  Fuß  lang  und  4  Fuß  breit,  erregte 
die  höchste  Bewunderung.  In  nicht  wenigen  Gegenständen  fand  man 
Nachahmungen  französischer  und  englischer  Vorbilder.  Heimische  ver- 
zinnte, gußeiserne  Geschirre  erhielten  dadurch  ihr  Lob,  daß  sie  als 
englische  Ware  gelten  könnten.  Die  Ausstellungsberichte  in  süd- 
deutschen Zeitungen  muten  einen  eigentümlich  an.  Die  Berichterstatter, 
die  „die  große  Reise"  nach  Berlin  gemacht  hatten,  erzählen  von  dieser 
Stadt  wie  von  einem  fern  gelegenen,  überseeischen  Orte  heutzutage. 
Man  ist  über  das  Leben  höchst  erstaunt,  und  Schwaben  und  Bayern 
fanden   es  dort   zu   leben  weit   angenehmer,  als  sie  je  gedacht  hatten. 

Durchblättern  wir  die  Nachrichten  über  technische  Erfindungen 
jener  Tage,  so  begegnen  wür  jedoch  einer  anderen  Beweglichkeit  des 
Geistes  als  20  Jahre  vorher.  Es  fehlt  indessen  noch  ganz  die  zusammen- 
hängende Richtung,  man  bemüht  sich  auf  verschiedenen  Gebieten  neben- 
einander ohne  jedes  System.  Die  Versuche  vollziehen  sich  in  kleinen 
Betrieben. 

Als  eine  seltene  Annahme  wurde  es  gepriesen,  als  1814  König 
in  Eisleben  und  Bauer  in  Stuttgart  eine  Schnellpresse  für  den  Buch- 
druck erfanden  und  aufstellten.  In  den  nächsten  20  Jahren  schweigt 
der  deutsche  Erfindergeist.  Mitte  der  dreißiger  Jahre,  als  die  Eisen- 
bahnen kamen,  meldet  er  sich  wieder.  1835  hatte  Peschel  in  Dresden 
eine  Steinbohrmaschine  erdacht,  einige  Jahre  später  Hummel  eine 
Maschine  zum  Gewebedruck.  Dann  folgte  der  Ölfarbendruck  mit  guten 
Ergebnissen    für  die  Hersteller.     Man  knüpfte  an  Bekanntes  an.     Die 


^5  III.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1833 — 1848. 

Bilddruckerei  war  eines  der  Gewerbe,  das  in  Deutschland  sehr  gepflegt 
worden  war,  seitdem  Senefelder  schon  1785  die  Lithographie  er- 
funden und  1806  in  München  die  erste  größere  Steindruckerei  mit  von 
Ar  et  in  zusammen  errichtet  hatte.  1845  gelang  es  dem  sächsischen 
Webemeister  G.  Keller,  in  der  auf  mechanischem  Wege  zerlegten 
Weichholzfaser  ein  Ersatzmittel  für  Hadern  bei  der  Papierfabrikation 
zu  schaffen.  L.  Faber  in  Nürnberg  erfand  für  seine  Bleistiftindustrie 
mancherlei  Werkzeugmaschinerie.  Er  legte  Mühlen  an,  um  Thon  und 
Graphit  zu  vermählen  und  preßte  die  Bleistifteinlage  in  endlosen  Faden 
aus.  Georg  Sedlmayr  ist  in  seiner  Münchener  Brauerei  sein  eigener 
Ingenieur  und  Baumeister  durch  Einfügung  mechanischer  Hebe-  und 
Transport- Vorrichtungen  und  einer  verbesserten  Schrotmühle,  nachdem 
sein  Vater  Gabriel  schon  die  Dampfmaschine  im  Braubetrieb  „zum 
Spaten"  aufgestellt  hatte.  Die  landwirtschaftliche  Zentralschule  in 
Schleißheim  bildete  junge  der  Brauerei  beflissene  Leute  aus.  Die  vollen 
theoretischen  und  praktischen  Lehrkurse  werden  jedoch  erst  später  in 
den  sechziger  Jahren  auf  der  Akademie  für  Landwirtschaft  und  Brauerei 
Weihenstephan  erreicht.  In  Frankfurt  a.  M.  und  München  vervoll- 
kommnete man  die  optischen  und  chirurgischen  Instrumente.  Frauen- 
hofers  Fernrohre  waren  berühmt.  Weittragende  Pläne  verfolgte  Bauer 
in  Nürnberg  mit  einer  elektro-magnetischen  Maschine,  die  aber  nur 
als  Gewürzstampfe  zunächst  Verwendung  fand,  und  J.  D.  Wagner, 
der  den  Elektro-Magnetismus  auf  den  Bahnbetrieb  übertragen  will. 
Die  Erfindung  Jacobis,  Kupfer  in  metallischer  Form  durch  den  gal- 
vanischen Strom  aus  einer  Lösung  von  Kupfervitriol  niederzuschlagen, 
regt  den  Artillerieoffizier  Werner  Siemens  an,  die  galvanische  Ver- 
goldung und  Versilberung  zu  entdecken.  Derselbe  fertigte  damals 
eine  rotierende  Schnellpresse  zur  Anwendung  des  bekanntgegebenen 
Zinkdruckes  an,  ihm  gelang  die  Vernickelung  der  gravierten  Kupfer- 
platten, die  Benutzung  der  Schießbaumwolle,  die  Schön b ein  in  seinem 
Baseler  Labaratorium  unter  Anlehnung  an  Ottos  praktische  Versuche 
hergestellt  hatte,  für  militärische  Zwecke,  die  Anwendung  der  erhitzten 
Luft  als  Triebkraft  und  vor  allem  manche  Neuerung  auf  dem  Gebiete  des 
Telegraphenwesens,  wie  die  Isolierung  der  Drähte  durch  Kautschukum- 
hüllung, die  für  die  Kabellegung  später  so  wichtig  wurde,  nachdem  Gauß 
und  Weber  1833  von  einem  Häuschen  neben  der  Göttinger  Stern- 
warte nach  dem  Mittelpunkte  der  Stadt  an  einem  900  m  langen  Draht 
die  Leitung  erprobt  hatten  und  St  ein  heil  Verbesserungen  1837  an 
einer  längeren  Linie  von  5500  m  geglückt  waren.  Die  Firma  Siemens 
&  Halske  erfreute  sich  bald  sogar  ausländischer  Bestellungen.  In  seinen 
Lebenserinnerungen  bemerkt  Siemens,  daß  damals  noch  zwischen 
Wissenschaft  und  Technik  eine  unüberbrückbare  Kluft  geherrscht  habe. 
Zwar  habe   der  verdienstvolle  Beuth,   der   unbestreitbar   als   Gründer 


II,  Die  Fortbildung  des  Zollvereins.     Die  Industrie.  nn 

der  norddeutschen  Technik  anzuerkennen  sei,  in  dem  Berliner  Gewerbe- 
institut eine  Anstalt  geschaffen,  die  in  erster  Linie  zur  Verbreitung 
wissenschaftlicher  Kenntnisse  unter  den  jungen  Technikern  bestimmt 
gewesen  sei.  Die  Wirkungsdauer  dieses  Institutes,  aus  dem  später  die 
Gewerbeakademie  und  schließlich  die  Charlottenburger  technische  Hoch- 
schule hervorging,  sei  aber  noch  zu  kurz  zur  Erhöhung  der  Bildungs- 
stufe bei  den  damaligen  Gewerbetreibenden  ausgefallen. 

Die  Naturwissenschaft,  die  von  Staatswegen  in  Berlin  gepflegt 
worden  war,  hatte  nur  wenig  Fühlung  mit  der  Industrie,  deren  Männer 
neben  dem  preußischen  Beamten-  und  Militärstand  wenig  Ansehen 
genossen,  und  sie  selbst  dünkte  sich  zu  hoch,  zur  Technik  hinab- 
zusteigen, war  eher  darauf  bedacht,  eine  umfassende  Weltanschauung  zu 
begründen,  wie  das  A.  von  Humboldt  mit  seinen  ausgedehnten  Kennt- 
nissen und  seinem  lebendigen  Wissen  in  dem  „Kosmos"  versuchte. 
Es  liegt  in  dem  Wesen  der  Technik,  daß  ihre  Fortschritte  in  der 
Jugend  nur  langsam  sind.  „Es  wurde  mir  klar",  erzählt  Siemens 
weiter,  „daß  die  Technik  nicht  in  plötzlichen  Sprüngen  vorschreiten 
kann,  wie  es  der  Wissenschaft  durch  die  schöpferischen  Gedanken 
einzelner  bedeutender  Männer  oft  mögUch  gewesen  ist.  Eine  technische 
Erfindung  bekommt  erst  Wert  und  Bedeutung,  wenn  die  Technik 
so  weit  fortgeschritten  ist,  daß  die  Erfindung  durchführbar  und  ein 
Bedürfnis  geworden  ist." 

Deutschland  war  einerseits  noch  zu  sehr  vom  Auslande  beein- 
flußt, um  sich  seiner  schlummernden,  wissenschaftlich  praktischen 
Kräfte  voll  bewußt  zu  werden,  andererseits  was  das  vom  Staat  kaum 
unterstützte  Bürgertum  nicht  reich  genug,  um  die  Mittel  aufwenden 
zu  können,  verfehlte  Experimente  leicht  zu  ertragen.  Die  spätere 
Entwicklung  Deutschlands  im  Zollverein  und  Reich  läßt  sich  daher 
nur  als  ein  wirtschaftspolitisches  Ganzes  begreifen,  so  hoch  man  auch 
die  aus  der  Naturwissenschaft  und  Technik  entsprießenden  Antriebe 
für  sie  einschätzen  mag. 

IL  Die  Fortbildung  des  Zollvereins.  Die  Industrie. 
Der  Zollverein  war  zunächst  auf  8  Jahre  abgeschlossen  worden.  Ein  Teil 
von  Norddeutschland  stand  noch  außerhalb,  Hannover,  Oldenburg, 
Braunschweig,  die  beiden  Mecklenburg,  Holstein,  die  Hansestädte  und 
einige  kleine  sich  anschließende  Fürstentümer.  Die  drei  ersteren,  mit 
denen  Schaumburg -Lippe  zusammenhing,  hatten  1834 — 36  den  Steuer- 
verein gegründet,  welcher  wegen  der  Lage  zum  Meere,  der  wenig 
fortgeschrittenen  Industrie  und  des  starken  Verbrauches  ausländischer 
Waren  einen  besonders  niedrigeren  Zolltarif  für  zweckmäßig  hielt  und 
zunächst  für  sich  bestehen  konnte.  Wir  besitzen  in  Fr.  von  Redens 
Buch  „Das  Königreich  Hannover"  eine  gute  Beschreibung  des  Landes 
vom  Ende  der  dreißiger  Jahre.     Nur  i/^o  der  Bevölkerung   entfiel  auf 


III.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1833  —  iJ 


die  stoffeverarbeitenden  Gewerbe  und  den  Handel.  Die  Herstellung 
von  Fluß-  und  Seeschiffen,  die  den  Küsten  verkehr  besorgten,  kam 
über  kleine  Fahrzeuge  nicht  hinaus.  Der  Straßenbau  war  gefördert 
worden,  18 17  hatte  das  Königreich  94,  183g  313  Meilen  Chausseen, 
deren  Hauptaufgabe  war,  das  Innere  mit  den  Seeplätzen  zu  verbinden. 
Die  Beziehungen  zu  Hamburg  und  Bremen  erleichterten  die  Einfuhr, 
die  die  Regierung  aus  Gefügigkeit  gegen  England  und  aus  fiskalischen 
Zwecken  guthieß,  obwohl  sie  das  Wachsen  der  Freihäfen  scheel  ansah. 
Die  Ausfuhr  bestand  aus  Getreide  und  Vieh,  die  ehemalige  von  Lein- 
wand war  zurückgegangen. 

Braunschweig  kam  als  Anschlußland  in  Frage,  da  es  den  nördlichen 
und  südlichen  Teil  des  Königreichs  verband.  Kleinstaatliche  Reibereien 
und  die  Schutzbedürftigkeit  einiger  Industrien  veranlaßten  1841  das 
Herzogtum  zum  Zollverein  überzugehen.  Auch  das  Fürstentum  Lippe- 
Detmold,  die  Grafschaft  Schaumburg,  das  Fürstentum  Pyrmont  wurden 
in  demselben  Jahre  von  ihm  aufgenommen.  Die  Braunschweiger  Industrie 
empfand  den  Segen  des  Zollvereins  bald,  während  die  hannoverische 
auf  niedriger  Stufe  verblieb.  1842  entschloß  sich  Luxemburg,  das  dem 
deutschen  Bunde  angehörte,  zum  Zollanschluß  unter  preußischer  Ver- 
waltung. Die  wirtschaftlichen  Geschäftsbeziehungen  des  Großherzogtums 
neigten  damals  zwar  nach  Belgien  hin,  allein  die  Sorge,  die  politische 
Unabhängigkeit  zu  verlieren,  verhinderten  die  Wahrnehmung  eines 
solchen  Vorteils.  Zu  klein,  um  ein  eigenes  Zollwesen  einzurichten, 
fand  das  Ländchen  weiterhin  seine  wirtschaftlichen  und  finanziellen 
Wünsche  gewahrt  und  war  so  lange  einseitig  begünstigt,  bis  es  durch 
seine  spätere  Eisenindustrie  die  Schuld  an  den  großen  östlichen  Nach- 
bar abtragen  konnte. 

War  schon  der  Erfolg  des  Zollvereins  durch  seine  Vergrößerung 
bewiesen,  so  trat  er  noch  deutlicher  bei  den  Handelsverträgen  mit 
dem  Auslande  hervor,  die  zwar  nicht  jedermann  zufrieden  stellten,  aber 
den  einzelnen  Teilnehmern  mehr  brachten  als  sie  durch  eigene  Kraft 
je  hätten  erreichen  können.  1837  und  1839  wurde  mit  Holland,  1839 
mit  Griechenland,  1840  mit  der  Türkei,  1841  mit  England,  1844  mit 
Belgien  abgeschlossen. 

Der  Handelsvertrag  jener  Zeit  war  Reziprozitätsvertrag,  enthielt 
eine  gegenseitige  Bevorzugung,  die  als  ein  zusammenhängendes  Ganze 
galt  und  den  Grundsatz  der  Meistbegünstigung  ausschloß.  Der  welt- 
wirtschaftlichen Entwicklung  wurden  damit  Fesseln  angelegt,  da  jede 
Verallgemeinerung  eines  Zugeständnisses  an  dritte  Länder  von  der 
Gegenpartei  durch  Entziehung  des  ihrerseits  Gewährten  verhindert 
werden  konnte. 

Von  Holland  und  England  suchte  der  Zollverein  vor  allem  zu 
erhalten,  daß  die  deutschen  Schiffe  derjenigen  Rechte  teilhaft  wurden, 


II.  Die  Fortbildung  des  Zollvereins.     Die  Industrie.  yq 

welche  sie  den  eigenen  zubilligten.  Dafür  mußten  Einfuhrzollermäßi- 
gungen gegeben  werden,  zunächst  für  Reis  und  Zucker,  weiter  für 
einige  Industriewaren.  Die  ostdeutschen  Landwirte  hatten  auf  Er- 
mäßigung der  englischen  Getreidezölle  gehofft,  aber  Lord  Palmerston 
erklärte,  daß  ihre  Wünsche  kein  Verhandlungsgegenstand  seien.  Hätte 
er  nachgegeben,  so  würde  der  Zollverein  Entsprechendes  von  seinem 
Industrieschutze  haben  fallen  lassen  müssen.  Glücklicherweise  ist  es 
nicht  dahin  gekommen,  da  die  junge  deutsche  Industrie  es  durchaus 
nicht  zu  ertragen  vermocht  hätte.  Wenn  England  auf  Bestimmungen 
seiner  Navigationsakte  zugunsten  Preußens  verzichtete,  so  war  dies 
für  seine  eigene  Schiffahrt  ganz  gefahrlos,  da  sie  die  preußische  in 
keiner  Weise  zu  fürchten  hatte. 

Der  Zollverein  war  den  Engländern  ein  dauerndes  Greuel,  das 
sie  mit  der  ihnen  üblichen  heuchlerischen  Anmaßung  bekämpften. 
Offiziell  behaupteten  sie,  die  kleinen  Staaten  gegen  Preußen  verteidigen 
zu  müssen.  1847  verkündete  Palmerston,  daß  es  kein  englischer 
Minister  je  gestatten  könne,  daß  die  deutschen  Küstenländer  die  Ver- 
ein szölle  annähmen. 

Mit  Belgien  zogen  sich  die  Verhandlungen  von  1841  bis  1844 
hin.  König  Leopold  hatte  mit  einer  Zollunion  Frankreich  gegen- 
über kokettiert,  dieselbe  auch  dem  Zollverein  angeboten  und  bei 
seinem  Doppelspiel  von  ersterem  einige  Vorteile  erlangt.  Daraufhin 
wurde  auch  der  Zollverein  nachgiebig,  ließ  wallonische  Eisenwaren  billiger 
ein,  als  er  die  gleich  zu  besprechende  Zollreform  von  1844  festlegte, 
und  verminderte  den  Wollausfuhrzoll,  erhielt  dafür  die  damals  wenig 
wertvolle  freie  Durchfuhr  von  Aachen  nach  Antwerpen  und  einige 
unbedeutende  Tarifermäßigungen.  Die  Gefahr  einer  Zollunion  Belgiens 
mit  Frankreich  war  dauernd  beseitigt. 

Die  deutschen  Eisenproduzenten  verhielten  sich  nach  der  Maxime 
„principiis  obsta"  ablehnend  gegen  jede  Herabsetzung.  Die  Haupt- 
gefahr erblickten  sie  mit  Recht  jenseits  des  Kanals,  wo  die  Technik 
in  den  letzten  Jahre  wiederum  vervollkommnet  worden  war.  Sie  so- 
wohl wie  die  Baumwollspinner  betonten  schon  in  die  Mitte  der  dreißiger 
Jahre  die  Notwendigkeit,  die  Schutzzölle  zu  erhöhen,  noch  mehr  in  der 
zweiten  Periode  des  Vereins,  die  1842  begann,  als  er  für  weitere 
10  Jahre  festgelegt  wurde. 

Diese  Ansprüche  führten  zu  seiner  ersten  ]<]rise.  Die  Frage  von 
Freihandel  und  Schutzzoll  erregte  mehrere  Jahre  ganz  Deutschland 
heftig,  als  ob  zwei  unversöhnliche  Religionen  aufeinandergeplatzt  wären. 
Eine  Widerholung  des  Streites  wurde  Ende  der  siebziger  Jahre  erlebt 
Viele  Beweisgründe  Für  und  Wider  waren  die  gleichen  geblieben,  ohne 
die  Gegner  zu  überzeugen.  Der  Unterschied  beider  Epochen  war  der, 
daß  der   Zollverein  ein    unbehilfliches  Instrument  zur  Schlichtung   ge- 


8o  ni,  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1833  — 1848. 

wesen  ist,  die  Abänderung  der  Tarifs  daher  nicht  2ureichend  ausfiel, 
während  dem  Reich  eine  nationale  Handelspolitik  zu  führen  durch  die 
Verfassung  gegeben  war. 

Die  Gegensätze  wurden  auf  der  Generalzollkonferenz  in  Stutt- 
gart 1842  sichtbar,  erst  nach  vier  Jahren  wurde  auf  der  Berliner  der 
von  der  Vernunft  schließlich  als  das  geringere  Übel  anbefohlene  Aus- 
gleich zum  vollen  Abschluß  gebracht.  Für  den  Freihandel  traten  der 
Großkaufmannsstand,  soweit  er  am  Außengeschäft  beteiligt  war,  ferner 
die  ausführende  Landwirtschaft  und  die  Verbraucher,  das  heißt  die 
nicht  wirtschaftlich  produzierenden  Gruppen,  ein.  Das  Ansehen  der 
nationalökonomischen  herrschenden  Schule  englischen  Ursprungs  stand 
auf  seiner  Seite.  Norddeutschland  war  vorzugsweise  sein  Gebiet,  in 
dessen  großen  Handels-  und  Meßplätzen  seine  Hauptvertreter  tätig 
waren.  Für  den  Schutzoll  kämpften  die  Eisenindustrie  des  Westens 
und  Schlesiens  und  die  Baumwollspinnerei  des  Südens.  Hier  waren 
in  dem  letzten  Jahrzehnt  neue  Betriebe  entstanden  und  ältere  aus- 
gedehnt worden,  obwohl  der  Schutz  für  den  Zentner  Garn  nur  2  Tlr. 
betragen  hatte.  Jetzt,  als  England  so  große  Produktionsfortschritte 
machte,  und  die  Eisenbahnen  die  in  den  hohen  Transportkosten  ehe- 
dem gegebene  Abwehr  zu  beseitigen  begannen,  reichte  der  Zoll  nicht 
aus,  das  Geschaffene  zu  behaupten.  Gegen  seine  Erhöhung  waren  die 
Weber,  besonders  des  sächsischen  Erzgebirges,  die  von  England  bil- 
liges Halbfabrikat  bezogen,  und  verschiedener  norddeutscher  Gegenden, 
wo  unter  30 — 50  Tlr.  Zollabgabe  ihr  Geschäft  erstarkt  war.  ^s  ^^^ 
zu  verwebenden  Garnes  wurde  eingeführt,  Yg  war  im  Zollverein  ge- 
sponnen. Wie  weit  England  voraus  war,  ergibt  sich  daraus,  daß  dort 
1841  — 1843  H  Pfund  Garn  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  hergestellt 
worden  waren,  im  Zollverein  nur  Y^^  Pfund. 

In  der  Eisenindustrie  bestand  ein  ähnlicher  Gegensatz  als  in  der 
textilen.  Die  Eisenverarbeiter  an  der  Ruhr,  im  bergischen  Lande,  bei 
Aachen,  hatten  ihren  Vorteil  vom  billigen  Roheisen,  das  zollfrei  war. 
Es  kam  jetzt  ebenfalls  besonders  wohlfeil  von  England  herüber,  das 
sich  nach  der  Verkehrsstockung  von  1837 — 39  ^^s  Überschusses  zu 
entledigen  suchte.  Bis  zum  Jahre  1S49  g^^  ^^  i"^  Ruhrgebiet  nicht 
einen  Koksofen  —  der  erste  wurde  auf  der  Friedrich-Wilhelmshütte 
in  Mülheim  angeblasen  — ,  während  die  Schmiedeeisenerzeugung  ge- 
schützt worden  und  vorangekommen  war.  Etwas  besser  stand  es  mit 
der  Montanindustrie  im  Saargebiet,  dessen  Kohle  jedoch  zum  großen 
Teil  nach  Frankreich  ging,  weil  sie  daheim  keinen  Absatz  fand.  Die 
Eisenfabrikate  wurden  über  die  französische  Zollinie  nicht  eingelassen, 
in  Deutschland  konnten  sie  nicht  recht  vordringen,  da  die  Eisenbahn 
diese  abgelegene  Gegend  noch  nicht  mit  dem  Osten  verband.  Immerhin 
hatte  hier  der  kapitalkräftige  Betrieb  um  1840  Kokshochöfen  errichtet, 


II.  Die  Fortbildung  des  Zollvereins.     Die  Industrie. 


und    schon    vorher    war    das    Puddeln    und    Walzen    nach    englischem 
Muster  in  einigen  Anlagen  geglückt. 

Von  dem  damaligen  Standpunkt  der  Berufsinteressen  der  Halb, 
und  Ganzfabrikanten  war  der  Streit  nur  durch  einen  Vergleich  bei- 
zulegen, der  freilich  beide  Teile  nicht  eigentlich  befriedigen  konnte 
Von  dem  der  Gesamtwirtschaft  und  der  Zukunft  mußte  man  sagen, 
daß  Deutschland  an  einer  ganzen  vollen  Industrie  weit  mehr  als  an 
einer  halben  gelegen  war.  Die  eigene  Herstellung  von  Roheisen  und 
Garn  war  für  sie  die  sicherste  Grundlage  der  Fertigindustrie.  Wurden 
jene  Halbprodukte  zunächst  durch  den  Zoll  verteuert,  so  bedurften 
auch  die  Fabrikate  eines  erhöhten  Schutzes,  bis  die  Vereinsvorindustrie 
zur  Fähigkeit  der  billigeren  Erzeugung  gelangt  war.  In  der  Folge- 
zeit ist  dieser  Zustand  für  die  Montanindustrie  erreicht  worden,  die 
Baumwollspinnerei  blieb  noch  lange  das  Stiefkind  der  deutschen  Poli- 
tik, obwohl  für  die  Erzeugung  der  meisten  ihrer  Nummern  die  gün- 
stigen Vorbedingungen  nicht  fehlten. 

In  den  vierziger  Jahren  haben  die  Vertreter  des  geringen  Eisen- 
schutzes so  argumentiert:  „Gegen  ihn  seien  nicht  bloß  die  Besitzer  von 
Frischhämmern,  Puddelwerken,  Blech-,  Draht-,  Waffenfabriken,  die 
gesamte  Kleineisenindustrie,  sondern  auch  die  Landwirte,  die  Schiffs- 
bauer, alle  die,  welche  Maschinen  gebrauchten,  die  Eisenbahnen,  kurz 
alle  sonstigen  produktiven  Stände".  Diese  Anschauung  war  eine  ver- 
kehrte. Gerade  weil  Roheisen  für  jede  produktive  Tätigkeit  notwendig 
war,  mußte  Deutschland  sich  vom  Ausland  unabhängig  zu  machen 
suchen. 

Wie  wenig  volkswirtschaftlich  man  1842  noch  in  einzelnen  Kreisen 
zu  denken  verstand,  ersieht  man  aus  einem  Beweisgrund  gegen  die 
Eisenzölle,  den  die  Augsburger  Allgemeine  Zeitung  in  einem  langen 
Artikel  zu  erörtern  für  gut  befand.  Die  Eisenproduktion  würde  unter 
erhöhtem  Zoll  so  gesteigert  werden,  „daß  die  Holzpreise  in  die  Höhe 
gehen  müßten,  wodurch  die  ärmeren  Bewohner  des  Landes  in  Not 
kommen  und  demoralisiert  werden  müßten". 

Nun  lagen  im  Zollverein  die  Dinge  so,  daß  jeder  Staat  für  seine 
Sonderwünsche  seine  Stimme  geltend  machte.  In  Preußen  war  die 
Regierung  freihändlerisch  gesinnt,  schon  weil  sie  damals  den  Verein 
mehr  als  Finanzquelle  denn  als  volkswirtschaftliche  Einrichtung  wertete- 
Landwirtschaft  und  Außenhandel  schlössen  sich  ihr  begeistert  an,  und 
die  Spinnerei,  die  sich  nicht  so  bedrückt  als  in  Süddeutschland  fühlte 
widersprach  nicht  so  heftig  als  hier.  Nur  für  die  Eisenindustrie  und 
die  Leinwandspinnerei  war  man  zu  mäßigem  Opfer  in  der  Theorie 
bereit.  In  Sachsen  überwog  die  Fürsorge  für  die  Leipziger  Messe 
und  die  heimische  Weberei,  so  daß  hier  die  preußische  Ansicht  unter- 
stützt wurde.    In  Braunschweig  dachte  man  ebenfalls  in  erster  Stelle 

A.  Sar  torius  v.  Waltershausen     Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.       D 


82  ni.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1833 — 1{ 


an  seine  Messe  und  war  nur  für  Zölle  zugunsten  des  Leinwand- 
gewebes. Frankfurt  a.  M.  hatte  allein  seine  Handelsgewinne  im 
Auge.  Kur h essen  war  schwankend,  Nassau  aus  Finanzgründen 
freihändlerisch. 

Die  Gegenpartei  war  in  Süddeutschland,  das  sich  bei  der  Grün- 
dung des  Zollvereins  selbst  dem  gemäßigten  Tarif  Preußens  wider- 
setzt hatte.  An  der  Spitze  stand  Württemberg,  das  seine  Spinnerei 
rasch  ausgedehnt  hatte,  aber  sich  dem  englischen  und  belgischen  Wett- 
bewerb nicht  gewachsen  fühlte.  Mit  dem  „Zollvereinsblatte"  hatte 
es  in  Fr.  List  einen  einsichtigen  Vertreter.  Ähnliche  Verhältnisse 
walteten  in  Baden.  In  Bayern  waren  die  Anschauungen  geteilt. 
Der  Augsburger  Spinnerei  standen  die  zahlreichen  Webereien  im  Lande 
gegenüber.  Der  Beamtenstand  war  in  ökonomischen  Fragen  gleich- 
gültig, anders  als  in  Preußen,  wo  er  dem  Freihandel  ausgesprochen 
zuneigte.  Die  Entscheidung  für  seine  Landesstimme  traf  König  Ludwig, 
der  von  dem  Abwägen  kleinlicher  Interessen  nichts  wissen  wollte  und 
der  nationalen  Selbständigkeit  auf  wirtschaftlichem  Gebiete  sein  Herz 
geöffnet  hatte.  Er  ging  daher  mit  den  anderen  süddeutschen  Staaten 
zusammen.  Die  Vorteile  des  Zollvereins  für  Bayern  waren  unverkenn- 
bar, wie  es  die  Gewerbeausstellungen  in  München  und  Nürnberg  während 
der  dreißiger  Jahre  erwiesen.  Genügte  18 18  ein  Zimmer  im  Schwarzen 
Adler  zu  München  um  alles  aufzunehmen,  so  hatte  man  zu  gleichem 
Zweck  nach  20  Jahren  gerade  den  Raum  des  Odeons  nötig.  München 
ist  die  Stadt  der  Ausstellungen  geblieben,  für  Gewerbe,  Kunstgewerbe 
und  Kunst,  alles  auf  größerer  Grundlage,  als  1854  der  Glaspalast  als 
dauernde  Ausstellungshalle  gebaut  worden  war.  Inzwischen  war  sie 
durch  die  Initiative  und  die  Schatulle  König  Ludwigs  I.  der  Vorort 
deutscher  Kunst  geworden,  und  auch  die  Wissenschaften  wurden  eifrig 
gepflegt,  als  seit  1826  die  Universität  von  Landshut  hierher  verlegt 
worden  war.  Ihre  Verspottung  als  „Isarathen"  war  nicht  ganz  gerecht. 
War  sie  auch  kein  Athen  geworden,  so  war  doch  so  viel  geleistet, 
daß  die  Nachwirkung  durch  das  ganze  Jahrhundert  hindurch  zu 
spüren  war. 

Die  Schwäche  des  Zollvereins  mit  der  vorgeschriebenen  Staaten- 
abstimmung offenbarte  sich  jetzt.  Eine  gegnerische  Stimme  konnte 
jede  Neuerung  hinfällig  machen.  Aber  auch  seine  Stärke  wurde  bald 
sichtbar.  Preußen  war  seine  Vormacht  und  wurde  sich  der  politischen 
Bedeutung  der  Zolleinigung  für  das  deutsche  Volk  wieder  bewußt. 
Es  ordnete  der  politischen  Zukunft  seine  Sonderwünsche  unter  und  bot 
zu  einem  Ausgleich  die  Hand,  zumal  die  süddeutschen  Garnerzeuger 
in  ihrem  verblendeten  Partikularismus  den  Anschluß  an  Österreich 
forderten. 


II.  Die  Fortbildung  des  Zollvereins.     Die  Industrie.  32 


In  der  Eisenfrage  kam  man  1844  zu  einer  Entscheidung,  der 
sich  die  süddeutschen  Schutzzollstaaten  nicht  wohl  verschließen  konnten. 
Ein  Zoll  von  10  Sgr.  wurde  für  Roheisen  festgesetzt,  der  alsbald  eine 
gute  Wirkung  hatte  und  später  nicht  erhöht  zu  werden  brauchte. 
Stabeisen  und  Schienen  erhielten  eine  Aufbesserung  von  i  auf  1 14  T^^lr., 
feines  und  fassoniertes  Schmiede-  und  gewalztes  Eisen  von  2^  auf 
3  Tlr.  Auch  wurde  der  Ausgangszoll  auf  Lumpen  von  2  auf  3  Tlr. 
zugunsten  der  Papiererzeugung  heraufgesetzt.  Der  Finanzzoll  auf 
Zigarren  und  Schnupftabak  stieg  von  11  auf  15  Tlr.,  für  gebrannten 
Kaffee  und  Kakao  von  6^/3  auf  1 1  Tlr. 

Unter  dem  Schutzzoll  gelang  es  hernach  der  Eisenindustrie  am 
Rhein,  in  Westfalen  und  an  der  Saar  die  Linie  ihres  Absatzes  nach 
Osten  und  Norden  vorzuschieben,  zumal  gleichzeitig  der  Bahnbau  die 
Frachtkosten  ihrer  Produkte  ermäßigte.  England  wurde  von  den 
Küsten  der  Nord-  und  Ostsee  und  mehr  noch  von  deren  Hinterländern 
in  Mitteldeutschland  zurückgedrängt,  das  jetzt  wie  Süddeutschland  als 
Verbraucher  die  w^estdeutsche  Montanindustrie  in  sich  einbezog,  wo- 
durch die  deutsche  Volkswirtschaft  zu  einem  mehr  einheitlichen  Ganzen 
gestaltet  wurde.  Im  Eisenguß  blieb  das  Ausland  noch  in  den  sechziger 
Jahren  überlegen,  was  namentlich  im  Saargebiet,  obwohl  ihm  hier  viel 
Kraft  zugewandt  wurde,  empfunden  wurde. 

1845  blieb  bezüglich  der  Garnzölle  auf  der  Zollkonferenz  in 
Karlsruhe  alles  in  der  Schwebe.  Noch  einmal  wollten  die  Parteien 
nicht  ein  Jota  preisgeben.  Intrigen  des  Auslandes  hatten  mitgewirkt. 
„Es  erscheint  fast  als  ein  unverkennbarer  Hohn",  schreibt  W.  Weber 
in  seiner  Zollvereinsgeschichte,  „daß,  als  das  negative  Resultat  der 
Konferenz  bekannt  wurde,  der  englische  Gesandte  plötzlich  alle  Kon- 
ferenzbevollmächtigte zu  einem  Diner  im  Gasthause  zum  Englischen 
Hof  in  Karlsruhe  einlud".  Die  Geladenen  hatten  jedoch  einmütig  den 
Takt,  abzusagen,  worin  man  eine  gute  Vorbedeutung  für  die  weiteren 
Verhandlungen  erblickte,  die  1846  in  Berlin  unter  glücklicher  Mäßigung 
auf  allen  Seiten  geführt  wurden.  Endlich  schien  man  sich  des  trau- 
rigen Schauspiels  innerer  Zerrissenheit  vor  dem  Auslande  zu  schämen. 
So  wurde  denn  der  Eingangszoll  für  rohes  ein-  und  zweidrähtiges,  ge- 
zetteltes Baumwollgarn  von  2  auf  3  Tlr.  erhöht.  Gebleichtes  und  ge- 
zwirntes Garn,  das  nur  in  geringen  Mengen  einging,  kam  von  6  auf 
8  Tlr.  Der  Leinenindustrie  wurde  ein  stärkerer  Schutz  als  bisher  für 
Maschinengarn  von  2  gegen  i  Tlr.  gewährt.  Auch  die  übrigen  Lein- 
wandwaren erhielten  in  neuen  Zöllen  eine  geringe  Aufmunterung. 
Der  sonstige  Tarif  wurde  nur  um  einige  Kleinigkeiten  abgeändert. 
Da  nun  die  Preise  vieler  Fabrikate  unter  dem  Fortschritt  der  Technik 
und  der  Verbilligung  der  Rohstoffe  gefallen  waren,  wurde  der  auf- 
recht erhaltende  Gewichtszoll  ein  vermehrter  Schutz,  der  in   einzelnen 

6* 


84  IJ^I-  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1833  — 1848. 

Fällen  auf  das  Doppelte  gegen  früher  berechnet  wurde.  Unter  ihm 
vermochte  manches  Gewerbe  in  den  nächsten  20  Jahren   zu    erblühen. 

In  schutzzöllnerischen  Kreisen  stützte  man  sich  mit  Vorliebe  auf 
Fr.  Lists  1841  erschienenes  Hauptwerk  „Das  nationale  System  der 
politischen  Ökonomie",  welches  wegen  der  Prägnanz  seines  Stiles  und 
seiner  agitatorischen  Schlagworte  hierfür  hervorragend  geeignet  war. 
Es  gehört  gleichzeitig-  zu  den  originellsten  theoretischen  Untersuchungen 
der  Nationalökonomie,  die  Deutschland  hervorgebracht  hat. 

Die  herrschende  Lehre,  sowohl  auf  den  Universitäten  als  auch 
in  den  Beamtenkreisen,  war  die  englische,  wie  sie  von  Smith  be- 
gründet, von  Malthus  und  Ricardo  fortgebildet  worden  war.  Hatten 
die  Deutschen  zwar  eine  größere  Reihe  von  Einzelheiten  des  Systems 
als  für  ihre  Heimat  nicht  passend  abgelehnt  und  namentlich  in  der 
Volkswirtschaftspolitik,  die  sie  der  reinen  Theorie  gegenüberstellten, 
den  individualistischen  Radikalismus  verworfen,  so  blieb  doch  auch 
hier  das  Prinzip  des  staatlichen  Nichteingreifens  in  die  wirtschaftlichen 
Dinge  die  allgemeine  Regel,  der  jedoch,  nicht  gerade  konsequent,  viele  Aus- 
nahmen gegenüber  standen.  Die  eigentliche  Bedeutung  solcher  Männer, 
wie  J.  F.  E.  Lotz,  GrafJ.  Soden,  L.  H.  v.  Jakob  und  J.  G.  H o f  f - 
mann  liegt  in  ihren  sorgfältigen  Monographien,  von  denen  die  des 
letzteren  über  das  Geld-  und  Steuerwesen  über  ihre  Zeit  hinaus  Aner- 
kennung behaupteten.  Als  bedeutende  Systematiker  traten  F.  B.  W.  Her- 
mann mit  seinen  Staatswirtschaftlichen  Untersuchungen  1832  und  K.  H. 
Rau  mit  dem  Lehrbuch  der  politischen  Ökonomie  1826  hervor,  dessen 
spätere  Auflagen  bis  in  die  sechziger  Jahre  das  Kompendium  für  die  Stu- 
dierenden blieb.  Des  ersteren  auf  dem  wirtschaftlichen  Prinzip  des 
kleinsten  Mittels  logisch  aufgebaute  abstrakte  Theorie  der  Produktion 
und  der  Verteilung  der  Güter,  die  Analyse  des  Vermögens  und  des 
Verbrauchs,  die  Korrektur  des  Triebes  des  Selbstinteresses  durch  den 
Gemeinsinn  sind  noch  heute  für  jeden  Nationalökonomen  als  Schule 
des  Denkens  wertvoll. 

Die  Nationalökonomie  hatte  jedenfalls  angefangen,  sich  einer 
deutschen  Eigenart  dadurch  bewußt  zu  werden,  daß  sie  im  Gegensatz 
zu  der  englischen  nicht  bloß  die  unmittelbar,  sondern  auch  die  mittelbar 
wirkenden  Kräfte  im  Wirtschaftsleben,  nicht  bloß  den  Reichtumszweck, 
sondern  auch  andere  Ziele  des  nationalen  Daseins,  daß  sie  die  Pflichten 
des  Staates  gegen  die  Gesellschaft  und  der  einzelnen  gegen  den  Staat 
betonte,  wobei  sie  sich  nicht  der  Philosophie  ihres  Zeitalters,  Fi  cht  es, 
Hegels,  Schellings  entzog. 

Zu  einer  grundsätzlichen  Kritik  der  englisch-liberalen  Schule 
—  der  französische  Sozialismus  und  Sismonde  de  Sismondi  waren  ohne 
sichtbaren  Einfluß  geblieben  —  kam  es  erst  nach  den  vergessenen, 
oben  genannten  Versuchen   von  Adam  Müller   durch  Fr.  List,   von 


II.  Die  Fortbildung  des  Zollvereins.     Die  Industrie.  85 

dem  die  Nationalökonomie  Smiths  als  kosmopolitisch,  materialistisch 
und  individualistisch  beurteilt  wurde.  Der  positive  Ausgangspunkt  der 
Volkswirtschafts -Wissenschaft  könne  nie  der  einzelne  Mensch  mit 
seinen  Trieben  sein,  sondern  die  Nation,  die  ihre  höchste  Form  der 
Stufen  der  Entwicklung:  des  wilden  Jäger-  und  Fischerzustandes, 
Hirtenstandes,  Agrikulturzustandes,  Agrikulturmanufaktur-,  Agrikultur- 
manufakturhandelsstandes  erreichen  müsse.  Damit  ist  eine  geschichtlich 
soziale  Auffassung  vorgezeichnet,  die  in  der  Gegenüberstellung  der 
Theorie  der  Werte  und  der  produktiven  Kräfte  einen  Ausdruck  findet. 
Jene,  d.  h.  die  liberale,  rechnet  mit  dem  höchstmöglichen  Reichtum, 
der  in  der  Gegenwart  zu  erzielen  ist,  sei  es  auch  auf  Kosten  der  Zu- 
kunft, diese  will  alle  ethischen,  nationalen,  geistigen  und  materiellen 
Faktoren  eines  Volkes  in  den  dauernden  Dienst  der  Volkswirtschaft 
stellen,  um  diese  produktiv,  zeitgemäß  fortschreitend  ausbilden  zu 
können.  Man  wird  nicht  zu  übersehen  haben,  daß  man  die  Abschätzung 
in  Werten  zu  Vergleichen  durchaus  aufrecht  erhalten  kann,  ohne  dabei 
die  produktiven  Kräfte  in  Theorie  und  Praxis  zu  vernachlässigen. 
Wogegen  List  sich  wendet,  ist  die  einseitige  materialistische  Wert- 
zielsetzung, der  alles  untergeordnet  wird.  Gegen  die  Listsche  Stufen- 
lehre ist  eingewandt  worden,  daß  sie  der  wirklichen  Geschichte  Gewalt 
antue  und  von  He  gelschen  Abstraktionen  angesteckt  sei.  Die  Kon- 
struktion sei  willkürlich,  ohne  Abschluß,  auf  letzter  Stufe  eine  Ver- 
allgemeinerung neuzeitiger  Verhältnisse,  besonders  englischer,  die  für 
andere  Geschichtsepochen  nicht  passe.  Es  ist  z.  B.  richtig,  daß  in 
Nordamerika  keine  Hirten  und  Nomaden  aus  den  Jägern  hervor- 
gegangen sind,  oder  daß  die  antike  Welt  den  Handels-  und  Industrie- 
staat nicht  hervorgebracht  hat.  Allein  man  wird  doch  zugeben,  daß 
die  aufeinander  geschichtlich  folgenden  Zustandsschilderungen  Neues 
für  die  Volkswirtschaftslehre  gebracht  haben,  wenn  auch  Korrekturen 
am  einzelnen  vorzunehmen  sind,  und  daß  solche  Entwicklungseinsichten 
auch  des  praktischen  Nutzens  in  der  Politik  nicht  ermangelt  haben. 

Eine  weltbürgerliche  Epoche  des  Wirtschaftslebens  liegt  nach 
List  in  so  nebelhafter  Ferne,  daß  man  für  absehbare  Zeiten  nicht  mit 
ihr  zu  rechnen  braucht.  Die  Wirklichkeit  gehört  den  nationalen 
Volkswirtschaften.  Freihandel  und  Schutzzoll  sind  nur  Mittel  für  deren 
Ausbildung.  Den  letzteren  braucht  gegenwärtig  der  Zollverein  gegen 
das  überlegene  Ausland.  Er  wird  auch  als  Erziehungszoll  zur  inter- 
nationalen Verkehrsfreiheit  charakterisiert,  worin  indessen  nicht  viel 
anderes  als  eine  taktische  Wendung,  ein  Entgegenkommen  gegen  die 
damals  verbreitete  freihändlerische  Stimmung  zu  sehen  ist.  Die  hei- 
mische Industrie  mit  der  stärkeren  des  Auslandes  konkurrenzfähig  zu 
machen,  ist  denkbar,  wenn  man  von  bestimmten  Zeitverhältnissen  den 
Ausgang  nimmt.     Sie  ist  aber  keinem  kurzlebigen  Individuum  zu  ver- 


86  III.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1833— 1{ 


gleichen,  das  man  in  10  oder  15  Jahren  für  das  Leben  erziehen  kann. 
Sie  schreitet  voran  oder  bleibt  zurück,  bald  wird  dieses,  bald  jenes 
Land  an  der  Spitze  stehen.  Die  Schwächeren  werden  sich  immer  zu 
wehren  suchen.  Ein  ewig  dauernder  internationaler  Freihandel  wäre 
zudem  das  Ungeschichtlichste,  das  man  ausdenken  könnte,  er  würde 
einen  ökonomischen  und  technischen  Stillstand  voraussetzen,  was  dem 
volkswirtschaftlichen  Selbstmord  gleichkäme. 

Es  wurde  oben  betont,  wie  sehr  finanzielle  Erwägungen  das  Zu- 
standekommen des  Zollvereins  gefördert  hatten.  Von  den  Erträgen 
entfielen  rund  ^s  ^"^  Jahre  1845  auf  Finanzzölle,  auf  Zucker,  Kaffee, 
Tabak,  Wein  usw.,  5%  auf  geschützte  heimische  land-  und  forst- 
wirtschaftliche Produkte,  28%  auf  industrielle.  Die  Bruttoeinnahme 
an  Eingangs-,  Ausgangs-  und  Durchfuhrzöllen  hatte  sich  von  1834  bis 
1845  von  145 15  722  Tlr.  auf  27422535,  d.  h.  im  Verhältnis  von  100 
zu  189  gesteigert,  während  die  Bevölkerung,  die  natürliche  und  die 
durch  Anschlüsse  gewonnene,  ein  solches  von  100  zu  121  ergab.  Die 
gemeinsamen  Ausgaben  für  Grenzschutz  waren  von  Ye  ^"f  Yil>  der 
Bruttoeinnahme  gesunken.  Aus  diesen  Angaben  folgte,  daß  sich  die 
Nettoeinnahme  auf  den  Kopf  von  15  Sgr.  und  7  Pfg.  auf  26  Sgr. 
und  5  Pfg.  erhöht  hatte.  Die  allgemeine  Wohlstandssteigerung  äußerte 
sich  in  dem  zunehmenden  Verbrauch  ausländischer,  finanziell  belasteter 
Waren.  Die  Einfuhr  von  Kolonialzucker  war  um  146,44,  von  Kaffee 
um  96,53,  Gewürzen  um  82,40,  Südfrüchten  um  46,38,  Reis  um  142,24, 
Kakao  um   188,58*^/0  vermehrt  worden. 

Die  Verteilung  der  Zolleinnahmen  hatte  sich  so  gestaltet,  daß  in 
den  1 2  Jahren  Preußen,  Sachsen,  Braunschweig,  Frankfurt  a.  M.  46  832  895 
Tlr.  herausgezahlt  hatten,  welche  Summe  Bayern,  Württemberg,  Baden, 
die  beiden  Hessen,  Thüringen,  Nassau  und  Luxemburg  erhielten.  Die 
fordernden  Staaten  hatten  also  kein  schlechtes  Geschäft  gemacht,  wenn 
man  auch  nicht  übersehen  darf,  daß  mancherlei  Ware,  deren  Zoll  z.  B. 
an  preußische  Zollämter  gezahlt  wurde,  nach  Süddeutschland  im 
Wege  des  Handels  weitergegangen  ist,  wobei  die  Abgabe  von  dem 
dortigen    Verbraucher    dem   Importeur  zurückerstattet   werden   mußte. 


Die  Industrie  hatte  in  dem  hier  geschilderten  Zeiträume  manche 
Verbesserungen  und  Erweiterungen  durchgemacht.  Der  Übergang  von 
der  Hand-  zur  Maschinenarbeit  wird  andauernd  berichtet.  Technische 
Schulen  wurden  eröffnet,  die  Fabrikanten  bereisten  das  Ausland,  vor 
allem  England,  um  die  dortigen  Methoden  zu  erforschen.  Maschinen 
wurden  von  dort,  auch  von  Belgien  und  Frankreich  bezogen,  ausnahms- 
weise erst  im  Inland  gebaut.  Die  preußische  Statistik  zeigt  die  ge- 
ringe Anzahl  von  Dampfmaschinen  des  Jahres  1837,  zugleich  ihre 
rasche  Vermehrung  bis   1849: 


II.  Die  Fortbildung  des  Zollvereins.     Die  Industrie.  ß«? 

Dampfmaschinen  in  Preußen: 

1837          1843  1849 

Stehende  Maschinen  .     .     .     .     41g           863  i444 

Dampfwagen —           149  429 

Dampfschiffe 4             79  90 

Die  Fortschritte  der  einzelnen  Geschäftszweige  sind  in  dieser  Jugend- 
zeit der  deutschen  Industrie  sehr  ungleiche  gewesen,  wie  das  bei  der 
Auflösung  der  alten  Zeit  mit  ihrem  Widerstände  gegen  Neuerungen 
nicht  wohl  anders  sein  konnte.  Auch  Rückständigkeiten  sind  nicht 
ausgeblieben. 

Einst,  bis  zum  Ende  des  1  S.Jahrhunderts,  genoß  das  deutsche  L  e  i  n  - 
wandgewerbe  in  ganz  Europa  eines  hohen  Ansehens  und  versandte 
sogar  in  fremde  Erdteile,  nachdem  der  Patriot  und  Kaufmann  Hasen- 
klever  im  schlesischen  Riesengebirge  einen  verbesserten  Flachsbau 
und  eine  Legart  und  Appretur  der  Leinwand  im  Geschmack  aus- 
wärtiger Verbraucher  eingeführt  hatte.  Machte  auch  bald  die  baum- 
wollene Ware  der  leinenen  Konkurrenz,  so  konnte  darin  doch  nicht 
der  entscheidende  Grund  des  Darniederliegens  der  Leinenfabrikation 
nach  18 15  erblickt  werden,  da  sie  sich  in  England,  Irland  und  Belgien 
gehalten  hatte.  Vielmehr  war  die  in  Handspinnerei  und  Handweberei 
beharrende  altmodische  Betriebsweise  die  Fessel  der  ganzen  Betriebs- 
weise. Der  Niedergang  übertrug  sich  auch  auf  den  Flachsbau,  von 
dem  die  Landwirte  sich  zurückzogen,  als  sie  keine  zahlungsfähigen, 
regelmäßigen  Käufer  mehr  fanden.  Obwohl  das  deutsche  Land  für 
diese  Rohstofferzeugung  wohl  geeignet  war,  reichte  sein  Angebot  für 
die  sinkende  Nachfrage  nicht  einmal  mehr  aus,  und  die  Einfuhr  von 
Rußland  und  Österreich  entmutigte  die  Landwirte  von  neuem.  Die 
Bemühungen  der  Regierung,  in  den  vierziger  und  fünfziger  Jahren 
den  Flachsbau  zu  heben,  blieben  erfolglos. 

Der  Leinwandweberei  brachte  der  Zollverein  zwar  erweiterten 
Markt,  so  daß  sie,  insbesondere  die  schlesische,  anfangs  mit  dem 
gewährten  Schutz  leidlich  auszukommen  schien.  Die  einst  so  große 
Ausfuhr  war  indessen  verloren  gegangen.  England  hielt  durch  außer- 
ordentliche Zölle  jede  Leinenzufuhr  fern  und  verstand  es,  die  über- 
seeischen Absatzgebiete  sich  zu  sichern.  Spanien,  Belgien,  Rußland 
ließen  ebenfalls  die  deutsche  Ware  nicht  mehr  hinein,  auch  Österreich 
setzte  die  Politik  fort,  die  es  mit  dem  Verluste  Schlesiens  seit  dem 
Hubertusburger  Frieden  befolgte,  siedelte  an  den  Sudeten  Leinwand- 
weber an  und  rächte  sich  für  den  Verlust  der  verlorenen  Provinz  da- 
durch, daß  es  deren  Waren  ins  eigene  Land  nicht  hineinließ.  Die 
belgische  Leinwand  hatte  mit  der  Napoleonischen  Vereinigung  Bel- 
giens mit  Frankreich  im  Westen  Fuß  gefaßt  und   behauptete   ihr  Ab- 


III.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1833  —  iJ 


satzgebiet  weiter,  so  daß  die  Schlesier  auch  diesen  unter  dem  Kaiser- 
reich verlorenen  Markt  nicht  wiedergewinnen  konnten.  Ein  Ersatz 
für  alle  solche  Verluste  konnte  in  Deutschland  nicht  gefunden  werden. 
Ein  Teil  der  schlesischen  Weber  ging  zu  einer  wenig  fruchtbaren 
Baumwoll-Handweberei  über.  Die  meisten  verfielen  nach  1830  in  ein 
Elend,  das  sprichwörtlich  geworden  ist,  wenn  von  der  Not  einer  Haus- 
industrie die  Rede  ist. 

Mit  der  Gewerbefreiheit  war  der  binnenländische  Wettbewerb  noch 
verstärkt  worden.  Er  führte  zur  Verschlechterung  und  Verfälschung 
der  Ware  durch  die  Hinzunahme  von  Baumwolle,  worunter  auch  die- 
jenigen litten,  die  zuverlässig  lieferten.  Die  alte  staatliche  Beaufsichtigung 
mit  Schau  und  Stempelung  wurde  daher  1827,  wenn  auch  nicht  obli- 
gatorisch, wieder  aufgenommen,   aber  die  Toten   kehren   nicht   zurück. 

Die  schlimmsten  Zeiten  in  Schlesien  waren  in  den  vierziger 
Jahren,  in  denen  der  Hungertyphus  bei  den  schlechten  Erntejahren 
1846  und  1847  Hunderte  von  Menschen  hinwegraffte,  und  es  zu  einem 
gewaltsamen  Aufruhr  gegen  die  Verleger  kam,  deren  Härte  gegen  die 
armen  Heimarbeiter  nicht  geleugnet  werden  konnte,  die  aber  ihrer- 
seits bei  dem  Absatzmangel  ebenfalls  in  einer  steten  Schwierigkeit 
waren.  Damals  war  der  Tagesverdienst  eines  Webers  2^2 — 3  Sgr. 
für  eine  Arbeit  von  i6  Stunden!  Gar  mancher  war  verschuldet  und 
mußte  seinen  Stuhl  verkaufen,  um  ihn  dann  zu  hohem  Preise  wieder 
zu  mieten.  War  die  Ware  schlecht,  so  machten  die  Mittelspersonen, 
die  Faktoren,  Abzüge,  war  sie  ordentlich,  so  zahlten  sie  um  so 
weniger,  je  mehr  der  Verkauf  stockte  oder  je  mehr  Ellen  ihnen  heran- 
gebracht wurden.  Geldsammlungen,  um  den  notleidenden  Webern  zu 
helfen,  waren  nur  ein  Tropfen  auf  den  heißen  Stein.  Der  Staat  wurde 
angerufen,  und  König  Friedrich  Wilhelm  IV.,  der  nach  Schlesien 
eilte,  um  die  Zustände  in  Augenschein  zu  nehmen,  beauftragte  die 
Preußische  Seehandlung,  Spinnereien  zu  errichten,  in  denen  auch  eine 
Anzahl  der  Unglücklichen  unterkam.  Allein,  wie  Treitschke  im 
5.  Bande  seiner  „Deutschen  Geschichte"  mitteilt,  das  gute  Herz  des 
Königs  fand  wenig  Verständnis  bei  seinen  Räten,  die  ganz  im  Banne 
der  liberalen  Doktrin  lagen  und  von  den  „Naturgesetzen  der  Volks- 
wirtschaft" alles  Heil  erwarteten.  Insofern  hatten  sie  recht,  als  das 
veraltete  System  der  Handarbeit  nicht  mehr  zu  retten  war.  Unter 
den  gegebenen  Verhältnissen  war  weder  von  der  Selbsthilfe  der  Ar- 
beiter noch  von  der  Einsicht  der  Unternehmer  etwas  zu  erwarten. 
Aber  sie  irrten,  wenn  sie  das  Eingreifen  des  Staates  abwiesen.  Nur 
unter  einem  starken,  das  ganze  Gewerbe  erfassenden  Schutzzoll  hätte 
die  Anregung  zur  Gründung  von  neuen  Spinnereien  und  Webereien 
im  großen  mit  zeitgemäßen  Einrichtungen  kommen  können.  Der 
Übergang    würde    für    die    Arbeiterschaft   schmerzhaft    gewesen   sein. 


II.  Die  Fortbildung  des  Zollvereins.     Die  Industrie.  go 

doch  hätte  die  Radikalkur  allein  geholfen,  da  die  Vorbedingungen  für 
die  Neuordnung  des  Gewerbes,  genügend  Arbeitskraft,  Boden  für  die 
Rohstofferzeugung  und,  unter  den  allgemeinen  Fortschritten  des  Zoll- 
vereins, auch  Unternehmungslust  und  Kapital  vorhanden  waren. 

Die  alte  Leinwandspinnerei  stand  schon  unter  dem  Druck 
der  neuen  mechanischen.  In  Bielefeld  wurde  bereits  feineres  Garn 
gesponnen,  und  die  Bleicherei  war  auch  in  anderen  Teilen  Deutsch- 
lands verbessert  worden.  Im  ganzen  war  die  Maschinenspinnerei  je- 
doch rückständig.  1839  zählte  man  in  Preußen  erst  11  Fabriken. 
Bei  der  Schutzzollfrage  von  1842  — 1846  handelt  es  sich  vor  allem  um 
den  Gedanken,  diese  verbesserte  Erzeugung  hochzubringen,  da  die 
Handspinnerei  nicht  mehr  zu  halten  sei.  Die  mechanische  Weberei 
in  Wolle  und  Baumwolle  wurde  als  Beispiel  herangezogen,  wie  sicher 
der  Schutz  gegen  das  Ausland  nützen  könne.  Als  Hauptgegengrund 
wurde  die  Verteuerung  des  Garnes  für  die  Hausweber  geltend  ge- 
macht, obwohl  man  mit  Recht  von  der  anderen  Seite  darauf  hinwies, 
daß  dieses  Gewerbe  nicht  lebensfähig  sei.  Die  oben  erwähnten  Zu- 
geständnisse, 21/2%  Schutz  für  Maschinengarn,  zu  welchem  sich  1846 
die  Generalzollkonferenz  verstand,  waren  jedoch  für  die  mechanischen 
Fabriken  ungenügend,  wie  die  Folgez-eit  lehrte,  so  daß  eine  Neuord- 
nung des  ganzen  Gewerbes  ausblieb. 

Die  Baumwollweberei  war  mehrfach  aus  der  vorgenannten 
Industrie  hervorgegangen.  Sie  hatte  ihren  Sitz  besonders  in  Sachsen. 
Unter  dem  preußischen  Zollgesetz  wurde  sie  auch  im  Rheinland  und 
in  Berlin  lohnend,  so  daß  sogar  eine  bescheidene  Ausfuhr  Platz  ge- 
griffen hatte.  Nach  dem  Eintritt  Sachsens  in  den  Zollverein  erwuchs 
Preußen  ein  Mitbewerber,  dem  durch  den  Übergang  zu  feineren 
Stoffen  und  durch  die  Verbesserung  der  Druckerei,  und  Weberei  be- 
gegnet wurde.  In  der  Lausitz,  in  Schlesien,  Schwaben,  Bayern  ent- 
standen in  dieser  Zeit  größere  Betriebe  mit  guten  Ergebnissen.  Bei 
weitem  das  meiste  verwebte  Garn  war  ausländischen,  besonders  eng- 
lischen Ursprungs.  Die  Mehreinfuhr  betrug  1834  195  728  Ztr., 
1845  545283.  In  Sachsen  und  am  Rhein  waren  unter  der  Kontinen- 
talsperre neben  den  älteren  kleinere  Spinnereien  begründet  worden. 
Der  Schutz  des  Zollvereins  hatte  in  Bayern,  Württemberg,  Baden  durch 
kapitalkräftige  Unternehmer  auch  einige  größere  aufkommen  lassen, 
die  bei  den  niedrigen  Arbeitslöhnen  sich  so  lange  halten  konnten,  bis 
die  englische  Technik  wiederum  einen  Sprung  nach  vorwärts  machte. 
Die  Mehreinfuhr  von  roher  Baumwolle  in  den  Zollverein  belief  sich 
1834  ^uf  155  156  Ztr.,  1845  auf  340969,  aber  die  Transportspesen 
waren  unvergleichlich  höher  als  in  Manchester,  wo  die  Fabrikanten 
zudem  jede  Konjunktur  am  Weltmarkt  ausnützen  konnten,  um  sich 
zu  versorgen.     Nach  der  vorerwähnten  Zollerhöhung  kamen    zunächst 


go  III.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1833 — 1848. 

noch  keine  besseren  Tage  für  die  Spinnereien,  da  die  politischen 
Wirren  von  1848  ihnen  die  so  nötige  Stetigkeit  des  Absatzes  nicht 
gewährten. 

Die  Seide nindustrie  war  unter  dem  Zollverein  vorwärts  ge- 
kommen. Schon  vorher  hatte  sie  in  Crefeld  großes  Ansehen  genossen, 
wo  sie  aus  Haus-  und  Fabrikarbeit  zusammengesetzt  war,  jetzt  schoß 
sie  in  Elberfeld  und  auch  wieder  in  Berlin  kräftig  hervor,  wo  sie 
schon  zu  Friedrich  des  Großen  Zeiten  gepflegt  worden  war. 

In  den  zwanziger  Jahren  war  auf  der  Leipziger  Messe  die 
Cref eider  Ware  der  Züricher  nicht  gewachsen  gewesen,  in  Frankreich 
beherrschte  Lyon  den  Markt,  die  englische  Industrie  war  in  dem 
Färben  der  Foulards  überlegen.  Bei  dem  vergrößerten  deutschen 
Wirtschaftsgebiet  faßten  die  Crefelder  in  Leipzig  bald  wieder  Fuß. 
Die  Rohseide,  die  aus  Italien  und  Österreich  bezogen  wurde,  und  die 
fremden  Gespinste  brachten  1834  eine  Mehreinfuhr  von  6969  Ztr., 
1845  H3Ö8.  In  Crefeld  wurden  1846  8000  Stühle  beschäftigt,  als 
dort  eine  Absatzkrise  durch  den  zeitweisen  Verlust  amerikanischer  und 
orientalischer  Märkte  auftrat.  Die  Stadt  hatte  vorher  jährlich  um 
1  200  Einwohner  zugenommen,  die  Frauenarbeit  war  umfangreich  ge- 
worden. Die  Löhne  waren  rasch  gestiegen,  es  bestanden  20  Färbereien, 
7  Appreturen.  Eine  Webschule  wurde  1839  errichtet,  neue  unter- 
nehmende Häuser  waren  zu  den  alten  hinzugekommen. 

Die  Wollindustrie  —  die  in  Aachen  wurde  in  ihrem  Wieder- 
aufbau bis  1831  oben  erwähnt  —  war  unter  dem  preußischen  Tarif 
hier  und  in  Monjoie,  Eupen,  Burg,  Brandenburg,  Luckenwalde  erblüht, 
und  die  hergestellten  Tuche  gewannen  in  Südwestdeutschland  besseren 
Eingang,  Die  linksrheinischen  Werke  waren  bald  so  erstarkt,  daß  sie 
in  der  Schweiz,  Italien,  Spanien,  in  der  Türkei  und  in  den  Vereinigten 
Staaten  ihre  Ware  zu  vertreiben  wußten.  1841  erschienen  die  Moden- 
und  leichten  Wollstoffe  sogar  auf  dem  belgischen  hochgeschützten 
Markt.  Auch  in  Württemberg  und  Gotha  waren  größere  Betriebe 
entstanden,  und  in  Langensalza  wurde  die  erste  Kammgarnspinnerei 
mit  englischen  Maschinen  eröffnet,  welcher  Vorgang  in  Thüringen 
bald  Nachahmung  fand.  Doch  blieb  die  Kammgarnspinnerei  dauernd 
unter  dem  Druck  der  englischen  Konkurrenz,  der  der  Kapitalreichtum, 
der  nahe  Rohwollmarkt  und  die  Maschinenverbesserungen  zugute  kamen. 

Die  Lederherstellung  war  unter  dem  Niedergang  der  handwerks- 
mäßigen Gerberei  und  der  Erweiterung  des  heimischen  Marktes  auf  eine 
breitere  Grundlage  gehoben  worden,  ohne  daß  sie  ihre  technischen 
Fähigkeiten  verändert  hatte.  Das  französische  Seguinsche  Schnell- 
gerbverfahren bewährte  sich  nicht,  wenn  es  auch  die  Anregung  zu 
späteren  erfolgreichen  Forschungen  geworden  ist.  Die  bedeutendsten 
Gerbereien  waren  am  Rhein  und  an  dessen  Nebenflüssen,  nutzten  das 


II.  Die  Fortbildung  des  Zollvereins.     Die  Industrie.  q  j 


fließende  Wasser  aus,  auf  dem  ihnen  auch  der  wertvolle  Hilfsstoff  aus 
den  nicht  entfernten  Schälwäldern  zugeführt  wurde.  Die  seit  1827 
errichtete  Dampfschiffahrt  versah  sie  auch  mit  Häuten  und  verfrachtete 
ihre  Ware  zum  Verbrauch.  Die  Nachfrage  nach  Leder  war  unter 
dem  Gedeihen  der  Landwirtschaft  durch  den  Bedarf  nach  Gurten, 
Riemen,  Geschirren  belebt  worden.  In  gleicher  Richtung  wirkten  die 
Treibriemen  für  das  anbrechende  Maschinenzeitalter,  das  Schuhwerk 
für  die  reicher  werdende  Bevölkerung,  die  Möbelpolsterung,  die  Aus- 
rüstung der  vergrößerten  Heere,  auch  das  allgemein  rasch  seit  1845 
verbreitete  Lederportemonaie  mit  Stahlbügel  und  der  Lederkoffer. 

Die  Papierfabrikation  wird  im  Zollverein  durch  den  Ausfuhr- 
zoll von  Lumpen  und  Hadern  geschützt.  Vor  183 1  hatte  sie  ihren 
Sitz  nur  in  der  Rheinprovinz,  später  auch  in  Bayern  und  Sachsen. 
Damals  wurden  die  Papiertapeten  zuerst  in  Deutschland  üblich,  deren 
Muster  sich  an  französische  Vorbilder  anlehnten,  während  die  Druck- 
einrichtungen aus  England  geholt  wurden. 

Auch  für  Herstellung  von  Seife,  Kerzen,  Stärke,  Mehl,  Öl, 
Glas,  Ton  waren  bringt  die  Zoll  Vereinsstatistik  günstige  Zahlen.  Die 
Nürnberger  Luxus-  und  Spielwaren  behaupteten  ihren  alten  Ruf, 
nachdem  die  handwerksmäßigen  Betriebe  vielfach  in  die  Form  kleiner 
Fabriken  ausgeweitet  worden  waren,  sowie  ihre  Ausfuhr  nach  Eng- 
land, Italien,  Frankreich,  der  Levante  und  Amerika.  Die  Oberammer- 
gauer,  die  bis  zum  Anfang  des  Jahrhunderts  ihre  Niederlagen  an  Schnitz- 
waren in  Kopenhagen,  Petersburg,  Moskau,  Amsterdam,  Cadix  und 
Lima  behauptet  hatten,  hoben  ihre  Ausfuhr  von  neuem  durch  be- 
güterte Verlagshäuser.  In  der  Tabakfabrikation  drang  die  Zigarre 
ein,  die  den  Pfeifengebrauch  langsam  zurückdrängte.  Noch  1847  kamen 
erst  Vg  cles  verarbeiteten  Tabaks  auf  Zigarren.  In  Baden  war  der 
Produktionsfortschritt  in  Fabrik  und  Hausindustrie  auffällig  verbreitet 
worden.  1834  waren  hier  nur  5 10  Personen  in  der  Zigarrenfabrikation  be- 
schäftigt gewesen,  1861  schon  3592  in  172  Betrieben,  1905  berichtet 
die  Statistik  von  35721  Arbeitern  und  753  Werken.  In  den  Chemi- 
kalien waren  damals  England  und  Frankreich  führend.  Unter  dem 
Zollschutz  wurden  im  Rheinland,  Westfalen  und  Sachsen  mancherlei 
Hilfsstoffe  der  Industrie,  Schwefelsäure,  Alkalien,  P'arben,  Soda,  Ultra- 
marin auch  in  Nürnberg,  hergestellt,  aber  im  Vergleich  zu  dem  für 
den  Weltmarkt  arbeitenden  England  nur  im  kleinen.  Doch  fängt  die 
deutsche  chemische  Wissenschaft  mit  ihrer  Gründlichkeit  schon  an,  im 
Auslande  bemerkt  zu  werden.  Auf  der  Londoner  Weltausstellung  von 
1851  wurde  ein  Vergleich  der  englischen  und  deutschen  chemischen 
Industrie  gezogen.  Von  jener  hieß  es,  daß  sie  nur  wenige  Stoffe  im 
großen  und  billig  zum  Verkauf  bringe,  während  diese  in  ihren  Fa- 
briken allerdings  einige  Stoffe  begünstige,  im  übrigen  bei  ihren  vielen 


92 


III.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1833 — li 


gebildeten  Chemikern  zahlreiche  Waren  der  verschiedensten  Art  liefere, 
wie  in  Farben  und  Arzneistoffen,  in  geringen  Mengen,  aber  guter 
Beschaffenheit. 

Aus  dem  waldreichen  Deutschland  wurde  wie  ehedem  viel  Holz 
auf  dem  Rhein,  der  Weser,  der  Elbe  und  der  Memel  zur  Ausfuhr  ge- 
bracht. Jetzt  zog  die  Zeit  der  Sägemühlen  herauf.  Die  Möbel  stammten 
vorzugsweise  noch  aus  dem  Handwerk,  das  aus  Birnen-  und  Nußholz 
und  aus  importiertem  brasilianischen  Mahagoni  die  Zimmereinrichtung 
im  Biedermeierstil  anfertigte.  Viel  gewöhnliches  Holz  wurde  beim  Herd- 
und  Ofenbrand,  aber  auch  in  der  Metallindustrie  verbraucht.  Seit  der 
Mitte  der  dreißiger  Jahre  wurde  mit  der  Abnahme  des  Holzbestandes 
die  Steinkohle  höher  geschätzt.  Die  Dampfmaschinen  waren  ganz 
auf  sie  angewiesen.  Die  Rheindampfschiffahrt  gebrauchte  nur  Ruhr- 
kohlen, von  denen  Preußen  1828  1689935  Ztr.,  1831  4373147  aus- 
führte. 1839  ^st  die  Gesamtausfuhr  an  Kohlen  aus  dem  Vereinsgebiet 
7  Millionen  geworden,  Schlesien  sorgte  für  den  eigenen  Bedarf.  Sachsen 
bezog  außer  aus  eigenen  Lagern  Braunkohle  aus  Böhmen,  Nord- 
deutschland erhielt  englische  Kohlen,  die  bis  Magdeburg  gingen.  Das 
Gas,  das  1815  schon  London  zur  Nacht  beleuchtete,  vertrieb  erst  1826 
in  dem  nordseenahen  Hannover,  1828  in  BerHn,  I840  in  Leipzig,  1841 
in  Köln  die  an  Ketten  quer  über  die  Straße  hängende  Öllampe.  Die 
Gesamtmenge  der  in  Preußen  geförderten  Steinkohlen  bemißt Dieterici 
1831  auf  7019958,  1842  auf  14900932  To.  Für  die  Braunkohle  sind 
die  entsprechenden  Zahlen    i  719495  und  4431645. 

Von  dem  sonstigen  Bergbau  ist  der  für  Gold  und  Silber  bei 
der  Einfuhr  aus  Amerika  und  Rußland  wenig  lohnend.  Gold  wurde 
noch  im  Rhein,  z.  B.  bei  Bischofsheim  in  Baden,  gewaschen,  Silber 
im  Harz  und  Königreich  Sachsen  aus  Schächten  gefördert.  1831 
kannte  Preußen  eine  Silberproduktion  von  19  031,  1842  von  21  798 
Mark.  Kupfer,  doch  nicht  ausreichend  für  den  heimischen  Bedarf, 
wurde  im  Mansfeldschen  gegraben.  Blei  kam  aus  Spanien,  Zinn  aus 
England.  Zink,  vor  allem  aus  Schlesien,  deckte  die  Nachfrage  des 
Binnenmarktes  und  gelangte  zur  Ausfuhr.  Für  ganz  Preußen  betrug 
1845  die  Rohzinkgewinnung  293752,   1852   794379  Ztr. 

In  die  Eisen-  und  Stahlerzeugung  und  Verarbeitung  geben 
uns  mehrere  statistische  Angaben  einen  Einblick.  Rohstahleisen  und 
Gußwaren  erbrachten  1 83 1  eine  Menge  von  i  24 1  665  Ztr.,  1 842  i  962  1 1 2. 
Dieselben  Gegenstände  mit  Einschluß  des  Stabeisens,  gewalzten  Eisens, 
Eisenblech,  Eisendraht  1842  4315893,  1852  8614278  Ztr.  Nach  einer 
anderen  Aufzeichnung  war  die  Hochofenproduktion  in  Preußen  von 
1834  bis  1847  von  2,69  auf  4,58  Millionen  Ztr.  gestiegen.  Die  Beleg- 
schaft im  gesamten  Bergbau  und  Hüttenbetrieb  des  Staates  gibt  für 
1836  von  Reden  auf  49752,  1847  ^^f  103693  Personen  an,  mit  deren 


II.  Die  Fortbildung  des  Zollvereins.     Die  Industrie.  g^ 

Hilfe  2  1,5  und  48,4  Millionen  Tlr.  Erzeugnisse  am  Ursprungsort  vor- 
handen waren.  Die  Entwicklung  der  Montanindustrie  war  im  Zoll- 
verein durchaus  nicht  gleichmäßig.  In  der  Oberpfalz,  wie  bei  Amberg, 
war  die  Tätigkeit  in  den  staatlichen  und  privaten  Eisenerzgruben  ohne 
Vorwärtsbewegung,  in  den  Hüttenwerken  ging  es  lebhafter  zu,  aber 
bald  häufen  sich  die  Klagen  über  teure  Kohle  und  ungenügende  Ab- 
fuhrverhältnisse. Aus  Schlesien  wurde  1846  kein  Roheisen  ausgeführt, 
da  es  ganz  am  Orte  verhüttet  wurde.  Die  Provinz  wurde  von  dem 
Preisdruck  weniger  mitgenommen  als  der  Westen.  Sie  arbeitete  schon 
mit  Koks,  das  heißt  billiger,  und  war  von  der  belgischen  und  eng- 
lischen Konkurrenz  in  ihrer  Abgeschiedenheit  nicht  überlaufen.  Der 
Eisenbahnbau  von  der  Mitte  der  vierziger  Jahre  an  brachte  Schlesien 
ebenso  wie  dem  preußischen  Westen  lebhafte  Anregung.  Die  Unter- 
nehmung mit  neuen  Rechtsformen,  die  in  Ostdeutschland  nur  langsam 
eindrang  und  nur  zögernd  die  Magnatenbetriebsweise  ersetzte,  wußte 
sich  im  Westen  rascher  heimisch  zu  machen.  Die  Koksöfen  wurden 
erbaut   und    die  Stahlindustrie   nach   englischem    Vorbilde   umgeformt. 

Als  1826  Friedrich  Krupp,  der  Erfinder  des  deutschen  Guß- 
stahles starb,  übernahm  sein  Sohn  Alfred,  14 jährig,  mit  seiner  Mutter 
zusammen  die  Firma,  bei  der  vier  Arbeiter  beschäftigt  waren.  Die 
Gußstahlerzeugung  im  großen  mit  ihren  gewaltigen  technischen  Fort- 
schritten und  die  Verarbeitung  des  Produktes  ist  sein  Lebenswerk. 
Anfangs  war  er  Schmied  und  Schmelzer,  Korrespondent  und  Reisender 
zugleich.  Damals  brachte  er  seine  Gußstahlwalzen  für  die  Gold-  und 
Silberindustrie  und  seine  Münzstempel  zum  Ansehen,  die  er  in  Bayern 
und  Schwaben  absetzte.  Dann  ging  es  schneller  vorwärts.  1835 
war  die  Zahl  der  im  Werke  Tätigen  67,  und  die  erste  Dampfmaschine 
wurde  aufgestellt,  1843  gelang  die  Anfertigung  von  Büchsen-  und 
Pistolenläufen  aus  Gußstahl,  4  Jahre  später  die  von  Geschützrohren, 
184g  von  Eisenbahnwagen-Achsen.  1846  war  der  Betrieb  noch  ein 
mittlerer  mit  122  Arbeitern.  In  dem  nächsten  Jahrzehnt  ging  es  unter 
den  veränderten  Umständen  in  einer  ganz  anderen  Geschwindigkeit 
voran. 

Die  Kleineisenindustrie  am  Rhein,  in  Suhl,  Schmalkalden  hatte 
in  den  zwanziger  Jahren  ihren  halb  handwerksmäßigen,  halb  haus- 
industriellen Charakter  bewahrt.  Im  Zollverein  wurde  bald  die  fabrik- 
mäßige Beschränkung  auf  weniger  Waren  vorteilhaft,  wenn  man  auch 
von  der  damaligen  englischen  Typenbildung  noch  weit  entfernt  war. 
Neue  Waren,  wie  Taschenstahlbügel,  Regen-  und  Sonnenschirmgestelle, 
Zuckerformen  erscheinen  auf  dem  Markte.  Die  Fabrikzeichen  werden 
von  den  Zünften  auf  die  Fabriken  übernommen.  Die  Fall-,  Ruh- 
und  Federhämmer,  die  Schneide-  und  die  Auszahnmaschinen  für  Sägen 
werden   regelmäßige   Bestände    des   Inventars.      Die  Vorbereitung  für 


94 


III.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1833 — li 


den  Weltruf  der  Ganzfabrikate  der  nächsten  Jahrzehnte  war  getroffen 
worden. 

Blicken    wir   auf   die   wirtschaftliche  Gesamtentwicklung  im  Zoll- 
verein zurück,  so  ist  sie  als  eine  günstige  anzusprechen.     Für  16  Waren 
des  Verbrauchs  zusammen  berechnet  Dieterici  den  Geldwert  der  auf 
den  Kopf  der  preußischen  Bevölkerung  entfallenden  Mengen: 
1 806  1 1   Tlr.   1 5  Sgr.  —  Pfg. 

1831  21      „       5      „        9     „ 

1842  22     „       3      „      II     „ 

184g  26     „     21      „        3     „ 

In  dieser  Stufenfolge  wird  die  Zunahme  des  Reichtums  zum  Aus- 
druck gebracht.  Hatte  der  Zollverein  auch  in  der  Zeit  seiner  Krise 
einzelnen  Produzentengruppen  eine  große  Enttäuschung  bereitet,  später 
als  man  eine  Übersicht  über  die  Jahre  1833  bis  1848  hatte,  verschwanden 
die  Beschwerden  in  dem  Fortschritt  des  Ganzen.  Der  innere  Markt 
war  kräftig  entwickelt  worden.  Nur  ein  erheblicher  Mangel  war  fühlbar. 
Das  Vereinsgebiet  hatte  keinen  eigenen  Ausgang  zur  Nordsee.  Die 
Ostsee  nützte  nur  der  ostelbischen  Getreideausfuhr,  allerdings  in  zu- 
nehmender Weise,  als  seit  1844  die  Kornzölle  in  England  gefallen 
waren.  Die  Nordseehäfen  machten  ihr  Hauptgeschäft  in  der  Einfuhr 
und  dem  Zwischenhandel  und  förderten  damals  die  industrielle  Waren- 
verschickung nicht  viel.  Eine  Besserung  für  die  Ausfuhr  brachten 
die  Eisenbahnen,  doch  blieb  die  handelspolitische  Lücke  noch  weiter- 
hin eine  reizbare,  schwache  Stelle  der  sonst  so  segensreichen  Neu- 
schöpfung. 

III.  Landstraßen,  Eisenbahnen,  Schiffahrt.  Der  Deutsche 
Zollverein  hatte  angefangen,  die  Volkswirtschaft  dem  Auslande  gegen- 
über als  ein  Ganzes  zusammenzufassen.  Das  blieb  den  meisten  Zeit- 
genossen in  den  vierziger  Jahren  verborgen,  sie  schätzten  eigentlich 
nur  seine  negative  Wirksamkeit,  die  Beseitigung  der  inneren  Zoll- 
hindernisse. Bei  der  Verbesserung  der  Landstraßen  und  Wasserwege 
und  bei  der  Anlage  der  Eisenbahnen  bewegte  man  sich  in  einer  ähn- 
lichen Gedankenreihe:  Man  hielt  sich  an  ihre  Verkehrserleichterung, 
übersah  ihre  treibende,  positive  Kraft. 

Die  lange  Kriegszeit  hatte  den  Ausbau  der  Landstraßen  hintan- 
gehalten, ihren  Bestand  verfallen  lassen.  Im  Frieden  erkannte  man 
alsbald  die  Notwendigkeit  einer  umfassenden  Straßenpolitik.  Anfang 
1816  betrug  die  Länge  der  vom  preußischen  Staat  unterhaltenen  Straßen 
mit  Steinunterlage  419^4  Meilen,  zu  denen  noch  102^4  andere  öffent- 
liche mit  oder  ohne  Weggelder  hinzukamen.  1831  war  die  staatliche 
Gesamtziffer  auf  1147V8,  1848  auf  1573,  1862  auf  1920,  die  der  kom- 
munalen Chausseen  von  299  des  Jahres  1831  auf  1865  des  Jahres  1862 
gestiegen.      1875  wurden  die  Staatsstraßen  den  Provinzen    überwiesen. 


III.  Landstraßen,   Eisenbahnen,  Schiffahrt. 


95 


Überall  war  es  der  Staat,  der  zum  Bau  den  Anstoß  gab,  die 
private  Tätigkeit  fand  hier  keinen  Gewinn.  Nur  ausnahmsweise  wurde 
die  Verwaltung  von  finanziellen,  der  Regel  nach  von  volkswirtschaft- 
lichen Gesichtspunkten  geleitet.  Das  kam  dadurch  zum  Ausdruck, 
daß  die  Chausseegelder  nach  dem  Gebührenprinzip  erhoben  wurden, 
also  höchstens  die  Kosten  der  Erhaltung  zu  decken  hatten,  während 
die  Aufbringung  der  Baulast  und  der  Zinsen  der  Steuerkasse  anheim- 
fiel. Die  hohen  Ausgaben  bei  der  Gebühreneinziehung,  die  bis  zu 
30%  der  Roheinnahme  verschlangen,  und  die  Überzeugung,  daß  die 
Landstraßen  der  Gesamtheit  so  sehr  nützten,  daß  die  besonderen  Vor- 
teile der  sie  befahrenden  Fuhrleute  dem  gegenüber  ganz  zurücktraten, 
hat  zuerst  in  Süddeutschland  und  später,  im  letzten  Drittel  des  Jahr- 
hunderts, auch  im  Norden  die  Beseitigung  der  Strafdenabgaben  her- 
beigeführt. In  Mecklenburg -Strelitz  sind  sie  erst  19 15  ganz  ver- 
schwunden. 

Auch  der  Zollverein  hatte  eingegriffen  und  den  Beschluß  erreicht, 
daß  die  Gebühren  nicht  über  den  preußischen  Tarif  von  1828  erhöht 
werden  durften.  Gleichzeitig  wurde  durch  seine  Vermittlung  angeordnet, 
daß  Kanal-,  Brücken-,  Hafen-,  Niederlage-Abgaben  nur  nach  Maßgabe 
wirklich  stattgefundenen  Gebrauchs  aufgelegt  werden  sollten. 

Von  Anfang  an  wurden  die  Chausseen  so  fest  errichtet,  daß  sie 
dem  schweren  Massentransport  gewachsen  waren,  anders  als  in  Eng- 
land, wo  die  leichteren  Wege  genügten,  da  große  Mengen  von  Waren 
auf  der  Wasserstraße  verfrachtet  wurden.  Nur  die  Bezirks-  und  Vizinal- 
straßen  wurden  weniger  intensiv  gebaut,  da  sie  einem  geringeren 
Verkehr  ausgesetzt  waren.  Sie  erhielten  meistens  eine  Staatsunterstützung, 
um  rasch  vollendet  zu  werden.  Die  Straßenpolitik  war  eine  wohl- 
überlegte und  richtige. 

Auf  den  Chausseen  bewegten  sich  mit  überspannter  Plane  die 
von  4  oder  6  Pferden  gezogenen  Frachtwagen,  die,  wenn  es  bergauf 
ging,  eines  Vorspannes  bedurften.  Der  Personenverkehr  wurde  gegen 
früher  durch  das  staatliche  Postwesen  erleichtert.  1824  hatte  der 
preußische  Generalpostmeister  Na  gl  er  die  in  England  und  Frankreich 
einige  Jahre  vorher  erprobten  Schnellposten  nach  seinem  Lande 
verpflanzt,  wodurch  die  bisherige  Reisedauer  z.  B.  von  Berlin  nach 
Magdeburg  von  2Y2  Tagen  auf  15  Stunden  abgekürzt  wurde.  Das 
erschien  dem  Reisenden  damals  als  eine  solche  Vollkommenheit,  daß 
man  die  Gegnerschaft  jenes  sonst  verdienstreichen  Mannes  gegen  die 
Eisenbahnen  vielfach  teilte,  da  sie  das  große  Landstraßenkapital  zu 
entwerten  drohten. 

Die  Chausseen  gaben  einer  Menge  von  Menschen  Verdienst, 
den  Fuhrmännern  und  den  beliebten  Postillonen  mit  dem  Posthorn, 
den  Straßenarbeitern    und    den    Gebühreneinnehmern,    den  Fuhrhaltern 


q5  III.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1833— 1848. 

und  den  Wirten,  die  meist  in  einer  Person  vereinigt  waren.  Noch 
heute  findet  man,  besonders  in  Bayern,  die  alten  weiten  Gasthöfe  mit 
ihren  großen  Ställen,  die  ehemals  gedrängt  vollgestanden  hatten,  wo 
eine  Reihe  von  Frachtwagen  des  Nachts  vor  dem  Hause  Halt  machte, 
in  dem,  wie  es  Ludwig  Thoma  von  „Altaich"  beschreibt,  „von  4  Uhr 
morgens  angezapft,  der  Kessel  mit  Voressen  ans  Feuer  gerückt  wurde, 
und  den  Hausknechten  die  Säcke  von  den  Trinkgeldern  wegstanden". 
Dieser  ganze  Kreis  von  Leuten,  die  an  der  Landstraße  ihre  Lebens- 
quelle fanden,  erhob  gegen  jede  Abänderung  des  Bestehenden  heftigen 
Einspruch,  und  die  väterlichen  Landesregierungen  hatten  für  ihn  ein 
warmes  Herz. 

Mit  dem  Zollverein  erwuchsen  dem  Straßenbau  insofern  neue 
Aufgaben,  als  die  alten  Warenzüge  sich  verschoben  und  bei  der  inneren 
Verkehrsfreiheit  jetzt  an  die  direkten  nächsten  Linien  zwischen  den 
großen  Orten  gedacht  werden  mußte.  Dieser  Anlageplan  konnte  weiter- 
hin nicht  derselbe  bleiben,  als  die  Eisenbahnen  den  Hauptverkehr  über- 
nahmen. Er  wurde  zu  einer,  wenn  auch  wichtigen  Ergänzung  des 
eisernen  Wegenetzes  und  hatte  zugleich  sich  den  Bedürfnissen  des 
Nahverkehrs  anzupassen. 

Die  ersten  Eisenbahnen,  die  in  Deutschland  gebaut  wurden, 
hielt  man  nur  für  Personenbeförderungsmittel.  Man  hatte  abgezählt, 
wie  viele  Menschen  sich  täglich  durchschnittlich  auf  der  Straße  von 
Nürnberg  nach  Fürth  bewegten  und  berechnete  aus  der  gewonnenen 
Zahl  die  künftige  Rentabilität  der  Linie.  Erst  im  zweiten  Jahre  des 
dortigen  Betriebes  wurde  eine  bescheidene  Güterverfrachtung  versucht. 

Wie  wenig  man  von  den  neuen  Transportmitteln  erwartete,  er-» 
sehen  wir  u.  a.  daraus,  daß  sich  Fr.  von  Reden,  der  als  unermüd- 
lich tätiger  Statistiker  und  weitgehende  Pläne  hegender  National- 
ökonom wertvolle  Nachrichten  über  die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte 
hinterlassen  hat,  hinsichtlich  des  Landes,  in  dem  er  beamtet  gewesen 
war,  1839  so  aussprach:  „daß  von  jeher  ihm  als  Hannoveraner  die 
Anlage  von  Eisenbahnen  durch  das  Königreich,  namentUch  in  der 
Richtung  von  Norden  nach  Süden,  nur  dann  gerechtfertigt  erscheine, 
wenn  sie  als  eine  —  unangenehme  —  Notwendigkeit  sich  darstellte". 
Reden  (1804—1857)  trat  1837  in  die  preußische  Verwaltung  über, 
wurde  aber  1848,  als  er  im  Frankfurter  Parlament  zu  der  linken  Seite 
des  Hauses  gehalten  hatte,  auf  Wartegeld  gesetzt.  Er  schrieb  nicht 
nur  über  Deutschland,  sondern  auch  über  Rußland,  Amerika  und  Frank- 
reich. Sein  bekanntestes  Buch  ist  geworden:  „Die  Erwerbs-  und  Ver- 
kehr sstatistik  des  Königsstaates  Preußen  1853 — 1854",  das  uns  weiter 
unten  als  Quelle  dienen  wird. 

Der  Ausspruch  König  Friedrich  Wilhelms  IIL:  „Kann  mir 
keine   große  Glückseligkeit  vorstellen,   ob  man    einige  Stunden  früher 


III.  Landstraßen,  Eisenbahnen,  Schiffahrt. 


97 


in  Potsdam  ankommt  oder  nicht",  und  der  seines  Generalpostmeisters: 
,,daß  er  täglich  diverse  Sechssitzposten  nach  Potsdam  gehen  lasse, 
und  es  sitze  niemand  darin,  und  nun  wollten  die  Leute  noch  gar  eine 
Eisenbahn  bauen",  ist  ganz  von  den  irrigen  Vorstellungen  getragen, 
erstens,  daß  die  Bahn  höchstens  für  den  Personenverkehr  tauge,  und 
zweitens,  daß  man  von  dem  bestehenden  Verkehr  auf  der  Landstraße 
ausgehen    müsse,   um    den   künftigen   auf  der  Eisenbahn   zu   ermitteln. 

Daß  man  schneller  als  früher  fuhr,  wurde  ohne  weiteres  eingesehen, 
bald  überzeugte  man  sich  von  der  größeren  Billigkeit,  später  von  der 
größeren  Zuverlässigkeit,  häufigeren  Gelegenheit  und  Regelmäßigkeit 
der  Verbindung.  Dann  übertrug  man  die  gewonnene  Einsicht  auf 
den  Güterverkehr.  Man  hatte  nur  privatwirtschaftlich  gedacht,  als 
man  sich  die  Beseitigung  der  bestehenden  Transporthindernisse  ver- 
rechnete. Das  volkswirtschaftliche  Verständnis,  das  schon  List  auf 
Grund  seiner  amerikanischen  Erfahrungen  zum  Ausdruck  gebracht 
hatte,  brach  sich  erst  langsam  Bahn.  Durch  die  verbesserten  Fahr- 
mittel wächst  der  Personenverkehr  schon  deshalb,  weil  er  weniger 
Zeit  als  ehedem  in  Anspruch  nimmt,  und  vor  allem  weil  der  aus 
ihnen  steigende  Güterverkehr  und  der  wachsende  Reichtum  mehr  Ge- 
schäfts- und  Vergnügungsreisen  nach  sich  ziehen.  Für  Waren  jeder 
Art  wird  die  billige  Verfrachtung  eine  Markterweiterung,  und  je  größer 
der  Markt  ist,  um  so  umfangreicher  und  spezialisierter  wird  die  Güter- 
erzeugung werden.  Durch  den  regelmäßigen  und  großen  Fernaustausch 
entsteht  zudem  eine  örtlich  befestigte,  produktive  Gliederung  der  ver- 
schiedenartigen Gewerbe,  wenn  auch  unter  natürlich  bedingter  oder 
geschichtlich  erworbener  Sonderheit.  Soweit  eine  solche  Schichtung 
nicht  alsbald  Platz  greift,  setzt  der  Fernwettbewerb  ein,  der  um  so 
weiter  ausholt,  je  schneller  und  billiger  sich  die  Verschickung  der 
Waren  gestaltet.  Seine  Wirkungen  sind  nicht  immer  frei  von  sozialen 
Bedenken  gewesen,  vom  Standpunkt  der  Gütererzeugung  war  hier  der 
mannigfache,  überwiegende  Vorteil  nicht  zu  verkennen. 

Der  wirtschaftliche  Aufschwung  infolge  vergrößerten  Absatzes 
setzte  die  Fähigkeit  der  Menschen  und  Naturkräfte,  mehr  als  bisher 
leisten  zu  können,  voraus.  Dem  war  auch  so.  Land-  und  Forstwirt- 
schaft, Bergbau  und  Fischerei  waren  schon  vor  der  Eröffnung  der 
Eisenbahnen  örtlich  oft  über  den  Bedarf  ergiebig,  während  in 
wenig  Meilen  Entfernung  Mangel  herrschte.  Jetzt  kam  der  Ausgleich. 
1817  hatte  der  Scheffel  Weizen  66 Y2  Sgr.  und  ein  Scheffel  Roggen 
75V3  ^S^-  niehr  im  Rheinland  als  in  Posen  gekostet,  bei  einem  Durch- 
schnittspreis in  der  Monarchie  von  122  bzw.  85^3  Sgr.  1853  waren 
die  Unterschiede  nur  17  und  23,  obwohl  der  Preis  im  ganzen  gestiegen 
war.  Zu  denselben  Kosten  konnte  der  Weizen  damals  auf  60 — 80 
Meilen  mit  der  Bahn  befördert  werden  wie  auf  der  Chaussee  auf  10 — 15, 

A.  S  a  r  t  o  r  i  u  s  v.  W  a  1  t  e  r  s  h  a  ii  s  e  n  ,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.      ' 


q3  III.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1833  — 1848, 

SO  daß  weit  abgelegene  Landgüter  auf  dem  nationalen  und  Weltmarkt 
konkurrenzfähig  wurden. 

Neue  Bedürfnisse  entstehen  und  werden  befriedigt,  bisher  unbe- 
kannte Gegenstände  werden  angeboten.  Das  Volk  verbindet  sich  durch 
ungezählte  wirtschaftliche  Wechselwirkungen  und  wird  zu  einem  Ge- 
sellschaftskörper, in  dem  sich  ebenso  wie  stoffliche  auch  geistige  Güter 
bewegen.  Die  Ideen  wandern  schnell  von  Ort  zu  Ort  und  in  bisher 
abgelegene  Gegenden.  Gewiß,  die  radikalen  ebenso  wie  alle  anderen 
daher  sich  Moralprediger  und  Pfaffen  über  die  gefährlichen  Tendenzen 
der  neuen  Verkehrsmittel  oft  genug  entrüstet  haben.  Allein  der  prak- 
tische Nutzen  war  bald  so  groß,  daß  man  sich  lächerlich  machte,  wenn 
man  gegen  den  Strom  anschwimmen  wollte.  So  hieß  es  noch  1848 
in  der  „Schwäbischen  Dampfhymne"  der  FHegenden  Blätter: 

Und  wia  nur  die  Eisabah 
Gar  so  dundrisch  sausa  ka! 
Freilich  sey's  im  Büachla  z'finda, 
Daß  der  Deufel  steck  dahinda.  — 
Doch  dös  ficht  mir  Keiner  a: 
Isch  vom  Deufel,  wia  mar  leasa, 
Isch  koi  dummer  Deufel  geweasa! 

Daß  das  Bewußtsein  der  wirtschaftlichen  Zusammengehörigkeit 
auch  zu  einem  nationalpolitischen  werden  muß,  hat  schon  Goethe 
ausgesprochen,  in  einem  Wort,  das  uns  Eckermann  aus  dem  Jahre 
1828  aufbewahrt  hat:  „Mir  ist  nicht  bange,  daß  Deutschland  nicht  eins 
werde;  unsere  guten  Chausseen  und  künftigen  Eisenbahnen  werden 
schon  das  ihrige  tun.  Vor  allem  aber  sei  es  eins  in  Liebe  untereinander, 
und  immer  sei  es  eins,  daß  der  deutsche  Taler  und  Groschen  im  ganzen 
Reiche  den  gleichen  Wert  habe;  eins,  daß  mein  Reisekoffer  alle  36 
Staaten  ungeöffnet  passieren  könne". 

Die  Prophezeiung  ist  eingetroffen,  mochten  auch  noch  einige 
Jahrzehnte  vorüberziehen.  Der  politische  Partikularismus  war  dem 
heraufkommenden  Eisenbahnwesen  ein  schweres  Hemmnis.  Denn  alle 
Anlagen  vollzogen  sich  ohne  den  Plan  eines  deutschen  Gesamtnetzes, 
jeder  baute  auf  eigene  Faust,  nicht  einmal  die  notwendigsten  Transit- 
und  Anschlußlinien  kamen  anfangs  folgerichtig  zustande.  Jeder  Staat 
hatte  seine  eigene  Meinung  über  Konzessionswesen,  Oberaufsicht, 
Staats-  und  Privatbetrieb  und  Tarifgestaltung.  Von  allen  Ländern 
konnte  nur  Preußen  leidlich  im  großen  und  ganzen  arbeiten. 

List  hatte  schon  1831  ein  nationaldeutsches  Bahnsystem  ersonnen, 
welches  seinen  Mittelpunkt  in  Leipzig,  der  wichtigsten  Stadt  des 
damahgen  Binnenhandels,  haben  sollte.  Sein  Entwurf  (die  Karte  ist  zu 
finden  bei  A.  von  Mayer,  Geschichte  und  Geographie  der  deutschen 
Eisenbahnen  1891)  erfaßtö  mit  genialer  Sicherheit,  was  später  nach 
mühsamem    und    kostspieligem    Ausprobieren    und    harten    Meinungs- 


III.  Landstraßen,  Eisenbahnen,  Schiffahrt. 


99 


kämpfen  endlich  begriffen  wurde.  Der  Deutsche  Bund  war  zu  ohn- 
mächtig, um  einen  wahrhaft  produktiven  Gedanken  zur  Erwägung  zu 
stellen,  der  Zollverein  in  seinen  Aufgaben  zu  beschränkt,  um  sich  an 
ein  solches  Werk  heranwagen  zu  können.  Bis  1846  sind  in  verschiedenen 
Teilen  Deutschlands  Linien  dem  Verkehr  übergeben  oder  bewilligt 
worden,  welche  Städte,  die  meist  nicht  weit  voneinander  entfernt  liegen, 
miteinander  verbinden:  1838  Berlin — Potsdam,  Braunschweig — Wolfen- 
büttel, Düsseldorf — Erkrath  eröffnet,  1839  Leipzig — Dresden  ebenfalls, 
1840  Leipzig — Magdeburg,  München — Augsburg,  Heidelberg — Mann- 
heim, Frankfurt — Mainz  desgleichen,  Bonn— Köln,  Berlin^ — Stettin  ge- 
nehmigt, 1841  Berlin — Anhalt  Köthen,  Düsseldorf — Elberfeld,  Köln — 
Aachen  eröffnet,  Berlin — Frankfurt  a.  d.  O.,  die  oberschlesische  Bahn, 
Breslau — Schweidnitz  genehmigt,  1842  Magdeburg — Halberstadt  ebenso, 
Leipzig- Altenburg  eröffnet,  1843  die  rheinische  Bahn,  Hannover — 
Lehrte  eröffnet,  Leipzig — Hof  und  die  niederschlesisch-märkische  ge- 
nehmigt, 1844  Hannover — Braunschweig,  1845  Cannstatt — Untertürk- 
heim eröffnet,  1844  die  bergisch-märkische,  die  thüringische,  die  nieder- 
schlesische,  die  Wilhelmsbahn,  Kosel — Oderberg,  Dresden — Görlitz, 
1845    Berlin — Hamburg,   Loeben — Zittau,    Chemnitz — Risa   genehmigt. 

Je  mehr  dieser  Einzelstrecken  wurden,  um  so  dringender  wuchs 
das  Bedürfnis  ihres  Anschlusses  aneinander.  Zugleich  wurde  auch  die 
Verbindung  mit  dem  Ausland  erwünscht.  In  der  zweiten  Hälfte  der 
vierziger  Jahre  lassen  sich,  bestimmt  durch  ihr  eigenes  Gebiet,  vier  Gruppen 
von  Linien  unterscheiden:  die  nord-mitteldeutsche  mit  dem  Mittelpunkt 
Berlin,  die  niederrheinische  mit  Köln,  die  südwestdeutsche,  von  Frank- 
furt a.  M.  sich  südlich  hinziehende,  und  die  bayerische  mit  München 
und  Nürnberg.  1847  wurde  die  erste  und  zweite  durch  die  Köln — 
Mindener  und  die  hannoversche  Staatsbahn,  die  bayerische  1851  mit 
der  nord-mitteldeutschen  durch  die  Strecke  Leipzig — Hof — Lichtenfels, 
und  1854  mit  der  südwestdeutschen  durch  die  Linie  Frankfurt  a.  M.  — 
Hanau- Aschaffenburg — Bamberg,  1859  die  südwestdeutsche  mit  der 
rheinischen  durch  die  Linien  der  rheinischen  Bahn  notdürftig  ver- 
knüpft. 

Mit  Belgien  wurde  der  Anschluß  von  Aachen  her  bei  Herbestal 
schon  1843,  mit  Österreich  von  Kosel  bei  Oderberg  1848,  mit  Frank- 
reich von  Saarbrücken  bei  Forbach  1852,  mit  Holland  von  Wesel  bei 
Emmerich  1856,  mit  der  Schweiz  von  Freiburg  bei  Basel  1858  und 
mit  Rußland  von  Königsberg  bei  Eydtkuhnen  1861  fertiggestellt,  d.  h. 
also  an  je  einem  Punkte  konnte  das  Ausland  mit  der  Bahn  erreicht 
werden. 

Den  sechziger  und  siebziger  Jahren  bleibt  es  vorbehalten,  das  stück- 
weise zusammengeschweißte  Gebilde  mit  neuen  Strängen  zu  durchziehen 
und  Seitenlinien  von  den  Hauptlinien  auslaufen  zu  lassen.     Am  Ende 


lOO  in.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1833 — 15 


der  siebziger  Jahre  setzt  eine  neue  Form  des  Baues  ergänzend  ein,  die 
Schmalspur-,  Sekundär-,  Lokal-,  Straßenbahn,  die  dem  Dorf-,  Vorort- 
Stadtverkehr  den  Anschluß  an  die  Vollbahnen  ermöglicht.  Um  die 
Mitte  der  fünfziger  Jahre  kann  man  zuerst  von  einem  deutschen,  wenn 
auch  noch  nicht  vollendeten  Eisenbahnnetz  sprechen.  Die  Rückwirkung 
auf  das  deutsche  Wirtschaftsleben  war  freilich  schon  vorher  fühlbar 
geworden,  insbesondere  auch  auf  den  deutschen  Zollverein. 

Zunächst  waren  neue  Industrien  entstanden,  die  Lokomotiven,  Schie- 
nen, Wagen  und  die  sonstigen  vielartigen  Gegenstände  herstellten,  welche 
vom  Bau  und  Betrieb  der  neuen  Verkehrswege  verlangt  wurden.  Der 
Eisen  verbrauch,  der  1834  auf  10,6  Sgr.  für  den  Kopf  berechnet  wurde,  war 
schon  1841  auf  18,1  gestiegen.  An  Schienen-,  Roh-,  Stab- und  Schmiede- 
eisen wurden  1834  367000  Ztr.  eingeführt,  1840  bereits  i  203000.  Am 
Anfang  der  zweiten  Vereinsperiode  liefen  in  Deutschland  245  Loko- 
motiven, von  denen  166  aus  England,  12  aus  Belgien,  29  aus  Nord- 
amerika und  nur  der  Rest  aus  Deutschland  stammten.  Die  Abhängig- 
keit vom  Auslande  wird  hiermit  ebenso  beleuchtet  wie  durch  die 
Schienen-  und  sonstige  Einfuhr  an  Eisenmaterial,  als  von  1842 — 45  die 
Mehreinfuhr  von  geschmiedeten  Eisen  und  Stäben,  Luppeneisen,  Eisen- 
bahnschienen, auch  rohem  und  raffiniertem  Stahl  in  das  Vereinsgebiet 
über  I  Million  Ztr.  im  Werte  von  mehr  als  5  Millionen  Tlr.  betrug- 
Die  Tatsache  ist  erheblich  für  die  Erklärung  der  Vereins-Handelsbilanz 
von   1834 — 46: 

Einfuhr  Ausfuhr  aus  dem 

Jahre  zum  Verbrauch  freien  Verkehr 

Tlr.  Tlr. 

1834  105943598  143622605 

1834 — 1838  127  191  826  157  665  610 

1839 — 1843  180072088  176770907 

1846  221  488812  170764480 

Die  Bilanz  ist  bis  1838  aktiv  und  wird  dann  vornehmlich  infolge 
der  Einfuhr  von  Bahnmaterial  passiv.  Fragen  wir,  wie  die  Differenz 
bezahlt  wurde,  so  hört  man  wenig  von  Geldexporten  bei  ungünstigem 
Wechselkurs.  Wohl  aber  wird  berichtet,  daß  Deutschland  bei  seinen 
Bahngründungen  auch  ausländisches  Kapital  herangezogen  habe.  Man 
kann  daher  schließen,  daß  die  Mehreinfuhr  mit  Bahnaktien  bezahlt 
wurde.  Die  ausländischen  Aktienzeichner  zahlten  ihren  Bankiers  im 
eigenen  Lande  den  Betrag  ein,  welcher  den  Material-Exporteuren  für 
ihre  Wechselforderung  zufloß,  die  dann  in  Deutschland  zur  Deckung 
der  erworbenen  Aktien  diente.  Doch  war  Deutschland  nicht  mehr 
lange  auf  fremdes  Kapital  und  fremde  Ware  bei  seinem  Bahnbau 
angewiesen,  da  sowohl  der  Reichtum  zunahm,    als  auch   seit   der  Zoll- 


III.  Landstraßen,  Eisenbahnen,  Schiffahrt.  lOi 

gesetzgebung  von   1844   die   heimische   Produktion   in   Eisenfabrikaten 
erstarkte. 

Für  den  Zollverein  ergaben  sich  noch  weitere  Folgen.  Seine 
Binnenstädte,  die  bisher  die  Landesgrenze  mit  ihren  Waren  wegen  des 
teuren  Straßentransportes  nur  ausnahmsweise  erreichen  konnten,  be- 
dienten sich  jetzt  der  Bahnfahrt  und  gewannen  die  Ausfuhrfähigkeit. 
Das  Anwachsen  kleiner  Landstädte,  wie  Dortmund,  Essen,  Bochum,  zu 
großen  Fabrikstädten,  das  Erblühen  der  westfälischen  und  schlesischen 
Eisen-  und  der  sächsischen  Textilindustrie,  die  Entwicklung  Berlins 
zu  einem  industriellen  Mittelpunkte,  dies  alles  wäre  in  dem  Binnen- 
lande ohne  die  Eisenbahnen  schlechterdings  unmöglich  gewesen. 

Berlin  ist  von  der  Natur  stiefmütterlich  behandelt  worden.  Die 
umgebende  Bodenbeschaffenheit  von  Sand  und  Sumpf  leistete  für  die 
Gütererzeugung  wenig,  und  seine  Lage  fern  von  dem  Meer  war  für 
die  Verkehrsentwicklung  nicht  günstig.  Obwohl  zwischen  Elbe  und 
Oder  gelegen,  mußte  die  Verbindung  erst  künstlich  geschaffen  werden, 
so  wie  alles,  was  Berlin  groß  gemacht  hat,  den  Hohenzollern  und  dem 
eisernen  Fleiß  und  der  Unternehmungskraft  der  Bürgerschaft  zu  danken 
gewesen  ist,  der  Kolonisten  des  märkischen  Landes,  die  strebsam  und 
tüchtig  aus  der  Kargheit  des  Bodens  den  Antrieb  zu  äußerster  Kraft- 
anspannung entnahmen.  Die  Stadt  wuchs  mit  Preußen,  dessen  Mo- 
narchen in  dem  Werden  ihrer  Hauptstadt  das  Spiegelbild  ihrer  poli- 
tischen Erfolge  erblicken  wollten.  Sie  zählte  18 16  197  717  Einwohner, 
1831  248682,  1846  397767  und  1861  547571.  Die  Vergrößerung  des 
Staates  nach  1815,  die  Neuordnung  der  Verwaltung,  die  große  Garnison, 
die  Aufträge  für  die  militärische  Rüstung,  auch  die  Mac-Adamschen 
Kunststraßen,  der  verbesserte  Weg  zur  Oder  hatten  zwar  den  Handel, 
das  Handwerk  und  einige  Industrien  begünstigt,  wie  klein  aber  die 
Verhältnisse  damals  waren,  ersieht  man  z.  B.  daraus,  daß  1822  ein 
einziger  Kran  genügte,  um  den  ganzen  Berliner  Wasserverkehr  um- 
zuschlagen, und  daß  die  erste  Berliner  Gewerbeausstellung  des  gleichen 
Jahres  mit  998  Gegenständen  beschickt  worden  war. 

Ehemals  zur  Blütezeit  des  Fridericianischen  Merkantilismus  hatte 
die  Stadt  manche  größere  Industrie  beherbergt,  hausindustriell  und 
manufakturmäßig  betriebene,  zur  Herstellung  von  Textilen,  Metallwaren, 
Porzellan,  Chemikalien,  Surrogaten,  Tabak,  Sehießpulver,  Kalk,  Gips, 
Ziegeln,  Zucker,  Emaillewaren,  Fächern,  Federn  und  Blumen  für  Hüte, 
Perlmuttergegenständen,  Luxuslederwaren,  Papier,  Seifen  u.  a.  m. 

Nach  dem  Zusammenbruch  des  preußischen  Staates  von  1806, 
mit  dem  die  Kaufkraft  der  wohlhabenden  Bevölkerung  dahinsiechte 
und  die  staatlichen  Unterstützungen  und  Ausfuhrprämien  aufhörten, 
erlitten  alle  Veredelungsindustrien  einen  schweren  Schlag,  während  die 
Kontinentalsperre  die  einfachere  Verarbeitung,  besonders  in  der  Textil- 


JQ2  in.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1833  — 1848. 


Industrie,  noch  lebensfähig  hielt.  Aber  auch  dieses  Gewerbe  schrumpfte 
nach  18 16  unter  der  enghschen  Konkurrenz  zusammen.  Das  Lagerhaus, 
die  großen  Verlagsanstalten  gingen  ein,  die  Spinnerei  verschwand  fast 
gänzlich.  Es  zeigte  sich,  daß  die  merkantilistischen  Grundlagen  der 
Industrie  doch  nicht  so  stark  gewesen  waren,  als  man  sie  in  ihrer 
Glanzzeit  eingeschätzt  hatte.  Ebenso  wie  der  alte  Staat  mit  dem  Siege 
Napoleons  einstürzte,  erlebte  die  Wirtschaftspolitik  ihr  industrielles  Jena. 
Wie  der  Staat  durch  die  Tüchtigkeit  der  Regierenden  und  die  Kraft 
des  Volkes  wieder  errichtet  wurde,  so  erwuchsen  neue  Gewerbe  aus 
dem  zähe  sich  haltenden  Handwerk,  und  unternehmende  Bürger  knüpften 
an  alte  Werke,  die  den  Sturm  überdauert  hatten,  z.  B.  bei  der  Färberei 
und  der  Kattundruckerei,  an.  Doch  ging  es  nur  langsam  vorwärts. 
Erst  als  der  Zollverein  und  die  Eisenbahnen  einsetzten,  kann  man  von 
der  Geburtsstunde  der  neuzeitlichen  BerHner  Industrie  sprechen.  Be- 
gabte Handwerksmeister,  im  Königlichen  Gewerbeinstitut  vorgebildet, 
lernten  im  Auslande,  namentlich  in  Paris,  und  begründeten  z.  B.  die 
Fabrikation  von  Neu.silber,  gold-  und  silberplattierter  Ware  und  Lampen 
und  die  Daguerrotypie.  1846  zählte  die  Stadt  350  Fabriken  und  fabrik- 
ähnliche Betriebe.  Doch  waren  unter  5,1  Berliner  Einwohnern  nur  ein 
Gewerbetreibender  i.  e.  S.,  so  daß  der  Stand  der  Industrie,  wie  er  um 
1800  gewesen  war,  noch  nicht  erreicht  wurde. 

Jetzt  geht  die  Entwicklung  schneller,  wie  das  im  einzelnen  von 
O.  Wiedfeldt  in  seiner  hier  benutzten  Geschichte  der  Berliner  In- 
dustrie eingehend  geschildert  worden  ist,  und  auf  festerem  Unterbau 
als  in  dem  Jahrhundert  vorher.  Wir  werden  später  auf  diese  Fort- 
schritte zurückkommen. 

Deutschlands  Weltstellung  im  Herzen  Europas  wurde  für  die 
Fabrikatausfuhr  erst  durch  die  Eisenbahnen  nutzbar  gemacht.  Ent- 
sprechend wurde  auch  die  Einfuhr  erleichtert.  Das  Problem,  die  Bahn- 
tarifpolitik mit  der  Handelspolitik  in  Einklang  zu  bringen,  damit  die 
zweite  durch  die  erstere  nicht  illusorisch  gemacht  wurde,  entstand, 
sobald  die  Privatbahnen  die  Höhe  ihres  Gewinnes  von  Erleichterung 
der  ausländischen   Zufuhr  abhängig  zu  machen  wußten. 

Der  Zollverein  w^urde  daher  jetzt  mehr  denn  früher  als  eine  Not- 
wendigkeit dem  Auslande  gegenüber  von  allen  Fabrikanten  empfunden, 
die  eine  fremde  Konkurrenz  zu  bestehen  hatten  oder  exportieren 
wollten.  Ebenso  mußte  auch  der  wachsende  heimische  Verkehr  die 
Wiederkehr  aller  rechtlichen  Binnenschranken  um  so  entschiedener 
abweisen,  je  billiger  die  Verfrachtung  und  je  mehr  der  Fernverkehr 
zur  Regelmäßigkeit  wurde.  Der  Zollverein  ist  also  durch  das  Eisen- 
bahnwesen neu  gefestigt  worden,  so  daß  er  den  politischen  Versuchen, 
ihn  zu  sprengen,  aus  eigenem  inneren  Bedürfnis  Widerstand  leisten 
konnte.     Und  auch  der   politische  Partikularismus  der  kleinen  Staaten 


III.  Landstraßen,  Eisenbahnen,  Schiffahrt.  jq-j 

mußte  sich  den  Wert  des  Zollvereins  durch  die  Eisenbahnen  recht 
drastisch  zu  Gemüte  führen.  So  schreibt  Treitschke:  „Seitdem  man 
das  engere  Vaterland  in  drei  Stunden  durchfuhr,  kam  auch  dem 
schlichten  Manne  die  ganze  verlogene  Niedertracht  der  Kleinstaaterei 
zum  Bewußtsein,  und  er  begann  zu  ahnen,  was  es  heißt,  eine  große 
Nation  zu  sein". 

Die  Privatbahnen  entstanden  in  mehreren  Teilen  Deutschlands, 
weil  die  Staaten  anfangs  keine  finanziellen  Opfer  bringen  wollten  und 
sich  zu  keinem  gemeinsamen  Vorgehen  aufraffen  konnten.  Die  Ge- 
winnaussicht war  maßgebend  für  die  privatwirtschaftliche  Unternehmung, 
daher  zunächst  diejenigen  Linien  herausgesucht  wurden,  die  größere 
Städte  unter  Benutzung  einträglicher  Zwischenstationen  verbanden. 
Die  aus  diesem  System  sich  ergebende  Verschiedenartigkeit  der  Kon- 
zession, der  Tarife,  des  Frachtrechtes  mußten  den  Kaufleuten  und  den 
Produzenten  das  Geschäft  erschweren,  woneben  auch  über  die  Be- 
günstigung der  der  Bahnverwaltung  nahestehenden  Großunternehmer 
geklagt  wurde.  Auf  wie  niedriger  Stufe  übrigens  in  den  ersten 
Jahren  des  Zollvereins  der  private  und  öffentliche  Unternehmungssinn 
für  den  Bahnbau  standen,  zeigt  die  Tatsache,  daß  9  Jahre  nach  der 
Eröffnung  der  Linie  Liverpool-Manchester  vergehen  mußten,  ehe  die 
erste  deutsche  Strecke  mit  Dampfbetrieb  zustande  kam.  Es  war  dies 
die  6  km  lange  von  Nürnberg  nach  Fürth,  deren  Baukapital  von 
177000  Gulden  von  einer  Anzahl  Nürnberger  Bürger  aufgebracht 
worden  war.  Die  treibende  Seele  des  Werkes  war  J.  Scharrer,  der 
es  auch,  patriotisch  vorempfindend,  durchsetzte,  daß  der  Bau  einem 
deutschen  Ingenieur  übertragen  wurde.  Die  Lokomotive,  der  „Adler", 
war  von  Stephenson,  ihrem  Erfinder,  bezogen  worden  und  wurde  von 
einem  Engländer  geführt.  Die  Staatsbehörden  verhielten  sich  zurück- 
haltend, da  der  König  von  Bayern  die  Konkurrenz  künftiger  Bahnen 
für  den  ihm  sehr  am  Herzen  liegenden  Ludwigskanal,  der,  im  Anschluß 
an  die  alte  Fossa  Carolina,  die  Donau  mit  dem  Main  unter  Benutzung 
der  Regnitz  und  Altmühl  verband,  fürchtete.  Doch  zeigte  sich  die 
Ansbacher  Regierung,  als  man  den  Namen  Ludwigsbahn  gewählt 
hatte,  generös  und  zeichnete  den  Betrag  von  200  Gulden. 

Schon  1833  hatte  List  seine  ihm  später  wenig  Dank  einbringende 
Agitation  für  die  Verbindung  von  Leipzig  nach  Dresden  begonnen. 
Auch  sie  wurde  durch  Aktienzeichnung  finanziert.  Als  sie  im  ersten 
Jahre  ihres  Bestehens  412000  Passagiere  und  3,85  Millionen  Ztr.  Güter 
beförderte,  wurden  einige  andere  Pläne,  die  bisher  nur  schüchtern  be- 
redet worden  waren,  zur  Ausführung  gebracht.  Bis  1848  kannte  Preußen 
nur  Privatbahnen.  Dieser  ersten  Periode  folgt  bis  1848  die  zweite 
mit  staatlicher  Beteiligung  am  Anlagekapital  und  mit  Übernahme  der 
Zinsgarantie.     Daran  schließt    sich  die  dritte   bis   1862,   in  welcher  das 


I04  m-  Abcchnitt.     Die  Zeit  von   1833 — i! 


Staatsbahnsystem  begründet  wurde,  weiter  eine  vierte  bis  1877,  ^i^ 
wieder  der  privaten  Unternehmung  günstig  ist,  bis  dann  die  letzte 
einsetzt,  in  welcher  der  Staat  die  vorhandenen  Privatbahnen  aufkauft 
und  das  Netz  durch  Zwischen-  und  Nebenlinien  vollendet.  Parallel 
mit  diesen  Tatsachen  hat  sich  die  Nationalökonomie  gewandelt.  Unter 
der  Herrschaft  des  ökonomischen  Liberalismus  der  sechziger  Jahre  trat 
sie  vorwiegend  für  die  private  Initiative  ein,  mit  der  dann  folgenden 
sozialpolitischen  und  nationalen  Wirtschaftsauffassung  wurde  das  Staats- 
bahnsystem folgerichtig  empfohlen. 

Der  erste  Bau  der  Privatbahnen  in  Preußen  führt  zu  dem  Eisen- 
bahngesetz von  1838.  Es  gewährt  dem  Staat  ein  ausgedehntes  Auf- 
sichtsrecht über  die  Aktiengesellschaften  und  setzt  für  Anlage  und 
Betrieb  seine  Genehmigung  voraus.  Das  Ankaufsrecht  ist  ihm  vor- 
behalten, und  die  unentgeltliche  Postbeförderung  ihm  zugesichert.  Den 
Gesellschaften  wird  das  Recht  der  Bodenenteignung  gewährt,  zugleich 
ihnen  auch  eine  Steuer  abgefordert.  Das  Gesetz  hat  bis  zur  Ver- 
staatlichung gegolten.  Die  Aufsichtsgewalt  wurde  mit  kluger  Mäßigung 
gehandhabt,  so  daß  die  anfangs  erhobenen  Klagen  über  Bevormundung 
bald  verstummten,  dem  Staatsbau  wurde  nicht  vorgegriffen,  und  bald 
zeigte  sich,  daß  die  öffentliche  Unternehmung  im  Gesamtinteresse  von 
Volk  und  Staat  nicht  zu  entbehren  war.  Die  Privaten  hielten  sich  an 
die  einträglichen  Strecken,  für  den  Osten  von  Berlin  aus  liefen  keine 
Gesuche  ein. 

Da  sich  dem  Staatsbau  eine  staatsrechtliche  Schwierigkeit  ent- 
gegenstemmte, die  Aufnahme  einer  Eisenbahnschuld  ohne  die  zu- 
stimmende, vor  1848  fehlende  Volksvertretung,  blieb  nichts  übrig,  um 
das  volkswirtschafthch  notwendige  Werk  nicht  zum  Stocken  zu  bringen, 
als  durch  Unterstützung  aus  vorhandenen  Steuermitteln  der  Fortfüh- 
rung der  privaten  Bahnen  entgegenzukommen.  Eine  Anzahl  Linien 
wurde  somit  vollendet,  nur  an  die  von  der  Regierung  empfohlene  Ost- 
bahn wagte  sich  keine  Gesellschaft  heran.  Sie  wird  erst  nebst  der 
westfälischen  und  der  Saarbrückener  als  Staatsbahn  von  dem  nach 
der  Revolutionszeit  geschaffenen  preußischen  Parlamente  genehmigt. 
In  der  Zeit  bis  1862  entsteht  das  Staatsbahnnetz.  Die  niederschlesisch- 
märkische  und  die  Münster-Hannoverbahn  gehen  in  den  Staatsbesitz, 
die  bergisch-märkische,  die  Prinz  Wilhelmbahn,  die  Stargard-Posener, 
die  Kosel-Oderberger  in  die  Staatsverwaltung  über.  Doch  fehlt  es 
nicht  an  einigen  neuen  Privatbahnen,  und  unter  den  bestehenden  bilden 
sich  Interessengemeinschaften. 

In  den  übrigen  größeren  deutschen  Staaten  war  der  Verlauf 
ein  anderer.  In  Hannover  baute  der  Staat,  allerdings  erst  seit  1847, 
von  Anfang  an  selbst,  da  die  private  Anregung  in  dem  industriearmen 
Lande    fehlte.      Das    Netz    wurde    den    Bedürfnissen    des    Königreichs 


III.  Landstraßen,  Eisenbahnen,  Schiffahrt.  105 


angepaßt  und  der  Anschluß  an  die  Nachbarn  leidlich  gefunden.  Baden 
hatte  schon  1857  das  öffentliche  rechtliche  System  angenommen  und 
ist  nicht  davon  abgewichen.  Ebenso  Württemberg,  wenn  auch  nur 
in  langsamem  Vorgehen.  In  Bayern  rechnete  man  zuerst  auf  die 
bürgerliche  Tätigkeit,  als  sie  aber  nach  dem  Bau  der  Linie  München- 
Augsburg  versagte,  ging  die  Regierung  1844  zum  eigenen  Bau  und 
Betrieb  über,  mit  Ausnahme  bei  den  seit  1856  geschaffenen  Ostbahnen, 
die  1875  zum  Zwecke  der  Einheitlichkeit  vom  Staat  erworben  wurden. 
In  der  bayerischen  Pfalz  hingegen  bestand  im  Anschluß  an  die  erste 
Konzession  der  Ludwigsbahngesellschaft  von  1838  das  Privatsystem 
mit  vier  Hauptlinien,  die  sich  1870  einer  gemeinsamen  Leitung  unter- 
ordneten. Im  Großherzogtum  Hessen  war  die  hessische  Ludwigsbahn- 
Gesellschaft  die  wichtigste,  die  an  zweiter  Stelle  stehenden  ober- 
hessischen Bahnen  wurden  1876  in  den  Staatsbesitz  übergeführt.  Im 
Kurfürstentum  Hessen  hat  ein  gemischtes  System  bestanden,  in 
Mecklenburg-Schwerin  das  private  mit  erheblicher  Staatsunter- 
stützung, endlich  im  Königreich  Sachsen  zuerst  das  private,  später 
das  gemischte,  aus  dem  dann  1876  das  rein  staatliche  durch  Ankauf 
hervorgegangen  ist. 

Da  jede  Bahn  Verwaltung  auf  ihrem  Gebiete  tun  und  lassen  konnte, 
was  ihr  beliebte,  so  kann  man  sich  das  Durcheinander  vorstellen,  das 
in  Anschlüssen  bei  der  Beförderung  von  Personen  und  Gütern  herrschte. 
Eine  Ordnung  brachte  der  1846  gegründete  ,, Verein  deutscher  Eisen- 
bahnverwaltungen", der  durch  „gemeinsame  Beratungen  und  gemein- 
sames Handeln  das  eigene  Interesse  und  das  des  Publikums  zu  fördern" 
bezweckte.  Ihm  ist  vor  allem  in  den  ersten  Jahrzehnten  seines  Bestehens 
die  Einheitlichkeit  der  Anlage  und  Ausstattung  der  Eisenbahnen  zu 
danken,  so  daß  die  Zustände  nicht  unerträglich  wurden. 

Nach  von  Reden  besaß  Deutschland  1853  663,7  Meilen  Staats- 
und 687,8  Privatbahnen.  Am  31.  Dezember  187 1  war  das  Verhältnis 
9902  km  zu  11569  km.  Man  wird  daher  schwer  mit  W.  Sombart 
(die  deutsche  Volkswirtschaft,  1903)  behaupten  können,  daß  die  deut- 
schen Eisenbahnen  ein  Werk  des  Kapitalismus  gewesen  seien.  Befand 
sich  doch,  ehe  die  Verstaatlichung  in  Preußen  und  Sachsen  im  großen 
eingesetzt  hatte,  fast  die  Hälfte  der  Linien  im  Staatseigentum.  Außer- 
dem darf  man  nicht  vergessen,  daß  viele  Privatbahnen  nur  mit  Staats- 
zuschuß zustande  gekommen  sind.  Indem  das  Unternehmertum  die 
Rosinen  aus  dem  Kuchen  herauspickts  und  nur  für  Strecken  mit 
guten  Dividenden  zu  haben  war,  hat  es  für  den  Zusammenhang  des 
ganzen  Netzes,  d.  h.  volkswirtschaftlich,  wenig  geleistet.  Die  Grün- 
dungen in  den  sechziger  Jahren,  der  sogenannten  Strousbergperiode, 
waren  allerdings  vom  Privatkapital  ausgegangen,  haben  aber  durch 
ihr    schwindelhaftes    Gebahren    nicht    wenig    dazu    beigetragen ,    den 


Io6  III-  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1833 — iJ 


Geldmännern    ihr    Ansehen    auf    dem     Gebiete    des    Bahnwesens    zu 
nehmen. 

Es  ist  überhaupt  eine  nicht  unbedenkliche  Wendung,  die  dem 
Marx  sehen  ökonomischen  Determinismus  nahesteht,  zu  saeen,  daß 
der  Kapitalismus  etwas  hervorgebracht  habe.  In  Wahrheit  sind  es 
doch  die  unternehmenden  Männer  gewesen,  die  die  Werke  vollendeten. 
Wenn  es  auch  feststeht,  daß  das  Gewinnstreben  für  den  Privateisen- 
bahnbau eine  wirksame  Triebkraft  gewesen  ist,  so  ist  es  doch  niemals 
die  einzige  gewesen.  Namentlich  in  der  ersten  Zeit  waren  es 
Kommunalbeamte,  Bürgermeister,  welche  zum  Wohl  ihrer  Stadt 
hervortraten  und  die  zögernden  Kapitalisten  ermutigten,  ihre  Mittel 
herzugeben.  Wie  diese  also  der  Führung  bedurften,  verstanden  es 
später  geschickte,  ursprünglich  nicht  einmal  kapitalreiche,  Gründer, 
das  Publikum  in  Bewegung  zu  setzen.  Daß  Männer  wie  List  und 
N  e  b  e  n  i  u  s  mit  ihrer  wissenschaftlichen  Autorität  die  Aufmerksamkeit 
der  Geldbesitzer  auf  das  Eisenbahnwesen  hinlenkten,  mag  daneben 
erwähnt  werden. 


Die  Binnenschiffahrt  tritt  den  Leistungen  der  Eisenbahn 
gegenüber  zurück.  Von  den  Strömen  dient  ihr  an  erster  Stelleder  Rhein, 
es  folgt  die  Elbe,  weiter  die  Weser,  Oder,  Donau,  Ems  und  Weichsel. 
Sie  alle  haben,  während  die  Eisenbahn  ihr  Netz  nach  und  nach  über 
ganz  Deutschland  ausspannte  und  die  abgelegenen  Orte  in  seine 
Maschen  einbezog,  ihre  besonderen  isolierten  Zonen  lange  beibehalten, 
die  sich  flußseitwärts  nur  soweit  ausdehnten,  als  es  die  Schiffbarkeit 
der  Nebenflüsse  gestattete.  Erst  der  Zug  der  neueren  Zeit  geht 
dahin,  die  Ströme  mit  breiten  und  tiefen  Kanälen  zu  verbinden,  die 
damit  nicht  nur  örtlich,  sondern  als  ein  Teil  eines  Ganzen  gewürdigt 
werden  sollen. 

Vom  Standpunkt  einer  volkswirtschaftlichen  planmäßigen  Aus- 
bildung des  Transportwesens  sind  die  Eisenbahnen  und  Wasserstraßen 
nicht  als  einander  gegensätzliche  Wettbewerber,  sondern  als  gegen- 
seitige Ergänzung  unter  dem  Grundsatz  der  Arbeitsteilung  mit  be- 
sonderen Aufgaben  zur  Bewältigung  des  Verkehrs  zu  denken.  Die 
geschichtlichen  Vorgänge  mit  ihren  individualistischen  Geschäfts- 
tendenzen sind  einer  solchen  Gesamtauffassung  lange  Zeit  abhold  ge- 
blieben. 

Nachdem  das  linke  Rheinufer  französisch  geworden  war,  räumte 
Napoleon  durch  den  Oktroivertrag  mit  den  meisten  Hemmnissen  der 
Vergangenheit  im  Rheingebiet  auf.  Aber  da  die  französische  Landes- 
und Zollgrenze  in  den  Talweg  des  Stromes  gelegt  wurde,  kam  die 
Schiffahrt  aus  einer  lästigen  Kontrolle  nicht  heraus  und  erlebte  den 
erwarteten  Aufschwung  nicht. 


in.  Landstraßen,  Eisenbahnen,  Schiffahrt. 


107 


Auf  dem  Wiener  Kongreß  wurde  die  Freiheit  der  Schiffahrt 
völkerrechtlich  geordnet:  Sie  soll  auf  Flüssen,  die  mehrere  Länder 
durchfließen  oder  zwischen  ihnen  die  Grenze  bilden,  von  dem  Punkte 
an,  wo  der  Fluß  schiffbar  wird,  bis  zur  Mündung  zum  Transport  frei, 
zum  Zweck  des  Handels  keinem  Angehörigen  dieser  Staaten  unter- 
sagt sein.  Die  Abgaben  sollen  von  dem  sonstigen  Zollwesen  getrennt, 
nicht  höher  als  bisher,  vielmehr  zur  Ermunterung  der  Schiffahrt  mög- 
lichst herabgesetzt  werden.  Eine  Ordnung  aller  Einzelheiten  blieb  den 
Uferstaaten  vorbehalten.  Aber  es  verging  noch  eine  längere  Reihe 
von  Jahren,  bis  diese  sich  geeinigt  hatten.  1821  wurden  die  Eibakte, 
1823  die  Weserakte,  183 1  die  Rheinakte,  1843  die  Emsakte  zum  Ab- 
schluß gebracht.  Einige  Zusätze  mit  zeitgemäßen  Veränderungen 
folgten.  Die  Freiheit  der  Strombenutzung  wurde  später  auch  für  alle 
Völker,  nicht  bloß  für  die  anwohnenden,  anerkannt,  noch  bestehendes 
Umlade-  und  Gildenrecht  nach  und  nach  beseitigt,  ein  Schiffahrts- 
gericht, der  Befähigungsnachweis  für  die  Schiffer,  Untersuchung  der 
Schiffe  auf  ihre  Tüchtigkeit,  die  Verbesserung  der  Leinpfade  eingeführt, 
die  Beseitigung  von  Hindernissen  im  Fahrwasser  den  Einzelstaaten  auf- 
gelegt, die  Rang- oder  Reihefahrt  des  Monopols  entkleidet  und  von  der 
Genehmigung  der  betreffenden  Staatsregierung  abhängig  gemacht,  der 
Frachtsatz  allein  durch  die  freie  Vereinbarung  der  Schiffer  und  Ver- 
sender bestimmt,  die  Herabsetzung  der  Zahl  der  Zollstätten  beschlossen. 
Die  Hauptschwierigkeit  bereitete  die  Ordnung  der  Abgaben.  Einige, 
wie  die  Schiffahrtsgebühr  und  Oktroi,  fielen  alsbald,  die  Wasser-  und 
Durchfuhrzölle  erst  nach  und  nach,  für  die  Elbe  mit  ihren  vierzehn 
Zollämtern  1863  zuerst  teilweise,  später  vollständig  durch  den  Vertrag 
des  Norddeutschen  Bundes  mit  Österreich  1870,  für  die  Weser  mit 
zehn.  Zollstätten  durch  Abkommen  der  Uferstaaten  1856,  für  den  Rhein, 
auf  dem  fünf  Staaten  an  sieben  Orten  Abgaben  erhoben,  durch  den 
Handelsvertrag  von  185 1  zwischen  Holland  und  dem  Zollverein  und 
durch  ein  Abkommen  der  deutschen  Grenzländer  untereinander  von 
1866,  für  die  Donau  durch  den  Pariser  Frieden  von  1856  und  die 
Schiffahrtsakte  des  folgenden  Jahi^es.  Der  Zollverein  hatte  sich  wieder- 
holt für  die  Erniedrigung  der  Rhein-  und  Elbeabgaben  eingesetzt. 

Die  segensreichen  Folgen  aller  dieser  Befreiungen  sind  nicht 
ausgeblieben.  In  den  dreißiger  und  vierziger  Jahren,  ehe  die  Eisen- 
bahnen zu  einer  beherrschenden  Stellung  im  Transportwesen  gelangten, 
nahm  die  Flußschiffahrt  einen  lebhaften  Aufschwung.  Die  alten  hand- 
werksmäßigen Gildenbetriebe  gingen  ein,  und  die  neuen  Einzelunter- 
nehmer benutzten  die  Gewerbefreiheit  und  die  Konzessionserteilung, 
um  auf  eigene  Rechnung  und  Gefahr  das  Geschäft  in  die  Hand  zu 
nehmen.  Im  Vergleich  zu  dem  ehemaligen  der  Gildenmeister  war 
dieser  neue  Betrieb  ein  großer  und  mußte  es  sein,  da  das  Dampfschiff 


loS  m»  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1833  — 1848. 

an  die  Stelle  des  Segelkahns  und  des  Treidelwerkes  getreten  war. 
18 16  wurden  die  ersten  Dampfschiffe  gebaut:  „Die  Weser"  des  Bremer 
Reeders  Fr.  Schröder,  eines  auch  sonst  um  seine  Vaterstadt  ver- 
dienten Mannes,  in  Vegesack  und  die  „Prinzessin  Charlotte"  bei 
Spandau.  Die  Maschineneinrichtung  war  aus  England  bezogen.  Auf 
der  Unteroder  fuhr  das  erste  1840,  erst  10  Jahre  später  haben  die 
preußischen  Ostseehäfen  eine  Dampferverbindung.  1824  kam  der  erste 
niederländische  Dampfer  den  Rhein  herauf  bis  Bacharach,  1827  er- 
öffnete die  preußisch-rheinische  Dampfschiffgesellschaft  ihren  regel- 
mäßigen Verkehr  zwischen  Köln  und  Mainz,  1830  wird  von  12  Rhein- 
dampfern berichtet.  Der  Unternehmungsgeist  war,  wie  man  sieht,  im 
westlichen  Deutschland  dem  des  östlichen  überlegen.  Auch  im 
Süden  zögerte  man  lange.  1838  erst  wurde  die  bayerisch- württem- 
bergische Dampfschiffahrtsgesellschaft  mit  dem  Sitz  in  Regensburg 
gegründet,  die  in  den  folgenden  4  Jahren  den  Personentransport  auf 
der  Donau  verdreifachte. 

Die  ursprüngliche  Anregung  war,  wie  bei  den  Eisenbahnen,  der 
Personenverkehr,  dem  sich  auch  hier  nach  und  nach  eine  Güterver- 
sendung anschloß.  Das  Hauptgeschäft  wurde  längere  Zeit  hindurch 
bei  dem  ersteren  gemacht.  Das  änderte  sich  mit  der  Schleppschiff- 
fahrt, die  übrigens  erst  183g  nach  zehnjährigem  Bestehen  lebensfähig 
wurde,  als  sie  von  den  großen  Gesellschaften  übernommen  wurde. 
Noch  später,  1841,  bildete  sich  arbeitsteilig  für  den  Rhein  eine  reine 
Schleppschiffahrtsgesellschaft,  der  bald  weitere  folgten.  Anfangs  wurden 
nur  die  alten  Kähne  der  kleinen  Schiffer  gezogen,  dann  benutzten 
die  Gesellschaften  ihre  eigenen  leistungsfähigeren  Schiffe.  Eine  Neue- 
rung war  es  1846,  als  die  Kohlenbergwerksbesitzer  M.  Stinnes  und 
F.  Haniel  in  Ruhrort  damit  begannen,  ihre  Kohlen  in  eigenen 
Schiffen  und  Schleppdampfern  bergwärts  zu  befördern.  Es  ist  be- 
greiflich, daß  unter  solchen  Betriebsverschiebungen  die  kleine  selb- 
ständige Schiffahrt  vernichtet  wurde.  Sie  kämpfte  Jahrzehnte  den 
Todeskampf.  1848,  im  Revolutionsjahr,  gingen  die  Treidler  zur  offenen 
Gewalt  gegen  die  Mitbewerber  über.  Der  Aufruhr  wurde  unterdrückt, 
und  die  nachfolgenden  Verhandlungen,  in  denen  einige  Zugeständnisse 
von  selten  der  Großunternehmer  gemacht  wurden,  haben  den  Werde- 
gang der  Dinge  nicht  aufgehalten.  Die  Überlegenheit  der  Großen 
war  in  jenem  Jahre  bereits  entschieden,  als  die  Gesellschaften  25 
Schleppdampfer,  192  eiserne  und  400  hölzerne  Lastschiffe  besaßen, 
denen  61  deutsche  Rheinsegelschiffe  gegenüberstanden.  Wie  sehr  sich 
der  Verkehr  im  Ganzen  gehoben  hatte,  läßt  sich  ungefähr  aus  dem 
jährlichen  Güterdurchgang  bei  den  einzelnen  wichtigen  Zollämtern 
ersehen : 


III.  Landstraßen,  Eisenbahnen,  Schiffahrt. 


109 


Zollämter 


I  n   1 000  Tonnen 

1836 

1840 

1850                   1860 

zu  Berg  1  zu  Tal 

zu  Berg 

zu  Tal 

zu  Bergj  zu  Tal  zu  Berg 

zu  Tal 

87,8 

241-5 

128,0 

253.8 

173.7 

399.5 

300,5 

745,0 

81,4 

72,9 

163,2 

128,3 

322,4 

262,9 

614,7 

449,0 

76,3 

69,0 

160,8 

I13.9 

336,8 

230,7 

600,9 

335,2 

70,4 

54.0 

135.5 

79.9 

274.6 

175.6 

497,3 

294,5 

42,4 

61,8 

43>o 

48.7 

58,8 

83.8 

49,6 

171,8 

Staaten 


Emmerich  . 
Koblenz  .  . 
Kaub  .  .  . 
Mainz  .  .  . 
Mannheim  . 


Holl.  Grenze 

Preußen 

Hessen-Kassel 

Großh.  Hessen 

Baden 


In  diesen  24  Jahren  waren  die  deutschen  Eisenbahnen  entstanden, 
zwar  war  ihr  Netz  noch  nicht  vollendet,  doch  schon  so  fortgeschritten, 
daß  es  der  Schiffahrt  ein  gefährlicher  Gegner  wurde.  Daran  hatten 
weder  die  rheinischen  Reeder  noch  die  Eisenbahngesellschaften  ur- 
sprünglich gedacht.  Die  ersten  Bahnen  im  Rheingebiet  waren  lediglich 
als  Anschlußstrecken  an  die  Wasserstraße  gebaut  worden,  wie  die  Linien 
von  Mannheim  nach  Heidelberg  1840,  von  Düsseldorf  nach  Elber- 
feld  1841,  von  Deutz  nach  Minden  1845,  von  Duisburg  nach  Dort- 
mund 1847,  von  Ludwigshafen  a.  Rh.  nach  Kaiserslautern.  Parallel- 
bahnen mit  dem  Strom  anzulegen  galt  bei  der  Billigkeit  des  Wasser- 
transportes für  ein  aussichtsloses  Wagnis. 

Allein  es  stellte  sich  bald  heraus,  daß  dies  nicht  der  Fall  war. 
Zuerst  am  Oberrhein,  als  1844  die  badische  Bahn  von  Mannheim  nach 
Basel  eröffnet  wurde.  Die  Schwierigkeit  und  Kostspieligkeit  der 
Schiffahrt  auf  dieser  Stromstrecke  hatte  überhaupt  hemmend  auf  die 
Zunahme  des  Transportes  eingewirkt.  Schon  1847  hörte  die  Güter- 
versendung nach  Basel,  1855  nach  Kehl  auf,  und  Mannheim  wurde 
für  die  nächsten  50  Jahre  der  Endpunkt  der  Rheinschiffahrt  und  ge- 
langte damit  als  Umschlagplatz  zu  großer  geschäftlicher  Entfaltung. 
Durch  den  Bau  der  elsässischen  und  Pfälzer  Bahnen  war  die  südliche 
Rheinfahrt  weiter  bedrängt  worden.  Anders  war  es  am  Mittelrhein, 
wo  sich  erst  in  der  Mitte  der  fünfziger  Jahre  die  Bahn  vorteile  der 
Schiffahrt  gegenüber  eindringlich  fühlbar  machten.  Aber  sie  wirkten 
nicht  vernichtend,  wie  aus  den  Zahlen  der  gegebenen  Tabelle  zu  er- 
sehen ist.  Der  Personenverkehr  und  diejenige  Güterversendung,  die 
rasch  erledigt  werden  mußte,  gingen  zum  größten  Teil  auf  die  Bahn 
über.  Die  Massengüter,  Kohlen,  Eisenerze,  und  später  Petroleum  und 
Getreide  blieben  dem  Schiffe  erhalten.  So  war  zwischen  beiden 
Transportmitteln  hier  eine  vernünftige  volkswirtschaftliche  Gliederung 
vorhanden,  die  erst  recht  fortbestehen  konnte,  als  die  Wasserstraßen 
verbessert  und  die  Schiffe  größer  gebaut  wurden.  Wo  die  Bedingungen 
weniger  günstig  als  am  Mittelrhein,  wo  die  Wasserstände  ungleich 
oder  Schleusenbauten  erforderlich  waren,  wie  am  Main,  wo  1858  die 
Dampfschiffgesellschaft  liquidierte,  an  der  Lahn,  Mosel,  Ruhr,  Lippe, 
Ems,  der  oberen  Weser,  der  Saale,  Oder,  siegte  der  Landverkehr. 


IJO  III-  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1833 — 1848. 

Ähnlich  wie  der  Mittelrhein  hielt  die  Elbe  den  Mitbewerb  der 
Bahnen  aus,  insbesondere  als  es  gelang,  die  Fahrrinne  zu  vertiefen 
und  die  Kettenschiffahrt  einzurichten.  Die  Zu-  und  Abfuhr  an  der 
Hamburger  Grenze  betrug  im  Durchschnitt  der  Jahre  1851  — 1860 
483,5  Tausend  Tonnen  und  I861  — 1870  660,0. 

In  den  sechziger  Jahren  erlosch  die  Schiffahrt  auf  den  kleinen 
Flüssen  fast  vollständig,  und  in  jener  Zeit,  als  man  die  freie  Kon- 
kurrenz als  die  höchste  und  beste  Triebkraft  des  Wirtschaftslebens 
und  das  Zugrundegehen  aller  schwächeren  Bestandteile  als  eine  Natur- 
notwendigkeit verherrlichte,  sprach  man  den  Eisenbahnen  etwas  vor- 
eilig die  volle  Überlegenheit  über  die  Binnenwasserstraßen  zu.  Aber 
bereits  nach  einigen  Jahren  änderte  sich  die  Meinung,  auf  die  wir  in 
einem  späteren  Kapitel  zurückkommen  werden. 


Die  Seeschiffahrt  war  auch  durch  die  Kleinstaaterei  behindert. 
Die  Küstenstaaten  an  der  Ostsee,  Preußen,  Mecklenburg,  Lübeck, 
Holstein,  an  der  Nordsee  Hamburg,  Hannover,  Bremen,  Oldenburg, 
verfolgten  ihre  Sonderzwecke,  die  die  englische  Politik  mit  ihren  gegen 
Preußen  oder  den  Zollverein  gerichteten  Bestrebungen  unterstützte. 
Preußen  und  Hannover  gewährten  sich  gegenseitig  die  Küstenfahrt 
(Kabotage)  nicht;  alle  Staaten  schlössen  Handels-  und  Schiffahrts- 
verträge mit  dem  Auslande,  ohne  dabei  die  deutschen  Nachbarn  zu 
berücksichtigen.  Hannover,  die  Mecklenburgs,  die  Hansestädte  wollten 
von  dem  Eintritt  in  den  Zollverein  nichts  wissen,  obwohl  er  für  ihren 
Seehandel  das  gegebene  Hinterland  war. 

Am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  hatte  die  Ostseereederei  einen 
bedeutenden  Aufschwung  genommen,  obwohl  sie  mit  der  Schwierigkeit 
zu  kämpfen  hatte,  daß  im  Winter  die  Häfen  häufig  zufrieren,  was  an 
der  Nordsee  selten  der  Fall  ist.  Nach  M.  Peters  war  1805  an  der 
heutigen  Ostseeküste  der  Schiffsraum  V4  Million  Tonnen  gegenüber 
nur  100  000  der  Nordseereederei  gewesen.  Die  Kontinentalsperre 
vernichtete  das  Geschäft  so  sehr,  daß  z.  B.  der  Betrieb  der  Königs- 
berger tätigen  Flotte  von  1807  — 1808  mit  Einschluß  der  Küstenfahrer 
von  980  auf  5 1   Schiffe  zurückging. 

In  der  Friedenszeit  wurde  dann  zwar  der  Getreidehandel  nach 
dem  Auslande  wieder  aufgenommen,  kam  aber  während  der  Agrar- 
krise nicht  vorwärts.  Erst  in  den  dreißiger  Jahren  und  besonders  von 
1837 — 41  nahm  die  Ausfuhr  von  den  östlichen  Provinzen  Preußens 
wieder  größeren  Umfang  an,  was  auch  der  heimatlichen  Handelsflotte 
zugute  kam.  Nach  der  Beseitigung  der  englischen  Getreidezölle 
wurde  dies  Geschäft  noch  erweitert.  Die  Ostseeschiffahrt  Preußens 
steigerte  sich  von  1846 — 49  von  160000  auf  300000  Tonnen.  Als 
England     auch    seine    strengen     Bestimmungen     der    Navigationsakte 


III.  Landstraßen,  Eisenbahnen,  Schiffahrt. 


milderte,  einigte  es  sich  mit  Preußen,  und  dieses  erlangte  gleiche  Rechte 
auch  für  diejenigen  seiner  Schiffe,  die  aus  den  sogenannten  Vorhäfen 
des  Zollvereins  ausliefen.  Die  Seefahrt  von  den  Ostseeländern  aus  er- 
hielt hierdurch  einen  weiteren  Anreiz,  aber  um  1842  hatten  Orte  wie 
Memel  und  Königsberg  nicht  so  viel  Schiffe,  als  sie  am  Anfang  des 
Jahrhunderts  besessen  hatten.  Die  Ostseeschiffahrt  blieb  in  der  Folge- 
zeit bei  nur  mäßigem  Fortschreiten  abhängig  vom  Getreidehandel. 
Waren  die  Preise  des  Auslandes  niedrig,  oder  die  heimische  Ernte 
gering,  so  verdiente  sie  wenig.  Als  Ende  der  siebziger  Jahre  die 
deutschen  Getreideversendungen  aufhörten,  wurde  sie  von  neuem  er- 
heblich getroffen.  Ihr  Unternehmungsgeist  erlahmte,  da  sie  sich  auf 
dem  Weltmeer  kein  Ansehen  erobern  konnte.  Einen  Ersatz  für  den 
Getreidehandel  konnte  sie  nicht  finden,  da  der  Osten  Deutschlands 
nur  wenig  industriell  war.  So  strömte  der  Reederei  kein  Kapital  zu, 
das  sie  in  einer  Zeit  besonders  nötig  hatte,  als  die  großen  Schiffe  die 
kleinen  verdrängten.  Der  weitere  Niedergang  wird  daraus  ersichtlich, 
daß  1873  die  deutsche  Ostseeflotte  noch  2109  Schiffe  mit  454916 
Tonnen  besaß,   1900  nur  noch  840  mit  218750. 

Zu  alledem  kam,  daß  der  Ostseetransport  auch  durch  die  Eisen- 
bahnen zu  leiden  gehabt  hat.  Hamburg  riß  den  Importhandel  für 
Ostdeutschland  dadurch  an  sich,  daß  es  die  billige  Bahnfahrt  benutzte, 
um  es  z.  B.  mit  Kolonialwaren  zu  versorgen.  Die  Ostseeschiffahrt 
beschränkte  sich  seit  ihrem  Niedergang  vornehmlich  auf  ihr  eigenes 
ensfes  Gebiet,  auf  den  Küstenverkehr  mit  den  deutschen,  dänischen, 
schwedischen  und  russischen  Häfen. 

Die  Seereederei  Bremens  und  Hamburgs  ist  durch  den  trans- 
atlantischen Handel  groß  geworden.  Wie  im  18.  Jahrhundert  der 
Freiheitskrieg  der  nordamerikanischen  Kolonien  den  Hansestädten  von 
Nutzen  gewesen  war,  so  im  ersten  Viertel  des  19.  derjenige  der  süd- 
amerikanischen. Diese  neuen  jungen  Staaten  öffneten  ihre  Häfen  allen 
Nationen  unter  den  gleichen  Bedingungen.  Am  Anfang  der  dreißiger 
Jahre  holten  30 — 40  deutsche  Schiffe  Zucker  und  Kaffee  aus  Brasilien. 
Damals  verfügte  Bremen  über  den  größten  Tonnengehalt  unter  allen 
deutschen  Städten.  Mit  dem  Wachsen  der  Schiffsgrößen  war  die  Stadt 
durch  die  geringe  Tiefe  der  Weserrinne  bedroht  worden.  Dem  half 
die  Anlage  von  Bremerhaven  nahe  dem  Meere  ab,  mit  der  1827  be- 
gonnen wurde.  Die  Schiffe,  die  nach  Nordamerika  deutsche  Waren 
brachten,  fanden  eine  regelmäßige  Rückladung-  dort  nicht  immer.  Sie 
suchten  nach  ihr  an  der  langen  Ost-  oder  Westküste  des  Kontinents 
entlang  und  in  Westindien,  gingen  sogar  nach  Ostindien,  wenn  es 
ihnen  auf  dem  westlichen  Erdteil  nicht  glückte.  Eine  große  Erschwerung 
hatte  die  hanseatische  Schiffahrt  in  der  sie  ungünstig  unterscheidenden 
Behandlung  von  selten  Englands,  Spaniens,  Portugals,  Hollands,  Frank- 


112  IIL  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1833  — 1848. 

reichs  und  deren  Kolonien  gegenüber  der  eigenen  Flotte  dieser  Länder 
durchzumachen.  Zwischen  1825  und  41  gelang  es  den  Städten,  eine 
Anzahl  Verträge  abzuschließen,  die  wenigstens  einige  Ermäßigungen 
brachten,  dafür  aber  dem  Gegenkontrahenten  den  fast  freien  Eingang 
bei  sich  gestatteten. 

Es  waren  Stimmen  laut  geworden,  die  für  Deutschland  ein 
Navigationsgesetz  forderten,  wie  das,  durch  welches  England  groß 
geworden  war.  Aber  die  Hanseaten  mußten  sich  mit  Recht  sagen, 
daß  sie  allein  ein  solches  nicht  durchführen  konnten,  weil  dann  die 
fremde  Schiffahrt  sich  anderen  deutschen  Häfen  zugewandt  hätte. 
Daher  erwogen  sie  gelegentlich  den  Anschluß  an  den  deutschen  Zoll- 
verein, dem  sich  ihr  freihändlerischer  Zwischenhandel  lebhaft  wider- 
setzte. Auch  scheint  es  England  verstanden  zu  haben,  alle  deutschen 
nationalen  Pläne  mit  seiner  Diplomatie  zu  durchkreuzen.  1842  wurde 
viel  von  einem  Oberst  Hodges  gesprochen,  der  in  den  Hansestädten 
den  Widerstand  gegen  den  Zollverein  schürte.  Obwohl  man  damals 
über  die  willkürliche  Behandlung  Hamburger  Schiffe  in  Afrika  gerade 
sehr  entrüstet  war,  wurde  doch  bei  der  Geburt  des  Prinzen  von  Wales 
ein  großes  Fest  in  Hamburg  auf  Betreiben  von  „Englisch-Deutschen" 
gefeiert,  bei  dem  die  Militärkapelle  des  Hamburger  Bundeskontigents 
„Rule  Britannia"  aufspielte, 

Es  war  dies  in  demselben  Jahre,  als  Hamburg  vom  4.  bis  8.  Mai 
von  einer  gewaltigen  Feuersbrunst  heimgesucht  wurde,  bei  der  mehr 
als  1000  Häuser  in  Asche  gelegt  und  30000  Menschen  obdachlos 
wurden.  Den  Schaden  schätzte  man  auf  200  Millionen  M.  Banko. 
Ganz  Deutschland  wetteiferte  durch  Sammlungen,  den  vom  Unglück 
Betroffenen  zu  helfen,  ein  schönes  Zeichen,  daß  die  Deutschen  ihre 
Gemeinsamkeit  doch  nicht  ganz  vergessen  hatten,  wenn  sie  auch  erst 
die  Not  daran  erinnern  mußte. 

Die  Ohnmacht  der  deutschen  Schiffahrt,  die  damals  keine  Bundes- 
flagge, keine  Kriegsflotte  schützte,  wird  dadurch  gekennzeichnet,  daß 
unweit  der  Elbemündung  Barbareskenschiffe  erschienen  waren,  und 
hanseatische  Reeder  sich  genötigt  sahen,  englische  und  holländische 
Hilfe  anzurufen  und  dem  Sultan  von  Marokko  ein  Tributangebot  zu 
machen.  Deutsche  Schiffe  konnten,  bevor  die  Franzosen  sich  Algier 
unterworfen  hatten,  der  Seeräuber  wegen  die  Straße  von  Gibraltar 
nicht  passieren,  abgesehen  von  den  schnellen  Frachtschoonern  aus 
Altena,  die  von  Livorno  und  Malaga  Südfrüchte  holten  und  unter 
dänischer  Flagge  segelten,  welche  vermöge  eines  Abfindungsvertrages 
nicht  belästigt  wurden.  Hingegen  spielten  die  dänischen  Kriegsschiffe 
auf  der  Elbe  den  großen  Herrn.  Noch  um  1852  hielten  sie  ein  Ham- 
burger Fahrzeug  an  und  brachten  es  auf,  angeblich  weil  auf  demselben 


III,  Landstraßen,  Eisenbahnen,  Schiffahrt.  117 

das  mißliebige  Lied  „Schleswig- Holstein  meerumschlungen"  gesungen 
worden  war. 

Ende  der  dreißiger  Jahre  waren  50  %  der  in  Hamburg  ein- 
laufenden Schiffe  englischen  Ursprunges,  und  1849  waren  die  Eng- 
länder noch  allen  Flaggen  überlegen.  Lange  Jahre  hindurch  war  der 
Dampfschiffverkehr  nur  in  englischer  Hand. 

Die  ökonomischen  Ziele  Englands  wurden  von  einzelnen  deutschen 
Politikern  wohl  durchschaut,  aber  die  öffentliche  Meinung  verstand  sie 
keineswegs.  1841  schrieb  die  Augsburger  Allgemeine  Zeitung:  „Eng- 
land verfolgt  in  seinem  Verhältnisse  zum  Zollverein  mit  der  größten 
Intelligenz  dieselbe  Politik,  welche  es  seit  Cromwell  gegen  andere 
Nationen  unverrückbar  verfolgt  hat,  und  welche  es  heutzutage,  um  Un- 
wissenden Sand  in  die  Augen  zu  streuen,  mit  dem  lügnerischen  Namen 
der  Handelsfreiheit  dem  Publikum  vorstellt,  wie  ein  Charlatan  auf  der 
Bühne  dem  Publikum  verspricht,  ihm  ein  Krokodil  zu  zeigen,  wenn 
er  eine  Eidechse  im  Kasten  hat",  —  „Er  ist  ein  gemütlicher,  treu- 
herziger Kerl,  dieser  John  Bull  —  versteht  sich  bei  Porter  und 
Beefsteak.  Aber  im  Handel  und  Wandel  ist  er  ganz  Kopf  und  aller 
Ränke  voll  und  schont  seinen  Bruder  nicht,  geschweige  denn  so  weit- 
läufige Vettern,  wie  wir  —  die  Deutschen  —  sind.  Wo  es  sich  um 
Pfunde  und  Schillinge  handelt,  ist  sein  Lächeln  das  eines  Wolfes."  — 
„Wahrhaftig,  ich  bin  voriges  Jahr  in  den  Tod  erschrocken,  als  ich 
Sir  Robert  Peel  die  Deutschen  als  das  edelste  und  großmütigste  Volk 
der  Erde  preisen  hörte.  Offen  gestehe  ich,  mir  klingt  nichts  lieblicher, 
als  die  Schmähungen  der  englischen  Blätter,  versteht  sich,  wenn  von 
Handel  und  Industrie  die  Rede  ist,  weil  ich  dann  weiß,  daß  Deutsch- 
land anfängt  durch  eine  selbständige  Haltung  den  Engländern  Achtung 
einzuflößen," 

Die  Bremer  Tonnage  war  von  1825  bis  1836  im  Verhältnis  wie 
100:170  größer  geworden,  als  beide  Hansastädte  ungefähr  an  Schiffs- 
raum gleichstanden.  Es  war  ihnen  zum  erstenmale  gelungen,  die  nord- 
amerikanische Flagge  zurückzudrängen.  Noch  1820/21  waren  aus 
nordamerikanischen  Häfen  nach  den  Hansastädten  amerikanische  Schiffe 
im  Betrage  von  17308  Tonnen  ausgelaufen,  1838/39  nur  noch  in  einem 
solchen  von  4892.  Andererseits  war  unter  hanseatischer  Flagge  von 
1820/21  bis  1839/40  eine  Steigerung  von  4091  auf  42324  geglückt. 
War  das  Gesetz  von  1793  der  Vereinigten  Staaten,  demgemäß  nur  im 
Lande  erbaute  Schiffe  unter  amerikanischer  Flagge  fahren  durften, 
der  eigenen  Ozeanschiffahrt  abträglich,  oder  mochten  der  teuere  Schiffs- 
bau und  die  hohen  Löhne  des  Schiffspersonals  gegen  die  Amerikaner 
gesprochen  haben,  die  außerordentliche  Rührigkeit  der  Hanseaten  hat 
auch  das  ihrige  zu  ihrem  Erfolg  beigetragen.  Die  Überlieferung  des 
alten  Ruhmes  und  Stolzes  schien  nicht  vergessen  zu  sein,  als  es  diesen 

A.  Sartorius  v.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        8 


114  ^^^'  -^^schnitt.     Die  Zeit  von   1833 — 1848. 

Deutschen  weiterhin  auch  als  keine  zu  große  Gefahr  erschien,  selbst  mit 
England,  dem  Beherrscher  der  Meere,  zu  konkurrieren.  1836  errichtete 
R.  M.  Sloman  in  Hamburg  eine  regelmäßige  Verbindung  nach 
New- York  mit  vier  Seglern.  In  Bremen  hatte  schon  1826  H.  H.  Meier, 
der  unternehmendste  Reeder  der  Stadt,  damit  begonnen.  1848  ging 
das  erste  in  Deutschland  beheimatete  Dampfschiff  nach  England,  1850 
nach  den  Vereinigten  Staaten.  Der  Aufschwung  der  Hamburger  See- 
schiffahrt zeigt  sich  in  diesen  Zahlen: 


Durchschnitt  der  Jahre 


Seeschiffe  überhaupt  Dampfschiffe 

Anzahl  Reg.-Tonnen      Anzahl  Reg.-Tonnen 


Last 

Einlauf               Auslauf 

1847 

52496                 76061 

1862 

125482               130293 

1836  146        25722  —  — 

1841—45  211  39570  3  895 

1856 — 60  483         I3923Ö  18  10282 

1876 — 80  473         230691  110  87050 

Für  Bremen  werden  folgende  Zahlen  angegeben: 

Gesamtverkehr  der  ein-  und  aus-  Transatlantische  Schiffe 

gelaufenen  Schiffe 

Schiffe       Last  (4000  S5) 

1847  5957  360609 

1869         6208  883376 

1869        276660  223466 

Beide  Städte  sind  an  dem  Seeverkehr  nach  Nordamerika  erstarkt, 
aber  sie  haben  den  sonstigen  überseeischeu  auch  schon  früh  und  an- 
dauernd gepflegt.  Sie  knüpften  in  den  dreißiger  Jahren  Verbindungen 
mit  Mexiko,  Westindien  und  Südamerika  an.  Daneben  bemühte  man 
sich  um  den  Verkehr  mit  England  und  Frankreich.  Er  diente  mehr 
der  Einfuhr  als  der  Ausfuhr,  die  jenes  durch  seine  tatsächliche  Über- 
legenheit an  Industriewaren,  dieses  durch  seine  Handelspolitik  hemmte. 

So  sehr  die  Städte  auf  das  Weltmeer  hinausstrebten,  so  war  doch 
insofern  ein  Unterschied  zwischen  beiden,  als  der  Schwerpunkt  des 
Hamburger  Geschäftes  im  Handel,  des  Bremer  in  der  Schiffahrt  lag. 
1840  war  der  Hamburger  Hafenverkehr  in  Gütern  doppelt  so  groß 
als  in  Bremen,  aber  die  Reederei  war  bei  beiden  gleich  stark.  1852 
war  in  der  letzteren  Stadt  der  eigene  Anteil  an  allen  ein-  und  aus- 
gehenden Schiffen  35,53  %,  womit  sie  an  der  Spitze  aller  Flaggen  stand, 
in  der  ersteren  nur  21,78.  Hier  war  die  Handelsüberlegenheit  durch 
die  Elbestraße  und  das  an  sie  angrenzende  Landgebiet  gegeben, 
während  die  Weser  weniger  aufzunehmen  hatte,  und  das  westdeutsche 
überseeische  Geschäft  nach  Holland  und  Belgien  hinneigte.  Von  den 
Kapitalien  drängten  die  Bremer  vorzugsweise  in  die  Schiffswerte,  die 
Hamburger  in    den  Handel,  so   daß  hier   die  Reederei  öfters  zu   kurz 


III.  Landstraßen,  Eisenbahnen,  Schiffahrt. 


115 


kam.  Bremen  hatte  sich  mit  aller  Kraft  auf  die  Beförderung  der 
Auswanderer  geworfen.  1833  hatte  es  8891  nach  Nordamerika  geführt, 
1840  12806,  1852  58551,  Hamburg  1836  nur  2870,  1840  1407  und 
1852  22230.  Bremen  hatte  1832  ein  Auswandererschutzgesetz  erlassen, 
seine  Agenten  betrieben  eine  eifrige  Werbetätigkeit,  und  Südvvest- 
deutschland,  von  wo  die  meisten  Leute  fortzogen,  lag  der  Stadt  näher 
als  Hamburg.  Die  Amerikaner  konnte  man  unterbieten,  da  diese  in 
Deutschland  keine  ausreichende  Rückfracht  aufnehmen  konnten, 
während  man  selbst  in  der  neuen  Welt  genug  davon  vorfand,  um 
die  Auswandererschiffe  zu  befrachten. 

Die  Rechtsform  der  Seereederei  wurde  mit  der  neuen  Technik 
und  dem  an  sie  sich  anschließenden  Großbetrieb  umgestaltet.  Anders 
als  die  handwerksmäßig  in  Gilden  betriebene  Binnenschiffahrt  erschien 
sie  schon  am  Anfang  des  Jahrhunderts  als  privatwirtschaftliche  Unter- 
nehmung. Die  Schiffe  gehörten  den  großen  Kaufleuten,  welche  sie 
bauen  ließen  und  mit  ihren  eigenen  zusammengekauften  Waren  aus 
ihren  Speichern  befrachteten,  in  denen  sie  auch  die  überseeischen  ein- 
gebrachten Güter  bis  zum  Weiterverkauf  lagerten.  Der  Verdienst  war 
sowohl  Fracht-  als  auch  Handelsgewinn,  was  den  Vorzug  hatte,  daß 
bei  dem  Versagen  des  einen  der  andere  den  Schaden  ausgleichen 
konnte.  Schon  1830  machte  sich  die  produktive  Kraft  der  Berufsteilung 
geltend,  der  Handel  löste  sich  von  der  Schiffahrt  ab,  früher,  ent- 
sprechend dem  Gesagten,  in  Hamburg  als  in  Bremen.  Verbreitet  wurde 
jetzt  die  Partenreederei,  bei  der  mehrere  Personen,  die  an  dem  Schiffe 
verdienen  wollten,  der  Kaufmann,  der  Schiffsführer,  der  Provianthändler, 
der  Versicherer,  der  Schiffsbauer  sich  zusammenschlössen,  das  Kapital 
aufbrachten,  die  Seegefahr  gemeinsam  trugen  und  den  Gewinn  nach 
Einlage  und  sonstiger  Leistung  sich  verrechneten.  Als  nun  die  See- 
dampfer allgemein  wurden  und  zu  immer  größeren  Typen  übergingen, 
mußten  die  Geldmittel  aus  weiteren  Kreisen  der  Stadt  oder  dem  son- 
stigen Deutschland,  selbst  dem  Auslande  herbeigezogen  werden.  Jetzt 
wurde  die  Aktiengesellschaft  mit  ihrer  vereinigten  Kapitalmacht  und 
Gefahrverteilung  auf  viele  Personen  die  maßgebende  Geschäftsform, 
die  sich  bis  in  die  Gegenwart  behauptet  hat. 

In  der  Mitte  des  Jahrhunderts  bestand  das  Haupthandelsgeschäft 
der  Hansastädte  darin,  aus  überseeischen  Gebieten  Genußmittel,  Zucker, 
Kaffee,  Tabak,  Gewürze  und  einige  Rohstoffe  für  die  Industrie  ein- 
zuführen. Die  Ausfuhr  von  deutschen  Fabrikaten  war  noch  beschränkt, 
und  oft  brachten  nur  die  Auswanderer  die  Summen  ein,  um  die  Aus- 
fahrtkosten zu  decken.  Der  Importhandel  spezialisierte  sich  nicht 
nach  Waren,  wie  später,  sondern  nach  Ländern  und  Gegenden.  Ein 
Sohn  wird  hinausgesandt,  bleibt  Jahrzehnte  draußen,  kauft  dort  alles 
Begehrenswerte  ein,  verkauft  dort  importierte  Waren  jederlei  nationaler 


jl5  ni.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1833 — 1848. 

Herkunft.  Die  Kolonialwaren  werden,  in  Hamburg  oder  Bremen  an- 
gelangt, in  das  Inland  weiterverkauft,  auch  an  einen  anderen  Kauf- 
mann in  der  Stadt  abgesetzt,  der  die  Kundschaft  im  Binnenlande  kennt. 
Die  Niederlassung  in  Übersee  war,  als  regelmäßige  Dampferlinien 
aufkamen,  kein  Wagnis  mehr  an  den  Orten,  die  sie  berührten.  Überall 
ließen  sich  hier  Konkurrenten  nieder,  die  Nordamerikaner  brachten 
zudem  den  Ausfuhrhandel  zum  Teil  in  die  eigenen  Hände,  vor  allem 
nach  dem  Bürgerkriege,  als  die  Nordländer  die  Früchte  ihres  Sieges 
in  den  Südstaaten  zu  pflücken  wußten. 

Die  Auslandsdeutschen  hatten  sich,  wenn  sie  wie  ehedem  weiter 
wirtschaften  wollten,  als  Kaufleute  auf  Mittel-  und  Südamerika  zurück- 
zuziehen, überhaupt  auf  die  Tropen,  dort,  wo  sie  die  guten  Plätze 
nicht  von  den  Engländern  besetzt  fanden.  Hier  verstanden  sie  es,  mit 
den  Eingeborenen  Fühlung  zu  nehmen,  sprachen  spanisch  und  portu- 
giesisch und  erregten  den  Neid  der  sprachlich  unbeholfenen  Engländer 
und  Nordamerikaner,  insbesondere  als  die  deutsche  Industrie  solide 
,  und  vielseitig  wurde  und  daher  an  Absatz  gewann.  Wenn  das  Ge- 
schäft in  solchen  Hafenstädten  sieht  nicht  mehr  lohnte,  gingen  sie  in 
das  Innere  des  Landes  hinein,  um  ihr  Glück  hier  von  neuem  zu  ver- 
suchen, und  drangen  selbst  bis  in  die  Wildnis  vor,  in  der  sie  ihre 
Faktorei  errichteten,  eine  große  gemischte  Warenhandlung,  die  in  der 
nächsten  Hafenstadt  alles  aufstapelte  und  von  dort  nachkommen  ließ, 
was  den  Bedürfnissen  in  Busch,  Wald  und  Steppe  entsprach. 

IV.  Die  Fortschritte  der  Landwirtschaft.  Die  Land- 
wirtschaftslehre war  in  Deutschland  während  der  ersten  Jahrzehnte 
des  19.  Jahrhunderts  von  Thaer,  Schwerz,  Burger,  weiterhin  von 
Schülern  des  ersteren,  Koppe,  Wulf  fen ,  Block  und  Schweitzer 
aus  einer  Summe  praktischer  Erfahrungssätze  auf  die  Höhe  der  Wissen- 
schaft gehoben  worden.  Entbehrte  sie  auch  noch  der  naturwissen- 
schaftlichen Voraussetzungen,  so  war  sie  doch  von  einem  allgemeinen 
ökonomischen  Gesichtspunkte  aus  und  nach  den  Regeln  der  Technik 
systematisch  so  durchgebildet  worden,  daß  sie  bei  einem  theoretisch 
begabten  Volke  ihre  große  Wirkung  nicht  verfehlen  konnte. 

Indessen  hatte  ihr  Eindringen  in  die  Praxis  vor  den  dreißiger 
Jahren  mit  schweren  äußeren  Hindernissen  zu  kämpfen,  den  Folgen 
der  Kriegszeit  und  der  Agrarkrise.  Die  jetzt  kommende  Zeit  des  ge- 
werblichen und  kommerziellen  Aufschwunges  erhöhte  die  landwirtschaft- 
lichen Renten  und  brachte  damit  den  Landwirten  die  Möglichkeit,  an 
Betriebsverbesserungen  heranzutreten,  welche  die  Wissenschaft  vor- 
gezeichnet hatte.  Erforderlich  wurde  nicht  bloß  die  Kenntnis  der  eng- 
lischen Fortschritte,  wie  sie  schon  ehedem  Arthur  Young  bekannt- 
gegeben hatte,  sondern  auch  eine  solche  Übertragung  auf  Deutschland, 


.  IV.  Die  Fortschritte  der  Landwirtschaft.  nj 

daß  sie  den  natürlichen  und  geschichtlich  gegebenen  Zuständen  an- 
gepaßt wurde. 

Der  Mann,  der  das  Werk  vollbracht  hat,  dann  durch  zielbewußte 
Zusammenfassung  der  gesamten  Lehre  über  diese  Aufgabe  hinaus- 
gegangen ist,  war  Albrecht  Thaer  aus  Celle  (1752  — 1828),  gleich- 
bedeutend als  Schriftsteller,  akademischer  Lehrer,  Begründer  landwirt- 
schaftlicher Schulen  und  Praktiker  des  Versuchswesens.  Sein  Haupt- 
werk , .Grundsätze  der  rationellen  Landwirtschaft"  stellt,  losgelöst  von 
der  alten  Kameralwissenschaft,  eine  neue  Privatwirtschaftslehre  auf, 
die,  von  dem  Eigentum  an  Land  und  der  Verkehrsproduktion  aus- 
gehend, den  Satz  verteidigt,  daß  die  vollkommenste  Landwirtschaft 
diejenige  ist,  die  den  höchsten  nachhaltigen  Reinertrag  erzielt.  Die 
Voraussetzung  dazu  ist  die  volle  freie  Verfügbarkeit  über  den  Boden, 
die,  Beseitigung  aller  noch  bestehenden  Beschränkungen  des  Flurzwanges, 
der  alten  Dienstleistungen  und  Abgaben,  der  Gemeinheiten,  der  Weide- 
servituten.  Dann  erst  vermag  jedes  Gut  ein  geschlossenes  Ganzes  zu 
werden,  dessen  beide  Hauptbetriebsarten,  der  Ackerbau  mit  Frucht- 
wechsel und  die  Viehhaltung  mit  dauernder  Stallfütterung,  ineinander 
zu  greifen  haben. 

Zu  den  Schülern  von  Thaer  gehört  auch  J.  H.  von  Thünen 
(1783  — 1850),  der  'die  reinen  Landwirtschaftler,  die  in  der  Vervoll- 
kommnung der  Technik  aufgingen,  den  national-ökonomischen  Satz  von 
dem  relativen  Wert  der  Ackerbausysteme  lehrte.  Er  untersuchte  unter 
Anwendung  einer  eigenen  Methode  in  seinem  Buche  „Der  isolierte 
Staat  in  Beziehung  auf  Landwirtschaft  und  Nationalökonomie,  1826" 
den  Einfluß  der  Transportkosten  bis  zum  Markt  von  Getreide,  Holz,  Vieh 
auf  die  Betriebsweise  und  kam  zu  dem  Schluß,  daß  die  wachsende  Inten- 
sität derselben  die  erleichterte  Verkaufsmöglichkeit  zur  Voraustzung 
habe.  Auch  andere  volkswirtschaftliche  Einsichten  sind  Thünen  zu 
verdanken,  besonders  auf  dem  Gebiete  der  durch  den  näheren  oder  ferneren 
Absatzort  des  Getreides  differenzierten  Grundrente.  Seine  später  ver- 
öffentlichte Sozialpolitik,  die  in  eine  wenig  glückliche  mathematische 
Spielerei  auslief,  enthält  die  damals  neue  Wendung,  daß  es  gerecht  sei, 
entsprechend  dem  Wachsen  der  allgemeinen  volkswirtschaftlichen  Pro- 
duktivität auch  den  Lohn  in  die  Höhe  zu  setzen.  Seiner  Erklärung 
des  tatsächlich  gezahlten  Lohnes  und  des  Zinses  steht  die  Grenznutzen- 
lehre   der   späteren    österreichischen   Schule  nahe. 

Die  alte  Dreifelderwirtschaft  wurde  in  den  dreißiger  und  vierziger 
Jahren  vielfach  abgeändert.  Rotklee,  Kartoffeln,  Rüben  und  Hülsen- 
früchte traten  an  die  Stelle  der  Brache.  Die  „verbesserte  Dreifelder- 
wirtschaft" löst  sich  in  eine  größere  Zahl  von  Schlägen  auf.  Die  Auf- 
einanderfolge des  Halmbaues  während  zweier  Jahre  und  die  beschränkte 
Brache   blieben    dabei    fortbestehen.     Das   ist   bei   dem    Fruchtwechsel 


Il8  III-  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1833  — 1{ 


nicht  der  Fall,  bei  dem  eine  regelmäßige  Umschicht  von  Blatt-  und 
Halmfrüchten  stattfindet,  von  denen  die  letzteren  nie  mehr  als  die 
Hälfte  der  Schläge  in  Anspruch  nehmen.  Namentlich  in  den  west- 
lichen tief  gelegenen  Gebieten  Deutschlands  ging  man  bald  zu  diesem 
System  über.  Auf  den  meisten  Gütern  des  nordöstlichen  Preußens, 
Holsteins,  Mecklenburgs  verbesserte  man  die  Koppel-  oder  Feldgras- 
wirtschaft, indem  man  sie  einer  festen  Reihenfolge  von  Schlägen  unter- 
warf und  Blattfrüchte  einschob.  Alle  veränderten  Anbauweisen  ge- 
statteten eine  größere  Viehhaltung.  Die  Sommerstallfütterung  wurde 
möglich,  und  bessere  Viehrassen  traten  an  die  Stelle  der  alten.  Man 
zählte  in  Preußen: 


Pferde 

Rindvieh 

Schafe 

Ziegen 

Schweine 

I8I6 

I  243  261 

4013912 

8  260396 

143433 

1494369 

1849 

1575417 

5371644 

16  296928 

584771 

2  466316 

Nach  Th.  v.  d.  Goltz  waren  im  Anfang  des  Jahrhunderts  auf 
dem  Gebiete  des  heutigen  deutschen  Reiches  2 1  Millionen  ha.  Acker- 
land vorhanden,  davon  nicht  ganz  y^  Brache.  50  Jahre  später  schätzte 
er  die  letztere  noch  auf  15%,  welche  Minderung  einem  Mehrerzeugnis 
an  Getreide  oder  Produkten  gleichen  Wertes  von  120  Millionen  Ztr. 
entsprochen  habe. 

Die  Fortbildung  der  Landwirtschaft  im  Sinne  rationeller  Inten- 
sität hat  sich  in  den  einzelnen  Landesteilen  verschieden  vollzogen,  da 
sie  bedingt  war  sowohl  durch  Klima  und  Feuchtigkeit  des  Bodens 
und  die  Handels-  und  Transportverhältnisse,  als  auch  durch  die  Aus- 
führung der  sozialen  Agrargesetzgebung  und  deren  Folgen. 

In  den  Marken  hatte  sich  die  Vergrößerung  der  Güter  bei  der 
Ablösung  der  bäuerlichen  Verpflichtungen  gegen  Bauernland  insofern 
nützlich  erwiesen,  als  in  der  Hauptstadt  ein  guter  Absatz  der  ver- 
mehrten Feldprodukte  vorhanden  war,  und  Land-  und  Wasserstraßen 
und  später  die  Eisenbahnen  die  Mehrprodukte  fortführten.  Auch  die 
Brennerei  machte  sich  mit  der  verstärkten  Kartoffelpflanzung  bezahlt 
und  wurde  technisch  vervollkommnet.  Die  Schafzucht  mit  Merinos 
wurde  gewinnbringender,  als  im  Zollverein  die  Fabriken  erstarkten 
und  die  Wolle  dauernd  zu  guten  Preisen  aufnahmen.  Im  benachbarten 
Posen  entstanden  ähnliche  Verhältnisse  der  Produktion  und  des  Ver- 
kaufes, die  Provinz  war  aber  durchweg  weit  weniger  lebhaft  und  zeit- 
gemäß fortschreitend,  da  mit  der  ungeordneten  polnischen  Arbeitsart' 
und  Lebensweise  erst  gründlich  aufgeräumt  werden  mußte,  eine  Aufgabe 
die  sich  die  preußischen  Gutsbesitzer,  Beamten  und  Schulen,  ohne  je 
Dank  zu  ernten,  angelegen  sein  ließen.  Anders  lagen  die  Verhält- 
nisse in  den  Ostseeländern.  Mit  dem  Steigen  der  Getreidepreise 
verband    sich   in  Ost-  und  Westpreußen    eine  wachsende  Ausfuhr,    die 


IV.  Die  Fortschritte  der  Landwirtschaft. 


119 


die  Nichterreichbarkeit  des  damaligen  Berliner  Marktes  ausglich.  In 
Pommern  hatten  sich  die  großen  Besitzer  während  der  Argrarkrise 
besser  gehalten  als  in  der  östlichen  Nachbarschaft.  Jetzt  profitierte 
man  hier  von  der  ausgedehnten  Schafhaltung  und  dem  Ostseehandel 
um  so  mehr.  Dasselbe  galt  für  Mecklenburg,  das  durch  seine  Boden- 
beschaffenheit für  Körnerfrucht  begünstigt  ist.  Die  dortige  mit  der 
Koppelwirtschaft  verbundene  Viehhaltung  diente  daher  vor  allem  der 
Düngerherstellung,  während  in  Holstein  die  Aufzucht  von  Rindern 
und  Pferden  und  die  Butter-  und  Käsebereitung  der  hauptsächlichste 
Betriebszweck  waren,  dem  durch  den  starken  Verkauf  außerhalb  der 
Landesgrenzen  entsprochen  wurde. 

Weniger  rasch  als  die  bisher  genannten  Gebiete  hatte  sich 
Schlesien  von  den  schlimmen  Zeiten  erholen  können.  Viele  Land- 
wirte waren  verarmt  und  konnten  von  der  ReguHerung  des  Bauern- 
landes bei  dem  Absatzmangel  vor  der  Eisenbahnzeit  keinen  Vorteil 
ziehen.  Nur  in  den  Teilen  des  Landes,  in  denen  die  Industrie  er- 
blühte, gelang  es,  die  Nahrungsmittel  zu  steigenden  Preisen  zu  ver- 
kaufen. Ein  Fortschritt  kam  unerwartet  in  der  Mitte  der  dreißiger 
Jahre  durch  den  Anbau  von  Zuckerrüben. 

Die  Gewinnung  des  Zuckers  aus  Rüben  geht  auf  den  deutschen 
Chemiker  Markgraf  zurück,  der  1747  Zucker  zuerst  in  der  Runkel- 
rübe nachwies.  1798  entstand  in  Schlesien  die  erste  gewerbliche  An- 
lage, in  welcher  F.  Archard  besonders  gezüchtete  Rüben  verarbeitete. 
Während  der  Kriegsjahre  konnte  sie  sich  nicht  halten,  die  späteren 
Jahre  der  Kontinentalsperre  regten  jedoch,  wie  hier,  so  auch  in  der 
Magdeburger  Gegend,  zu  neuen  Versuchen  an.  Auch  in  Baden  ist 
damals  schon  die  Zuckerrübe  gepflanzt  worden.  Nach  18 15  erstickte 
die  Einfuhr  billigeren  indischen  Rohrzuckers  die  Ansätze  der  Industrie. 
Unter  dem  Finanzzoll  Preußens  und  des  Zollvereins  von  5  Tlr.  auf 
den  Zentner  konnte  die  Herstellung  wieder  aufgenommen  werden  und 
wurde  nun  bald  heimisch,  zumal  der  Zuckerkonsum  in  Deutschland 
gewohnheitsmäßig  hoch  stand,  1832  auf  5  Pfund  für  den  Kopf  be- 
rechnet wurde,  während  man  ihn  in  Frankreich  nur  auf  3 1/2  schätzte. 
Die  Statistik  meldet  für  1837  122  Fabriken  mit  einem  Jahresergebnis 
von  28000  Zentner  Rohzucker.  Schon  1841/42  kamen  auf  jedes  Werk 
im  Durchschnitt  2332,    10  Jahre  später  5390  Zentner. 

Die  Zuckerindustrie  in  Deutschland  liefert  einen  Beweis  dafür, 
wie  ein  Gewerbe  mit  guten  natürlichen  Vorbedingungen  unter  einem 
ausreichenden  Zoll  rasch  erstarken  kann.  Doch  würde  sich  der  Vor- 
gang langsamer  vollzogen  haben,  wenn  nicht  das  System  der  Roh- 
materialsteuer anreizend  hinzugekommen  wäre,  aus  der  Rübe  eine 
möglichst  große  Ausbeute  an  Rohzucker  zu  gewinnen.  Die  Züchtung 
einer  widerstandsfähigen,  sehr  zuckerreichen  Feldfrucht  gelang  —  ver- 


I20  III-  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1833 — 1848. 

edelte  Rüben  wurden  15  —  iS^/q  zuckerhaltig,  waren  auf  das  dreifache 
gehoben  — ,  und  Wissenschaft  und  Technik  wetteiferten  in  der  Aus- 
beutungsfähigkeit für  die  Fabriken.  1840  brauchte  man  20  Zentner 
Rüben,  um  einen  Zentner  Zucker  zu  erzeugen,  1860/70  durchschnittlich 
12^2»  und  im  folgenden  Jahrzehnt  nur  noch  10.  Unter  der  steigenden 
Nachfrage  der  Fabriken  nach  Rohstoff  erblühte  die  Landwirtschaft  ihrer 
Umgebung.  Der  Boden  wurde  tiefer  gepflügt,  und  die  entzuckerten 
Rübenschnitzel  wurden  ihm  im  Viehfutter  als  wertvolles  Düngemittel 
zurückgegeben.  Bis  in  die  Mitte  des  Jahrhunderts  befanden  sich  die 
Werke  in  der  Hand  eines  Landwirtes  oder  mehrerer  gemeinsam,  welche 
die  Rüben  anbauten  und  für  ihre  Rechnung  verarbeiten  ließen.  Die 
fnnere  Steuer,  von  Preußen  1840  eingeführt,  war  zuerst  gering,  und 
wurde  nach  und  nach,  als  sie  der  Zollverein  übernommen  hatte,  erhöht. 
Der  Rübenzucker  hat  den  kolonialen  nicht  bloß  auf  dem  deutschen 
Markt  verdrängt,  sondern  sich  weiterhin  ihm  auch  auf  dem  Weltmarkt 
ebenbürtig  entgegengestellt. 

Von  den  preußischen  Provinzen  wurde  später  Sachsen  für  den 
Rübenanbau  die  wichtigste.  Es  hatte  1851/52  102  Fabriken,  während 
auf  Schlesien  47,  auf  Anhalt  21  und  Braunschweig  8  entfielen.  Die 
neuerworbene  Provinz  erfreute  sich  schon  vor  18 15  eines  besonderen 
Wohlstandes  und  wurde  von  dem  landwirtschaftlichen  Preisdruck  der 
zwanziger  Jahre  weniger  betroffen  als  der  Osten  der  Monarchie.  Der 
gesicherte  Absatz  des  Getreides  in  Magdeburg  und  Leipzig,  die  gute 
Verbindung  mit  Berlin  und  Hamburg,  der  verbreitete  Anbau  von 
Handelsgewächsen,  des  Rapses,  der  unter  der  Kontinentalsperre  auf- 
gekommenen Zichorie,  des  Kümmels  und  Anises,  auch  die  Schafzucht 
ermöglichten  den  nicht  zu  vielen  großen  und  den  vielen  mittleren 
Landwirten  das  Durchhalten.  Als  nun  die  Weizenpreise  wieder  stiegen 
und  England  als  Käufer  auftrat,  fand  eine  regelmäßige  bedeutende 
Ausfuhr  auf  dem  Elbewege  statt,  die  in  der  Gegend  von  Halberstadt 
und  Magdeburg  und  in  Teilen  der  Altmark  weite  zusammenhängende 
Weizenflächen  entstehen  ließ.  In  Anhalt  und  Braunschweig 
bildeten  sich  gleiche  landwirtschaftliche  Verhältnisse  wie  in  Sachsen 
heraus,  und  diese  Ähnlichkeit  ist  so  im  weiteren  Verlaufe  des  Jahr- 
hunderts geblieben. 

Im  Königreich  Hannover,  wo  die  mittleren  Bauerngüter  zahl- 
reich waren,  fehlten  die  guten  Vorbedingungen  für  die  Schafzucht. 
Der  Ackerbau  war  bei  der  zunehmenden  Bevölkerung  zwar  besser 
geworden,  die  Brache  wurde  eingeschränkt,  obwohl  man  willkürlich 
ohne  viel  System  wirtschaftete.  Doch  reichte  man  für  den  heimischen 
Verbrauch  kaum  aus,  so  daß  namentlich  Weizen  aus  Preußen  einge- 
führt werden  mußte.  In  den  südlichen  Landesteilen  überwog  der 
Körnerbau,  in  den  nördlichen  die  Viehzucht.    Der  Weizen  gedieh  jedoch 


IV.  Die  Fortschritte  der  Landwirtschaft.  1 2  I 


am  besten  in  den  Marschen.  Die  Kornbrennerei  war  verbreitet.  Ein 
Verkauf  nach  dem  Ausland  fand  nur  aus  Ostfriesland  mit  seinem 
guten  Boden  statt,  von  Weizen,  Hafer,  Rapssamen,  Butter  und  Vieh, 
vornehmlich  nach  England.  Das  dünnbevölkerte  östliche  Westfalen 
versorgte  die  Bergwerks-  und  Industrieorte  des  westlichen  und  sandte 
auch  noch  einen  mäßigen  Teil  seines  Überschusses  die  Weser  abwärts. 
Die  Rheinprovinz  bedurfte  bei  ihrer  bedeutenden  Gewerbstätigkeit 
einer  Zufuhr  aus  den  östlichen  Nachbarländern.  Der  Kleinbesitz  war 
sehr  verbreitet  und  brachte  wenig  zum  Verkauf.  In  den  zwischen 
Rhein,  Mosel,  Luxemburg  und  Belgien  gelegenen  agraren  Gebieten 
galt  der  Ackerbau  auf  dem  gebirgigen  Boden  für  rückständig.  Eine 
Kornausfuhr  auf  dem  Rhein  fand  von  hier  ausnahmsweise  nur  in 
besonders  guten  Erntejahren  statt. 

In  Nassau,  Hessen -Darmstadt  und  der  Pfalz,  insbesondere 
im  Rheintal,  hatte  schon  vor  der  hier  beschriebenen  Zeit  ein  intensiver 
Landbau  im  Kleinbetrieb  bestanden.  Die  Städte  wie  Frankfurt,  Mainz, 
Worms,  Speyer  waren  die  Abnehmer  des  Getreides,  des  Weins  und 
Tabaks.  In  Baden  kamen  bei  ähnlicher  Kultur  in  den  tief  gelegenen 
Landesteilen  noch  der  Hanf,  Raps,  Hanfsamen,  Lein,  Leinsamen, 
Hopfen,  Mohn  und  die  Zichorie  zu  jenen  Handelsgewächsen  hinzu, 
alles  Produkte,  deren  Überschuß  in  guten  Jahren  auch  in  die  Schweiz, 
die  Rheinprovinz  und  nach  Holland  versandt  wurde.  Das  gleiche 
galt  von  Württemberg,  abgesehen  von  den  Landesteilen,  in  denen 
die  Bodenzersplitterung  bei  stark  wachsender  Bevölkerung  im  Über- 
maß vorhanden  war.  Hier  konnten  sich  die  Familien  auf  den  Zwerg- 
betrieben nicht  mehr  ernähren.  Selbst  der  Kartoffelanbau,  so  verbreitet 
er  geworden  war,  reichte  nicht  aus.  Eine  eingehende  Schilderung  hat 
List  gegeben,  als  er  die  starke  süd westdeutsche  Auswanderung  nach 
Amerika  im  Anfange  der  vierziger  Jahre  erklärte  und  zu  ihrer  Ver- 
meidung die  Erweiterung  der  süddeutschen  Industrie  forderte.  Am 
schlechtesten  lebten  die  Weingärtner,  das  waren  1841  19000  Familien 
oder  11,7%  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung,  die  nur  über  i,4iVo 
des  landwirtschaftlich  benutzten  Bodens  verfügten. 

Die  ostbayerische  Landwirtschaft  ist  der  norddeutschen  gegen- 
über rückständig.  Der  Getreidebau  reicht  für  den  heimischen  Ver- 
brauch jetzt  so  ziemlich  aus,  gelegentlich  finden  Ausfuhren  nach 
Österreich  statt,  aber  die  Dreifelderwirtschaft  ist  nicht  überwunden. 
Die  Schafzucht  ist  nur  gering.  Ausgedehnte  Landstriche  sind  in  Alt- 
bayern nicht  angebaut,  die  Wiesenkultur  ist  im  Regenkreise  schlecht, 
die  dauernde  Stallfütterung  wird  von  den  Bauern  abgelehnt,  der  Dünger 
mangelhaft  ausgenutzt,  der  Flachsbau  deckt  den  Bedarf  nicht,  die 
Ackergerätschaften  gelten  als  unvollkommen.  Die  Bauerngüter  sind 
in     der     Flur    vieler     Teile    des     südlichen     Bayerns    besonders    zer- 


122  III'  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1833  —  li 


Stückelt.  Über  die  Güterzertrümmerung  und  den  Wucher  wird  geklagt. 
Die  Edikte  und  Verordnungen  von  18 13  und  1824  gegen  die  erstere 
haben  sich  nicht  als  wirksam  erwiesen.  In  Franken  und  in  der  Oberpfalz 
sind  einige  Fortschritte  bei  den  Handelsgewächsen  zu  bemerken.  Der 
Hopfenbau  gedeiht  recht  gut,  Flachs,  Hanf  und  Tabak  werden  reich- 
licher gewonnen  als  früher. 

Nicht  besser  als  im  südHchen  Bayern  war  der  Landbau  in  den 
thüringischen  Staaten,  besonders  auf  dem  Walde,  wo  nur  Kar- 
toffeln, Hafer  und  Gerste  gediehen.  Aber  auch  in  der  Ebene,  selbst 
in  der  fruchtbaren  gothaischen,  waren  die  Ernten  durchschnittlich 
gering.  Wohlstand  herrschte  in  Altenburg,  wo  auf  den  großen 
Bauerngütern  der  früher  schon  hohe  Ertrag  durch  zeitgemäße  Neuerungen 
gesteigert  worden  war,  so  daß  bedeutende  Mengen  von  Getreide  und 
Vieh  nach  dem  Königreich  Sachsen  abgegeben  wurden.  Hier 
blieb  die  von  altersher  gepflegte  Schafzucht  zwar  noch  dem  Gutsbesitz 
erhalten.  Wo  hingegen  die  Bodenzerstückelung  trotz  des  durch  die 
Gesetzgebung  stark  beschränkten  Landverkaufes  f ortschritt,  mußte  sie 
eingestellt  werden.  Die  zunehmende  Verbraucherzahl  des  industriellen 
Königreichs  erheischte  immer  mehr  die  Kartoffel,  deren  Anbau  im 
Erzgebirge  bei  den  dortigen  gewerblichen  Arbeitern  im  Nebenbetrieb 
allgemein  übhch  wurde.  Die  Getreideerzeugung  in  der  Ebene  war 
wohl  gehoben  worden,  doch  reichte  sie  nicht  ganz  aus,  so  daß  Zu- 
fuhren aus  Böhmen,  vor  allem  aus  Preußen,  nötig  waren. 

Die  hier  gegebene  Übersicht  zeigt,  daß  Deutschland  trotz  seiner 
Bevölkerungszunahme  in  der  Lage  war,  sich  selbst  zu  ernähren,  und 
auch  einiges  an  Lebensmitteln  und  Handelsgewächsen  zur  Ausfuhr  zu 
bringen.  Die  Versorgung  blieb  wie  ehedem  in  mehreren  Landesteilen 
noch  unsicher  und  unregelmäßig,  bedurfte  der  verbesserten  Verkehrs- 
mittel neuzeitlicher  Technik  und  des  industriellen  Aufschwunges  als 
Voraussetzung  weiteren  Ausgleiches. 

Landwirtschaftliche  Geräte  wurden  von  der  Industrie  nach  aus- 
ländischen Mustern  verbessert  und  auf  den  Markt  gebracht,  während  man 
sich  an  den  Bau  von  Maschinen  nur  ausnahmsweise  heranwagte.  Die 
meisten  und  besseren  bezog  man  aus  England  und  Belgien.  Die 
Weltausstellung  in  London  1851  zeigt  die  volle  Überlegenheit  beider 
Länder,  zu  denen  noch  Nordamerika  auf  diesem  Gebiete  hinzutrat. 
Der  Zollverein  hatte  weder  an  landwirtschaftlichen  Werkzeugen  noch 
Maschinen  etwas  auszustellen  gewagt,  als  die  Engländer  schon  in 
großen  Sälen  ihre  Säe-,  Schneide-,  Dibbel-  und  Dreschmaschinen,  neue 
Arten  von  Pflügen,  darunter  Dampf  pflüge,  vorführten. 

Auch  die  agrar-sozialen  Zustände,  die  sich  nach  der  Bauern- 
befreiung in  Deutschland  sehr  verschieden  gestaltet  hatten,  waren  für 
die  Lebenslage  der  landwirtschaftHchen  Bevölkerung  stark  mitbestimmend. 


IV.  Die  Fortschritte  der  Landwirtschaft.  123 


Im  ganzen  hatte  die  veränderte  Rechtslage  auf  die  großen  und  mitt- 
leren Besitzer  günstig  eingewirkt.  Fleiß,  Ordnungs-  und  Sparsinn 
waren  gehoben.  Die  freie  Konkurrenz  und  das  Selbstverantwortlichkeits- 
gefühl der  gebildeten  Landwirte  regte  mächtig  dazu  an,  die  Betriebs- 
weise zu  heben  und  die  mit  dem  neuen  Verkehr  gegebenen  Möglich- 
keiten auszunützen. 

Der  gesetzlichen  Aufhebung  der  agrarisch-ständischen  Gesell- 
schaft durch  die  Einzelstaaten  lag  der  Gedanke  zugrunde,  daß  die 
freiere  Bewegung  der  bisher  herrschenden  und  beherrschten  Klasse 
im  ökonomischen  Gesamtinteresse  liege.  Der  ersteren  Schaden  zuzu- 
fügen, war  nicht  beabsichtigt,  insbesondere  in  Preußen  nicht,  wo  der 
Adel  mit  Staat  und  Krone  eng  verbunden  war.  Hier  wurde  die  Ab- 
lösung von  Frohnden  und  Abgaben  auf  den  größeren  Bauerngütern 
so  durchgeführt,  daß  der  Berechtigte  mit  Land  oder  Geld  entschädigt 
wurde.  Aller  landwirtschaftliche  Boden  bestand  von  nun  an  aus  Privat- 
eigentum der  grundsätzlich  gleichberechtigten  Bürger.  Daraus  folgte 
eine  neue  Gliederung  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung.  Es  gab 
einerseits  Landbesitzer  und  besitzlose  Arbeiter,  andererseits  große,  mittlere 
und  kleine  Landeigentümer.  Aus  dem  Adel  gingen  die  großen,  aus 
den  ehemals  unfreien  Bauern  die  mittleren  und  kleinen  Besitzer  hervor 
Die  Landarbeiter  entstanden  größtenteils  aus  rechtlichen  Vorgängen, 
die  mit  der  Regulierung  zusammenhingen.  Das  war  der  Anfang. 
Da  der  Boden  jedermann  zugänglich  war,  erwarben  bald  auch  kapital- 
besitzende Städter,  recht  auffällig  während  der  Preissenkung  von  1820 
bis  1830,  Boden,  und  wer  sich  von  den  kleinen  Landeigentümern  unter 
dem  ökonomisch  freien  Mitbewerb  nicht  halten  konnte,  wurde  in  die 
Gruppe  der  Arbeiter  eingereiht. 

Die  soziale  Neuerung  beeinflußte  sofort  die  landwirtschaftliche 
Betriebsweise.  Wer  Eigentümer  war,  mußte  in  der  Verkehrswirt- 
schaft für  eigene  Rechnung  und  Gefahr  tätig  sein  oder  verpachten, 
und  wer  mit  der  eigenen  Arbeitskraft  und  derjenigen  seiner  Familie 
nicht  auskam,  hatte  Arbeiter  heranzuziehen,  die  er  mit  Geld,  Natu- 
ralien oder  Landnutzung  bezahlt  machte.  Im  letzteren  Falle  wirt- 
schafteten die  Arbeiter  ebenso  auf  eigene  Rechnung  wie  die  länd- 
lichen Kleineigentümer,  die  Arbeit  suchen  mußten,  falls  ihr  Besitz 
nicht  groß  genug  war,  sie  ganz  zu  beschäftigen  oder  zu  ernähren. 
Wer  Geldlohn  bezog,  hatte  sich  ebenfalls  an  die  Verkehrswirtschaft 
anzupassen.  In  die  gesamte  Umwandlung  griff  die  individuelle  Aus- 
lese ein.  Schwächere  Naturen  wurden  herabgedrückt,  stärkere  gelangten 
nach  oben.  Diese  Umschichtung  mußte  sich  besonders  fühlbar  machen, 
weil  alles  unfertig,  und  bei  der  Lösung  der  überkommenen  Gemein- 
schaftsbande jeder  unvermittelt  auf  sich  allein  angewiesen  war.  Durch 
die  Agrarkrise  wurde  die  Konkurrenz  noch  verstärkt. 


124  III-  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1833 — 1848. 

Obwohl  in  der  zweiten  Hälfte  des  18,  Jahrhunderts  von  preußischen 
Rittergutsbesitzern  gesprochen  wurde,  die  persönlich  die  Wirtschaft 
führten,  so  war  dieser  Zustand  keineswegs  die  allgemeine  Regel.  In 
den  ersten  Jahrzehnten  des  neuen  Jahrhunderts  wurde  es  durchweg 
üblich,  daß  die  Großgrundbesitzer  zur  Selbstverwaltung  übergingen. 
Einfluß  hierauf  hat  Thaer  gehabt,  der  bemittelte  junge  Leute  aus 
alten  Familien  zu  seiner  landwirtschaftlichen  Anstalt  heranzog,  auf 
der  sie  manche  Anregung  zu  zeitgemäßen  Neuerungen  empfingen. 
Manche,  die  als  Offiziere  aus  Frankreich  heimkehrten,  suchten  nach 
sie  ausfüllender,  verantwortlicher  Tätigkeit,  anderen  war  mit  der  Regu- 
lierung der  bäuerlichen  Verhältnisse  die  Notwendigkeit  aufgelegt,  sich 
um  ihr  Gut  eingehend  zu  bekümmern.  Ihre  Landfläche  war  ver- 
größert worden,  nun  mußten  sie  für  das  erforderliche  Betriebskapital 
sorgen,  Gebäude  aufführen  und  sich  nach  Arbeitern  umsehen.  Kamen 
ihnen  auch  die  Landschaften  mit  Kreditgewährung  zu  Hilfe,  so  schien 
doch  alles  in  der  Zeit  der  sinkenden  Getreidepreise  gefährdet,  so  daß 
sie  stets  auf  dem  Posten  sein  mußten.  Diejenigen,  die  durchhielten, 
waren  mit  ihrem  Betrieb  jetzt  so  verwachsen,  daß  sie  sich  nicht  von 
ihm  mehr  trennten  und  ihre  Söhne  das  eigene  Lebenswerk  fortzu- 
setzen erzogen. 

Die  bürgerlichen  Erwerber,  die  auch  Land  von  solchen  Bauern 
zusammenlegten,  welche  den  neuen  Ansprüchen  der  freien  Wirtschafts- 
weise nicht  gewachsen  waren,  verstanden  es,  mit  manchem  alther- 
sfebrachten  Schlendrian  zu  brechen  und  wurden  auch  ein  Vorbild  ihrer 
alteingesessenen  Nachbarn,  die  so  praktisch  waren,  das  Gebotene  nicht 
abzulehnen.  Um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  waren  alle  Großgrund- 
besitzer östlich  der  Elbe,  wie  v.  d.  Goltz  ausführt,  zu  einem  einheit- 
lichen Berufsstand  verschmolzen.  Für  die  Fortbildung  der  Landwirt- 
schaft haben  die  Großgrundbesitzer  die  größte  Bedeutung  gehabt. 
Alle  technischen  Fortschritte  sind  von  ihnen  ausgegangen.  Die  Bauern 
sind  zögernd  nachgefolgt.  Wenn  man  jenen  vorgeworfen  hat,  daß  sie 
sich  eine  Lohnarbeiterklasse  geschaffen  haben,  die  sie  in  Abhängigkeit 
hielten,  so  muß  dem  höchst  zweifelhaften  Ideal  eines  allgemein  gleichen 
Kleinbauernbesitzes  gegenüber  betont  werden,  daß  der  Großbetrieb 
ohne  Arbeiter  nicht  bestehen  konnte,  und  daß  er  eine  zeitgemäße 
Landwirtschaft  geschaffen  hat,  die  für  die  Volkswirtschaft  unumgäng- 
lich nötig  war.  Auch  die  politische  Zusammenfassung  der  Landwirte 
in  der  späteren  Zeit  der  Volksvertretung  war  dieser  Gutsbesitzer  Werk, 
das  für  die  Versorgung  der  industrialisierten  Nation  mit  Lebensmitteln 
weiterhin  so  wichtig  geworden  ist. 

Der  Großgrundbesitz  bestand  auch  in  Mecklenburg,  wo  er  zu 
sehr  hervorstach,  als  daß  eine  breite  Klasse  freier  Bauern  hier  hätte 
entstehen   können.     Westlich   der   Elbe  finden  wir  ihn  im  Königreich 


IV.  Die  Fortschritte  der  Landwirtschaft. 


125 


und  in  der  Provinz  Sachsen.  Da  in  dieser  die  bäuerliche  Unter- 
werfung von  altersher  weniger  streng  gewesen  war,  standen  sich  die 
großen  und  mittleren  Besitzer  gesellschaftlich  näher,  und  die  Betriebs- 
verbesserung konnte  sich  daher  schneller  verallgemeinern.  Im  süd- 
westlichen Deutschland  hatten  die  mediatisierten  Fürsten  und  Reichs- 
grafen ihr  früheres  Staatsgut  zum  großen  Teil  als  Privateigentum  er- 
halten. Es  waren  dies  vor  allem  Wälder,  und  da  die  Masse  der  Be- 
freiten aus  Kleinbauern  bestand,  blieb  der  Einfluß  von  oben  nach 
unten  gering.  Von  dem  niederen  Adel  hier  und  ebenso  in  Bayern 
gingen  manche  als  Landbesitzer  zugrunde.  Das  Ablösungsgeld  be- 
nutzten sie  nicht  zum  Ankauf  von  Land,  verbrauchten  es  bei  großen 
Lebensansprüchen  oder  verteilten  es  an  Erben  zu  gleichen  Teilen.' 
Daher  ist  der  Großbetrieb  selten  und  erst  in  der  späteren  Zeit  des 
Jahrhunderts  durch  städtischen  Kapitalismus  hier  und  da  neu  ent- 
standen. Ackerbau  und  Viehzucht  blieben  im  Vergleich  zum  Norden 
rückständig,  und  der  Zustand  wurde  erst  besser,  als  die  allgemeine 
Bildung,  die  Staatsfürsorge  und  das  Genossenschaftswesen  ihre  pro- 
duktive Kraft  geltend  machten.  Im  Rheinlande  war  es  nicht  viel 
anders,  in  Westfalen  und  Hannover  war  ein  gemischtes  System.  Neben 
vielen  mittleren  Bauerngütern  hielten  sich  hier  auch  größere  von  3-  bis 
5  facher  Größe,  die  von  sparsamen  und  unternehmenden  Männern  vor- 
trefflich geführt  wurden  und  ihre  Nachbarschaft  beeinflußten.  Bei  der 
Aufhebung  des  Gemeindelandes  hatten  sie  sich  arrondiert,  und  aus 
Ablösungssummen  hatten  sie  Vieh  gekauft.  Zu  den  Trägern  des  land- 
wirtschaftlichen Fortschrittes  gehörten  in  Hannover  und  Kurhessen 
auch  die  Domänenpächter,  die  auf  18  Jahre  pachteten  und,  indem  die 
Söhne  oft  an  die  Stelle  des  Vaters  traten,  eine  kleine  wichtige  Ge- 
sellschaftsschicht bildeten. 

Wenn  vor  der  Gesetzgebung  von  1807  und  181 1  die  ostelbischen 
Bauern  zum  großen  Teil  nicht  einmal  wußten,  ob  sie  ihr  Land  ihren 
Kindern  hinterlassen  würden,  und  daher  nur  darauf  bedacht  waren, 
sich  den  Lebensunterhalt  zu  bestreiten  und  dem  Grundherrn  möglichst 
wenig  zu  leisten,  wenn  die  Städter  in  dem  Bauern,  zwar  mit  Über- 
hebung, die  Verkörperung  von  Stumpfsinn,  Roheit  und  Mißtrauen 
gegen  sich  zu  erblicken  glaubten,  so  mußte  die  liberale  Agrarreform, 
die  alle  Landwirte  mit  einem  Schlage  zu  selbstverantwortlichen  Unter- 
nehmern machte,  ein  politisches  Wagnis  kühnster  Art  sein.  Daß  Stein 
und  Hardenberg  und  ihre  Räte  nicht  davor  zurückgeschreckt  sind, 
muß  ihnen  hoch  angerechnet  werden.  Es  steckte  in  den  Bauern,  hier 
wie  in  anderen  deutschen  Landen,  genügend  gesunde  germanische 
Rasse,  die  von  jeher  als  eigenes  besaß,  sich  bei  Achtung  der  eigenen 
Persönlichkeit  der  überlegenen  vertrauensvoll  unterzuordnen.  Mochte 
auch  diese  Eigenschaft  durch  das  Untertänigkeits Verhältnis  unterdrückt 


126  m»  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1833 — 1848. 

worden  sein,  daß  sie  fortlebte,  hatte  schon  der  Befreiungskrieg  nach 
der  Einführung  der  Wehrpflicht  erwiesen.  Der  Regierung  begegneten 
die  Bauern  seit  der  Zeit  Friedrichs  des  Großen  mit  weniger  Abneigung 
als  dem  Gutsherrn.  Sie  verstand  es,  diese  Stimmung  durch  mancherlei 
Maßregeln  auch  weiterhin  zu  behaupten,  dadurch,  daß  sie  das  Volks- 
schulwesen hob  —  in  größerem  Stile  geschah  es  von  1830—50  — ,  dem 
Vereinswesen  Vorschub  leistete,  die  alte  Flurverfassung  umgestaltete 
und  die  die  Ablösung  erleichternden  Landrentenbanken  schuf,  durch 
welche  der  Staat  statt  des  Gutsherrn  der  Gläubiger  des  Bauern 
wurde. 

Daß  nicht  alle  frei  gewordenen  Bauern  ihr  Eigentum  halten 
konnten  und  nicht  sofort  zu  einer  zeitgemäßen  Wirtschaft  übergingen, 
war  selbstverständlich.  Die  verringerte  Betriebsgröße  führte  in  Ost- 
und  Westpreußen  dazu,  daß  von  der  hergebrachten  Schafzucht  meist 
abgegangen  wurde.  Die  Beseitigung  der  Brache  war  wegen  der  zu- 
nächst noch  bleibenden,  seit  alter  Zeit  hergebrachten  Gemengelage 
und  des  Flurzwanges  nicht  ohne  weiteres  ausführbar.  Kreditinstitute 
für  den  bäuerlichen  Besitz  fehlten.  Andererseits  besaß  der  Bauer  aus 
der  Spanndienstzeit  her  das  nötige  Arbeitsvieh,  verstand  die  Aufzucht 
der  Rinder  und  Pferde,  nach  denen  auf  den  großen  Betrieben  eine 
dauernde  Nachfrage  vorhanden  war.  Die  Agrarkrise  hatte  ihn  nicht  so 
geschädigt  als  den  großen  Landwirt,  da  er  weniger  auf  die  Verkehrs- 
produktion angewiesen  war  als  dieser. 

Der  Belehrung  war  er  wohl  zugänglich,  aber  zunächst  war  er 
noch  voller  Argwohn  gegen  den  ehemaligen  Herrn,  und  im  Osten, 
wo  das  Land  nur  dünn  besiedelt  war,  konnten  auch  freundliche  nach- 
barliche Beziehungen  nicht  so  rasch  geknüpft  werden  wie  westlich 
der  Elbe,  wo  die  Landwirte  aller  Art  sich  auf  den  nahen  Märkten 
trafen  und  sich  bei  dem  höheren  Stand  der  allgemeinen  Bildung  leichter 
verstanden.  Es  wird  berichtet,  daß  es  unter  den  Freigewordenen  Bauern 
gegeben  hat,  denen  das  Selbstwirtschaften  nicht  zusagte.  Sie  verkauften 
das  Land  an  den  angrenzenden  Gutsbesitzer  oder  auch  an  einen 
findigeren  Genossen  und  nahmen  Lohnarbeit.  Im  ganzen  hat  sich  die 
große  Mehrheit  jedoch  behauptet.  Nach  Meitzen  waren  in  Preußen 
1816  351607  Bauernhöfe  mit  34425731  Morgen  Land  vorhanden  ge- 
wesen, zu  denen  bis  1859  noch  3003  durch  Gemeinheitsteilung  spann- 
fähig gewordene  Kleinstellen  mit  834343  Morgen  hinzugekommen 
waren.  Eine  Zählung  in  diesem  Jahre,  also  nach  mehr  als  40  Jahren 
freien  Verkehrs,  in  denen  sowohl  Land  an  nicht  spannfähige  Klein- 
stellen als  auch  an  Gutsbesitzer  abgegeben  worden  war,  ergab  9873 
Höfe  mit  i  761  641  Morgen  weniger  als  1S16,  d.  h.  eine  Verminderung- 
an  Höfen  um  2,8^/0.  Das  würde  immerhin  für  die  Zähigkeit  sprechen, 
mit  der  die  Großbauern  ihren  Besitz  gehalten  haben.     Viel  mehr  kann 


IV.  Die  Fortschritte  der  Landwirtschaft. 


127 


man  aus  dieser  Höfestatistik  nicht  schließen.  Eine  brauchbare  ver- 
gleichende Aufnahme  aller  Größenklassen  ist  erst  seit  1882  vor- 
handen. 

In  denjenigen  Teilen  Deutschlands,  in  denen  die  im  Kleinbetrieb 
wirtschaftenden  Bauern  tatsächlich  schon  in  der  Napoleonischen  Zeit 
frei  gewesen  waren,  wurde  die  Beseitigung  grundherrlicher  Abgaben, 
der  Zehnten,  Gülten,  Grundzinsen,  Herren-  und  Staatsfronden,  auch 
des  steuerlichen  und  ökonomischen  Drucks  der  Kleinstaaterei  als  eine 
Wohltat  empfunden,  aber  es  war  damit  keine  rechte  Veranlassung 
gegeben,  von  der  hergebrachten  Wirtschaftsweise  abzustehen.  Erheb- 
lichen Eindruck  haben  die  Reformen  der  süd westdeutschen  Landwirt- 
schaft nicht  gemacht.  Nur  langsam  wurden  Betriebsverbesserungen 
dort  sichtbar,  wo  es  dem  Staat  durch  Belehrung,  Vereine,  Prämien 
gelang,  die  hergebrachten  Vorurteile  zu  überwinden,  oder  wo  die 
Nachfrage  der  angewachsenen  industriellen  Bevölkerung  nach  Lebens- 
mitteln die  Steigerung  der  Intensität  nahelegte. 

Der  besitzende  deutsche  Bauer,  so  verschieden  seine  Wirtschaft 
in  Nord  und  Süd  ist,  hat  in  der  Zeit,  die  hier  geschildert  wird,  noch 
eine  Summe  höchst  gleichartiger  Züge,  die  sich  durch  W.  H.  Riehls 
Wort:  „Der  Konservatismus  des  Bauern  ist  seine  Sitte"  umschließen 
lassen.  Indem  er  an  Recht  und  Regel,  an  Religion  und  Gebet,  an 
Hausordnung  und  Arbeit  auf  das  zäheste  festhält,  mußten  schon  starke 
Anstöße  von  außen  kommen,  um  ihn  zu  einer  Abänderung  der  her- 
gebrachten Wirtschaft  zu  bewegen.  An  solchen  hat  es  zwar  damals 
nicht  gefehlt,  aber  die  übliche  Lebensanschauung  wurzelte  doch  so  tief, 
daß  in  keiner  Weise  seine  gesellschaftlichen  Einrichtungen  von  ihm 
angetastet  wurden,  die  ihm  für  das  Gut  ökonomisch  oft  mehr  besagten 
als  der  Erfolg  des  technischen  Fortschrittes.  Aus  seinem  Beruf  geht  er 
nicht  heraus,  mag  er  noch  so  gut  verdienen  oder  mag  ihm  für  sein 
Land  noch  so  viel  geboten  werden.  Der  Tempelhofer  Bauer  als  Boden- 
spekulant erscheint  erst  mit  dem  Berliner  Gründungsschwindel  nach 
1871.  Der  reiche  Bauer  pocht  hochmütig  auf  seinen  mit  Silbertalern 
gefüllten  Geldsack  und  ist  schwer  zu  bewegen,  seine  Ersparnisse  in 
Wertpapieren  anzulegen.  Wer  den  unbarmherzigsten,  egoistischsten 
Aristokraten  kennen  lernen  will,  muß  sich  in  die  Grundsätze  hinein- 
versetzen, die  bei  der  Ebenbürtigkeit  der  Verheiratung  in  alten  Familien 
festgehalten  werden.  Denn  Geld  und  Rang  der  Braut,  mag  sie  sonst 
sein  wie  sie  will,  ermöglichen  dem  bevorrechteten  Sohne,  das  ange- 
stammte Gut  zu  erhalten.  Rücksichtslos  wird  der  auf  dem  Altenteil 
sitzende  Vater,  wenn  es  dem  Sohne  gefällt,  den  Geiz  für  den  Glanz 
seines  Hofes  einzusetzen,  behandelt,  störrisch,  hartköpfig,  prahlerisch 
der  Nachbar,  verschlagen,  unverschämt  der  in  Geschäften  kommende 
Städter,  wenn  nur  im  entferntesten  eine  Übervorteilung  vermeint  wird. 


128  m^-  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1833— 1848. 


Solchen  nicht  unberechtigten  Rügen  gegenüber  wird  man  jedoch  die 
Lichtseite  des  konservativen  Bauerntums  alten  Schlages  in  einer  Periode 
der  sozialen  Zersetzung  nicht  hoch  genug  einschätzen  können.  Frei 
von  der  Empfindelei,  von  der  zerbrochenen  Sitte  und  dem  individualisti- 
schen Begehren  des  ewig  unfertigen  modernen  Stadtlebens  lebt  auf 
dem  Dorfe  ein  nervenstarkes  Geschlecht,  national,  ohne  den  Begriff 
der  Nationalität  zu  verstehen,  staatlich,  ohne  über  das  Wesen  des 
Staates  nachzudenken,  historisch,  ohne  Geschichte  gelesen  zu  haben, 
als  eine  Kraftquelle,  aus  der  heraus  das  Volk  sich  in  der  Liebe  zur 
Arbeit  und  der  Wertschätzung  des  selbst  Geschaffenen  stets  von  neuem 
verjüngt. 

Ein  großes  Hindernis  für  den  Übergang  zu  einer  vollkommneren 
Produktion,  d.  h.  Ertragsvermehrung,  Kostenersparung,  Melioration, 
Steigerung  der  Kreditfähigkeit,  Vergrößerung  des  bebauten  Areals, 
Änderung  des  Ackerbausystems  lag  in  der  hergebrachten  weit  ver- 
breiteten Flureinteilung,  die  mit  der  Bauernbefreiung  und  der  Grund- 
entlastung nicht  berührt  worden  war.  Die  Flur  war  seit  uralten  Tagen 
in  Hauptabschnitte,  die  Gewanne,  nach  Bodenbeschaffenheit,  Abdachung, 
Himmelsgegend,  Höhenlage,  Entfernung  vom  Dorfe  zerlegt  worden, 
in  denen  jeder  Hufenbesitzer  einen  durch  Erbesteilung,  auch  durch 
Verkäufe  parzellierten  Anteil  hatte.  Ein  schmaler  Streifen  sthloß  sich 
an  den  anderen  an,  der  meist  nur  zugänglich  war,  wenn  der  Boden 
des  Nachbars  überschritten  wurde.  Feldwege  gab  es  nicht.  Die  Be- 
stellung und  die  Ernte  mußten  daher  zur  gleichen  Zeit  vorgenommen 
werden.  Dazu  kam  die  gemeinsame  Stoppel-,  Vor-  und  Nachweide, 
die  nur  auf  zusammenhängenden  großen  Flächen  möglich  war.  Der 
individuelle  Übergang  zu  einem  intensiveren  Betrieb  war  ausgeschlossen, 
hatte  zunächst  nur  Aussicht  bei  arrondierten  Gutsbesitzern  und  bäuer- 
lichen Einzelhöfen.  Neben  den  parzellierten  Feldern  gab  es  ein  ge- 
meinsames Land,  bestehend  aus  Weiden,  Wiesen,  Holzungen,  Moor- 
gründen, dessen  Nutzung  eine  unzertrennliche  Pertinenz  der  Hufen 
war,  aufrecht  erhalten  durch  die  Dreifelderwirtschaft,  der  nur  durch 
die  allgemeine  unveränderte  Weide  die  Ernährung  des  Viehes,  wenn 
auch  in  Dürftigkeit,  ermöglicht  wurde.  Die  Gutsherren  hatten  hier 
Rechte,  besonders  der  Schafvveide.  Der  Wald  war  nicht  selten  vom 
Fiskus  unter  Belassung  servitutischer  Nutzungsrechte  den  Bauern- 
schaften entrissen  worden. 

Eine  Radikalkur  war  nur  zu  erreichen  durch  Austausch  und  Zu- 
sammenlegung der  Parzellen,  Verkoppelung  oder  Separation  genannt, 
Aufteilung  der  Gemeinheiten  und  Ausbau  von  Gehöften  aus  dem 
Dorfe.  Sie  ist  aber  nur  selten  vollständig  gelungen.  Wo  die  Boden- 
beschaffenheiten der  Feldmark  sehr  voneinander  abwichen,  wo  bei 
der  freien  Teilbarkeit  des  Bodens  die   kleinen  Besitzungen  überwogen 


IV.  Fortschritte  der  Landwirtschaft. 


12g 


und  stets  neue  Teilungen  und  Verkäufe  bevorstanden,  wo  eine  garten- 
ähnliche Kultur  den  Parzellen  einen  individuellen  Wert  verlieh,  wie 
im  westlichen  und  südwestlichen  Deutschland,  in  manchen  thüringischen 
Staaten,  mußte  man  sich  damit  begnügen,  die  Zahl  der  Gewanne  und 
Parzellen  zu  vermindern,  den  letzteren  bessere  Form  zu  geben,  die 
Möglichkeit  zur  Ent-  und  Bewässerung  zu  schaffen  und  Feldwege 
anzulegen.  In  diesem  Sinne  bewegten  sich  die  nassauischen  Gesetze 
von  1829  und  1830  und  spätere  badische,  hessische  und  württem- 
bergische und  die  preußischen  für  die  Rheinprovinz. 

Ein  größerer  Erfolg  wurde  dort  gewonnen,  wo  Gutshöfe  und 
bedeutende  Bauernstellen  den  größten  Teil  der  Feldmark  ausmachten, 
wie  im  Norden  und  Osten  Deutschlands.  Hier  hat  eine  strengere 
Gesetzgebung  eingegriffen  und  konnte  es  auch.  Schon  im  18.  Jahr- 
hundert hatte  Friedrich  II.,  besonders  in  Schlesien,  mit  Separationen 
begonnen,  die  den  Rittergütern  vor  allem  zugute  gekommen  waren, 
auch  für  Schleswig  und  Holstein  sind  gute  Anfänge  zu  verzeichnen. 
In  Hannover  begann  die  Teilung  der  Gemeinheiten  und  die  Verkoppe- 
lung  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts.  Bis  1833  waren  737825  Morgen 
der  Generalteilung  unterworfen  und  423557  Morgen  verkoppelt  worden. 
1821  folgt  für  Preußen  eine  Gesetzgebung  mit  späteren  Ergänzungen 
von  1838  und  1872,  welche  die  Arrondierung  mit  der  Aufteilung  des 
Gemeinlandes  in  Verbindung  brachte.  Das  sächsische  Gesetz  von  1834 
und  das  hannoverische  von  1842  bezogen  sich  nur  auf  Zusammen- 
legungen, da  solche  über  die  Aufteilung  des  Gemeinlandes  schon 
früher  erlassen  waren.  Beides  wurde  aber  tatsächlich  miteinander  ver- 
einigt. Ein  alle  befriedigender  Maßstab  bei  der  Zerlegung  des  öffent- 
lichen Landes  war  schwer  zu  finden,  und  das  Ergebnis  waren  Ver- 
zögerungen. Die  Aufteilung  des  Waldes  erkannte  man  bald  als  eine 
verkehrte  Maßregel,  ebenso  diejenige  von  sandigen  Heidegründen, 
die  für  die  Aufforstung  am  besten  zurückbehalten  wurden.  Auch  aus 
finanzpolitischen  Gründen  ist  man  vielfach  der  Teilung  entgegen- 
getreten, was  dort  am  leichtesten  ausführbar  war,  wo  der  Besitz  auf 
die  politische  Gemeinde  von  der  alten  realen  übergegangen  war.  Durch 
Erhaltung  des  zu  verpachtenden  Gemeindebesitzes  war  eine  Steuer- 
entlastung zu  erwarten  und  auch  für  Schulen,  Kirchen,  Gemeinde- 
häuser der  nötige  Boden  durch  Austausch  zu  gewinnen.  Man  erhielt 
auch  sein  Gemeinland  sowohl  aus  sozialpolitischen  Gründen,  weil  so 
den  kleinen  Leuten  Nutzungsrechte,  die  sie  gegen  geringes  Entgelt 
besaßen,  gelassen  wurden,  als  auch  als  Standort  für  den  Bau  von 
Arbeiterwohnungen,  zumal  dort,  wo  Industrien  sich  ansiedelten. 

Eine  freie  ländliche  Lohnarbeiterklasse  von  Bedeutung 
war  im  18.  Jahrhundert  nicht  vorhanden.  In  der  großen  Ökonomischen 
Encyklopädie  von  Krüniz  (1781)  fehlt  das  Wort  Arbeiter  vollständig. 

A.  Sattoriu  s  V.  Wal  tershausen    Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.   2.  Aufl.  9 


j-iQ  III.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1833 — 1848. 

Dieser  soziale  Begriff  ist  erst  unter  Vermittlung  der  englischen  National- 
ökonomie in  Deutschland  heimisch  geworden.  Im  Norden,  Osten,  Süd- 
osten hatten  große  und  kleinere  Bauern  Spann-  und  Handdienste  zu 
leisten,  und  wenn  in  der  Erntezeit  Hilfsdienste  herangezogen  werden 
mußten,  so  griff  man  in  Preußen  zu  Soldaten,  gelegentlich  auch  zu 
Städtern,  denen  damals  die  Landarbeit  mehr  vertraut  war  als  heut- 
zutage. Halb  Arbeiter,  halb  selbständige  Landwirte  waren  die  von 
dem  preußischen  König  angesiedelten  Kleinstellenkolonisten,  besonders 
in  den  Marken,  die  zeitweise  im  Jahr  auf  Nebenverdienst  angewiesen 
waren. 

Im  Westen  und  Südwesten  fehlte  bei  den  Grundherren  der  Bedarf 
nach  Arbeitskräften  im  großen.  Als  ländliche  Lohnarbeiter  gab  es 
hier  schon  Wanderarbeiter,  die  auf  weite  Entfernung  hin  Arbeit  suchten. 
Sie  stammten,  wie  die  Eichsfelder  oder  die  Schwarzwälder,  aus  klein- 
bäuerlichen, vom  Frondienst  freien  Familien,  deren  Besitz  zum  Leben 
nicht  ausreichte.  Sie  gingen  in  die  neuere  Zeit  über  und  fanden  später 
weiter  unten  zu  besprechende  Nachfolger.  In  Hannover  und  West- 
falen kannte  man  die  Hollandgänger,  die  zu  Tausenden  nach  dem 
Westen  zogen,  meist  für  Monate,  aber  auch  für  ein  oder  zwei  Jahre. 
Die  4 — 5000  Hannoveraner,  die  jährlich  zum  Torfbaggern,  Grasmähen 
und  zur  Erntearbeit  fortzogen,  weil  sie  daheim  wenig  verdienten, 
brachten  30 — 50  Taler  heim.  Sie  betrieben  zugleich  einen  kleinen 
Handel,  indem  sie  Wollaken,  Leinwand  und  Flachsgarn  mitnahmen 
und  gut  absetzten.  Als  sich  in  den  dreißiger  Jahren  Belgien  von 
Holland  abtrennte,  Schutzzölle  einführte,  die  diesen  Handel  unterbanden, 
und  im  östlichen  Holland  die  Löhne  sanken,  änderten  die  Wander- 
arbeiter ihren  Weg  und  suchten  Mecklenburg,  Holstein  und  Dänemark 
auf.  Erst  als  Hannover  in  den  Zollverein  eingetreten  war,  fanden  diese 
Leute  im   eigenen   Lande   nach  und    nach   ausreichend   Beschäftigung. 

Die  größeren  Gutsbesitzer  in  der  neuen  Gesellschaft  mußten  be- 
müht sein,  je  mehr  der  Frondienst  verschwand,  aus  dem  freien  Bauern- 
stande Lohnarbeiter  zu  gewinnen,  wenn  sie  überhaupt  den  Betrieb 
fortsetzen  wollten.  Hier  boten  sich  als  Tagelöhner  die  Kleinstellen- 
besitzer  der  Dörfer  an,  denen  es  an  Unterhaltsmitteln  oder  fortlaufender 
Beschäftigung  mangelte.  Frauen  und  Kindern  wurden  die  Sommer- 
arbeiten auf  dem  eigenen,  geringen  Besitz  überlassen.  Im  westlichen 
und  südlichen  Deutschland  waren  sie  die  wichtigste  Arbeitergruppe. 
Ihre  Lage  war  durch  ihr  Eigentum  gesicherter  als  diejenige  der  Ein- 
lieger,  die  bei  den  Bauern  zur  Miete  wohnten  und  sich  ebenfalls  gegen 
Tagelohn  verdangen,  Personen,  die  ihr  Land  freiwillig  verkauft  hatten 
oder  hatten  verkaufen  müssen.  Ihre  Kinder  waren  Proletarier  wie  sie. 
Mit  der  Entstehung  der  großen  Städte  und  Industrien  waren  sie 
es,  die  als  bewegliche  Masse  zuerst  abwanderten.    Eine  dritte  Gruppe, 


IV.  Die  Fortschritte  der  Landwirtschaft. 


131 


vornehmlich  östlich  der  Elbe,  waren  die  meist  für  ein  Jahr  gebundenen 
Gutsarbeiter,  Insten,  Dreschgärtner  usw.  genannt.  Die  lange  Bindung 
entsprach  den  Bedürfnissen  der  Arbeiter  nach  dauernder  Sicherstellung 
und  denen  der  Landbesitzer  nach  ganzjähriger  Verfügung,  entsprechend 
dem  wirtschaftlichen  Kreislauf.  Im  Frühjahr,  Sommer  und  Herbst 
waren  sie  auf  dem  Felde,  im  Winter  beim  Dreschen  beschäftigt.  Sie 
hatten  sich  täglich  für  feste  Arbeitsstunden  einzufinden,  oft  auch  einen 
zweiten  Arbeiter,  den  Scharwerker  oder  Hofgänger,  in  arbeitsreichen 
Wochen  auch  die  Ehefrau  mitzubringen,  insbesondere  als  der  Hack- 
bau bei  den  Blattfrüchten  sich  verallgemeinerte.  Sie  erhielten  einen 
festen,  geringen  Geldlohn,  meist  Wohnung  auf  dem  Gute,  ein  Stück 
Garten-  und  Kartoffelland,  Getreide,  Viehfutter.  Oft  war  eine  Inter- 
essengemeinschaft zwischen  Arbeitgeber  und  -nehmer  derart  gebildet, 
daß  das  Vieh  des  Insten  im  herrschaftlichen  Stalle  stand,  sein  Land 
im  allgemeinen  Betrieb  mitbestellt  wurde  und  eine  Quote  des  Er- 
drusches  ihm  zufiel. 

Diese  Klasse  von  Leuten  ist  aus  Kleinbauern  hervorgegangen, 
die  in  der  Freiheit  den  eigenen  Betrieb  nicht  führen  konnten  oder 
wollten,  und  vor  allem  aus  denjenigen  nicht  spannfähigen  und  nicht 
katastrierten  alten  Bestandes,  die  gemäß  der  Deklaration  von  18 16  als 
nicht  regulierbar  erklärt  wurden,  also  ihres  Landes,  an  dem  sie  freilich 
nur  ein  sehr  unsicheres  Besitzrecht  hatten,  verlustig  gingen.  Sie 
mußten,  obwohl  sie  jetzt  abwandern  konnten,  sich  auf  dem  Lande  ver- 
dingen, da  ihnen  die  industrielle  Arbeit  noch  nicht  zugänglich  und 
die  Auswanderung  nach  Amerika,  wenigstens  bis  in  die  vierziger  Jahre, 
unbekannt  war.  Manche  hatten  wohl  auch  wenig  Neigung  zu  Neue- 
rungen und  nahmen  das  sichere  Arbeitsverhältnis  nicht  ungern  an.  Aller- 
dings mußten  sie  hier  zur  regelmäßigen  Arbeit  erst  erzogen  werden, 
und  das  ist  für  die  preußische  Landwirtschaft  von  Wert  gewesen. 
Ehedem  lebten  sie  in  den  Tag  hinein  und  machten  der  Wald-  und 
Jagdpolizei  genug  zu  schaffen.  Sie  konnten  wohl  ihr  Leben  fristen, 
aber  sie  hatten  kaum  den  Wunsch,  zu  höherer  Gesittung  und  Lebens- 
haltung aufzurücken. 

Die  Vorschrift  von  18 16  war  für  die  Erhaltung  der  großen  Be- 
triebe eine  Notwendigkeit.  Daß  der  Fortschritt  der  Landwirtschaft 
nur  so  ermöglicht  wurde,  ist  bereits  oben  erwähnt  worden.  Sie  war 
aber  auch  eine  staatsmännische  Klugheit,  da  der  preußische  Staat  die 
Klasse  der  großen  Gutsbesitzer  nicht  entbehren  konnte,  die  ihm  in 
der  Vergangenheit  vieles  geleistet  hatte,  und  von  der  man,  indem  man 
sie  an  ihrem  Boden  festhielt,  das  gleiche  für  die  Zukunft  erwartete.  Das 
hat  sich  späterhin  auch  durchaus  bewahrheitet,  da  die  Reichsgründung 
unter  Preußens  Führung  und  der  Ausbau  der  Reichspolitik  die  kon- 
servative Partei  nicht  entbehren  konnte. 

9* 


132  ni.  Abschnitt.    Die  Zeit  von   1833 — 1{ 


Von  Reden  hat  für  den  preußischen  Staat  von  1849  ^^^  Insten 
und  die  ihnen  nahestehenden  Arbeiter  auf  903  000,  die  Häusler  oder 
Kolonisten,  Leute  mit  kleinem  ländlichen  Grundbesitz,  auf  146700, 
die  Einlieger  auf  749000  berechnet.  Die  ökonomische  Lage  der  Insten 
schildert  er  als  eine  im  ganzen  zufriedenstellende.  Ihr  Einkommen  ist 
in  manchen  Gegenden  so,  daß  sie  etwas  ersparen  können,  die  Löhne 
sind  örtlich  verschieden,  was  den  Preisen  der  Bedarfsgegenstände  un- 
gefähr entspricht.  Schlechter  sind  die  kleinen  Eigentümer  gestellt,  die 
die  Lohnarbeit  als  Nebenbeschäftigung  suchen  müssen.  Nicht  wenige 
haben  ihr  Land  verschuldet,  andere  haben  bei  der  Aufteilung  der  ge- 
meinsamen Landnutzung  verloren.  Über  die  zu  weitgehende  Boden- 
zersplitterung wird  geklagt.  Die  gewerbliche  Hausarbeit  des  Spinnens 
und  Webens  ist  weniger  einträglich  als  früher  geworden.  Am  meisten 
leiden  sie  darunter,  daß  sie  die  gesuchte  Landarbeit  oft  gar  nicht,  im 
übrigen  nur  unregelmäßig  finden.  Am  unsichersten  und  unzureichendsten 
ist  das  Einkommen  der  in  starker  Konkurrenz  befangenen  EinHeger, 
die  ganz  auf  die  schwankende  Nachfrage  nach  Arbeit  bei  ihren  be- 
sitzenden Nachbaren  angewiesen  sind.  Auch  sie  drückt  die  schlechte 
hausindustrielle  Konjunktur.  Im  Westen  der  Monarchie  belastet  sie 
zudem  die  Preissteigerung  der  Lebensmittel  während  der  vierziger  Jahre. 

Eine  Besserung  der  Lebenshaltung  und  die  regelmäßigere  Be- 
schäftigung auf  dem  Lande  treten  erst  10  Jahre  später  ein,  als  die  neue 
Großindustrie  Arbeitskräfte  sucht,  und  die  Abwanderung  vom  Lande 
stärker  einsetzt,  die  durch  das  verbilligte  Reisen  mit  der  Eisenbahn 
gefördert  wird.  Dieser  Vorgang  macht  sich  in  den  industriellen  Pro- 
vinzen des  Westens,  in  Brandenburg  und  in  Sachsen  früher  geltend 
als  in  den  übrigen,  den  rein  agraren,  und  in   Schlesien. 

Literatur. 

I.       Allgemeine  Zeitung,  Augsburg  1833 — 1848. 

Das  Zollvereinsblatt,  herausgegeben  von  Fr.   List,   1833  — 1848. 

Werner  von  Siemens,  Lebenserinnerungen,   1892. 

Emil  Struve,  Die  Entwicklung  des  bayerischen  Braugewerbes,   1893. 

L.  W.  Schertel,  Über  den  Zustand  der  bayerischen  Gewerbeindustrie,    insbesondere 
unter  Ludwig  I,    1836. 
II.       A.   Widung,  Anschluß  des  Großherzogtums  Luxemburg  an  das  Zollsystem  Preußens 
und  der  übrigen  Staaten  des  Zollvereins,    19 12. 
*  A.  Beer,  Geschichte  des  Welthandels  IL,    1884. 

L.  K.,  Der  deutsche  Zollverein  während  der  Jahre   1834 — '^45'  amtliche  Denkschrift, 
1846. 

Julius    Kautz,     Die    geschichtliche    Entwicklung    der    Nationalökonomik    und  ihrer 
Literatur.     IV.   2.  4.  über  Deutschland,   1860. 

W.  Röscher,  Geschichte  der  Nationalökonomik  in  Deutschland,    1874. 

C.  F.  W.  Dieterici,    Statistische    Übersicht    der  wichtigsten  Gegenstände   des  Ver- 
kehrs und  Verbrauchs  im  preußischen  Staat  und  im   Zollverein   1838  — 1857. 


Literatur. 


133 


C.  F.  W.  Dieterici,  Handbuch  der  Statistik  des  preußischen  Staates,   1861. 
Amtlicher  Bericht  über  die  Industrieausstellung  aller  Völker  zu  London  im  Jahre 
1851,  Berlin    1852, 

*  Otto  Hübner,  Jahrbuch  für  Volkswirtschaft  und  Statistik,    185 2 ff. 

Alfred  Zimmermann,  Blüte  und  Verfall  des  Leinengewerbes  in  Schlesien,   1885. 

H.  Niederraayer,  Die  Eisenindustrie  der  Oberpfalz,    191 2. 

C.  Frahrae,     Die    Textilindustrie    im    Wirtschaftsleben    Schlesiens,    1905,    mit    viel 

Literaturangabe. 
Fr.  von  Reden,  Das  Königreich  Hannover,   1839. 

Derselbe,  Erwerbs-  und  Verkehrsstatistik  des  Königreichs  Preußen,   1853. 
C.  von  Rehlen,  Geschichte  des  Handwerks  und  der  Gewerbe,   1859. 

*  D.    Baedeker,    Alfred    Krupp    und    die    Entwicklung    der  Gußstahlfabrik  zu  Essen, 

191 2.     Friedrich    Krupp    A.-G.,     Essen/Ruhr,     1812 — 1912,    Fest-     und    Denk- 
schrift  191 2. 
III,    *  G.  Cohn,  Nationalökonomie  des  Hände  s  und  Verkehrswesens,  1898. 

A.  von  Mayer,  Geschichte  und  Geographie  der  deutschen  Eisenbahnen,   1891. 
F.  Perrot,  Zur  Geschichte  des  Verkehrswesens,   1871. 

*  Otto  Wiedfeldt,  Statistische  Studien  zur    Entwicklungsgeschichte  der  Berliner  In- 

dustrie von   1720 — 1890,   1898,  Staats-  und  soziaiw.  Forschungen. 
O.  Teubert,  Die  Binnenschiffahrt,   19 12. 
E.  Gothein,    Geschichtliche    Entwicklung    der    Rheinschiffahrt    im    19.   Jahrhundert, 

1903,  Schriften  des  Vereins  für  Sozialpolitik. 
Ch.    Eckert,     Rheinschiffahrt    im     19.    Jahrhundert,     1900,     Staats-    und    sozialw. 

Forschungen. 
E.  Fitger,    Wirtschaftliche    und    technische  Entwicklung  der  Seeschiffahrt,  Schriften 

des  Vereins  für  Sozialpolitik,    1902. 
Max  Peters,  Die  Entwicklung  der  deutschen  Reedereien,    1899  und   1905. 
Nauticus  Jahrbuch,  Entwicklung  und  Bedeutung  der  deutschen  Reederei,   1900. 
H.  Raschen,  Die  ,, Weser",  das  erste  deutsche  Dampfschiff  und  seine  Erbauer.  Jahrb. 

der  schiffsbauenden  Gesellschaft,   1907. 
R.  Reinhard,  Die  wichtigsten  deutschen  Seehandelsstädte,  Forschungen  zur  deutschen 

Landes-  und  Volkskunde,   1901. 

*  W.  Vogel,  Die  deutsche  Handelsmarine  im    19.  Jahrhundert,   1914. 

E.  W.  As  her,  Freiheit  der  Schiffahrt,  ein  Kommentar  zu  den  Unterbrechungen  der 
Schiffahrt  auf  der  Elbe  durch  dänische  Kriegsfahrzeuge,    1852. 

*  W.  Kundt,  Die  Zukunft  unseres  Überseehandels,    1904. 

IV.  *  Th.  V.  d.  Goltz,  Geschichte  der  deutschen  Landwirtschaft,  Bd.  IL      1903. 

A.  Kotelmann,  Die  preußische  Landwirtschaft,   1853. 

G.  von  Gülich,  Die  gesamten  gewerblichen  Zustände  in  den  bedeutenden  Ländern 
der  Erde  II  und  III,   1853. 

J.  H.  von  Thünen,  Der  isolierte  Staat  in  Beziehung  auf  Landwirtschaft  und  National- 
ökonomie, 3.  Auf..,   1875. 

Landwirtschaftliches  Wochenblatt  für  das  Großherzogtum  Baden,   1833 — 1848. 

J.  G.  Koppe,  Darstellung  der  landwirtschaftlichen  Verhältnisse  der  Mark  Branden- 
burg,  1839. 

Fr.  List,  Ackerverfassung,  Zwergwirtschaft  und  Auswanderung,   1842. 

M.  J.  Rühe,  Die  Natur  der  Volkswirtschaft  mit  besonderer  Anwendung  auf  Bayern, 
1850. 

H.  Morgenroth,  Über  die  Industrie  und  Kultur  im  Regenkreise,   1836. 

A.  Meitzen,  Der  Boden  und  die  landwirtschaftlichen  Verhältnisse  Preußens,  Bd.  i, 
1861. 


1^4  ni.  Abschnitt.    Die  Zeit  von  1833 — 1848. 

G.  Hanssen,  Agrarhistorische  Abhandlungen,  1880 — 1884. 
B.  Schütte,  Die  Zusammenlegung  der  Grundstücke,  1886. 
G.  F.  Knapp,    Die    Bauernbefreiung    und    der    Ursprung    der    Landarbeiter    in    den 

älteren  Teilen  Preußens,   1887. 
Derselbe,  Die  Landarbeiter  in  Knechtschaft  und  Freiheit,    1891. 
V.  Brüneck,  Besprechung  des  ersteren  Knappscheu  Buches,  Jahrb.  f.  Nat.  und  Stat., 

1888. 
W.  Witt  ich,  Die  Grundherrschaft  in  Nordwestdeutschland,   1896. 
Derselbe,  Epochen  der  deutschen  Agrargeschichte,  Grundr.  d.  Soz.-Ök.   1914. 
*  J.  Conrad,  Volkswirtschaftspoitik,   1902. 

W.  H.  Riehl,  Die  bürgerliche  Gesellschaft,    1853. 
Bogumil  Goltz,  Physiognomie  des  Volkes,   1859. 


IV.  Abschnitt. 
Die  deutsche  W^irtschaftsgeschichte  von  1848 — 1871. 

I.  Vorbemerkung,  Die  Entwicklung  des  deutschen  Zollvereins 
zu  einer  einheitlichen  und  vertieften  Verkehrsvvirtschaft  und  der  damit 
verbundene  Aufschwung  der  Gütererzeugung  setzten  sich  nach  Über- 
windung der  revolutionären  Störung  von  1848  und  1849  '^^  ^^^  fünf- 
ziger und  sechziger  Jahren  fort.  Die  Kriege  von  1864  und  1866 
waren  zu  kurz,  um  in  das  Wirtschaftsleben  hemmend  eingreifen  zu 
können.  In  ihrem  Gefolge  entstand  der  Norddeutsche  Bund,  der  es 
mit  seiner  Gesetzgebung  positiv  fördernd  belebte.  Im  Vergleich  zu 
den  beiden  vorausgehenden  Jahrzehnten  bringen  uns  Güterherstellung 
und  Verkehr  auf  vielen  Gebieten  sehr  erhöhte  Ziffern.  Die  Ausdehnung 
hat  etwas  Überspanntes,  Ruckweises  und  bleibt  daher  von  dem  Rück- 
schlag nicht  verschont.  Die  Wirtschaftskrise  von  1857  zeigt  die  Ein- 
bürgerung der  kapitalistischen  Großindustrie,  zugleich  auch  die  erhöhte 
Fähigkeit  der  Reichtumsvermehrung.  Die  Arbeiterfrage  heftet  sich 
an  die  Ferse  der  Einkommensgegensätze. 

Deutschland  tut  von  1850 — 1870  den  ersten  entscheidenden  Schritt 
zum  modernen  Industriestaat.  In  der  Mitte  der  Periode  belehrt  uns 
die  Zollvereinsstatistik  darüber  in  folgender  Weise: 

Mill.  Tlr. 

1860  Verzehrungs-       Rohstoffe         Halb-  Fabri-       Summe 

gegenstände  fabrikate  kate 

Einfuhr  102,5  134,5  86,8  34,7  358,8 

Ausfuhr  90,1  74,4  53,8  239,0  460,5 

Die  Fabrikatausfuhr,  die  in  diesem  Jahre  ausnahmsweise  hoch  ist, 
zeigt  die  Tendenz  am  deutlichsten,  sie  beruht  noch  zum  größten  Teil  auf 
den  im  Inland  gewonnenen  Rohstoffen.  Der  alte  Zustand  des  Agrar- 
staates ist  nicht  mehr  vorhanden,  die  Einfuhr  der  Verzehrungsmittel 
und  Rohstoffe  überwiegt  bereits  deren  Ausfuhr.  Ein  Symptom  des 
Industriestaates,  die  andauernd  passive  Handelsbilanz,  ist  in  den  fünf- 
ziger Jahren  noch  nicht  vorhanden.  Die  handelsstatistischen  Angaben 
dieser  Zeit  gelten  als  nicht  ganz  zuverlässig,  so  viel  lassen  sie  ersehen, 
daß  die  aktiven  mit  den  passiven  Jahren  wechseln  und  solche  des 
Gleichgewichtes  nicht  fehlen. 


1^6  iV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848  — 1871. 


Die  Richtung  des  zollvereinlichen  Außenhandels  veranschauhchen 
1860  folgende  prozentuale  Angaben: 


Länder 

Einfuhr 

Ausful 

Rußland 

12,81 

6,60 

Österreich-Ungarn 

15.70 

20,93 

Schweiz 

3,51 

8,11 

Frankreich 

2,68 

2,83 

Belgien,  Holland 

23.50 

18,41 

Bremen,  Hamburg 

26,97 

24,98 

Mecklenburg,  Holstein  usw. 

3,58 

2,18 

Zusammen  landwärts 

88,75 

84,04 

seewärts, 

Nordsee 

4.41 

M5 

seewärts, 

Ostsee 

6,84 

I4.S  I 

Der  Zollverein  hatte  nur  einen  geringfügigen  eigenen  Seehandel. 
Die  überseeischen  Waren  kamen  über  die  Hansastädte,  Holland  und 
Belgien.  Seine  Staaten  besaßen  keine  Kriegsflotte.  1864  zählte  man  in 
England  14050  Kanonen  auf  den  Kriegsschiffen,  265  in  Preußen,  das  von 
Brasilien,  Portugal  und  der  Türkei  übertroffen  wurde.  Dänemark 
hatte  beinahe  viermal  soviel! 

Obwohl  die  Einfuhr  an  Verzehrungsgegenständen  die  Ausfuhr 
übertrifft,  so  leidet  die  deutsche  Großlandwirtschaft  darunter  nicht.  Das 
volkswirtschaftliche  Vorwärtseilen  zeigt  eine,  wenn  auch  nicht  volle 
Harmonie  zwischen  ihr  und  der  Industrie.  Diese  belebt  jene  durch 
ihre  zunehmende  Kaufkraft,  und  die  ländliche  Grundrente,  vor  allem 
auf  absatzfähigen  Gütern,  ist  im  Steigen  bis  in  die  Mitte  der  siebziger 
Jahre.  Die  städtische  folgt  nach,  als  die  Bevölkerungszahl  der  Städte 
zunimmt,  die  besonders  als  große  seit  der  Mitte  des  Jahrhunderts  mehr 
und  mehr  der  Sitz  der  Industrie  werden.  Die  Eisenbahnen  führen 
ihnen  billig  Rohstoffe  zur  Verarbeitung  und  Lebensmittel  zu,  die 
überall  aufstellbare  Dampfmaschine  macht  die  ländliche  Wasserkraft 
entbehrlich,  die  Arbeiterschaft  ist  reichlich  in  der  Stadt  angeboten  und 
hier  leichter  festzuhalten  als  auf  dem  Lande.  Die  Warenpreise  heben 
sich  allgemein.  Die  Geldlöhne  vermögen  sich  nur  zögernd  ihnen  an- 
zupassen, aber  schließlich  gelingt  es.  Der  Zinsfuß  erhöht  sich  mit  den 
steigenden  Gewinnen.  Den  besitzenden  Klassen,  als  wirtschaftlich 
tätigen,  sparenden  und  ausleihenden,  geht  es  gemeinsam  gut.  Die 
Gesetzgebung  wird  ihren  Bedürfnissen  dienstbar  gemacht.  Das  von 
England  eingeführte  Manchestertum  erlebt  seine  deutsche  Blüte  und 
beherrscht  die  praktische  wie  die  theoretische  Nationalökonomie. 

Doch  ist  man  von  Englands  Reichtum  noch  sehr  weit  entfernt. 
Hier  hatten  im  Jahre  1806  1021  Personen  ihr  Einkommen  für  eine 
loproz.  Steuer  auf  mehr  als  loooo  £  erklärt,  während  jetzt  in  Preußen 


I.  Vorbemerkung.  j-^n 


die  gesamte  Einkommensteuer,  d.  h.  ohne  die  Klassensteuer  der  kleinen 
Leute,  nur  2,8  Millionen  Tlr.  erbrachte.  Aber  die  englischen  Methoden 
zur  Vermögensansammlung  wurden  in  Deutschland  wiederholt  und 
blieben  nicht  erfolglos. 

In  der  Revolution  von  1848  ist  das  deutsche  Bürgertum  zwar 
politisch  unterlegen.  In  der  sogenannten  Reaktionszeit  fängt  es  an, 
die  ihm  immerhin  g^e währten  Freiheitsrechte  in  den  Parlamenten  zu 
benutzen,  um  eine  Gesetzgebung  vorzubereiten,  die  die  ihm  verfügbaren 
ökonomischen  Mittel  fruchtbar  machen  soll.  Der  volle  Erfolg  gelingt 
erst  am  Ende  der  Periode  nach  der  politischen  Umgestaltung. 

Das  liberal-bürgerliche  Milieu  der  fünfziger  und  sechziger  Jahre 
ist  zu  wenig  positiv  und  zu  sehr  in  abstrakten  Doktrinen  befangen, 
als  daß  es  eine  einheitliche  Kultur,  besonders  auf  dem  Gebiet  der 
Kunst  hätte  schaffen  können.  Die  vormärzlichen  Freiheitsgesänge  von 
Herwegh  und  der  Leute  des  „Völkerfrühlings"  wurden  in  der  arbeit- 
samen und  geschäftsspekulierenden  Zeit^  der  sich  die  nationalpolitische 
von  1864 — 1870  anreihte,  schnell  vergessen.  Gutzkows,  Dingel- 
stedts,  Freytags,  Auerbachs  politische  Tendenzen  in  dem  Ge- 
wände des  Dramas  und  des  Romans  erzeugten  keine  ideale  Gesinnung, 
befriedigten  aber  das  Bürgertum  dadurch,  daß  sie  sagten,  die  Gegen- 
wart sei  gut  und  schön.  Die  Dichter  wie  Hebbel,  Keller,  Reuter, 
Scheffel,  Storni,  Fontane  wandelten  in  der  unfertigen  Gesellschaft 
ihren  eigenen  Weg  und  bewiesen,  daß  die  höhere  Poesie  sich  nach 
eigenen  Gesetzen  richtet  und  nicht,  wie  die  ökonomische  Theorie  von 
Marx  in  dieser  Zeit  ausklügelte,  nur  ein  Spiegelbild  des  jeweiligen 
wirtschaftlich  sozialen  Lebens  ist.  Diese  „materialistische"  Lebens- 
anschauung war  unter  dem  verblüffenden  Eindruck  der  technischen 
neuzeitlichen  Errungenschaften  und  unter  der  Beeinflussung  der  sozialen 
Zustände  durch  sie  als  Verallgemeinerung  einiger  Beobachtungen  in 
England  entstanden,  wo  diese  Lehre  als  ein  Zwitter  der  dort  üblichen 
brutalen  Wertschätzung  der  Tatsachen  und  Hegelscher  Philosophie 
den  Gebildeten  und  den  Massen  ebenso  unverständlich  blieb,  wie  sie 
in  Deutschland  von  sozialistischen  Journalisten  und  Arbeiterführern 
erfolgreich  eingeschwärzt  wurde,  um  den  hier  verbreiteten  Glauben  an 
abstrakte  Philosopheme  der  Einheitlichkeit  des  Daseins  neue  Genug- 
tuung zu  gewähren. 

Auch  in  die  Malerei  hat  das  wirtschaftende  Deutschland  von  1815 
bis  1870  keineswegs  gestaltend  eingegriffen.  Sie  folgt  den  tastenden 
Versuchen  nach  neuen  Zielen  und  unter  der  Abwehr  gegen  zeitweise 
herrschende  Schulen  mühesam  ihrem  verschlungenen  Pfad,  der  „von 
der  Tradition  zur  Freiheit"  führt,  und  den  sie  in  den  achtziger  Jahren 
glaubt  zurückgelegt  zu  haben.  War  sie  ehedem  unter  dem  aristokratischen 
Schutz  gepflegt  worden,   wobei   die  Beschützer,   die   nicht   des  Kunst- 


j-jg  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848— 187 1. 

Verständnisses  ermangelten,  so  freisinnig  waren,  die  Künstler  gewähren 
zu  lassen,  so  sollte  sie  jetzt  von  der  Bourgeoisie  und  dem  ihr  nach- 
empfindenden kommunalen  Beamtentum  dadurch  demokratisiert  werden, 
daß  die  alten  Gemälde  aus  säkularisierten  Klöstern  und  verarmten 
Schlössern  in  Museen,  die  jede  Stadt  haben  wollte,  geschmacklos  auf- 
gestapelt und  die  neuen  von  Kunstausstellung  zu  Kunstausstellung 
der  Großstädte  geschleppt  werden.  Von  Kunsthändlern  und  in  Auk- 
tionen wurde  „das  moderne  Material"  schließlich  losgeschlagen,  um  in 
bunter  Mischung  die  Wände  der  Salons  der  frischgebackenen  Ver- 
walter des  nationalen  Reichtums  zu  zieren.  Die  Kunstmode  tritt  die 
Herrschaft  an,  die  ebenso  vergänglich  ist  wie  das  flüssige  Kapital, 
das  man  in  Kunstwerken  anlegt.  Das  sichere  Brot  für  den  Maler  ist 
das  Porträt,  das  sich  auf  beachtenswerter  Höhe  hält  und  für  die  Zu- 
kunft einen  Schatz  an  Typen  von  erfolgreichen  Industriellen  und  Ban- 
kiers im  Stile  des  Klassizismus,  der  Biedermeier-,  der  Kleinmalerei- 
periode aufbewahrt.  Die  Historienmalerei  begünstigt  der  Staat  bis  in 
die  Mitte  des  Jahrhunderts  zum  didaktischen  und  patriotischen  Zweck. 
Sie  schwelgt  fast  nur  in  ferner  Vergangenheit  und  impft  damit  ge- 
legentlich reichen  Leuten  eine  Romantik  ein,  die  sie  bestimmt,  sich 
Sammlungen  von  altdeutschen  Meistern  anzulegen  und  verfallene  Burgen 
am  Rhein  und  an  der  Mosel  in  einer  mißverstandenen  Gotik  auf- 
zubauen. 

Die  Baukunst,  die  mehr  als  andere  Künste  von  der  gesellschaft- 
lichen Verteilung  des  Reichtums  abhängig  ist,  erhält  von  den  steuer- 
armen Gemeinden  nach  1850  nur  wenig  Aufträge,  und  der  Staat  leistet 
auch  nicht  viel,  was  er  noch  in  der  vorhergehenden  Periode  wie  in 
München  unter  König  Ludwig  I.  und  in  Berlin  mit  Hilfe  der  fürst- 
lichen Schatullen  getan  hatte.  Architektonisch  hat  Berlin  in  der  zweiten 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  nichts  Bleibendes  geleistet.  Das  Bürger- 
tum geht  im  Erwerbsleben  auf,  und  das  Bismarcksche  Zeitalter  ist  dem 
Kunstbau  in  Stein  abhold,  so  gelungen  es  politisch  aufzubauen  ver- 
mochte. Vielleicht  gerade  deshalb.  Die  Kirche  besaß  keine  großen 
Mittel;  was  sie  künstlerisch  anregt,  sind  kleine  Wiederholungen  großer 
Vorbilder.  Der  Schloß-  und  Palastbau  des  Landadels  ist  ganz  zurück- 
getreten, denn  diese  Gesellschaftsschicht  fängt  erst  in  den  vierziger 
Jahren  an,  sich  von  der  Notzeit  des  Krieges  zu  erholen.  Der  Bahnhof- 
bau ist  kleinzügig  und  nur  auf  praktische  Bedürfnisse  gerichtet.  In 
den  sechziger  Jahren  beginnt  das  deutsche  Großbürgertum  in  Städten 
wie  Berlin,  Leipzig,  Dresden  mit  schweren  geschmacklosen  Neubauten 
hervorzutreten,  um  seinen  Wohlstand  zu  beweisen,  das  mittlere  mit 
bescheidenen|Villen  vor  der  Stadt,  gleichzeitig  mit  den  Aktiengesell- 
schaften, die  ihre  Geschäftshäuser  für  das  Bank-  und  Versicherungs- 
wesen als  Reklame  benutzen.    Als  allgemeine  Erscheinung  haben  wir 


II.  Die  Revolution  von  1848/49,  Handwerker  und  Lohnarbeiter.  i^g 

in  den  Groß-  und  Mittelstädten  Riesengebäude  der  letzteren  Art,  deren 
innere  Einteilung  und  Einrichtung  ihren  praktischen  Zwecken  voll- 
kommen angepaßt  werden,  erst  in  den  nächsten  Jahrzehnten.  Der 
Geist  des  neuen  Bürgertums,  der  sich  in  technischen  und  wirtschaft- 
lichen Neuerungen  ausgibt,  hat  mit  der  Baustilbildung  seiner  Epoche 
nichts  zu  tun.  Man  prüft  die  Kosten  und  läßt  Vorschläge  von  den 
Architekten  machen,  die  unter  keiner  strengen  ästhetischen  Disziplin 
stehen  oder  Nachahmer  bewährter  Vorbilder  sind,  wobei  sich  die  Talente 
ihrer  Aufgaben  mit  größerer  oder  geringerer  Geschicklichkeit  entledigen. 

IL  Die  Revolution  von  1848/49,  Handwerker  und  Lohn- 
arbeiter. Die  Revolution  von  1848  war  die  des  Bürgertums,  in  der 
Hauptsache  demokratischer  Natur.  Ihr  auch  wirtschaftliche  Triebkraft 
allgemeiner  Art  zuzusprechen,  ist  insofern  zulässig,  als  der  während 
der  letzten  Jahrzehnte  angewachsene  Wohlstand  in  Industrie  und  Handel 
sich  über  breitere  städtische  Volkskreise,  wenn  auch  recht  ungleich- 
mäßig, ergoß  und  in  ihnen  unter  gleichzeitiger  Erhebung  praktischer 
wirtschaftspolitischer  Wünsche  das  Bewußtsein  einer  verstärkten  sozialen 
Macht  im  Staate  erzeugt  hatte. 

Der  Ausbruch  der  Unruhen  war  von  Frankreich  ausgegangen. 
Daß  er  sich  in  der  friedfertigen  deutschen  Nation  so  rasch  fortpflanzen 
konnte,  hing  mit  einer  weit  um  sich  greifenden  Mißstimmung  der 
letzten  zwei  Jahre  zusammen,  die  unmittelbar  aus  wirtschaftlichen  Ver- 
hältnissen zu  verstehen  ist  und  sich  in  landläufige  politische  For- 
derungen umgesetzt  hatte,  in  dem  unklaren  Gefühl,  daß  man  mit  ihrer 
Erfüllung  den  Notstand  beseitigen  könne.  Alle  Revolutionen  stammen 
aus  dem  Magen,  meinte  der  erste  Napoleon. 

Schon  1845  hatte  die  Kartoffelkrankheit,  die  Naß-  oder  Zellen- 
fäule, Deutschland  heimgesucht,  und  im  folgenden  Jahre  hatte  sich  das 
Übel  .verschlimmert.  Der  Mangel  an  gesunder  Frucht  war  bald  ein 
allgemeiner,  und  die  Ausfuhrverbote  des  Zollvereins  und  der  Einzel- 
staaten sowie  das  Verbot  der  Branntweinbrennerei  hatten  nichts  nützen 
können.  Die  Kartoffelnot  ward  um  so  mehr  empfunden,  als  der  An- 
bau in  den  letzten  beiden  Jahrzehnten  rasch  zugenommen  hatte,  nach- 
dem sich  die  befreiten  Bauern  mit  Energie  auf  ihn  zu  werfen  ver- 
standen und  Handwerker  und  Heimarbeiter  ihre  Gärten  damit  bestellt 
hatten.  Nun  kamen  noch  sehr  ungünstige  Getreideernten  hinzu  und 
brachten  Preissteigerungen,  die  man  seit  Menschengedenken  nicht 
kannte.  Der  Mittelpreis  eines  preußischen  Scheffels  Roggen  war  in 
Norddeutschland  1844  auf  40712  Sgr.  berechnet  worden.  1845  stieg 
er  auf  51,  1846  auf  70^Vi2'  1^47  auf  862/^2-  Die  beiden  letzten  Jahre 
bringen  eine  stark  vermehrte  Sterblichkeit.  Handwerker  und  Arbeiter 
waren  nicht  minder  in  Verzweifelung  als  die  Bauern,  die  nichts  zu 
verkaufen   hatten.     Die    Zufuhr   vom   Ausland,    das    selbst    nur    wenig 


IAO  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848  — 1871. 

abzugeben  hatte,  war  gering,  da  die  Eisenbahn  damals  noch  nicht 
im  großen  Hilfe  zu  bringen  vermochte.  Auf  eine  einheitliche  Bahn- 
tarifherabsetzung war  nicht  zu  rechnen,  und  der  Zollverein  zur  Auf- 
hebung der  Lebensmittelzölle  bei  seiner  schwerfälligen  Verwaltung 
nicht  zu  bewegen. 

Obwohl  die  Revolution  weder  die  deutsche  Einheit  schuf,  die 
als  nationaler  Wunsch  mit  dem  demokratischen  vereinigt  worden  war 
und  dem  Kampf  in  der  Gesellschaft  einen  höheren  Schwung  verliehen 
hatte,  noch  die  politischen  Ansprüche  des  Bürgertums  befriedigte,  hat 
sie  doch  auf  dem  Gebiete  des  Verfassungs-  und  Verwaltungsrechtes 
eine  Reihe  Neuerungen  im  Gefolge  gehabt,  die  unter  der  Vermitt- 
lung der  neugeordneten  Parlamente,  wie  namentlich  in  Preußen,  auch 
wirtschaftliche  Wirkungen  besaßen.  So  kam  in  vielen  deutschen 
Staaten  jetzt  die  liberale  Agrargesetzgebung  zum  Abschluß.  Die  be- 
stehenden Lasten,  die  noch  aus  der  ständischen  Zeit  übrig  waren, 
wurden  als  ganz  unzeitgemäß  empfunden.  Die  Bauernunruhen,  nament- 
lich in  Schlesien,  hatten  in  dem  Widerwillen  gegen  die  veralteten 
Pflichten  ihre  Ursache  gehabt. 

In  Preußen  waren  von  1816 — 1848  70582  bäuerliche  Eigentümer 
mit  einem  Gesamtbesitz  von  5  158  8 17  Morgen  abgelöst  worden.  Das 
waren  */,  aller  größeren  Pflichtigen  Bauern,  während  von  den  Klein- 
bauern nur  289651  befreit  worden  waren,  etwa  ^4-  Nach  dem 
Ablösungsgesetz  vom  2.  März  1850  wurden  einige  geringere  Lasten 
aufgehoben,  die  übrigen  durchweg  in  Geldrenten  verwandelt,  die  mit 
dem  18  fachen  Betrage  kapitalisiert  wurden.  Zur  Vermittlung  der 
Kapitalzahlung  an  die  Berechtigten  wurden  staatliche  Rentenbanken 
errichtet,  die  die  Geldrenten  von  den  Bauerngütern  unter  Amortisation 
einzogen,  wodurch  in  56  Jahren  die  Ablösung  zum  Schluß  gebracht 
werden  sollte.  Von  1850 — 1865  wurden  noch  12706  größere  bäuer- 
liche Besitze  und  i  014  341  kleine  losgekauft.  Die  gesamte  an  Private 
und  Domänen  entrichtete  Ablösungssumme  seit  i8i6  berechnet  Meitzen 
auf  mindestens  2 13  861  035  Tlr.,  wobei  der  Morgen  Kulturland  auf  20, 
von  Forstland  auf  10  Tlr.,  der  Scheffel  Roggen  auf  i  Tlr.  durch- 
schnittlich angenommen  ist. 

In  Bayern  und  Württemberg  wurde  das  entscheidende  Ablösungs- 
gesetz überhaupt  erst  1 848  erlassen,  das  ebenfalls  die  Vermittlung  staatlicher 
Kassen  nach  sich  zog.  In  Baden,  Sachsen-Weimar,  Gotha,  Meiningen, 
Altenburg  wurde  das  vorher  Begonnene  energisch  fortgesetzt.  Zu  alledem 
kamen  neue  Gesetze,  die  noch  bestehende  alte  Jagd-  und  Fischereirechte 
teilweise  ohne  Entschädigung  aufhoben,  teilweise  ablösten  und  den 
landwirtschaftlichen  Betrieb  störende  Weiderechte  beseitigten. 

Die  1848  er  Bewegung  hat  auch  Reformen  direkter  Steuern,  Be- 
seitigung  noch   vorhandener   Steuerexemptionen   veranlaßt,   die,   wenn 


II.  Die  Revolution  von   1848/49,  Handwerker  und  Lohnarbeiter.  i^j 

auch,  wie  in  Preußen,  einiges  davon  widerrufen  wurde,  ebenfalls  wirt- 
schaftliche Erleichterung  den  mittleren  und  unteren  Volksschichten 
gewährten. 

Aber  weiter  direkt  umgestaltend  hat  sie  in  die  deutsche  Volks- 
wirtschaft nicht  eingegriffen.  Die  Handelspolitik,  das  Geld-,  Bank- 
und  Transportwesen  wurden  durch  sie  nicht  berührt,  obwohl  die  Ein- 
sicht, alles  dies  auf  eine  neue  staatsrechtliche  Grundlage  zu  stellen, 
nicht  fehlte.  Die  in  Frankfurt  tagende  Nationalversammlung  hatte  in 
dem  Entwurf  der  Reichs  Verfassung  vom  28.  März  1849  wichtige  volks- 
wirtschaftliche Bestimmungen  eingesetzt,  die  in  dem  preußischen  Ent- 
wurf der  mit  Sachsen  und  Hannover  provisorisch  vereinbarten  Mai- 
verfassung wiederholt  wurden.  Das  zu  gründende  Reich  sollte  ein  ein- 
heitliches Zoll-  und  Handelsgebiet  werden,  mit  Wegfall  aller  Binnen- 
zölle und  mit  wertvollen  indirekten  Verbrauchssteuern.  Für  das  Patent-, 
Post-  und  Telegraphen-,  das  Münz-,  Bank-,  Maß-  und  Gewichtswesen 
wurde  die  gesetzliche  Reichskompetenz  verlangt,  und  alle  diese  Ver- 
waltungszweige sollten  der  Oberaufsicht  des  Reiches  unterstehen.  Der 
deutsche  Zollverein  wäre  dann  nicht  weiter  nötig  gewesen. 

Da  diese  Pläne  der  deutschen  Einheit  zu  nichts  geführt  haben, 
blieb  der  Zollverein  fortbestehen,  der  während  der  politischen  Lähmung 
der  Einzelstaaten  die  Einnahme  ruhig  weitererhob,  statutenmäßig  ver- 
rechnete und  verteilte. 


In  Verbindung  mit  der  Revolution  sind  zwei  Vorgänge  sozial- 
wirtschaftlichen Inhalts  zu  nennen,  die  zwar  nicht  unmittelbar  tief  in 
das  Wirtschaftsleben  einschnitten,  aber  doch  Ereignisse  der  sechziger 
Jahre  vorbereiteten :  Die  Handwerker-  und  Lohnarbeiter- 
bewegung. Die  erstere  führte  schließlich  zu  dem  Gegenteil  des  Be- 
absichtigten, indem  die  staatlichen  Versuche,  ihren  Zielen  nachzugeben, 
die  Unzweckmäßigkeit  derselben  erwiesen.  Die  zweite  blieb  für  die 
Lage  der  Arbeiter  zwar  praktisch  erfolglos,  wurde  aber  später  im 
gleichen  Sinne  aufgenommen,  so  daß  ihre  theoretischen  Gedanken 
fortlebten. 

Die  rechtliche  Lage  des  Handwerks  war  nach  18 15  in  Deutsch- 
land ungleichartig.  Gewerbefreiheit,  Konzessionssystem,  Zunftrecht 
waren  bunt  gemischt.  Nicht  bloß  der  einzelne  Staat,  sondern  die 
Provinzen,  sogar  die  Städte  hatten  das  Gewerbewesen  partikular  ge- 
regelt. In  Süddeutschland  wurden  die  Rechte  der  Vergangenheit 
wenig  beachtet.  Man  ließ  staatlicherseits  unter  Mißachtung  der  In- 
nungen, wenn  auch  unter  bürokratischer  Willkür,  die  Entwicklung  der 
neuen  Gewerbsarten  zu,  aber  die  alten  fortbestehenden  Beschränkungen 
waren  doch  noch  eine  Fessel  des  Fortschrittes,  da  sie  formell  nicht 
aufgehoben  worden   waren.     In  Hannover  hatten   sich  die    Zünfte   be- 


142  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848 — 1871. 

hauptet,  doch  schon  1833  zeigte  die  Statistik  in  den  freien  Gewerben 
43  537  Selbständige  und  1 1  830  Gehilfen,  29356  und  973g  unter 
Konzession,  18840  und  19064  in  Zünften,  so  daß  diese  nur  ein  Drittel 
der  Gewerbetreibenden  umschlossen.  Ähnlich  lagen  die  Verhältnisse 
in  Kurhessen,  Sachsen,  Württemberg,  Baden,  Oldenburg  und  den  vier 
freien  Städten. 

Nach  den  Untersuchungen  von  G.  Schmoller  hatte  sich  in 
Preußen  bis  1 83 1  trotz  der  Gewerbefreiheit  das  Handwerk  auf  seinem 
alten  Umfang  in  der  Gesamtbevölkerung  gehalten,  entsprechend  dem 
oben  mitgeteilten  volkswirtschaftHchen  Zustand  der  Ruhe  oder  der 
nur  langsamen  Vorwärtsbewegung.  Die  Lebensgewohnheiten  des 
Volkes  hatten  sich  nicht  sehr  geändert,  und  die  kleinen  Gewerbe- 
treibenden blieben  zunächst  im  sicheren  Besitz  ihres  bescheidenen  Ab- 
satzes. In  der  nächsten  Periode  nimmt  mit  dem  Schwinden  der  Eigen- 
produktion die  Zahl  der  Handwerker  auf  Kosten  der  Landwirtschaft 
zu,  besonders  auf  dem  Lande,  da  dies  die  Gewerbefreiheit  gestattete. 
Gleichzeitig  gerät  die  stoffverarbeitende  alte  Kleinproduktion  in  eine 
unheimliche  Gärung.  Überall  werden  tüchtige  Schmiede,  Tischler, 
Maurer,  Sattler  gesucht,  Meister  und  Gesellen,  um  in  die  neuen  Fa- 
briken einzurücken.  Dann  ergänzt  und  erweitert,  als  Reservoir  für 
diese  Fabriken,  das  städtische  Handwerk  die  Zahl  seiner  Angehörigen, 
um  nach  wenigen  Jahren  schon  zu  erfahren,  daß  die  neue  Technik 
der  Fabrikation  in  Verbindung  mit  dem  verbesserten  Transport  sich 
gegen  die  alte  Form  der  Verarbeitung  wendet  und  bei  ihren  in  Ver- 
gleich zu  später  zwar  noch  primitiven  Methoden  den  ungelernten 
Lohnarbeiter  nicht  selten  dem  gelernten  Gesellen  vorzieht.  In  der 
Mitte  der  vierziger  Jahre  wurde  in  ganz  Deutschland  von  einer  Krisis 
des  Handwerks  gesprochen,  und  als  nun  schlechte  Ernten  die  Kauf- 
kraft des  Landes  herabsetzten  und  1847  die  englische  Handelsstockung 
auf  Deutschland,  besonders  auf  Bremen,  Hamburg,  Karlsruhe,  Mann- 
heim und  Offenbach,  hinübergriff,  fand  das  Revolutionsjahr  einen  höchst 
unzufriedenen  Kleingewerbestand  vor,  der  die  allgemeine  politische 
Erregung  benutzen  zu  müssen  glaubte,  um  seinen  Forderungen  Gehör 
zu  verschaffen.  Obwohl  die  Handwerker  zuerst  von  dem  demokratischen 
Fahrwasser  mit  fortgerissen  wurden,  setzten  sie  sich  bald  zu  dem 
wirtschaftlichen  Liberalismus  in  Gegensatz  und  bekämpften  die  Ge- 
werbefreiheit, die  an  allem  ihren  Unglück  schuld  sein  sollte.  Da 
einem  das  Hemd  näher  als  der  Rock  ist,  wurde  dieser  Kampf  bald 
der  Mittelpunkt  der  Bewegung,  was  zugleich  dahin  führen  mußte,  bei 
den  Konservativen,  die  sie  mit  offenen  Armen  aufnahmen,  Anschluß 
zu  suchen. 

Die  Agitation  wurde  durch  einen  „offenen  Brief"  von  22  Leip- 
ziger  Obermeistern    an    alle   Innungen    Deutschlands   eingeleitet,    dann 


II.  Die  Revolution  von   1848/49,  Handwerker  und  Lohnarbeiter.  1A3 

tagte  in  Hamburg  ein  Vorkongreß,  der  von  200  Abgeordneten  besucht 
war.  Hier  wurde  eine  Neuordnung  entworfen,  die  ein  angeblich  zeit- 
gemäßes, neues  Innungswesen  enthielt  und  den  Männern  in  der  Frank- 
furter Paulskirche  mit  dem  Ansinnen  übersandt  wurde,  daß  die  Auf- 
hebung der  Gewerbefreiheit  zu  einem  Reichsgrundsatz  erhoben  werden 
sollte.  Das  1918  von  Rußland  nach  Deutschland  importierte  Räte- 
system wurde  damals  schon  vorgefühlt.  Man  erklärte,  daß  ein  „Hand- 
werkerparlament" in  Frankfurt  tagen  sollte,  dessen  Beschlüssen  das 
Hauptparlament  Gesetzeskraft  zu  geben  habe.  Also  eine  Durchbrechung 
der  Demokratie  durch  Berufsinteressen,  freilich  in  bescheidenerer  Form 
als  19 19,  da  die  Handwerker  über  ihre  eigenen  nächsten  Angelegen- 
heiten hinaus  keinen  politischen  Einfluß  beanspruchten.  Doch  sieht 
man,  daß  sie  weitmehr  als  eine  beratende  Körperschaft  sein  wollten, 
wie  solche  die  Handels-  und  Gewerbekammern  später  gebildet  haben. 

Das  Handwerkerparlament  trat  zusammen  und  ließ  der  National- 
versammlung einen  „feierlichen  von  Millionen  Unglücklichen  besiegelten 
Protest"  gegen  die  Gewerbefreiheit  und  eine  allgemeine  Handwerks- 
und Gewerbeordnung  überreichen,  die  die  obligatorischen  Zünfte  mit 
öffentlich  rechtlichen  Befugnissen,  den  Befähigungsnachweis  der  Meister, 
die  Wanderzeit  der  Gesellen,  die  Beschränkung  der  Lehrlingszahl 
wieder  herstellen  sollte.  Außerdem  ging  die  Forderung  auf  Verbote 
des  Hausierhandels,  der  Assoziation  von  Nichtinnungsgenossen,  der 
Staats-  und  Aktien  Werkstätten  und  öffentlicher  Submissionen,  auf  eine 
hohe  Extrabesteuerung  der  Fabriken,  die  vom  Handwerk  streng  ab- 
zutrennen seien,  und  auf  die  Errichtung  einer  Gewerbekammer,  die  als 
höhere  Instanz  über  den  Zünften  zu  stehen  und  zugleich  das  neue 
deutsche  Reich  in  der  Handwerkersache  zu  beraten  habe. 

Der  geistige  Führer  war  der  Professor  der  Kasseler  Gewerbe- 
schule Winkelblech,  der  unter  dem  Pseudonym  Karl  Mario  ein 
umfassendes  Werk,  „Untersuchungen  über  die  Organisation  der  Arbeit, 
oder  System  der  Weltökonomie"  herauszugeben  begonnen  hatte,  ein 
ehrlich  empfindendes  Buch,  dessen  zweiter  Band  eine  auch  heute  noch 
lesenswerte  Geschichte  der  Nationalökonomie  und  des  älteren  Sozia- 
lismus enthält,  im  übrigen  ein  aus  Malthusianismus,  Kommunismus, 
Innungsidealen  und  christlicher  Moral  zusammengesetztes  System  ent- 
hält, das,  trotz  mancher  eingestreuter,  zutreffender  Bemerkungen,  mit 
der  geschichtlichen  Entwicklung  des  Wirtschaftslebens  seiner  Zeit  in 
keine  zureichende  Verbindung  gebracht  ist. 

Was  die  Meister  vorgemacht  hatten,  ahmten  die  Gesellen  nach. 
Auf  einem  Gegenkongreß,  ebenfalls  in  Frankfurt  a.  M.,  wurde  scharfe 
Kritik  an  dem  Handwerkerprogramm  geübt,  jede  Herrschaft  des 
Meisters  über  den  Gesellen  verworfen,  aber  die  Innung  nicht  preis- 
gegeben.     Unter   Winkel blechs    Bemühung   kam   es   zu    einem    Kom- 


144  ^^-  -Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848/1871. 

promiß,  so  daß  wenigstens  nach  außen  die  Einheit  des  ganzen  Standes 
gewahrt  blieb. 

Die  Nationalversammlung  war  der  Aufgabe,  ein  allgemeines 
deutsches  Gewerberecht  zu  schaffen,  nicht  gewachsen.  Sie  war  mit 
Petitionen  und  Versammlungsbeschlüssen  überschüttet  worden,  und 
der  volkswirtschaftliche  Ausschuß  sollte  in  Kürze  sich  in  dem  Chaos 
der  Widersprüche  zurechtfinden  und  das  für  ganz  Deutschland  Passende 
herausfinden.  Der  Ausschuß  legte  zwar  einen  Majoritätsentwurf  auf 
gewerbefreiheitlicher  Grundlage  und  zwei  entgegenstehende  Minioritäts- 
vorschläge  vor,  empfahl  aber  gleich,  nicht  darauf  einzugehen  und  die 
Ordnung  einem  späteren  Reichsgesetz  zu  überlassen. 

Damit  waren  die  Eingaben  der  Handwerker  und  Gesellen  er- 
ledigt. Dennoch  ist  die  Handwerkerbewegung  nicht  ohne  Folgen 
geblieben,  da  sowohl  in  Preußen  1849  Verordnungen  zugunsten  der 
Zünfte  erlassen  wurden,  als  auch  eine  größere  Anzahl  Staaten,  u.  a. 
Bayern  und  Hannover,  nicht  dazu  zu  bewegen  waren,  die  bestehenden 
zünf tierischen  Einrichtungen  abzuändern,  obwohl  die  Lage  der  Hand- 
werker hier  in  keiner  Weise  besser  war  als  dort,  wo  die  Gewerbe- 
freiheit Rechtens  war. 

Die  preußische  Gewerbeordnung  von  1845,  die  nach  zehnjähriger 
Beratung  zustande  gekommen  war,  hatte  im  Grundsatz  die  freiheit- 
lichen Gesetze  von  1810  und  181 1  aufrecht  erhalten,  aber  die  freien 
Korporationen  der  Handwerker  durch  Begünstigungen  zu  schützen 
versucht.  Hiermit  wurde  1849  gebrochen.  Bei  einer  großen  Zahl  der 
Gewerbe  wurde  ihre  Ausübung  von  der  Mitgliedschaft  einer  Innung 
abhängig  gemacht,  eine  dreijährige  Lehr-  und  Gesellenzeit  als  Mindest- 
maß vorgeschrieben,  die  gemeinsame  Ausübung  mehrerer  Handwerke 
konnte  verboten  werden,  Abgrenzungen  der  Betriebsarten  voneinander 
wurden  vorgeschlagen. 

Zur  Ordnung  aller  sich  ergebender  Schwierigkeiten  und  zur 
Überwachung  der  Vorschriften  schuf  man  Gewerberäte,  deren  Mit- 
gheder  für  bestimmte  Bezirke  von  dem  Handwerker-,  Fabrikanten- 
und  Handelsstande  gewählt  wurden.  „Die  Gewerberäte  waren",  schreibt 
Schönberg,  „ein  verunglücktes  Experiment.  Die  unzweckmäßige 
Zusammensetzung  derselben,  die  Unbestimmtheit  der  ihnen  erteilten 
Befugnisse  und  der  Mangel  an  Verständnis,  an  korporativer  Willens- 
kraft und  an  Gemeinsinn  in  den  Kreisen  der  Gewerbetreibenden  ließen 
sie  nicht  zu  der  gehofften  Entwicklung  kommen." 

Die  Gewerberäte  fanden  dort,  wo  sie  eingeführt  wurden,  lebhaften 
Widerstand  in  allen  denjenigen  industriellen  und  kommerziellen  Kreisen, 
denen  eine  ungehinderte  Bewegung,  zu  Neuerungen  zu  gelangen  not- 
wendig war.  Die  Regierung  legte  bald  selbst  kein  Gewicht  auf  dieses 
Institut  mehr,  das  sie  nur  an  das  Jahr   1849    erinnerte.     In   vielen  Be- 


II.  Die  Revolution  von  1848/49,  Handwerker  und  Lohnarbeiter.  j^  = 

zirken  wurde  es  gar  nicht  erst    einmal   versucht,   und    wo   es    bestand 
ließ  man  es  seine  Pflicht  tun  oder  nicht  tun,  wie  es  ihm  paßte. 

Die  Rückkehr  zu   den  Prinzipien    der   alten  Innungen   wurde   in 
den  fünfziger,  noch  mehr  in  den  sechziger  Jahren  als  ein  Widerspruch 
zu    dem    wirtschaftlichen    Leben    der    Nation    begriffen,   je   rascher    es 
industriell  fortschritt,  was  in  einer  Weise  geschah,  wie  nie  zuvor.    1854, 
begann  Württemberg,  wo  verwandte  Gewerbe  in  dieselbe  Innung  ein- 
gegliedert  wurden,   mit  der  Reform   im   liberalen  Sinne,    1859    folgte 
Gotha,  1860  Nassau.     In   den   sechziger  Jahren   schlössen   sich    Baden, 
Oldenburg,  Bremen,  Hamburg,  die  thüringischen  Länder,  Sachsen,  zu- 
letzt  das   zähe  an    seinem   Konzessionssystem   hängende  Bayern   (1862 
und  68)  an,   so   daß   die  Gewerbeordnung   des   Norddeutschen   Bundes 
den  Boden  für  die  Gewerbefreiheit  geebnet  vorfand.  Im  rechtsrheinischen 
Bayern  hatte  die  Bevölkerung  von    18 18 — 187 1    nur   von    3,26   bis   zu 
4,24  Millionen  zugenommen,  und  doch  klagte  man  über  zu  viele  Men- 
schen, da  das  überwiegend  agrarische  Land  eine  starke  Auswanderung 
hatte.     Der  Wanderungsverlust  hat  von   1840 — 1910  765000  Personen 
betragen.  In  den  ersten  Jahrzehnten  zogen  viele  über  See;  als  die  deutsche 
Industrie  erstarkte,  waren  Sachsen,  die  Rheinprovinz  und  Westfalen  be- 
sonders aufnehmend.     Der  Abzug  wäre    noch   größer   gewesen,    wenn 
die  verarbeitenden  Gewerbe  im  Lande  nicht  auch  fortgeschritten  wären. 
Das  wird  meist  der  freiheitlichen  Bewegung  von    1868   zugeschrieben. 
Mit    gewissem    Recht.      Doch    haben    die    Reichsgründung    und    die 
Rückwirkung  aus  dem   sonstigen  erstarkten  Deutschland  ein  Übriges 
geleistet.     Die  liberale  Literatur  hatte  diese  neue  Bewegung  stark  an- 
geregt, in  Süddeutschland  unter  der  Führung  von  v.  Steinbeiß  und 
Schäffle,    im   Norden     unter    der     von    Schultze-Delitsch    und 
V.  Huber,  die  beide  mit  dem  Genossenschaftswesen   dem   Handwerk 
neue  Kraft  zuführen  wollten;  durch  V.  Böhmert,  C.  Braun  und  den 
Manchestermännern,     die     auf    diesem    Gebiete    am    glücklichsten    ge- 
handelt haben  und  welche  die  seit  1858  tagenden  Kongresse  deutscher 
Volkswirte  nach  dieser  Richtung  hin    zu   bestimmen  verstanden.     Die 
Handwerkertage  jener  Tage,   die   der    1862    gegründete   Handwerker- 
bund   abhielt,    wurden    mit     ihrem    Innungsprogramm    demgegenüber 
kaum  gehört. 

Die  deutschen  Handwerker  waren  in  der  Mitte  des  Jahrhunderts, 
das  ist  unbestritten,  in  einer  wenig  günstigen  Lage,  da  sie  durch  die 
veränderte  Technik  in  den  Fabrikgroßbetrieben,  durch  die  billige  Haus- 
industrie, den  aufkommenden  Fernabsatz  und  den  zunehmenden  Hausier- 
handel bedrängt  wurden,  ohne  daß  sie  eine  Abwehr  gegen  ihre 
Widersacher  oder  eine  Anpassung  an  die  neuzeitliche  Volkswirtschaft 
gefunden  hatten.  Allerdings  in  verschiedener  Weise.  Spinner,  Weber, 
Tuchmacher,    Metallarbeiter,    Brauer,    Nadler,   Nestler,   Strumpfwirker, 

A.Sartorius  v. Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.      It) 


146  IV*  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848 — 187 1. 


Seifensieder,  Seiler,  Böttcher,  Töpfer,  Handschuhmacher,  Färber,  Nagel - 
schmiede,  Bleicher,  Drucker,  Mützenmacher  konnten  sich  nicht  halten 
und  verschwanden  als  Handwerker  allmählich,  während  alle  diejenigen, 
die  für  die  persönlichen  und  häuslichen  Bedürfnisse  ihrer  Kunden 
arbeiteten,  wie  Friseure,  Barbiere,  Schuhmacher,  Schlosser,  Schmiede, 
Klempner,  Glaser,  durch  die  neue  Betriebsweise  direkt  weniger  betroffen 
wurden.  Schneider  und  Schneiderinnen  wurden  hier  und  da  geschädigt. 
1850  wurde  das  erste  große  Magazin  von  Hermann  Gerson  in 
Berlin  eröffnet,  das  20000  Mäntel  und  Mantillen  lieferte,  2000  Personen, 
darunter  zahlreiche  Modistinnen  und  Putzmacherinnen,  in  seinen  haus- 
industriellen Dienst  stellte.  Die  Kleiderbazare  traten  im  Verlauf  der 
fünfziger  Jahre  auch  in  anderen  Städten  auf,  gewannen  bald  größere 
Ausdehnung,  als  die  Nähmaschine  ihren  Siegeszug  durch  die  ganze 
Welt  antrat.  Sie  war  184Ö  von  Elias  Howe  in  Massachusetts  erfunden 
worden.  Mitte  der  fünfziger  Jahre  versuchten  sich  auch  deutsche 
Mechaniker  an  neuen  Konstruktionen.  Die  bald  darauf  in  Leipzig, 
Bielefeld,  Berlin,  Magdeburg  und  Stettin  entstehenden  Unternehmungen 
blieben  indessen  klein,  und  leistungsfähige  sind  erst  20  Jahre  später 
vorhanden.     Inzwischen  herrschte  das  amerikanische  Weltmonopol. 

Die  Nähmaschine  konnte  auch  hausindustriell  benutzt  werden, 
wie  es  überhaupt  vielfach  die  Hausindustrie  auf  breiter  Grundlage  war, 
die  neben  der  Fabrik  dem  Handwerk  Schaden  zufügte.  So  nicht  nur 
in  der  Textil-  und  Konfektionsindustrie,  sondern  auch  bei  der  Her- 
stellung von  Ledertaschen,  Koffern,  Spielwaren,  Musikinstrumenten 
und  Klein  eisen  waren. 

186 1  war  im  Vergleich  zu  18 16  der  Anteil  der  Handwerker  in 
der  preußischen  Bevölkerung,  freier  und  zünftlerischer,  nicht  geringer 
geworden,  wenn  auch  in  den  letzten  Jahren  eine  kleine  Abnahme  die 
vorherige  Zunahme  aufzuzehren  begann.  Es  wurden  28,3°/oo  g^gen 
24,9  ermittelt,  und  die  Gehilfen  eingerechnet  sogar  59,0  gegen  30,8. 
Von  den  Personen  der  geschädigten  Handwerksbetriebe  waren  manche 
in  die  besser  gehenden  übergetreten  und  brachten  hier  ein  Überangebot 
hervor,  wodurch  die  Allgemeinheit  der  Klagen  begreiflich  wurde. 
Andere  versuchten  kleine  Verkaufsgeschäfte  einzurichten,  gingen  hau- 
sieren, betrieben  mehrere  Arbeiten  nebeneinander,  warfen  sich  auf 
Reparaturen,  wozu  ihnen  immer  mehr  Gelegenheit  geboten  wurde,  je 
unselbständiger  die  Familienwirtschaft  wurde.  Am  schlechtesten  erging 
es  dem  Handwerk  in  den  Großstädten,  während  es  in  den  Kleinstädten 
und  auf  dem  Lande  relativ  große  Zahlen  behauptete. 

Wenn  man  sich  die  Tatsache  vorhält,  daß  aus  dem  Handwerker- 
stande viele  Personen  in  die  neuen  Fabriken  übertraten,  so  erscheint 
es  auffallend,  daß  die  Quote  in  der  Bevölkerung  sich  so  gehalten  hat. 
Die  Erklärung  dürfte  darin  liegen,  daß  viele  Hilfspersonen  der  Fabriken, 


II.  Die  Revolution  von   1848/49,  Handwerker  und  Lohnarbeiter.  j^^ 

wie  Maurer,  Tischler,  Zimmerleute,  Sattler,  Schmiede,  Schlosser  ganz  für 
diese  tätig  wurden,  ohne  zunächst  den  eigentlichen  Lohnarbeitern  sich 
zuzurechnen.  Außerdem  vollzog  sich  die  Abwanderung  aus  der  Land- 
wirtschaft und  aus  der  ländlichen  Hausindustrie  in  die  Städte  oft  so,  daß 
die  Ankömmlinge  sich  zuerst  dem  Handwerk  zuwandten,  das  ihnen 
mehr  zusagen  mochte  als  die  gleichförmige  Fabrikarbeit,  und  damit 
die  Verluste  wieder  auffüllten. 


Ebenso  wie  der  landwirtschaftliche,  bedurfte  der  industrielle  Groß- 
betrieb der  Lohnarbeiterschaft,  um  zu  gedeihen.  Der  gewerbliche 
Lohnarbeiter  ist  in  dem  theoretischen  System  des  Liberalismus  ein  Mann, 
der  mit  einem  anderen,  dem  Arbeitgeber,  einen  Vertrag  über  eine  gegen 
Geldlohn  zu  leistende  Arbeit  abschließt,  unter  den  Schranken  des  für 
alle  geltenden  bürgerlichen  Rechtes,  im  übrigen  wirtschaftlich  tun  und 
lassen  kann,  was  ihm  beliebt,  ein  Mann,  der  auf  sich  selbst  gestellt, 
zu  einem  zufriedenen  Dasein  und  zu  der  Ausbildung  seiner  ihm  eigenen 
Anlagen  gelangen  wird. 

Diese  Definition  ist  ein  Ziel,  das  unter  den  Tatsachen  des  Lebens 
zunächst  nicht  oder  nicht  genügend  erreicht  werden  konnte,  solange 
Besitz  und  Besitzlosigkeit  eine  ganz  verschiedene,  geschichtlich  ge- 
gebene Machtverteilung  in  der  Gesellschaft  darstellten.  Vielmehr  ent- 
stand ein  solcher  Zustand  unter  beiden  Gruppen,  der  außerhalb  der 
Arbeitsbetätigung  zu  einer  gegenseitigen  Abschließung  hinsteuerte. 
Die  Güterproduktion  bedurfte  des  Zusammenwirkens  beider  und  wurde 
dadurch  möglich,  daß  die  besitzlosen  Arbeiter  unter  den  gegebenen 
Verhältnissen  Arbeit  zu  suchen  genötigt  wurden,  womit  sie,  wie  sich 
indessen  erst  später  herausstellte,  auf  die  Verbesserung  ihrer  Lage 
nicht  zu  verzichten  brauchten.  In  den  vierziger  und  fünfziger  Jahren 
wußten  sie  noch  nicht,  wie  sie  es  anfangen  sollten.  Die  ersten  Vor- 
stellungen der  Selbsthilfe  sind  ihnen,  wenn  auch  nur  wenigen,  1848 
aufgegangen,  und  von  dorther  stammen  die  Anfänge  „des  Emanzipa- 
tionskampfes des  vierten  Standes".  Die  Betriebsform,  in  der  alle  Pro- 
dukte dem  Unternehmer,  mochte  dieser  auch  der  Staat  sein,  gehören, 
wurde  in  den  kommenden  Kämpfen  nicht  verändert,  und  alle  Versuche 
dieser  Richtung  sind  bis  zur  Gegenwart  fehlgeschlagen.  Der  Unter- 
nehmer blieb  zur  Deckung  des  allgemeinen  Bedarfes  in  der  modernen, 
arbeitsteiligen  und  auf  Fern-  und  Massenerzeugung  gerichteten  Volks- 
wirtschaft unentbehrlich,  es  war  also  eine  Notwendigkeit,  ihm  die  Dis- 
ziplin über  seine  Arbeiter  und  das  Recht  der  Entlassung  nicht  zu 
schmälern.  Unter  diesen  Zugeständnissen  konnte  es  also  nur  darauf 
ankommen,  ihn  gegenüber  der  Lohnarbeiterschaft  zu  der  Erfüllung 
sozialer  Pflichten  anzuhalten.  Der  Trieb  nach  Reichtum  in  w.  S.  hatte 
Vermögen   und   Produktivkraft   unwiderstehlich  zum   größeren  Betrieb 

10' 


148  I^'  Abschnitt.     Die  deutsche  "Wirtschaftsgeschichte  vou  1848  — 1871. 


mit  Lohnarbeitern  geführt.  Das  Individuahnteresse,  das  der  Bauer  und 
der  Handwerksmeister  am  Erfolg  ihres  Schaffens  haben,  ließ  sich  auf 
die  Arbeiter  nicht  übertragen,  sondern  nur  auf  wenige,  einen  oder 
einisre  Unternehmer  oder  deren  Stellvertreter.  Die  Motive  zum  Ar- 
beiten  mußten  daher  wo  anders  hergenommen  werden,  falls  man  nicht 
auf  den  ökonomischen  Fortschritt  verzichten  wollte.  Furcht  vor  Ent- 
lassung war  das  nächste,  das  zur  Anwendung  gebracht  wurde.  Lohn- 
aufbesserung, Aufrücken  zu  höherer  Stellung,  Aussicht  auf  Ersparungen, 
Hausbesitz,  Alters-  und  Invalidenversorgung  sind  weiter  herbeigezogen 
worden. 

In  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  waren  die  gewerblichen  Lohn- 
arbeiter nur  in  den  wenigen  kleinen  Fabriken  anzutreffen,  wie  etwa  in 
der  sächsischen  Kattundruckerei,  während  der  Kontinentalsperre  nahm 
ihre  Zahl  zu,  hielt  sich  aber  bis  in  die  dreißiger  Jahre  noch  in  sehr  be- 
scheidener Grenze. 

Jn  den  zwanziger  Jahren  gab  es  jedoch  noch  keine  gewerblichen 
Arbeiter  i.  w.  S.  mit  ausgeprägtem  Klassenbewußtsein.  Am  meisten 
besaßen  dav^on  die  Gesellen  in  den  großen  Städten,  die  sich  in  ihren 
Hilfsvereinen  gegenüber  den  Meistern  bei  besonderen  Anlässen  als 
eng  zusammengehörig  fühlten.  Die  Bergarbeiter  waren  in  Knapp- 
schaftsverbänden genossenschaftlich  organisiert,  betonten  aber  in  ihnen 
eigentlich  nur  die  Kranken-  und  Invalidenfürsorge,  bei  der  sie  von 
den  Ge werken  unterstützt  wurden.  Die  außerhalb  der  Innungen 
stehenden  Leute  zu  gewerbhchen  Arbeiten  waren  weit  zerstreut  über 
Stadt  und  Land  in  der  Hausindustrie  und  den  wenigen  Fabriken, 
deren  Gründungen  man  z.  B.  zwischen  181 1  und  1820  im  Königreich 
Sachsen  nur  auf  70  beziffert  hat,  die  zu  ^7  Kleinbetriebe  mit  wenigen 
Arbeitern  waren. 

In  den  dreißiger  und  noch  mehr  in  den  vierziger  Jahren  ver- 
ändert sich  das  Bild.  So  gab  es  z.  B.  von  1841  — 1850  in  Sachsen 
schon  64  Fabriken  mit  je  50 — 100  Arbeitern,  74  mit  je  100 — 500  und 
1 1  mit  noch  größerer  Anzahl.  Nach  den  Mitteilungen  des  statistischen 
Bureaus  in  Berlin  von  1860  hatte  von  18 16 — 1847  die  Zunahme  der 
Fabrikarbeiter,  Handwerksgesellen  und  des  Gesindes  in  Preußen  6,88% 
mehr  als  die  der  Bevölkerung  betragen.  In  Berlin  hatten  sich  die 
Handwerksgesellen  um  50,60%,  die  Fabrikarbeiter  um  170,41%  ver- 
mehrt. In  den  letzten  Jahren  vor  der  Berichterstattung  waren  im 
Königreiche  von  8  —  14jährigen  Kindern  13,  in  Berlin  32  auf  tausend 
Einwohner  in  der  Industrie  beschäftigt  gewesen. 

Die  gelernten  Arbeiter  in  den  neuen  Werkstätten  waren  ehe- 
malige Meister  und  Gesellen  oder  auch  Heimarbeiter,  die  ungelernten 
die  Nachkommen  dieser  Lohnarbeiterschaft,  denen  die  handwerksmäßige 
Ausbildung  versagt  blieb,  und  Leute  vom  Lande,  Einlieger  und   nach- 


II.  Die  Revolution  von  1848/49,  Handwerker  und  Lohnarbeiter.  i^^g 

geborene  Bauernsöhne,  die  keinen  Boden  ererbt  hatten,  Personen,  die 
ihren  kleinen  Besitz  verloren,  Mädchen,  die  sich  in  ihrer  Heimat  nicht 
verheiratet  hatten  und  dem  ländlichen  Gesinde  nicht  angehören  oder 
städtische  Dienstboten  nicht  werden  wollten. 

In  diesen  ersten  Umformungsvorgang  paßte  eine  Arbeiterbewegung 
nicht  hinein.  Zunächst  hatten  sich  die  Lohnarbeiter  an  ein  gemein- 
sames Arbeiten  zu  gewöhnen.  Dann  erst  konnte  das  Bewußtsein  der 
sozialen  Zusammengehörigkeit  lebendig  werden.  In  den  dreißiger  Jahren 
brachten  die  wandernden  Gesellen  einige  neue  Ideen  aus  Paris  und 
der  Schweiz  nach  Deutschland.  Teils  drehte  es  sich  dabei  um  repu- 
blikanische und  demokratische  Forderungen,  teils  um  kommunistische 
Pläne  Fouriers  und  Cabets,  mit  welchen  praktisch  nichts  zu 
machen  war. 

In  den  vierziger  Jahren  entstand  eine  Propaganda,  die  sich  an  den 
Namen  des  Schneiders  W.  Weitling  (1808— 187 1)  anknüpfte.  Er 
war  auf  der  Wanderschaft  nach  Paris  gekommen,  wo  er  mit  dem 
Kommunismus,  der  ganz  ungeschichtlich,  d,  h.  ohne  an  Bestehendes 
anzuknüpfen,  die  Phantasie  von  unverbesserlichen  Schwärmern  erfüllte, 
vertraut  geworden  war.  Nach  der  Schweiz  übergesiedelt,  suchte  er  in 
öffentlichen  und  geheimen  Vereinen  nach  Anhängerschaft,  die  ihm  auch 
nicht  versagt  blieb,  bis  die  Staatsbehörden  sein  Treiben  unterdrückten. 
Sein  erstes  Büchlein  „Die  Menschheit,  wie  sie  ist  und  wie  sie  sein 
sollte"  (1838)  will  die  Welt  in  einen  Garten  und  die  Menschheit  in 
eine  große  Familie  verwandeln.  „Die  Garantien  der  Humanität  und 
Freiheit"  (1842)  bringen  die  genaueren  Formen  der  utopistischen  Or- 
ganisation, während  die  dritte  Schrift  „Das  Evangelium  eines  armen 
Sünders"  (1845)  den  Nachweis  liefern  sollte,  daß  der  Kommunismus 
mit  der  Lehre  Christi  übereinstimme,  die  er  sich  zu  einer  Vorschrift 
für  Genußleben  und  Liebe  in  jedem  Sinne  des  Wortes  aus  mehr  als 
hundert  Bibelstellen  mundgerecht  gemacht  hatte.  In  die  Güterverbrauchs- 
gemeinschaft der  ersten  Christengemeinden,  die  übrigens  von  gemein- 
samer Produktion  niemals  etwas  wußte,  wollte  er  die  moderne  Groß- 
industrie einschmelzen  und  glaubte  sicher  der  Schwierigkeit  Herr  zu 
werden,  wenn  die  Arbeiter  ihn  für  einen  zweiten  Messias  nähmen,  für  den 
er  sich  selbst  halten  mochte.  Aber  das  taten  sie  nicht,  und  so  mußte  er 
das  erleben,  worauf  eigenartige  Köpfe  in  der  Arbeiterdemokratie  immer 
-gefaßt  sein  müssen,  daß  ihre  Gedanken  noch  heftiger  befehdet  werden 
als  die  der  verhaßten  bürgerlichen  Gesellschaft. 

Als  die  Revolution  1848  ausbrach,  kam  es  nicht  nur  schon  zu 
einzelnen  größeren  Arbeitseinstellungen,  bei  denen  die  Arbeiterführer 
den  Klassenstandpunkt  verteidigten,  sondern  in  Berlin  und  in  Köln 
wurde  der  erste  Versuch  einer  politischen  Arbeiterbewegung  gemacht. 
Beides  hatte  mit  Weitlings  Plänen  unmittelbar  nichts   zu  tun,  doch 


ICQ  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848 — 1871. 

läßt  sich  nicht  verkennen,  daß  seine  und  ähnlich  gesinnte  kommu- 
nistische Agitation  in  Gesellen-  und  Arbeiterkreisen  den  Glauben  an 
die  Ungerechtigkeit  der  bestehenden  Eigentumsordnung  geweckt  hatten. 

In  Frankreich  hatte  die  Februarrevolution  neben  dem  bürger- 
lichen einen  proletarischen  Charakter  gezeigt.  In  England  hatte  es 
die  Chartistenbewegung  gegeben.  Von  diesen  beiden  Ländern  mit 
ihren  fortgeschrittenen  Industrien  gingen  die  Reflexerscheinungen  aus, 
die  in  Deutschland  damals  aufleuchteten.  Doch  waren  sie  für  die 
deutsche  Revolution,  die  eine  solche  des  Bürgertums  blieb,  ohne 
größeren  Nachhalt.  Da  die  Bewegung  von  1848  eine  demokratische 
war,  ist  sie  von  den  späteren  Sozialdemokraten  immer  verherrlicht 
worden.  Der  demokratisch-revolutionäre  Glaube  war  von  der  Bour- 
geoisie dem  Proletariat  vermacht  worden.  In  diesem  Sinne  ist  auch 
der  Ausspruch  Bismarcks  von  1878  bei  der  Beratung  des  Sozialisten- 
gesetzes zu  verstehen :  „Der  „Fortschritt"  ist,  um  landwirtschaftlich  zu 
sprechen,  eine  sehr  gute  Vorfrucht  für  den  Sozialisten  als  Bodenbe- 
reicherer,  letzterer  gedeiht  danach  vorzüglich". 

Ein  Aufruf  des  Berliner  Schriftsetzers  Born  zur  Beschickung 
eines  Arbeiterparlajnentes  war  an  alle  Arbeiter-,  Handwerker-  und 
Bildungsvereine  ergangen.  Es  sollte  über  eine  Garantie  der  Arbeit 
durch  den  Staat,  staatliche  Unterstützung  industrieller  Arbeiterasso- 
ziationen, staatliche  Versorgung  aller  hilflosen  und  invaliden  Arbeiter, 
Regelung  und  Beschränkung  der  übermäßigen  Arbeitszeit  und  Reform 
des  Steuerwesens  beraten  werden.  Ein  Kongreß  fortgeschrittener 
Arbeiter  trat  auch  in  Berlin  zusammen,  der  im  Sinne  der  vorgenannten 
Forderungen  beschloß  und,  ebenso  wie  die  Handwerker,  die  Frank- 
furter Nationalversammlung  anging,  die  Beschlüsse  in  die  Grundrechte 
des  deutschen  Volkes  aufzunehmen.  Der  Erfolg  blieb  aus.  Eine  prak- 
tische Betätigung  suchten  die  Born  sehen  Anhänger  damit  zu  erreichen, 
daß  sie  sich  überall  dem  radikalen  Flügel  des  deutschen  Bürgerturtis  an- 
schlössen, was  dann  zu  dem  Ergebnis  führte,  daß  die  ganze  Bestrebung 
mit  der  Niederwerfung  der  Revolution  zertrümmert  wurde.  Der 
spätere  sozial-demokratische  Gedanke,  mittels  der  Politik  soziale  Wünsche 
der  Arbeiter  durchzusetzen,  war  somit  schon  ausgesprochen  worden. 
In  präziserer  Form  wurde  er  später  von  Lasalle  unter  Vermittlung 
des  allgemeinen  gleichen  Wahlrechts  aufgenommen. 

In  Köln  war  es  der  in  London  gegründete  Kommunistenbund, 
an  deren  Spitze  Karl  Marx  und  Friedrich  Engels  standen,  und 
der  die  Arbeiter  der  Rheinprovinz,  wo  das  Fabrikwesen  am  weitesten 
fortgeschritten  war,  zur  proletarischen  Revolution  aufrufen  wollte.  Die 
„Neue  Rheinische  Zeitung"  unterstützte  ebenfalls  die  radikale  Demo- 
kratie, ohne  sich  zu  verhehlen,  daß  hierin  höchstens  ein  vorläufiges 
Mittel   zu    einem   viel   weiteren   Zweck,    dem   Kommunismus,    gesehen 


II.  Die  Revolution  von  1848/49,  Handwerker  und  Lohnarbeiter.  jci 

werden  könne.  Zwar  kam  es  den  beiden  Führern  nicht  darauf  an, 
irgend  ein  System  sofort  zur  Verwirkhchung  zu  bringen,  vielmehr 
wurde  für  die  unmittelbare  Gegenwart  nur  die  selbstbewußte  Teilnahme 
der  Arbeiter  an  dem  vor  ihren  Augen  vorgehenden  Umwälzungs- 
prozeß der  Gesellschaft  verlangt.  Doch  war  das  entferntere  Ziel  klar 
in  dem  „Kommunistischen  Manifest"  ausgesprochen  worden:  „Das  Pro- 
letariat wird  seine  politische  Herrschaft  dazu  benutzen,  der  Bourgeoisie 
nach  und  nach  alles  Kapital  zu  entreißen,  alle  Produktionsinstrumente 
in  den  Händen  des  Staates,  d.  h  des  als  herrschende  Klasse  organi- 
sierten Proletariats,  zu  zentralisieren". 

K.  Marx  (18 18 — 1883)  war  aus  einer  Familie  von  Geistes-,  nicht 
Handarbeitern  entsprossen,  der  Stammbaum  seines  Vaters,  der  Rechts- 
anwalt war,  weist  in  gerader  Linie,  hinauf  bis  in  das  sechzehnte  Jahr- 
hundert, nur  Rabbiner  auf,  was  alles  Eigenschaften  seiner  Persönlichkeit 
bedingte,  die  in  einer  anthropologisch  orientierten  Wissenschaft  nicht 
zu  übersehen  sind:  die  ungemeine  Gelehrsamkeit,  die  talmudische  Spitz- 
findigkeit, die  Advokatur  für  die  Unterdrückten,  das  Ressentiment 
des  Judentums  und  die  kritische  Richtung.  Auf  der  Universität  ergab 
er  sich  ganz  der  junghegelschen  Demokratie,  die  in  Männern  wie  D. 
F.  Strauß,  B.  Bauer  und  A.  Rüge  mittels  der  Dialektik  des  Phi- 
losophen das  Christentum  und  die  Monarchie  radikal  angriff.  Doch 
ging  Marx  bald  darüber  hinaus,  als  er,  nach  einer  nicht  geduldeten, 
vergeblich  versuchten  Privatdozenten-  und  Journalistenkarriere  am 
Rhein,  die  älteren  französischen  Sozialisten  und  die  Proudhonsche 
Eigentumskritik  in  Paris  kennen  lernte,  aus  denen  er  sich  belehrte, 
indem  er  beide  ebenso  zu  zersetzen  unternahm  (Misere  de  la  Philoso- 
phie 1847  und  Äußerungen  gegen  die  Weitlingsche  Richtung)  wie  den 
Hegeischen  Staatsbegriff,  dem  er  als  den  Schlüssel  zum  Verständnis 
der  geschichtlichen  Entwicklung  die  ökonomische  Gesellschaft  ent- 
gegenstellte, ohne  die  dialektische  Methode  des  Philosophen  preis- 
zugeben. Aus  Frankreich  ausgewiesen,  betrieb  er  in  Brüssel  praktische 
Agitation  in  Arbeiterkreisen  und  verfaßte  das  genannte  kommunistische 
Manifest,  das  wesentliche  Grundgedanken  seiner  späteren  literarischen 
Gedankenwelt  bereits  enthält:  daß  die  ökonomische  Gütererzeugung 
und  die  aus  ihr  mit  Notwendigkeit  sich  ergebende  gesellschaftliche 
Gliederung  den  Unterbau  für  die  politische  und  intellektuelle  Geschichte 
einer  Periode  bilden ;  daß  die  ganze  bekannte  Geschichte  eine  solche  von 
Klassenkämpfen  gewesen  ist;  daß  der  gegenwärtig  zwischen  Bourgeoisie 
und  Proletariat  auszufechtende  Kampf  eine  Stufe  erreicht  hat,  auf  der 
dieses  sich  von  jener  nicht  befreien  kann,  ohne  zugleich  die  ganze 
Gesellschaft  von  der  Unterjochung  zu  erlösen. 

Fr.  Engels  (1820 — 1895),  aus  einer  wohlhabenden  Fabrikanten- 
familie  stammend,    ging   mit   seiner   gründlichen    vielseitigen    Bildung, 


jC2  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848  — 187 1. 

und  seinem  schriftstellerischen  zur  Popularisierung  neigenden  Talent 
ganz  in  Marx'  Lebenswerk  auf,  obwohl  er  schon  früher  als  dieser  mit 
den  tatsächlichen  Zuständen  der  Großindustrie  in  Manchester  bekannt 
geworden  war.  Sein  Buch  „Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  Eng- 
land" (1845)  ist  für  viele  andere  einseitig  zielbewußte  Arbeitervertreter 
ein  literarisches  Vorbild  geworden  und  genießt  daher  eine  originelle 
Berühmtheit.  Selbst  Heglianer  und  Marx' scher  Dogmatiker,  behielt 
er  doch  mit  dem  wirklichen  Verlauf  des  ökonomischen  Geschehens 
Fühlung,  um  gelegentlich  Korrekturen  an  den  zu  starren  Konstruk- 
tionen seines  Freundes  vorzunehmen,  verlor  auch  sein  deutsches,  hu- 
morvolles Empfinden  niemals,  mußte  er  auch  den  größten  Teil  seines 
Lebens  als  verbitterter  Ausgewiesener  in  London  verbringen. 

Die  Kölner  Arbeiterbewegung  wurde  bald  durch  die  Polizei  be- 
seitigt und  hat  der  deutschen  Arbeiterschaft  in  ihren  berechtigten  For- 
derungen damals  nur  geschadet.  Der  Kommunismus  wurde  zu  einem 
Popanz,  dem  gefährlichen  „roten  Gespenst"  gemacht,  um  die  Unter- 
drückung jeder  Arbeiterbewegung  im  Anfange  der  fünfziger  Jahre 
möglichst  ungeniert  durchführen  zu  können.  Marx  und  Engels 
verHeßen  Deutschland  und  griffen  erst  nach  15  Jahren  wieder  in  die 
proletarischen  Kämpfe  ihres  Heimatlandes  ein.  Ihre  zuerst  schwer- 
verständlichen Ideen  wurden  nur  von  wenigen  Arbeitern  und  Poli- 
tikern im  stillen  Busen  aufbewahrt,  und  es  bedurfte  der  Lassall e- 
schen  Vorbereitung,  um  sie  weiteren  Kreisen  mundgerecht  zu  machen, 

III.  Die  Krise  des  deutschen  Zollvereins  und  der 
deutsch-österreichische  Handels  vertag  von  1853.  Dem 
Zollverein,  wie  er  1833  nach  mühevollen  Verhandlungen  zustande 
gekommen  war,  hatte  man  in  Österreich  eine  politische  Bedeutung 
zunächst  nicht  beigelegt.  Im  Verlauf  der  Jahre  war  man  anderer 
Meinung  geworden,  als  Preußens  Führung  immer  deutlicher  hervortrat. 
Als  nun  in  dem  Unionsvorschlag  von  184g  die  auf  eine  politische  Neu- 
gestaltung eines  engeren  Deutschlands  gerichteten  Pläne  hervortraten, 
ging  das  österreichische  Ziel  darauf  hinaus,  entweder  mit  dem  Kaiser- 
staat in  den  Zollverein  einzutreten  oder  diesen  zu  sprengen.  Man  hoffte 
um  so  mehr  auf  einen  baldigen  Erfolg,  als  die  preußische  Machtpolitik 
in  Olmütz  unterlegen,  und  der  alte  Deutsche  Bund  in  seiner  lockeren 
Form  wieder  hergestellt  worden  war.  Nach  mancherlei  Verhandlungen 
wurde  auf  der  General -Zollkonferenz  zu  Kassel  1850  der  Eintritt 
Österreichs,  für  den  sich  dessen  Handelsminister,  Baron  von  Brück, 
mit  aller  Entschiedenheit  und  mit  großer  Geschicklichkeit  eingesetzt 
hatte,  zur  Beratung  gebracht  und  ein  vorläufiges  Einverständnis  in 
der  Weise  erzielt,  daß  Preußen,  Bayern  und  Sachsen  die  Verhand- 
lungen mit  dem  südlichen  Nachbarstaate  zu  führen  ermächtigt  wurden. 


in.  Die  Krise  des  deutschen  Zollvereins  usw. 


153 


an  dessen  weitgehendem  Entgegenkommen  auf  handelspolitischem 
Gebiete  nicht  gezweifelt  werden  konnte,  nachdem  er  von  seinen  alten 
Prohibitivmaßregeln  das  meiste  preiszugeben  bereit  war.  Der  öster- 
reichische Vorschlag  kam  darauf  hinaus,  daß  der  Zolltarif  beider 
Gebiete  als  ein  einheitlicher,  und  die  innere  Handelsfreiheit  in  drei 
Perioden  des  Überganges  mit  herabzusetzenden  Zwischen  zollen  an- 
gebahnt werden  sollte.  Als  nun  Preußen,  obwohl  es  geneigt  war, 
jede  sonstige  Erleichterung  des  zwischenstaatlichen  Verkehrs  unter 
Voraussetzung  der  bisherigen  Selbständigkeit  zu  unterstützen,  erklärte, 
daß  bei  der  gänzlich  verschiedenen  Verbrauchsfähigkeit  ausländischer 
Waren  in  beiden  Gebieten  die  Verteilung  der  Zollgefälle  sich  nicht 
regeln  lasse,  daß  das  Tabakmonopol  und  die  österreichischen  Finanz- 
zölle unüberwindliche  Schwierigkeiten  bereiteten,  auch  der  Zollverein 
von  seiner  gemäßigten  Handelspolitik  nicht  abgehen  könne,  führte  die 
österreichische  Regierung,  um  ihre  Willfährigkeit  zu  beweisen,  eine 
Summe  von  Reformen  ein.  Die  noch  vorhandenen  Binnenzölle  und 
die  Einfuhr-,  Durchfuhr-  und  Ausfuhrverbote  fielen,  zahlreiche  Zölle 
auf  Halb-  und  Ganzfabrikate  wurden  ermäßigt,  auf  Roh-  und  Hilfs- 
stoffe der  Industrie  aufgehoben,  die  Ausfuhrzölle  auf  eine  geringe  Zahl 
beschränkt. 

Preußen  war  jetzt  in  einer  schwierigen  Lage,  zumal  die  deutschen 
Mittelstaaten  seinen  Gegner  unterstützten.  Es  verstand ,  daß  es  von 
der  Spitze  des  Zollvereins  verdrängt  werden  sollte.  In  dieser  Lage 
der  Dinge  wurde  man  185 1  durch  einen  Vertrag  zwischen  Preußen 
und  Hannover,  dem  sich  auch  Schaumburg-Lippe  und  Oldenburg  an- 
schlössen, also  den  Ländern  des  Steuervereins,  überrascht,  womit  es 
dem  ersteren,  auch  wenn  Kurhessen  sich  vom  Zollverein,  der  1853 
vertragsmäßig  ablief,  lossagte,  ermöglicht  wurde,  ein  zusammen- 
hängendes und  lebensfähiges  Zollgebiet  zu  bleiben,  während  die  süd- 
und  mitteldeutschen  Staaten  den  Zugang  zur  Nord-  und  Ostsee  ver- 
loren, und  die  Ströme  des  Rheins,  der  Ems,  der  Weser,  der  Elbe,  der 
Oder  nur  mit  Preußens  Einwilligung  zollfrei  benutzen  konnten. 

Dazu  kam,  daß  die  Staaten  des  Steuervereins  zur  Handelsfreiheit 
neigten,  in  welchem  Sinne  ihnen  namentlich  bezüglich  der  Finanzzölle 
Zugeständnisse  gemacht  wurden,  auf  die  Österreich  niemals  eingehen 
konnte.  Für  Hannover,  das  sich  seit  der  Beendigung  der  Personal- 
union mit  England  handelspolitisch  freier  bewegen  konnte,  war  der 
Vertrag  ein  gutes  Geschäft.  Es  erhielt  bei  der  Verteilung  der  Zoll- 
einnahmen Präzipuen,  zollfreie  Einfuhr  von  Schienen  für  seine  Staats- 
bahn, freie  Entrepots  für  die  Seestädte  Emden,  Harburg  und  Geeste- 
münde,  Zollausschluß  für  die  ostfrisischen  Inseln,  den  freien  Küsten- 
zugang zu  dem  preußischen  Aleere.  Seine  Staatsbahnen  mußten  durch 
den  preußischen  Handel  mit  Bremen,  Hamburg  und  dem  Westen  ver- 


ICA  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848 — 1871. 

dienen,  die  Industrie,  die  bald  einige  Fortschritte  verzeichnete,  ein 
Absatzgebiet .  auch  außerhalb  der  Landesgrenze  gewinnen. 

Es  folgten  lange  Verhandlungen  zwischen  Preußen  und  den  bis- 
herigen Zollvereinsstaaten.  Die  thüringischen  Länder  fanden  es  bald 
in  ihrem  Vorteil,  bei  dem  hergebrachten  Verhältnis  zu  verharren, 
wodurch  auch  Sachsen,  um  mit  Westdeutschland  in  Verbindung  zu 
bleiben,  bewogen  wurde,  sich  zu  dem  gleichen  zu  entschließen.  Die  süd- 
deutschen Staaten  hofften,  in  ihrer  Abneigung  gegen  den  Norden, 
noch  auf  ein  Zollbündnis  mit  Österreich,  kamen  aber  auch  davon  ab, 
als  ihnen  ihre  bisherigen  Finanzeinnahmen  aus  Zöllen  und  Verbrauchs- 
steuern nicht  verbürgt  wurden.  So  wurde  denn  für  weitere  zwölf 
Jahre  der  Zollverein  von  neuem  vereinbart  (1854^ — 1866),  der  auf 
9040  Quadratmeilen  angewachsen  war. 

Der  Unionsplan  mit  Österreich  war  gescheitert,  und  Preußen  hatte 
einen  diplomatischen  Sieg  errungen,  den  einzigen  von  Bedeutung,  den 
man  der  Manteuffelschen  Politik  hat  nachrühmen  können.  Das  wert- 
volle Gut  der  werdenden  deutschen  Einheit  blieb  erhalten.  Die  Krise 
hatte  wiederum  gezeigt,  wie  wenig  Stetigkeit  die  völkerrechtliche 
Grundlage  des  Zollvereins  gewährleistete.  Neue  Störungen  konnten 
kommen,  und  die  Frage  lag  nahe,  ob  eine  verfassungsmäßige,  dauernde 
Ordnung  der  äußeren  Handelspolitik  nicht  erreichbar  wäre. 

In  Österreich  sah  man  sich  indessen  nicht  als  ganz  geschlagen 
an,  da  man  im  Februar  1853  mit  dem  Zollverein  einen  Handelsvertrag 
vereinbarte,  ohne  w^elchen  die  süddeutschen  Staaten  nicht  hatten  nach- 
geben wollen.  Der  Vertrag  nahm  ein  ausgedehntes  System  gegen- 
seitigen Entgegenkommens  in  sich  auf,  das  als  Vorstufe  zu  einer  künf- 
tigen Union  angesehen  wurde,  auf  die  ausdrücklich  im  Eingange  des 
offiziellen  Textes  hingewiesen  worden  war.  Es  wurde  vereinbart,  daß 
der  Verkehr  durch  kein  anderes  Verbot  gehindert  werden  solle,  als 
es  aus  den  Monopolen  in  Tabak,  Salz,  Kalendern,  Spielkarten,  Schieß- 
pulver folge,  ferner  daß  viele  Rohstoffe,  Fabrikmaterialien  und  Fabri- 
kate von  geringem  Wert  gegenseitig  frei  eingehen  und  zahlreiche 
andere  Waren  der  Industrie  einen  gebundenen  Zoll  mit  der  Ermäßigung 
von  25 — 50%  gegen  den  Generaltarif  genießen  sollten.  Diese  Ab- 
machung hielt  die  gesonderten  Zollsysteme  aufrecht,  war  eine  Rezi- 
prozität, mit  der  beide  Gebiete  sich  aneinander  an-  und  gegen  dritte 
Staaten  abschließen  sollten.  Der  Plan  war,  in  Zukunft  noch  w^eiter 
zu  gehen  und  so  die  Einheit  des  Wirtschaftsgebietes  vorzubereiten. 
Dahin  war  noch  ein  weiter  Weg.  Denn  erstens  mußten  die  Tarife 
vereinheitlicht  werden,  und  zweitens  die  Handelsverträge  mit  dritten 
Staaten  gemeinsam  werden.  Einstweilen  war  es  jedem  der  beiden 
freigestellt,  Handelsverträge  mit  irgendeinem  Staate  abzuschließen, 
und  damit  hierdurch  der  andere  Kontrahent  nicht  benachteiligt  werde, 


III.  Die  Krise  des  deutschen  Zollvereins  usw. 


155 


gewährten  sie  sich  gegenseitig  die  Meistbegünstigung.  Da  aber  jeder 
von  beiden  in  seinen  Konzessionen  an  Dritte  so  weit  gehen  konnte, 
daß  es  dem  anderen  nachteihg  wurde,  wurde  die  Reziprozität  durch 
die  Zulässigkeit  eines  Zwischenzolles  geschützt.  Gab  z.  B.  der  Zoll- 
verein an  England  eine  Herabsetzung  des  Garnzolles,  die  dem  Satz 
für  die  österreichische  Ware  noch  nicht  gleichzukommen  brauchte,  so 
konnte  Österreich  den  Zoll  um  den  Betrag  der  Herabsetzung  erhöhen 
und,  indem  es  somit  die  enghschen  billigen  Garne  von  sich  fern  hielt, 
sollten  auch  diejenigen  deutschen  Ursprungs  getroffen  werden.  Diese 
Eventuahtät  sollte  verhindern,  daß  der  Verein  England  ein  solches 
Zugeständnis  machen  werde. 

Eine  Anzahl  Nebenbestimmungen,  wie  über  die  Benutzung  von 
Straßen  und  Eisenbahnen,  über  Zollkartell  und  Schiffahrt,  Veredelungs- 
verkehr, Zusammenlegung  der  Grenzzollämter,  waren  an  sich  geschickt, 
die  wirtschaftlichen  Beziehungen  der  Nachbarn  zueinander  zu  ver- 
stärken, aber  sie  konnten  doch  nur  etwas  Vollkommenes  leisten,  wenn 
der  gute  Wille  auf  beiden  Seiten  bestand,  bei  allen  technischen  Neue- 
rungen und  wirtschaftlichen  Fortschritten  dem  anderen  Vertragsteil 
nach  Kräften  entgegenzukommen. 

Die  Absicht,  den  Zollverein  zu  verwirklichen,  war  nun  keineswegs 
auf  beiden  Seiten  vorhanden.  Österreichs  Regierung  wollte  ihn  durch 
den  Handelsvertrag  vorbereiten  und  hatte  1860  als  neues  Verhand- 
lungsjahr festgelegt,  die  preußische  war  darauf  bedacht,  alles  Derartige 
zu  hintertreiben  und  dachte,  Zeit  gewonnen,  alles  gewonnen. 

Die  Ergebnisse  des  Februarvertrages  waren  keine  so  glänzenden, 
als  man  beim  Abschluß  prophezeit  hatte.  Während  nach  amtlichen 
österreichischen  Schätzungen  1845  ^^^  Einfuhr  aus  dem  Zollverein 
—  ohne  die  zur  See  anlangende  —  34,2  Millionen  fl,  die  Ausfuhr 
nach  ihm  29,5  Millionen  fl.  betrug,  war  1864  die  Einfuhr  in  den  Zoll- 
verein nach  deutscher  Angabe  auf  70  und  die  Ausfuhr  aus  ihm  auf 
57  Millionen  Tlr.  gestiegen.  Getreide  ging  aus  Österreich  nach  Schlesien 
und  Sachsen,  ungarische  Schafwolle,  Flachs,  Hanf,  Holz,  Häute  nahmen 
die  deutschen  Fabriken,  Vieh  ging  zum  allgemeinen  Verbrauch  ein, 
während  der  Zollverein  wenige  Lebensmittel  und  Rohprodukte,  dafür 
hauptsächlich  Fabrikate  mannigfaltiger  Art,  namentlich  Woll-,  Seiden-, 
Kurz-,  Eisen-  und  Stahlwaren  versandte. 

« 

Die  Zahlen  im  einzelnen  zeigen  ein  ungleiches  Fortschreiten. 
Wenn  sich  der  Verkehr  als  ganzer  gehoben  hatte,  so  war  die  eigent- 
liche Ursache  davon  die  rasche  ökonomische  Entwicklung  Deutsch- 
lands gewesen.  Sie  bedurfte  der  österreichisch-ungarischen  Zufuhr 
für  die  aufstrebende  Industrie,  daher  die  Bezüge  zunahmen.  Anderer- 
seits war  die  Kaufkraft  der  Donaumonarchie  überhaupt,  daher  auch 
für  Waren  des  Zollvereins,  zurückgeblieben,   teils   infolge   der   Finanz- 


l  c()  IV.  AbscliDitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848 — 1871. 

und  Papiergeldschwierigkeiten,  teils  durch  den  Krimkrieg,  der  das 
Aus-  und  Durchfuhrgeschäft  nach  dem  Orient  lahmgelegt  hatte  und 
den  Krieg  mit  Frankreich,  in  dem  Österreich  die  Lombardei  einbüßte. 

Es  ergab  sich  aus  dem  verschiedenen  Werdegang  beider  Volks- 
wirtschaften während  der  fünfziger  Jahre,  daß  eine  Zollunion  zu 
schließen  am  Ende  derselben  entschieden  schwieriger  als  am  Anfang 
war.  Je  ungleicher  die  Kraft  der  industriellen  Konkurrenten  in  dem 
geplanten  gemeinsamen  Gebiete  werden  mußte,  um  so  weniger  ver- 
spürten die  Schwächeren  die  Lust,  ein  solches  zu  schaffen.  Die  deutsche 
Industrie  andererseits  legte  auf  den  österreichischen  Absatz  um  so 
geringeren  Wert,  als  sie  glaubte,  auch  in  anderen  großen  verbrauchs- 
fähigen Ländern  ankommen  zu  können,  und  in  der  allgemeinen  Meist- 
begünstigung das  Ziel  nach  dieser  Richtung  hin  sah.  Noch  1848  hätte 
der  Verein  gelingen  können,  wenn  beide  Teile  entschieden  gewollt 
hätten  und  zu  Opfern  bereit  gewesen  wären.  Ohne  solche  ist  er  über- 
haupt niemals  zu  verwirklichen,  wie  es  auch  die  Geschichte  des 
deutschen  Zollvereins  erwiesen  hatte.  Diese  Opfer  vom  Volke  zu  er- 
zwingen, wären  beide  Regierungen  damals  stark  genug  gewesen,  da 
die  parlamentarische  Einsprache,  hinter  die  die  bedrohten  Interessenten 
sich  flüchten  konnten,  damals  weit  weniger  bedeutete  als  in  den 
folgenden  Jahrzehnten,  außerdem  Einwendungen  von  Seiten  Ungarns, 
das  seine  erst  1867  erworbene  handelspolitische  Selbständigkeit  noch 
nicht  besaß,  in  der  ganzen  Angelegenheit  wenig  besagen  wollten. 
Die  ostdeutschen  Landwirte  würden  1850  keine  Opposition  gemacht 
haben,  da  sie  dem  Freihandel  zuneigten  und  an  eine  gefährliche 
ungarische  Konkurrenz  nicht  im  entferntesten  dachten.  Das  Haupt- 
hindernis auf  wirtschaftlichem  Gebiete  war  die  Verschiedenheit  der 
industriellen  Ausbildung,  sie  war  aber,  wie  gesagt,  1850  geringer  als 
später.  Jedes  Land  hatte  seine  Spezialitäten,  die  in  einem  arbeits- 
teiligen Ganzen  weiterhin  gedeihen  mußten,  worauf  es  in  jeder  Zoll- 
union herauskommt.  Die  finanziellen  Bedenken  waren  zwar  keine 
leichten,  aber  wenn  Preußen  ernstlich  gewollt  hätte,  würde  es  für  die 
Verrechnung  der  Zollerträge  wohl  einen  Schlüssel  gefunden  haben. 
Es  hatte  politische  wohlberechtigte  Gründe,  der  Union  zu  widerstreben. 
In  der  äußeren  Handelspolitik  kann  niemals  alles  von  wirtschaftlichen 
Erwägungen  allein  abhängig  gemacht  werden.  Sie  hat  sich  vielmehr 
wie  jede  Spezialpolitik  derjenigen  des  staatlichen  Gesamtwohles  unter- 
zuordnen, die  sich  damals  für  Preußen  schon  in  der  Gründung  des 
kleineren  Deutschlands  zusammenfassen  ließ. 

IV.  Die  Fortschritte  der  landwirtschaftlichen  und  indu- 
striellen Gütererzeugung.  Als  1848  die  Unruhen  das  politische 
Deutschland  heimsuchten,  wurde  auch  die  Verkehrs  Wirtschaft  heftig 
erschüttert,    der    Handel    gelähmt,    der    Verbrauch    eingeschränkt,    der 


IV.  Die  Fortschritte  der  landwirtschaftlichen  und  industriellen  Gütererzeugung.      i  c  y 

Verkauf  von  Immobilien  fast  unmöglich,  das  Bargeld  als  Schatz  auf- 
gespeichert, der  Kurs  sicherer  Effekten  um  20—30^0  gesenkt,  der 
Kredit  unterbunden,  selbst  der  sonst  so  gute  preußische  Kassenschein 
in  Süddeutschland  zeitweise  für  die  Hälfte  seines  Wertes  verschleudert. 
Die  Erholung  trat  zwar  mit  der  Unterdrückung  der  Revolution  ein, 
ein  volles  Vertrauen  gewann  die  Geschäftswelt,  insbesondere  für  den 
auswärtigen  Verkehr,  erst  nach  dem  Staatsstreich  Napoleons  III.  vom 
2.  Dezember   1851. 

Die  jetzt  einsetzende  Gegenbewegung  legte  überall  die  politischen 
Bestrebungen  in  dem  Bürgertum  brach,  in  welchem  mancher  der 
Sache,  als  sie  ihr  anarchisches  Gesicht  zeigte,  längst  überdrüssig  ge- 
worden war. 

Vertieft  man  sich  heute  ohne  Parteileidenschaft  in  die  Vorgänge 
des  „tollen  Jahres",  so  wird  es  leicht  begreiflich,  daß  ein  Katzenjammer 
ihnen  folgen  mußte.  Die  politische  Unreife  der  theoretisch  oft  tüchtigen 
Parlamentarier,  d.  h.  ihre  Unkenntnis  von  den  wirklichen  Kräften  in 
Staat  und  Gesellschaft,  die  manchem  Politiker  den  Titel  des  Welt- 
verbesserers eintrug,  entbehrte  schon  bei  den  großen  Aktionen  nicht 
ganz  des  Fluches  der  Lächerlichkeit,  wie  mußten  erst  viele  Einsichts- 
volle empfinden,  als  das  Ganze  so  kläglich  gescheitert  war.  Nur  die 
Juden  hatten,  wie  bei  allen  Revolutionen  der  europäischen  Völker, 
gewonnen.     Ihre  deutsche  Emanzipation  datiert  vom  Jahre  1848. 

Die  vom  Alpdruck  der  Unruhen  befreite  Volkskraft  wandte  sich 
dem  Wirtschaftsleben  zu,  um  so  mehr  als  Arbeitseinstellungen  nicht 
zu  befürchten  waren,  und  die  Regierungen  die  Ablenkung  von  der  Ver- 
fassungsfrage durch  wirtschaftlich-liberales  Entgegenkommen  begünstigen. 

Manche  Erleichterung  brachte  die  Folgezeit  dem  Weltverkehr. 
Die  Eisenbahnen  über  die  Landengen  von  Suez  und  Panama  wurden 
eröffnet,  Japan  dem  europäischen  Handel  zuerst  erschlossen,  der  Sund- 
zoll gegen  Entschädigung  Dänemarks  aufgehoben,  die  Donau  von  Ab- 
gaben entlastet. 

Eine  starke  Anregung  erhielten  alle  fortgeschrittenen  Volkswirt- 
schaften durch  die  Edelmetallbewegung,  die  durch  die  Goldfunde  in 
den  großen  Lagern  der  Schwemmlande  von  Kalifornien  seit  1848  und 
in  Australien  seit  1851  veranlaßt  wurde.  In  den  nachfolgenden  25 
Jahren  ist  mehr  Gold  auf  der  Erde  gewonnen  worden  als  in  den  250 
vorangehenden.  Die  stärkste  Wirkung  auf  den  Verkehr  übte  der  Zu- 
strom in  den  fünfziger  Jahren  aus. 

Nach  Stanley  Jevons  ist  von  1848 — i86g  ein  durchschnitt- 
liches Heraufgehen  der  Goldpreise  im  Großhandel  um  i8°/o  festgestellt 
worden,  nach  Laspeyres  zwischen  1850  und  1862  um  20,47570»  bei 
einer  Vergleichung  der  Durchschnittspreise  von  1831  — 1840  mit  denen 
von   1850 — 1862  um  24,037  •/(,.     Die  naive  Vorstellung  vieler  National- 


1^8  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848 — 1871, 


Ökonomen  brachte  diese  Verschiebung  in  unmittelbare  Verbindung 
mit  der  Goldproduktion.  Andere  sahen  in  dieser  wenigstens  die  ent- 
scheidende Ursache  der  Aufwärtsbewegung.  Die  spätere  wirtschafts- 
geschichtliche Untersuchung  der  Periode  von  1850 — 1870  urteilt  ge- 
mäßigter. Sie  kann  weder  eine  direkte  Beeinflussung  der  Preise  im 
Welthandel  und  in  den  einzelnen  Volkswirtschaften  durch  das  ver- 
mehrte Goldangebot  zugeben,  wie  sie  etwa  in  den  diggings  Platz  griff, 
wo  für  Lebens-  und  Genußmittel  unter  dem  Schwanken  der  Funde 
bald  mehr,  bald  weniger  gezahlt  wurde  — ,  noch  die  Meinung,  daß 
die  Hochkonjunktur  in  der  Zeit  der  Goldvermehrung  durch  diese  allein 
oder  ganz  überwiegend  hervorgebracht  worden  ist. 

Der  Geschäftsaufschwung,  der  sich  nach  1850  in  Europa  und 
Amerika  vollzog,  insbesondere  auch  in  Deutschland,  war  durch  Vor- 
gänge der  vorangehenden  Jahre  vorbereitet  worden,  vor  allem  durch 
das  Eisenbahnwesen,  durch  die  Dampfschiffahrt,  durch  die  neue  indu- 
strielle Technik,  durch  die  Befreiung  des  Kapitals  von  lästigen  Rechts- 
schranken, durch  die  Ausbildung  des  Großbetriebes  und  der  Arbeits- 
teilung. Alles  dies  kam  jetzt  erst  zur  rechten  Entfaltung  in  mehreren 
Ländern,  denen  England  in  gleicher  Weise  bereits  vorangegangen  war. 
Das  einströmende  Gold  und  auch  das  Silber,  dessen  Produktion  durch 
die  für  das  Amalgamationsverfahren  wichtige  Ouecksilberausbeute  in 
Kalifornien  ebenfalls  bald  vorankam,  führten  zur  Ausdehnung  der 
Geldwirtschaft,  zur  allgemeineren  Metalldeckung  der  Banknoten,  zur 
Vermehrung  des  Geldleihkapitals,  zum  erleichterten  Ausgleich  der 
internationalen  Bilanzen.  Der  volkswirtschaftliche  Nutzen  dieser  Tat- 
sachen soll  nicht  in  Abrede  gestellt  werden,  man  wird  ihn  aber  in 
seiner  preissteigernden  Wirkung  nur  im  Umkreis  der  vorgenannten 
Förderungen  des  Aufschwunges  zu  würdigen  haben. 

Die  mittelbare  Beeinflussung  der  Preise  durch  die  Goldproduktion 
erfolgte  zunächst  in  der  Weise,  daß  die  Kaufkraft  der  erzeugenden 
Länder,  vornehmlich  der  Vereinigten  Staaten,  gesteigert  wurde.  Das 
Gold  wurde  als  Ware  verschifft,  z.  B.  1850  und  1851  von  Kalifornien 
im  Betrage  von  34,4  und  45,8  Millionen  Dollars.  Das  unter  spanisch- 
mexikanischer Mißwirtschaft  zurückgebliebene,  agrarisch  höchst  ex- 
tensiv bewirtschaftete  Pazifikgebiet  wurde  durch  Einwanderung,  Städte- 
gründung und  neue  Gewerbe  belebt.  Die  Zufuhren  aus  dem  Osten 
und  aus  Europa  über  Panama  schwollen  an.  Ein  ähnlicher  Austausch 
vollzog  sich  in  dem  Verkehr  zwischen  England  und  Australien. 

Die  Vereinigten  Staaten  beginnen  seit  der  Mitte  des  Jahrhunderts 
im  Weltverkehr  eine  auffallend  rasch  zunehmende  Bedeutung  zu  ge- 
winnen. Die  große  Einwanderung  sowie  die  Erweiterung  des  Eisen- 
bahnnetzes sind  die  stärksten  Triebfedern.  Ende  1852  waren  13315 
englische   Meilen    Bahnen   in    Betrieb,    deren    Zahl   sich    in    5    Jahren 


IV.  Die  Fortschritte  der  landwirtschaftlichen  und  industriellen  Gütererzeugung.      j  cg 

verdoppelt  hat.  Das  in  den  Bahnen  angelegte  Kapital  wurde  Ende 
1852  auf  500  Millionen  Dollars  geschätzt,  wovon  261  hauptsächlich 
in  der  Form  von  Obligationen  in  europäischem  Besitz  waren.  30 
Millionen  entfielen  auf  Deutschland,  wo  diese  Anlage  wegen  ihres 
hohen  Zinsgenusses  von  7^0  und  bei  der  Unsicherheit  des  heimischen 
Geschäftes  während  der  politischen  Wirren  sehr  beliebt  war.  Die 
Kapitalhingabe  nach  Amerika  vollzog  sich  in  europäischen  Waren  und 
brachte  die  Handelsbilanz  für  die  Amerikaner  zur  Passivität,  der  sie 
durch  große  Ausfuhren  an  Gold  zu  begegnen  wußten,  woran  sie  in 
ungemünzter  und  gemünzter  Form  Überfluß  hatten.  In  der  Ausfuhr- 
liste von   1851  finden  wir   18  Millionen  Dollars  geprägtes  Gold. 

Bei  der  bestehenden  Doppelwährung  der  Union  strömte  das 
kalifornische  Gold  in  großen  Mengen  der  amerikanischen  Münzstätte 
zu,  während  die  Silberausprägung,  da  das  weiße  Metall  im  Kurse 
etwas  über  die  gesetzliche  Relation  gestiegen  war,  nachließ.  Die  euro- 
päischen Silberwährungsländer,  vor  allem  Deutschland,  erhielten  ameri- 
kanisches Silber,  das  Gold  ging  vornehmlich  nach  England  und  von  da 
wieder  nach  dem  bimetallistischen  Frankreich,  wo  es  sich  in  Franken 
umwandelte  und  große  Beträge  von  Silber  zur  Ausfuhr  drängte.  So 
erfolgte  in  vielen  Ländern  eine  erhebliche  Vermehrung  des  Edelmetall- 
schatzes unter  Umprägung  in  Münzform. 

Es  wurden  Goldmünzen  ausgeprägt: 

Millionen 
Frankreich  Fr.         Ver.  Staaten  Doli. 

30,8  3,7 

285,0  62,6 

27,0  56,8 

330,0  51,8 

Der  offizielle  und  der  private  Bankdiskont  standen  von  1850 — 1852 
in  den  Edelmetall  einführenden  Ländern  niedrig,  was  wenigstens  teilweise 
auf  diese  Einfuhr  zurückzuführen  ist,  und  regten  die  Unternehmer- 
tätigkeit an.  Je  mehr  sich  die  Geschäftstätigkeit  entfaltete,  um  so 
mehr  stiegen  die  Preise  auch  im  inneren  Verkehr  der  Staaten,  nach- 
dem der  zwischenstaatliche  damit  vorangegangen  war.  Das  Jahr  1854 
bringt  erhöhten  Diskont  mit  erheblichen  Schwankungen  als  Zeichen 
lebhafter  Spekulation,  unter  der  die  Preise  von  neuem  anziehen.  Der 
gesteigerte  internationale  Umsatz  erfordert  wachsende  Goldmengen,  so 
daß  von  einem  Überangebot  an  Gold  im  Verkehr  nirgends  die  Rede 
sein  konnte.  Die  auf  12611/2  Millionen  Tlr.  berechnete  Summe  euro- 
päischen Papiergeldes  wurde  für  den  Verkehr  durchaus  nicht  als  zu 
hoch  empfunden,  da  die  geldsparenden  Zahlungsmethoden  der  späteren 
Zeit  damals  höchstens  in  England  in  größerem  Umfange  üblich  waren. 


in 

England 

£ 

1848 

2,4 

1851 

4.4 

1852 

8,7 

1B53 

11,9 

l6o  IV'  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848 — 187 1. 

England  benutzte  den  Goldsegen,  um  seine  Währung  zu  befestigen 
und  sie  auch  in  einigen  Kolonien  einzubürgern.  Die  sich  daraus  er- 
gebenden Vorteile  für  seinen  internationalen  Verkehr  blieben  den 
deutschen  Nationalökonomen  nicht  verborgen,  und  es  fanden  sich 
schon  in  den  fünfziger  Jahren,  vor  allem  in  Hamburg  und  Bremen,  ver- 
einzelte Stimmen,  die  das  Gold  als  das  künftige  deutsche  Währungs- 
metall empfahlen.  Seine  verminderte  Kaufkraft  wird  in  der  Haupt- 
sache auf  die  neuere  weltwirtschaftliche  Entwicklung,  nicht  auf  die 
vergröi3erte  Produktion  zurückgeführt.  Auch  in  den  Silberwährungs- 
ländern hatte  sich  das  Preisniveau  unter  der  andauernd  guten  Kon- 
junktur gehoben. 

Eine  langsame  allgemeine  Bewegung  des  Zinsfußes  nach  oben 
hatte  schon  in  der  Mitte  der  vierziger  Jahre  begonnen,  in  den  beiden 
der  Revolution  war  der  finanzielle  Bedarf  der  Staaten  zur  Unter- 
drückung der  Unruhen  groß  gewesen,  der  bei  der  Zurückhaltung  des 
Publikums  auf  dem  Geldmarkt  nur  durch  erhöhte  Zinsversprechung 
befriedigt  werden  konnte.  Nach  einem  kurzen  Rückschlag  stieg  der 
Zins  von  neuem,  als  die  Neugründungen  begannen.  Der  hypothekarische 
wurde  ziemlich  allgemein  5°/o>  und  die  5  proz.  Pfandbriefe  verdrängten 
die  zu  4Y2-  Die  4Y2proz.  Staatsanleihen  hielten  sich  bis  zum  Krim- 
kriege auf  Pari,  um  dann  erheblich  unter  dasselbe  zu  fallen.  Im  all- 
gemeinen blieb  diese  Konjunktur  bis  zur  Krise  von  1857.  In  der  dann 
folgenden  Niedergangszeit  bis  in  die  ersten  sechziger  Jahre  hinein 
senkte  sich  der  Zinsfuß  wieder  etwas,  am  stärksten  für  kurzfristige 
Anlagen,  weiter  auch  für  sichere  Effekten,  in  welche  sich  das  ge- 
schädigte Plandels-  und  industrielle  Kapital  flüchtete.  Der  hypothe- 
karische blieb  ziemlich  unverändert.  Diese  Jahre  der  Störung  halten 
das  allgemeine  Steigen  nur  auf,  von  der  Mitte  der  sechziger  bis 
zur  Krise  von  1873  wird  es  von  neuem  auf  allen  Gebieten  auf- 
genommen. 

Ist  die  Aufwärtsbewegung  der  Preise,  Gewinne,  Zinsen  ein  all- 
gemeines Symptom  volkswirtschaftlich  raschen  Vordrängens,  so  gilt 
es  jetzt,  einen  Überblick  auf  die  einzelnen  Produktionszweige  zu 
werfen,  die,  obwohl  sie  der  großen  Konjunktur  folgten  und  sich  gegen- 
wärtig beeinflußten,  doch  auch  ihre  besonderen  Antriebe  zum  Vor- 
wärtsdrängen besaßen,  die  über  die  hier  zu  besprechende  Zeit  hinaus- 
wirkten. 

Die  deutsche  Landwirtschaft  im  größeren  Betriebe  geht  seit 
1850  nach  Überwindung  der  Kartoffelkrankheit  im  allgemeinen  den 
gleichen  Weg  des  Produktionsfortschrittes  und  der  Ertragssteigerung 
weiter.  Die  Bevölkerung  auf  der  Fläche  des  späteren  Reiches  ohne 
Elsaß-Lothringen  betrug  1840  32,7,  1850  35,3,  1860  37,7,  1870  40,8 
Millionen.     Die    Preise    erhöhten    sich    unter    der    zunehmenden  Nach- 


IV.  Die  Fortschritte  der  landwirtschaftlichen  und  industriellen  Gütererzeugung.      i5x 


frage,  da  von  einer  auswärtigen  Konkurrenz  kein  beachtenswerter 
Druck  ausgeübt  wurde.  Nach  J.  Conrad  kostete  in  Preußen  alten 
Bestandes  vor  i866  die  Tonne  durchschnittlich  in  Mark  für  die: 


Jahre 

Weizen 

Roggen 

Gerste 

Hafer 

Erbsen 

1821  — 1830 

121,4 

126,6 

13 1.4 

129,8 

162,4 

1831 — 1840 

138,4 

100,6 

76,6 

79,8 

97>o 

1841 — 1850 

167,8 

123,0 

87,6 

91,6 

107,4 

1851— 1860 

211,4 

165,4 

111,2 

100,6 

130,0 

1861— 1870 

204,6 

154.6 

150,2 

144,0 

176,0 

1871— 1875 

246,4 

179,2 

146,0 

140.5 

168,2 

Jahre 

Rindfleisch 

1831 — 1840 

57 

1841 — 1850 

64 

1851— 1860 

70 

1861— 1870 

86 

Die  Fleischpreise  zeigen  eine  noch  gleichmäßigere  Erhöhung 
gemäß  der  nachfolgenden  Tabelle,  die  für  10  preußische  Städte  in  kg 
und  Pfg.  berechnet  worden  ist: 

Schweinefleisch 

74 

86 

110 

115 

Ebenso  war  die  Wollkonjunktur  in  den  fünfziger  und  sechziger  Jahren 
noch  günstig.  Die  folgenden  drei  Jahrzehnte  brachten  ihr  eine 
Senkung  von  mehr  als  ein  Drittel. 

Deutschland  war  in  der  hier  zu  besprechenden  Periode  noch  ein 
Lebensmittelausfuhrland.  Die  ausländische  Nachfrage  war  in  den 
Ostseehäfen  seit  1849  gut  geblieben.  Die  Mehrausfuhr  an  Getreide  war 
nach  Bienengräber  1842  — 1846  durchschnittlich  4187  194  Scheffel, 
von  1851 — 1855  6120044,  1855 — 1859  5214469,  1860/1864  4706032. 
Für  Weizen,  Gerste,  Hülsenfrüchte,  Hafer,  Buchweizen,  Spelz,  Kraft- 
mehl, Nudeln  war  die  Handelsbilanz  aktiv;  nur  bei  dem  Roggen 
der  im  Inlande  stark  verzehrt  wurde,  abgesehen  von  den  Jahren 
1848  — 1850,  war  es  umgekehrt,  jedoch  ohne  für  die  Volkswirtschaft 
eine  Schädigung  zu  bedeuten.  Auch  Öl,  Wein,  Reis,  Tabak  wurden 
mehr  ein-  als  ausgeführt. 

J.  Conrad  versichert,  daß  damals  im  allgemeinen  die  Rein- 
erträge stärker  gestiegen  seien  als  die  Preise  der  landwirtschaftlichen 
Produkte.  Der  Grund  sei  die  Verbesserung  der  Technik,  die  ver- 
besserte Organisation  der  Arbeit  und  der  neugeschaffene  Zusammen- 
hang der  Landwirtschaft  mit  der  Naturwissenschaft  gewesen. 

Die  naturwissenschaftliche  Anregung  war  von  Justus  Liebig 
ausgegangen.  Die  Agrikulturchemie  erkannte  unter  seiner  Anregung 
die  Zusammensetzung  des  Bodens  an  mineralischen  Pflanzen nährstoffen 
und  die  mit  den  Ernten  ihm  daran  entnommenen  Mengen.     Das  prak- 

A.Sartorius  v.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        1 1 


102  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  "Wirtschaftsgeschichte  von  1848 — 1871, 


tische  Gesetz  für  den  Ackerbau  lautete:  „Man  gebe  dem  Felde,  was 
ihm  genommen  wurde,  weder  mehr  noch  weniger,  sondern  genau  so- 
viel." Früher  war  die  rationelle  Viehdüngerproduktion  allein  ent- 
scheidend, jetzt  wurde  als  einfacher  die  Zufuhr  von  Guano,  Phosphaten, 
Knochenmehl  und  Asche  gepriesen.  Wie  große  neue  Wahrheiten 
leicht  auf  den  Abweg  der  Übertreibung  gleiten,  so  auch  hier.  Die 
spätere  Landwirtschaftslehre  bewies  wiederum  den  besonderen  Nutzen 
des  Stalldüngers,  würdigte  die  Wichtigkeit  der  physikaHschen  Boden- 
bedingungen, an  die  das  Gedeihen  der  Pflanze  gebunden  ist,  als  da 
sind  Wärme,  Luft,  Feuchtigkeit,  Lockerheit  des  Grundes.  Die  künst- 
lichen Dünger  wurden  zwar  nicht  entthront,  nach  Zahl  und  Art  viel- 
mehr vermehrt,  aber  sie  galten  nur  als  Hilfsmittel  neben  den  natür- 
lichen. Die  Tha  er  sehen  Regeln  sind  nicht  umgestoßen  worden,  sie 
wurden  vertieft,  korrigiert.  Die  Landwirtschaftslehre,  die  die  Chemie 
in  sich  aufnahm,  wurde  keine  Naturwissenschaft,  sondern  blieb  eine 
praktisch  privatwirtschaftliche  Gestaltungslehre,  die  aus  zahlreichen 
SpezialWissenschaften  zu  schöpfen  hatte,  um  ihr  besonderes  Ziel  zu 
gewinnen.  Der  landwirtschaftliche  Anbau  ist  immer  für  einen  Ort 
geographisch  und  historisch  sozial  zu  verstehen.  Die  intensive  Boden- 
bereicherung, die  aus  Liebigs  Lehre  gezogen  wurde,  setzt  Bedin- 
gungen voraus,  die  nicht  überall  vorhanden  sind.  Die  Thünensche 
Theorie  der  Relativität  der  Ackerbausysteme  bleibt  unangetastet  für 
die  Verkehrswirtschaft  mit  Fernabsatz.  Viele  Landwirte  der  fünfziger 
Jahre  legten  sich  unter  Liebigs  froher  Botschaft  die  erforderliche 
Mäßigung  nicht  auf.  Der  Glaube  entstand,  daß  man,  wie  in  der  In- 
dustrie, durch  den  Mehraufwand  von  umlaufenden  Kapital  den  Rein- 
ertrag der  Bodenfläche  entsprechend  steigern  könne.  Wenn  dann  ein 
schlechter  Sommer  kam,  oder  wenn  mit  der  Anwendung  des  Kunst- 
düngers zu  schematisch  oder  zu  reichlich  verfahren  war,  so  wurden 
die  schönen  Pläne  zunichte.  Die  Reklame  der  Fabriken  künstlichen 
Düngers  riß  manchen  Landwirt  zu  unüberlegten  Versuchen  hin.  Auch 
in  ernsthaften  landwirtschaftlichen  Zeitschriften  finden  wir  Zuschriften 
von  Gutsbesitzern,  die  allein  mit  Kunstdünger  ihre  Äcker  befruchten, 
alles  Produkt  verkaufen  und  ihren  Viehbestand  auf  ein  Minimum 
herabgesetzt  haben. 

Da  die  Produktenpreise  stiegen,  wurde  die  Spekulation  in  dop- 
pelter Weise  befruchtet.  Erstens  gingen  manche  Landwirte  zur  freien 
Wirtschaft  gemäß  der  Konjunktur  über,  aber  nicht  bloß  dort,  wo  die 
Absatzverhältnisse  dazu  einluden,  zweitens  nahm  der  Güterhandel  einen 
verderblichen  Umfang  an,  indem  die  Käufer  glaubten,  daß  die  Kennt- 
nis der  Agrikulturchemie  genüge,  sie  rasch  zu  reichen  Leuten  zu 
machen.  Es  bedurfte  erst  wieder  der  Erfahrung,  um  die  Einsicht,  daß 
die  Landwirtschaft  ein  organisches,  konservatives  Gewerbe  sei,  zu   be- 


IV.  Die  Fortschritte  der  landwirtschaftlichen  und  industriellen  Gütererzeugung.      i5ß 


kräftigen.  Auch  der  Arbeiterfrage  wurde  nicht  genug  Rücksicht  zuteil. 
Man  zog  viele  Arbeiter  im  Sommer  heran,  um  dem  intensiveren  Betrieb 
zu  entsprechen,  und  entließ  sie  im  Winter.  Das  gefiel  den  meisten 
nicht,  und  sie  zogen  es  vor,  sich  der  Industrie  zuzuwenden,  die  sie  das 
ganze  Jahr  beschäftigte. 

Wenn  man  nun  die  Großlandwirtschaft  als  ein  kapitalistisches 
Unternehmen  aufzufassen  Neigung  hatte,  so  kam  es  vor  allem  darauf 
hinaus,  das  nötige  Geldkapital  zu  beschaffen.  Diejenigen,  die  kauften, 
zahlten  wenig  an,  um  für  den  Betrieb  möglichst  viele  Mittel  übrig  zu 
haben,  die  alten  Besitzer  suchten  ebenfalls  Hypotheken,  soweit  der 
persönliche  Kredit  nicht  genügte.  Die  Verschuldung  der  großen,  auch 
der  mittleren  Güter  nimmt  von  1850 — 1870  erheblich  zu.  So  nützlich 
der  Kredit  ist,  wenn  das  Geschäft  gut  geht,  so  ist  doch  die  Gefahr 
immer  da,  so  lange  das  Kapital  gekündigt  werden  kann.  Das  Kapital 
durch  die  Rentenverschuldung  zu  ersetzen,  war  daher  ein  Vorschlag, 
den  Rodbertus-Jagetzow  (Zur  Erklärung  und  Abhilfe  der  heutigen 
Kreditnot  des  Grundbesitzes  1868)  machte.  Die  Hypothekeninstitute 
haben  ihn  insofern  verwirklicht,  als  sie  die  Kündigung  ihrerseits  aus- 
schließen, solange  der  Schuldner  regelmäßig  Zinsen  und  Amortisations- 
quoten entrichtet.  Die  privaten  Gläubiger  pflegen  sich  hingegen  immer 
nur  auf  wenige  Jahre  zu  binden,  und  wenn  nach  der  Kapitalkündigung 
der  Schuldner  kein  neues  Darlehen  findet,  so  muß  das  Gut  verkauft 
werden.  Entgeht  er  dieser  Eventualität,  so  wird  die  Zinserhöhung  oder 
eine  sonstige  schlechtere  Leihbedingung  oft  nicht  ausbleiben. 

Rodbertus  (1805 — 1875)  volkswirtschaftliche  Anschauungen  be- 
ruhen auf  dem  einheitlichen  Gedanken  der  organischen  Staatslehre.  Der 
Staat  ist  Selbstzweck,  und  die  Individuen  haben  sich  ihm,  wie  über- 
haupt, so  im  Wirtschaftlichen  einzuordnen.  Von  den  Gesellschafts- 
gruppen,  Kapitalisten,  Arbeitern,  Grundeigentümern,  soll  daher  nicht 
eine  die  andere  beherrschen,  weil  dadurch  die  Gemeinschaft  zerstört 
werde.  Kritisch  führt  er  aus,  daß  zur  Zeit  die  Übermacht  des  Kapitals 
drohe,  daher  fordert  er,  den  Einkommensanteil  der  Arbeiter  am  Na- 
tionalprodukt proportional  den  Ergebnissen  der  steigenden  Produk- 
tivität zu  erhöhen  und  den  erweiterten  Schutz  des  Bodeneigentums 
gegen  die  willkürlichen  Kapitalkündigungen.  Der  demokratische  Sozia- 
lismus ist  ihm  nur  extremer  Individualismus,  der  Glück  und  Genuß 
der  größten  Menge  erstrebt.  In  dem  Rodbertusschen  Staat  steht  die 
Pflicht  voran,  die  jeder  und  jede  Berufsgruppe  dem  Ganzen  zu  leisten 
haben.  Die  Sozialreform  hat  vom  Staat  auszugehen,  weshalb  die  Be- 
strebungen der  Selbsthilfe,  wie  die  Streiks,  gänzlich  verworfen  werden. 

Mit  seinen  praktischen  Vorschlägen  der  Aufstellung  des  Normal- 
werkes, des  Normalarbeitstages,  der  Lohnerhöhung,  wodurch  auch  die 
volkswirtschaftlichen  Krisen    der  Neuzeit   beseitigt  werden   sollen,   hat 

11* 


lÖA  ^^-  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848 — 187 1. 


Rodbertus  kein  Glück  gehabt.  Sie  sind  undurchführbar.  Es  ist  oft 
die  Eigenschaft  genialer  Theoretiker,  daß  sie  gern  an  einzelnen  ihnen 
eingewurzelten  Irrtümern  festkleben,  die  für  ihr  System  nicht  einmal 
eine  durchgreifende  Bedeutung  haben.  So  blieb  Rodbertus  in  dem 
Smith-Ricardoschen  Arbeitswert  befangen,  obwohl  man  in  einer  orga- 
nisch gedachten  Volkswirtschaft  die  Wertbildung  nur  innerhalb  und 
mittels  des  Ganzen  verstehen  kann ;  ebenso  nach  der  großen  Verkehrs- 
stockung von  1873  in  seiner  Krisentheorie  der  Unterkonsumtion,  ob- 
gleich die  Arbeitslöhne  gewaltig  gestiegen  waren  und  die  Arbeiter 
durch  ihre  starke  Nachfrage  nach  Lebens-  und  Genußmitteln  die  Über- 
expansion des  kapitalistischen  Betriebes  mit  verursacht  hatten. 

Der  Sozialkonservatismus  von  Rodbertus  hat  als  Grundanschauung 
die  spätere  staatliche  Arbeitersozialpolitik  des  Deutschen  Reiches  theo- 
retisch gestützt  und  dazu  beigetragen,  den  ökonomischen  Liberalismus 
auch  auf  anderen  Gebieten  zu  überwinden,  z.  B.  des  Privateisenbahn- 
systems und  des  privaten  Geldes  der  Notenbanken.  Damit  war  jedoch 
das  von  ihm  geforderte  prinzipielle  Ineinandergreifen  von  Staat  und 
Wirtschaft  noch  keineswegs  gerechtfertigt. 

Soweit  sich  die  Landwirte  dem  privaten  Gläubiger  nicht  ver- 
schuldeten, standen  ihnen  in  Preußen  östlich  der  Elbe  die  oben  ge- 
nannten, auf  Solidarhaft  begründeten  Landschaften  zu  Gebote.  In  Ost- 
und  Westpreußen  und  Schlesien  dienten  sie  allen  Gütern  größeren 
Umfanges,  nicht  bloß  den  ritterschaftlichen  wie  ehedem.  18 18  wurden  sie 
auch  in  Mecklenburg,  1825  in  Württemberg,  1844  in  Sachsen,  1862 
in  Braunschweig  errichtet.  In  Mittel-  und  Westdeutschland  kamen 
zu  ihnen  staatliche  und  kommunale  Kreditinstitute  hinzu,  bei  denen 
die  öffentlich  rechtliche  Garantie  die  genossenschaftliche  ersetzte.  So 
entstand  z.  B.  1852  die  nassausche  Landesbank,  1853  die  Landes- 
kreditanstalt in  Sachsen-Gotha.  Die  meisten  stammen  aus  einer  spä- 
teren Zeit,  ein  guter  Anfang  war  gemacht  worden. 

Die  Tätigkeit  der  Landschaften  hatte  sich  mit  dem  Fortschreiten 
der  Landwirtschaft  ausgedehnt.  So  hatte  18 15  die  neumärldsche  ritter- 
schaftliche Kreditanstalt  Pfandbriefe,  abzüglich  der  getilgten,  im  Be- 
trage von  4221800  Tlr.  ausgegeben,  1835  11552000,  1865  17  180450. 
Dennoch  reichten  die  Summen  bei  weitem  nicht  aus.  Oft  fehlten 
ihnen  die  nötigen  Mittel,  und  sie  belehnten  nur  Grundstücke  be- 
sonderer Art.  Dazu  kam,  daß  die  großstädtische  Entwicklung  ohne 
Grundkrediteinrichtungen  war,  obwohl  sie  deren  dringend  benötigte. 
Die  Idee  der  Hypotheken- Aktienbanken  war  schon  in  den  vierziger 
Jahren  in  Preußen  erwogen  worden,  um  dem  steigenden  Bedürfnis 
nach  Realkredit  zu  genügen,  wurde  aber  erst  verwirklicht,  als  die 
französische  Erfahrung  des  1852  in  Paris  gegründeten  Credit  foncier 
dafür    sprach.      1858    entstand    in    Leipzig    die    Allgemeine    Deutsche 


IV.  Die  Fortschritle  der  landwirtschaftlichen  und  industriellen  Gütererzeugung.      i5c 


Kreditanstalt,  1862  folgte  die  Frankfurter  Hypothekenbank,  1863  ^i^ 
Erste  Preußische  Hypotheken-Aktiengesellschaft,  nachdem  Dr.  Engel 
in  einem  wertvollen  Gutachten  für  sie  eingetreten  war.  1864  erhielt 
die  1834  in  München  errichtete  Bayrische  Hypotheken-  und  Wechsel- 
bank das  Recht  der  Pfandbriefausgabe.  Eine  längere  Reihe,  darunter 
die  Preußische  Bodenkredit-  und  die  Preußische  Zentral-Bodenkredit- 
Aktienbank  schließen  sich  bis  1872  an,  in  welchem  Jahre  die  erste 
Gründungsepoche  dieser  Banken  zu  Ende  geht.  Eine  zweite  haben 
wir  von  1893  — 1896,  nachdem  sich  die  Institute  bewährt  und  die  volks- 
wirtschaftlichen Krisen  wohl  überstanden  hatten.  1908  war  ihre  Zahl 
auf  38  angewachsen  mit  einem  Aktienkapital  von  752  Mill.  M.  und 
einer  Pfandbriefausgabe  von  9,2  Milliarden. 

Die  preußischen  Banken  waren  von  Anfang  an  Normativbestim- 
mungen unterworfen  worden.  Sie  alle  dienten  der  ländlichen  und 
städtischen  langfristigen  Kreditvermittlung  und  stützten  ihre  Passiven 
außer  auf  das  Grundkapital  auf  die  Emission  von  Pfandbriefen,  d.  h. 
ihren  eigenen  börsenmäßig  absetzbaren  Schuldverschreibungen,  denen 
als  Aktiva  die  Hypotheken  und  die  Kassenbestände,  die  sie  auch  kurz- 
fristig benutzen  konnten,  zur  Deckung  gegenüberstanden.  Die  diesen 
Banken  eigentümlichen  Gefahren  treten  erst  später  hervor,  als  eine 
ihrem  Wesen  fremde  Spekulation  durch  leichtfertiges  Hypothekengeben 
und  durch  Börsengeschäfte  mit  den  flüssigen  Geldern  in  sie  eindrang, 
so  daß  die  Gesetzgebung  ernste  Veranlassung  fand,  sie  unter  strengere 
Aufsicht  zu  nehmen. 

Als  in  den  fünfziger  und  sechziger  Jahren  der  Zinsfuß  stieg, 
wurde  die  deutsche  Landwirtschaft  hierdurch  ungünstig  berührt. 
Doch  schwand  die  Gefahr,  da  die  Grundrente  weiter  anwuchs  und 
die  Belastung  mehr  als  kompensierte.  Um  eine  besondere  Schwierigkeit, 
auf  die  Rodbert us  aufmerksam  gemacht  hatte,  kümmerte  man  sich 
wenig,  obgleich  gerade  der  steigende  Zins  sie  zu  überdenken  Ver- 
anlassung bot.  Bei  der  Erbesteilung  nach  dem  Verkaufsgeldwerte 
wurde  der  Gutsübernehmer  überlastet.  Er  fand  seine  Geschwister 
mit  Hypotheken  ab,  deren  Zins  sich  dem  Geldmarkte  anpaßte,  und 
hatte  zu  zahlen,  ob  die  Ernte  gut  oder  schlecht  ausfiel,  die  Produkten- 
preise stiegen  oder  sanken.  Gegen  diese  Unsicherheit  konnte  nur 
eine  Änderung  des  Erbrechtes  helfen,  an  die  damals  aber  niemand 
denken  wollte,  da  man  in  der  weitreichenden  Testierfreiheit  einen 
ausreichenden  Schutz  zu  haben  vermeinte. 

Bei  der  Darstellung  der  industriellen  Fortschritte  von 
1848 — 1870  müssen  wir  uns  auf  die  wichtigsten  Gewerbezweige  be- 
schränken. Wir  beginnen  mit  einer  ihrer  Voraussetzungen,  dem 
Ber  orbau. 


l66  IV'  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848 — 1871. 


Steinkohlen  wurden  in  sechs  Becken,  dem  niederrheinischen, 
westfälischen,  dem  Aachener,  dem  Saarer,  dem  sächsischen,  dem  nieder- 
und  oberschlesischen  mit  den  Ergebnissen  gefördert: 

Jahre         Anzahl   der   Werke         Produktion.   Ztr.         Arbeiterzahl 


591  87671310  35502 

1857  636  225585315  77847 

1864  670  388170637  99141 

Man  ersieht  hieraus  nicht  bloß  die  Vermehrung  der  Produkten- 
menge um  mehr  als  das  Vierfache,  sondern  auch  diejenige  für  ein 
Werk  von  173599  Ztr.  auf  579358,  bei  gleichzeitiger  Erhöhung  der 
durchschnittlichen  Arbeiterzahl  von  60  auf  148.  Die  Braunkohle  mit 
ihren  Hauptlagern  in  der  Provinz  Sachsen,  um  Frankfurt  a.  O.,  bei 
Aachen  und  Zittau  trat  solchen  Summen  gegenüber  zurück.  Immerhin 
war  die  Zahl  der  Werke  von  468  auf  868  in  der  gleichen  Periode 
gewachsen,  und  die  Produktenmenge  erreichte  124048356  Ztr. 

Die  Zunahme  des  Kohlenverbrauchs  war  auf  vier  Ursachen  zu- 
rückzuführen: Die  Ausdehnung  der  Eisenbahnen  und  der  Dampfschiff- 
fahrt, die  steigende  Verwendung  der  Kohle  in  den  Hochöfen,  die 
Vermehrung  der  stehenden  Dampfmaschinen  und  den  Bedarf  nach 
Hausbrandkohle,  die  mit  den  neuen  Bahnen  in  grubenferne  Gegenden 
verfrachtet  werden  konnte.  Damit  diesen  Ansprüchen  genügt  werden 
konnte,  war  eine  Änderung  der  Technik  und  der  wirtschaftlichen  Or- 
ganisation des  Steinkohlen-Bergwerksbetriebes  nötig  geworden.  Man 
hatte  gelernt,  weite  und  tiefe  Schächte  zu  bauen  und  die  Dampfma- 
schine zum  Wasserpumpen,  Bohren  und  zur  Hebung  des  Förderkorbes, 
und  über  Tag  zum  Aufbereiten  und  Sortieren  zu  benutzen.  Der  ein- 
setzende Großbetrieb  hatte  aus  der  Landwirtschaft  Arbeiter  heran- 
gezogen, die  der  einfachen  Aufgabe  des  Steinhauens  gewachsen  waren. 
Er  bedurfte  überall  der  Kapitalerhöhung,  wobei  auch  die  mit  den 
neuen  Handelsgesetzen  erleichterte  Aktiengesellschaft  dienlich  war. 

Von  den  Erzen  stehen  die  Eisenerze  an  erster  Stelle,  die  in 
vielen  Teilen  Deutschlands,  vornehmlich  in  Westfalen,  im  Ruhrgebiet, 
im  Harz,  in  Thüringen,  in  Oberschlesien,  am  Spessart,  im  oberen  Lahn- 
tal, gewonnen  werden.  Im  Zollverein  gibt  es  1848  1974,  1857  3015 
Werke.  Die  Produktion  wurde  im  ersten  Jahre  auf  13874509  Ztr., 
im  zweiten  auf  39241087  berechnet,  1864  war  sie  auf  52400407  an- 
gewachsen. Der  Bedarf  hatte  sich  gewaltig  gehoben,  so  daß  die  hei- 
mische Erzeugung  durch  Einfuhr  von  Roheisen  ergänzt  werden  mußte. 
Waren  ehemals  die  Hüttenbesitzer  die  Besitzer  auch  der  nahen  Erz- 
gruben gewesen,  so  bestand  diese  Verbindung  zwar  noch  fort,  wurde 
aber  im  Rheinland,  wie  K.  Wiedenfeld  ausführt,  in  der  Weise  er- 
weitert, daß  auch  entfernte  Hütten  sich  jetzt  Erzgruben  zu  sichern  für 


IV.  Die  Fortschritte  der  landwirtschaftlichen  und  industriellen  Gütererzetigung.      i()n 

gut  befanden.  „Die  Qualitätsfrage  ist  es,  die  dazu  die  Ursache  abgibt. 
Werke  wie  die  Gutehoffnungshütte,  Krupp,  Phönix  und  andere  müssen 
entscheidendes  Gewicht  darauf  legen,  daß  der  Eisenstein  in  gleich- 
mäßiger und  von  ihnen  unmittelbar  zu  bestimmender  Beschaffenheit 
ihnen  ganz  regelmäßig  zugeht." 

Vi  eh  bahn  berechnet  den  Wert  der  ganzen  bergwerksmäßigen 
Produktion  für  1848  und  1857  im  Zollverein  mit  Luxemburg  und 
weiter  den  prozentualen  Anteil  der  einzelnen  Produkte  daran.  Der 
Wert  der  Eisenerze  war  von  1277554  auf  3936722  Tlr.  gestiegen. 
Aus  seinen  Tabellen  seien  die  wichtigsten  Daten  hervorgehoben,  denen 
die  Arbeiterzahl  in  Prozenten  beigefügt  worden  ist: 

Produkte  Wertanteile  in  %  Arbeiterzahl  in  % 

1848  1857  1848  1857 

Steinkohlen  57,55  60,19  40,22  45,95 

Braunkohlen  8,46  8,21  g,86  10,50 

Eisenerze  8,58  8,60  ^7,69  18,48 

Zinkerze  4,78  9,15  5,22  4,77 

Silbererze  6,78  3,26  9,76  5,68 

Bleierze  8,75  6,15  8,55  8,44 

Kupfererze  2,48  1,60  4,29  2,96 

Diese  Stoffe  fanden  zum  größten  Teil  im  Zollverein  ihre  Ver- 
arbeitung. 1848  wurden  7,6  Mill.  Ztr.  Steinkohlen  ausgeführt,  denen 
eine  fast  gleich  hohe  Einfuhr  englischer  Kohle,  die  zur  Leuchtgas- 
bereitung besonders  brauchbar  war,  gegenüberstand.  1862  war  die 
Ausfuhr  auf  48,7  Mill.  Ztr.  gestiegen,  womit  die  Einfuhr  um  34,1  über- 
schritten wurde.  Das  deutsche  Eisenerz  wurde  daheim,  in  Aachen  auch 
etwas  spanisches,  verarbeitet.  Im  nächsten  Jahrzehnt  nach  der  Er- 
werbung der  lothringischen  Minettefelder  steigen  die  Ausfuhr  und  die 
Einfuhr  zugleich.  Bis  1898  ist  Mehrausfuhr  vorhanden.  Die  folgende 
gewaltige  Ausdehnung  des  deutschen  Geschäftes  führt  zu  der  gegen- 
teiligen Erscheinung  der  starken  Mehreinfuhr. 

Nach  K.  Flegel  bringen  die  sechziger  Jahre  folgende  aufsteigende 
Zahlen  der  deutschen  Montanindustrie: 

1860  1866  1871 

in  looo  Tonnen 

Steinkohlen 12347,8  21629,8  29573,8 

Braunkohlen 4382,7  6533,1  8482,8 

Eisenerze 1408,8  2996,0  4368,1 

Sa.    aller   Bergwerkspro- 
dukte  18853,9  32283,0  43575.7 

Roheisen 529,1  i  046,9  1  563,7 

Alle  Hüttenprodukte  .     .          622,1  i  161,6  i  744,6 


l68  I^-  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848 — 187 1. 

In  Preußen  sind  diese  Fortschritte  auch  auf  die  wohltätigen  Folgen 
des  Berggesetzes  von  1865  mit  zu  buchen,  nach  dem  unter  dem  Grund- 
satz der  Bergbaufreiheit  jedem,  der  erfolgreich  geschürft  hat,  das 
Bergwerksei gentum  verliehen  wird,  das  ihm  der  Eigentümer  der  Erd- 
oberfläche nicht  streitig  machen  kann.  Damit  war  das  alte  Kon- 
zessionssystem gefallen,  was  um  so  wertvoller  war,  als  auch  die  über- 
triebenen Aufsichtsvorschriften  der  Geschäftsführung  beseitigt  wurden, 
und  die  bleibende  Berghoheit  des  Staates  sich  auf  die  Prüfung  der 
Betriebspläne  der  leitenden  Personen,  der  Sicherung  der  Oberfläche 
und  Arbeiter  beschränkte. 

Die  Verarbeitung  der  gewonnenen  Bodenschätze  unterstand  den 
Gewerbeordnungen,  deren  steigend  liberale  Grundsätze  mit  ihren  Folgen 
für  die  produktive  Erweiterung  bereits  erwähnt  wurden. 

Die  Verhüttung  des  Eisens  war  in  dem  ersten  Jahrzehnt  des 
Zollvereins,  wie  oben  gezeigt  wurde,  nicht  rasch  vorwärts  gekommen. 
Noch  1847  waren  unter  den  247  preußischen  Hochöfen  erst  32,  die 
Steinkohlenkoks  verwendeten.  1870  war  die  Holzkohle  bis  auf  kleine 
Reste  verdrängt  worden.  Die  Öfen  waren  von  10  auf  20  Meter  er- 
höht, der  Durchmesser  von  2 — 3  auf  4 — 5  erweitert  worden.  Durch 
Einblasen  vorerwärmter  Luft  wurde  die  Hitze  gesteigert,  das  alte 
Rauhgemäuer  fand  in  Verwendung  des  Blechmantels,  die  schiefe 
Ebene    in    dem    senkrechten    Aufzug    einen    Ersatz. 

Der  Puddel-  oder  Flammofenprozeß,  in  welchem  das  eingeschmol- 
zene Roheisen  durch  Einführen  von  Luft  in  schmiedebares  Eisen  und 
Stahl  umgewandelt  und  der  Brennstoff  getrennt  vom  Eisen  auf  einem 
besonderen  Rost  verbrannt  wird,  fing  an,  sich  einzubürgern,  um 
so  schneller  dort,  wo  die  Anforderung  an  die  Qualität  gesteigert 
worden  ist. 

Die  Roheisenerzeugung  des  Zollvereins  wurde  im  Beginn  der 
hier  geschilderten  Periode  in  bezug  auf  Menge  und  Beschaffenheit 
von  der  englischen,  französischen,  belgischen  weit  überholt.  Jetzt  ging 
es  rasch  vorwärts.  Von  1848  — 1857  verdreifachte  sie  sich,  bis  1864 
hatte  sie  sich  mehr  als  verfünffacht.  1860  ist  die  belgische,  1870  die 
französische,  und  das  sei  hier  vorgreifend  hinzugefügt,  1903  die  eng- 
lische eingeholt.  Daß  die  technische  Gewinnung  ungemein  leistungs- 
fähig geworden  war,  zeigt  das  Verhältnis  der  Arbeiterzahl  zum  fertig- 
gestellten Produkt.  1860  waren  18232  Personen  tätig,  um  479000 
Tonnen  Roheisen  zu  erzeugen,  1865  21725  für  933000  und  1870 
19322  für  1346000  Tonnen. 

Gleichzeitig  mit  diesem  Aufschwung  zeigt  auch  die  Weiterver- 
arbeitung steigende  Ziffern,  bei  Stabeisen,  Schienen  und  anderem  ge- 
walzten Eisen,  bei  Eisenblech.  Eisendraht,  Stahl  und  Guß.  Das  Roh- 
material reichte   nicht   aus,   so   daß    1857    und    1858    eine   Einfuhr   der 


IV.  Die  Fortschritte  der  landwirtschaftlichen  und  industriellen  Gütererzeugung.      i5q 

Hälfte  des  heimischen  Erzeugnisses  nötig  wurde,  in  der  ersten  Hälfte 
der  sechziger  Jahre  noch  Ys — Va.-  Di^  Technik  hat  sich  auch  hier  bis 
1870  erheblich  gehoben.  1858  hatte  Krupp  den  ersten  Dampfaufwerf- 
hammer  aufgestellt.  186 1  errichtete  er  eine  Bessemeranlage,  1863  folgt 
darin  der  Hörder  Bergwerks-  und  Hüttenverein,  1868  errichtet  die 
Maschinenfabrik  von  A.  Bors  ig  die  erste  Siemens-Martinanlage,  in 
der,  unter  Anwendung  großer  Hitze  einer  Regenerativfeuerung,  Roh- 
eisen und  Eisenabfälle  zu  Flußeisen  oder  Flußstahl  zusammen- 
geschmolzen wurden.  Diese  Firma  hatte  schon  1847,  u'^  ^^^^i  Roh- 
stoffbedarf ihres  in  Berlin  errichteten  Puddel-  und  Walzwerkes  zu 
decken,  in  Schlesien  Kohlen-  und  Erzgruben,  Kalk-  und  Sandstein- 
brüche erworben  und  ging  dann  dort  in  den  sechziger  Jahren  zum  Bau 
von  Hochöfen,  Puddel-  und  Walzwerken  vor.  „Borsig  ist",  schreibt 
1904  H.  G.  Hey  mann,  „wohl  das  einzige  Beispiel  dafür,  daß  eine 
Maschinenfabrik  sich  durch  systematische  Angliederung  von  Halb- 
fabrikat- und  Rohstoffbetrieben  zu  einem  großen  gemischten  Stahl- 
werk entwickelt  hat." 

Das  Walzverfahren  zur  Herstellung  von  Blechen,  Schienen,  Trägern 
ging  unter  Beseitigung  der  alten  Hämmer  immer  mehr  zur  Massen- 
erzeugung über,  die  Ganzfabrikate,  Schlosser  waren,  Wirtschaftsgeräte, 
Messer,  Scheren,  Waffen  werden  durch  Werkzeugmaschinen  billiger, 
und  ihre  Ausfuhr  nimmt  zu,  so  daß  die  Statistik  von  1850 — 1870  über- 
wiegend eine  Mehrausfuhr  feststellt,  die  um  so  mehr  hervortritt,  je 
feiner  das  Fabrikat  und  je  mehr  gelernte  Spezialarbeit  aufgenommen 
ist.  Die  großen  Betriebe  zogen  die  Handwerksgesellen  aus  ganz 
Deutschland  heran.  Für  völlig  neue  technische  Betriebsweisen,  wie 
beim  Walzen,  Puddeln  und  den  Maschinenbau,  wurden  auch  Vorarbeiter 
aus  England  und  Belgien  zuerst  in  Dienst  genommen,  von  denen  man 
sich  um  1860  bereits  emanzipiert  hat.  Deutsche  Gründlichkeit  und 
wissenschaftliche  Methoden  fangen  an,  die  praktischen  Erfahrungen  in 
der  Eisen-  und  Stahlindustrie  zu  unterstützen.  Krupp  richtet  1862 
seine  Probieranstalt  ein,  und  die  Maschinenfabriken  hatten  schon  ihre 
eigenen  Konstruktionsabteilungen.  Landwirtschaftliche  Maschinen  von 
Leipzig  und  Berlin  begannen  den  heimischen  Markt  zu  erobern.  Wir 
hören  schon  von  Ausstellungen,  die  mit  von  Pferde-,  Wasser-  und  Dampf- 
kraft betriebenen  Häckselschneide-,  Säe-  und  Dreschmaschinen  beschickt 
werden. 

Der  Roheisenverbrauch  hatte  unter  allen  diesen  Fortschritten 
der  sich  ausbildenden  Großindustrie  rasch  zugenommen.  1861  — 1865 
ist  er  durchschnittlich  auf  26,5  kg  für  den  Kopf  der  Bevölkerung  be- 
rechnet worden,  1866 — 1870  auf  35,4.  Doch  ist  das  noch  wenig  im 
Vergleich  zu  der  kommenden  Zeit.  1886 — i8go  kommen  wir  auf 
89.2,  1895  — 1900  auf  142,5,   1901 — 1905  auf  157,1  kg. 


lyo  I^'  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848 — 187 1. 


Die  volkswirtschaftliche  Bedeutung  der  Montanindustrie  ließ  sich 
nicht  bloß  an  den  Produktions-  und  Konsumtionsziffern  messen;  der 
Fluß-,  Kanal-  und  Bahnverkehr  verdiente  durch  den  Transport  von 
Kohlen,  Erzen,  Roheisen,  und  neue  Linien  und  Verbindungen  wurden 
dieses  Verkehrs  wegen  eröffnet,  die  auch  anderen  Versendungen  zu- 
gute kamen  und  den  Fernabsatz  überhaupt  belebten. 

Der  Standort  der  Industrie  verschiebt  sich.  Die  wachsende  Un- 
abhängigkeit der  Verhüttung  vom  Holzreichtum  und  von  der  Wasser- 
kraft hebt  mit  den  Kokshochöfen  und  den  Dampfmaschinen  die  alte 
Zersplitterung  auf  und  schafft  neue  Mittelpunkte  inmitten  der  Kohlen- 
gebiete. Hier  entstehen  Städte,  in  denen  sich  die  große  Arbeiter- 
schaft zusammendrängt.  Die  Anfertigungsstätten  des  Halbfabrikates, 
Puddelöfen,  Stahlwerke,  Walzwerke  schließen  sich  örtlich  an,  weil  auch 
sie  der  teuer  transportierbaren  Kohle  bedürfen  und  das  Roheisen  zur 
Stelle  haben.  Auch  die  Zinkwerke  ziehen  der  Kohle  nach,  die  für 
das  Destillationsverfahren  erforderlich  wird. 

Die  Ganzfabrikate,  die  Kleinwarenindustrie,  diejenige  für  das 
vollendete  Eisenbahnmaterial  behaupten  ihren  schon  früher  ein- 
genommenen Produktionsort,  der  durch  die  althergebrachte  Arbeiter- 
ansiedlung  und  durch  die  Absatzmöglichkeit  bestimmt  wird.  Das 
letztere  gilt  z.  B.  für  Berlin,  Kassel,  Augsburg,  das  erstere  für  Rem- 
scheid, Solingen  und  Aachen.  1861  wurden  für  den  Zollverein  an 
Grob-,  Huf-,  Ketten-,  Sensenschmieden,  an  Schlossern,  Zeug-,  Messer-, 
Nagel-,  Büchsen-  und  Waffenschmieden,  Schwertfegern  und  Nadlern 
233000  Personen  ermittelt.  Manche  Fabriken  erklärten  unter  dem 
Wettbewerb  der  großen  Geschäfte  zu  leiden,  die  meisten  hatten  Vor- 
teile von  der  neuen  Technik  gehabt,  da  ihnen  billiges,  gutes  Halb- 
fabrikat geliefert  und  die  Werkzeugmaschine  zugänglich  wurde. 

Die  deutsche  Maschinenindustrie  des  19.  Jahrhunderts,  bemerkt 
L.  Pohle,  ist  fast  aus  dem  Nichts  geschaffen  worden.  Das  18.  Jahr- 
hundert kannte  nur  die  handwerksmäßige  Herstellung  von  Mühlen- 
anlagen und  Webstühlen,  1861  werden  bereits  51000  Maschinen- 
bauer in  größeren  Betrieben  beschäftigt.  Das  erschien  aber  später  um 
1907  nur  als  ein  Anfang,  als  die  Statistik  von  1 120000  Arbeitern 
statt  dessen  berichtete. 

Wir  haben  im  Verlaufe  der  früheren  Darstellung  einige  Unter- 
schiede der  west-  und  ostdeutschen  Montanindustrie  hervorgehoben. 
Die  Rohmaterialien,  die  Lagerungen  von  Eisen  zu  Kohlen  sind  nicht 
die  gleichen,  die  sozialrechtlichen  Grundlagen  haben  sich  geschichtlich 
verschieden  entwickelt,  Absatzverhältnisse  und  ausländische  Konkur- 
renz waren  stark  voneinander  abweichend. 

In  den  fünfziger  Jahren  fangen  die  Zustände  an,  sich  in  einigen 
Richtungen  auszugleichen.     Die  Technik  wird   denselben    zeitgemäßen 


IV.  Die  Fortschritte  der  landwirtschaftlichen  und  industriellen  Gütererzeugung.      i  y  i 

Gesichtspunkten  untergeordnet,  und  die  Aktiengesellschaft  findet  in 
Schlesien  neben  dem  Betrieb  der  Magnaten  Eingang,  sei  es  durch 
Verkäufe  ihrer  Werke  oder  durch  solche  des  Fiskus,  hier  begünstigt 
durch  die  Hberale  theoretische  Auffassung  der  sechziger  Jahre,  die  dem 
Staatsbetrieb  so  abgeneigt  war,  daß  sich  ihr  die  Praxis  nicht  ent- 
ziehen konnte,  sei  es  durch  private  Gründungen,  die  sich  nach  1871 
leider  in  das  Übermaß  vermehrten. 

Die  Eisenbahnen  taten  das  ihrige,  den  Radius  des  Absatzes  zu 
verlängern,  wobei  es  vor  allem  die  Fertigfabrikate  waren,  die  west- 
wärts vordrangen,  während  die  Halbfabrikate  und  noch  mehr  die  Roh- 
stoffe ihre  Sonderprovinz  in  der  Hauptsache  nicht  überschritten. 

Die  rheinischen  Werke  erhalten,  je  mehr  sie  leistungsfähig  wer- 
den, Zulauf  von  ausländischem  Kapital  aus  Belgien,  Holland,  England 
und  Frankreich,  die  oberschlesischen  blieben  auf  den  deutschen  Kapi- 
talmarkt angewiesen,  so  daß  es  für  sie  ein  Glück  ist,  daß  mit  seinem 
Kredit  der  große  grundbesitzende  Adel  an  ihnen  noch  weiter  teil- 
nimmt, dem  Schlesien  auch  jetzt  noch  für  seine  produktiven  Fort- 
schritte viel  zu  verdanken  hat.  Der  Name  des  Grafen  Guido  Henckel 
von  Donnersmarck  wird  in  der  Folgezeit  als  erster  genannt.  War 
hier  die  Eisenindustrie  naturgemäß  eine  durchaus  deutsche  mit  ihrem 
kapitalistischen  Schwerpunkt  Berlin,  so  wäre  es  doch  verkehrt,  das- 
selbe von  der  rheinischen  zu  leugnen.  Das  auswärtige  Kapital  gewann 
auf  die  Führung  der  Unternehmungen  am  Rhein  keinen  Einfluß.  Die 
Bankverbindungen  der  Industriellen  wurzelten  in  Köln,  und  es  gab 
genug  selbständige  und  bedeutende  Unternehmer,  —  es  brauchen  nur 
von  der  Ruhr  die  Namen  Stinnes,  Haniel,  Funke,  Krupp, 
Lueg,  Grillo,  Guilleaume,  denen  sich  späterhin  Thyssen  in 
Hamborn  anschließt,  und  am  Niederrhein  Böcking,  Stumm,  Röch- 
ling  an  der  Saar,  Beißel,  Guaita,  Pastor,  Talbot  in  der 
Aachener  Gegend,  Böcker, Henckels, Mannesmann  im  bergischen 
Land  genannt  zu  werden. 

Das  Aufsuchen  des  Absatzgebietes  war  überall  noch  fast  ganz 
dem  Handel  überlassen,  die  Kartellierung  zur  Sicherung  der  Markt- 
stellung war  einer  späteren  Zeit  vorbehalten.  Einige  wenige  Ansätze, 
wie  die  Gründung  des  Weißblechkontors,  der  Schienengemeinschaft 
in  Düsseldorf,  fanden  damals  nur  geringe  Beachtung. 


In  jeder  Textilindustrie  sind  drei  Abschnitte  hintereinander 
zu  unterscheiden.  Die  Beschaffung  des  Rohstoffes,  die  Herstellung 
des  Garnes  und  die  des  Gewebes.  Der  auswärtige  Handel  steht  mit 
jedem  in  besonderer  Verbindung.  Die  Baumwolle,  um  mit  deren 
Industrie  zu  beginnen,  kam  aus  den  Vereinigten  Staaten,  daher  während 


172 


IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848  — 1871. 


des  Sezessionskrieges  große  Not  in  ganz  Europa  herrschte.  Der  Zoll- 
verein hatte  im  Durchschnitt  der  Jahre  1836— 1840  8917  Tonnen  ver- 
braucht, bis  1870  gelangte  er  auf  das  Achtfache.  Die  Weberei  kam 
mit  dem  heimischen  Garn  nicht  aus  und  bezog  1854/55  aus  England 
und  der  Schweiz  ebensoviel.  In  den  nächsten  20  Jahren  verschob  sich 
die  Proportion  zugunsten  Deutschlands: 


Baumwollengarn  Tonnen 

Inländische  Produktion 

Einfuhr  in  Tonnen  netto 

1855— 1860     .    . 

37  223 

26  144 

I86I— 1865     .    . 

37465 

12330 

1866— 1870     .    . 

54625 

148  144 

1871— 1875      •    • 

93  112   (mit  Elsaß- 
Lothringen) 

21  678 

Vornehmlich  waren  es  feine  Garne,  die  weiterhin  in  England  ge- 
kauft wurden,  wo  sie  zur  Spezialität  ausgebildet  waren. 

Die  Spinnerei  entfaltete  sich  vor  allem  in  Rheinpreußen,  Schlesien, 
Sachsen,  Bayern,  Württemberg  und  Baden.  Auch  Hannover  und 
Oldenburg  wurden  nach  ihrem  Eintritt  in  den  Zollverein  beachtens- 
wert. Die  von  England  übernommenen  technischen  Verbesserungen 
führten  dahin,  daß  1861  eine  Spindel  68,8  Pfd.  verarbeitete,  gegen 
24,9  des  Jahres  1836.  Neben  den  großen  auf  Wasser-  und  Dampf- 
kraft eingestellten  Betrieben  hatte  die  von  Menschenkraft  bewegte 
Maschinenspinnerei  ein  mühseliges  Dasein.  Im  Rheinland  und  in  West- 
falen ging  die  Zahl  dieser  Kleinbetriebe  zwischen  1843  — 1861  von 
120  auf  43  zurück,  während  sich  die  Gesamtsumme  der  Spindeln  von 
1 1 1  799  auf  299413  erhöhte.  Die  Zahl  dieser  Kleinspinnereien  ist 
niemals  groß  gewesen,  und  so  war  auch  ihr  Verschwinden  kein  soziales 
Unglück,  da  die  Arbeiter  bei  dem  siegreichen  Konkurrenten  leicht 
unterkommen  konnten. 

Anders  die  Weberei,  mit  der  von  Anfang  an  im  kleinen  be- 
goimen  wurde,  da  sie  sich  an  die  von  Leinwand,  also  in  weiter  Ver- 
breitung anschloß.  Sie  hatte  sich  in  Schlesien,  in  Schwaben  und  im 
bergischen  Lande  unter  dem  Zollschutz  gehoben.  Die  Statistik  unter- 
scheidet  1861   gewerbsmäßig  betriebene  Webstühle  und  Fabriken. 

Im  Kleinbetrieb  war  die  Zahl  der  Stühle  151  451,  der  Meister 
77915,  der  Gehilfen  80387,  in  den  940  Fabriken  wurden  23491 
Maschinenstühle  und  13008  Handstühle  von  34663  Personen  bedient. 
Die  Mehrausfuhr  wurde  auf  190580  Ztr.  berechnet  und  hatte  sich 
seit  1836  verdreifacht.  Am  dichtesten  standen  die  Webereien  in  der 
Nähe  der  Spinnereien.  Die  von  den  Kaufleuten  mit  Garn  versorgten 
Kleinweber  waren  Lohnweber  geworden.    Sie  konnten  die  Ware  nicht 


IV.  Die  Fortschritte  der  landwirtschaftlichen  und  industriellen  Gütererzeugung.      i  y  ^ 


vollenden.  Die  Bleiche,  Appretur,  Färberei  und  Druckerei  wurde  von 
den  Arbeitgebern  besorgt;  ein  kompliziertes  System,  das  mit  der 
Niedrigkeit  des  Lohnes  der  Vollfabrik  trotzte.  Zuweilen  kamen  bessere 
Handelskonjunkturen,  die  den  armen  Leuten  wieder  Mut  machten  oder 
Modewechsel,  die  ihnen  neue  Aufgaben  stellten,  an  denen  sie  sich 
zwar  meist  vergebens  versuchten.  Nach  langwierigem  Kampf  unter- 
lag die  Hausweberei.  Wäre  es  schneller  geschehen,  es  würde  für  die 
Arbeiter  besser  gewesen  sein,  die  in  dem  fabrikmäßigen  Zusammen- 
arbeiten mehr  Aussicht  hatten,  ihre  Daseinsbedingungen  zu  heben. 
1875  wurden  noch  93501  Baumwollwebereien  als  Hauptbetriebe  ge- 
zählt, 1882  4894g,  1895  28997  n^^t  147  121  Personen,  von  denen 
108073  in  926  Betrieben  tätig  waren,  die  mehr  als  fünf  Gehilfen  be- 
schäftigten. 

Auch  die  Wollspinnerei  und  Weberei  war  im  Zollverein  er- 
starkt. Die  Streichgarnspinnerei,  die  für  die  Tuchfabrikation  lieferte, 
war  in  Preußen  und  Sachsen  vornehmlich  vertreten,  nach  Spindeln 
bemessen  von  1840 — 61  in  jenem  Lande  um  71,  in  diesem  um  327% 
erweitert  worden.  Die  Kammgarnspinnerei,  die  feinere,  weiche  Stoffe 
herstellte,  schritt  unter  dem  Wettbewerb  Englands  langsamer  vorwärts, 
wo  der  Großbetrieb  mit  technischen  Neuerungen  zu  Hause  war.  Ob- 
wohl die  Zahl  der  Merinoschafe  in  Deutschland  rasch  zunahm,  war 
die  sich  rasch  ausdehnende  Industrie  überhaupt  bald  auf  die  Woll- 
einfuhr angewiesen,  die  schon  1864  Österreich  und  Rußland  bis  zur 
Hälfte  des  heimischen  Rohstoffes  deckten.  Die  Weberei  war  noch 
schneller  als  die  Spinnerei  vorangekommen.  Das  zeigte  sich  darin, 
daß  die  Garneinfuhr  bedeutend,  die  Ausfuhr  gering  war.  Von  1842 
bis  1864  hatte  sich  die  erstere  verneunfacht,  bestand  fast  ganz  aus 
Kammgarn.  Der  inländische  Bedarf  an  Webstoffen  wurde  durch  die 
heimische  Erzeugung  zum  größten  Teil  befriedigt.  Tuch  ging  ins  Aus- 
land bis  nach  Amerika.  Im  linksrheinischen  Tuchgewerbe  waren  große 
Vermögen  erworben  worden.  Es  wird  von  Abschlüssen  in  Aachen 
bis  zu  100  000  Tlr.  berichtet,  die  durch  dortige  amerikanische  Kom- 
missionshäuser vermittelt  wurden.  Die  Krisis  von  1857  und  der 
Sezessionskrieg  warfen  dies  Geschäft  zurück,  das  erst  in  der  Hoch- 
konjunktur nach   1871   auf  den  alten  Stand  zurückkehrte. 

1861  wurden  1067  Tuchfabriken  mit  2592  Maschinen-  und 
II  818  Handstühlen,  ferner  622  andere  Webereien  mit  3655  Maschinen- 
und  9068  Handstühlen,  außerdem  67343  gewerbsmäßig  betriebene 
Webstühle  für  Wolle  gezählt.  Das  noch  starke  Vorhandensein  der 
handwerksmäßigen  und  der  hausindustriellen  Betriebsweise  ergibt  sich 
daraus.  In  den  vierziger  Jahren  begann  der  Rückgang  der  kleinen 
Meister,  während  die  Heimarbeit  sich  noch  besser  hielt.  Als  1839  der 
Engländer  Bo wring-  die  deutsche  Industrie  studierte,  war  er  über  die 


1^4  IV-  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848 — 1871. 

sozialen  Zustände  in  der  Weberei  noch  vollen  Lobes.  Es  war  weniger 
der  Wettbewerb  der  Maschinenstühle  gewesen,  was  dem  Kleinbetrieb 
gefährlich  geworden  war,  als  die  neuen  Weiterverarbeitungsmethoden,  die 
von  den  kapitalarmen  Betrieben  nicht  übernommen  werden  konnten:  die 
Anwendung  von  Wasch-,  Rauh-,  Borst-,  Schermaschinen,  Pressen  usw., 
die  zum  Teil  mit  Dampf  bewegt  wurden.  Ehemals  waren  die 
Zünfte  als  Ganzes  für  entsprechende,  wenn  auch  primitivere  Einrich- 
tungen eingetreten  und  hatten  sich  zu  einem  Gesamtbetrieb  insoweit 
zusammengeschlossen,  später  hatten  die  Landesherren  in  ähnlicher 
Weise  Fürsorge  geübt.  Jetzt,  unter  der  Gewerbefreiheit,  gedieh  nur 
derjenige,  der  es  verstand,  so  reich  zu  werden,  daß  er  sich  selber 
helfen  konnte.  Damit  kam  in  die  veraltete  Arbeitsweise  ein  neuer 
Zug  und  der  Fortschritt  zum  Großen  wurde  vermittelt.  Die  Zurück- 
bleibenden gerieten  inzwischen  in  eine  soziale  Katastrophe  hinein,  von 
der  sie  sich  nicht  wieder  erholten.  Im  Verlaufe  der  nächsten  Jahr- 
zehnte vollzog  sich  die  Zusammenballung  der  Betriebsmittel  unter  der 
Spezialisierung  der  Waren  und  der  Vervollkommnung  der  Technik 
weiter.  In  den  drei  Jahren  1882,  1895  und  1907  gingen  die  Gewerbe- 
betriebe von  38092  auf  31404  und  16549,  und  rechnen  wir  nur  die 
Hauptbetriebe,  von  34656  auf  28569  und  15  131  zurück.  Die  Arbeiter- 
zahl stieg  aber  gleichzeitig  um  ^|^,  die  mechanischen  Stühle  beherrschten 
das  Gewerbe,  das  von  1880 — 1905  seine  Ausfuhr  von  119,2  Millionen  M. 
auf  351,2  Millionen  M.  hinaufsetzte. 

Der  zunehmende  Wohlstand  im  Zollverein  läßt  sich  an  dem  als 
Luxus  geltenden  Verbrauch  von  Seidenware  ersehen.  Die  einge- 
führte Rohseide  —  die  im  Inland  gewonnene  war  geringfügig  —  ist 
von  1842/46  bis  1860/64  von  12262  Ztr.  auf  20619  angewachsen. 
Ein  mäßiger  Anteil  des  damit  hergestellten  Erzeugnisses  wurde  aus- 
geführt. Der  Mittelpunkt  der  Industrie  war  die  Rheinprovinz  mit 
Köln,  Mühlheim  und  vor  allem  Krefeld.  Daneben  fing  Berlin  an,  sich 
emporzuarbeiten.  Die  halbseidenen  Waren  wurden  an  erster  Stelle  in 
Elberfeld,  dann  in  Sachsen,  in  Glauchau  und  Merane  angefertigt.  Die 
Weberei  war  1861  noch  überwiegend  hausindustriell,  während  die 
Zwirnerei  in  215  Fabriken  stattfand.  In  der  Hausindustrie  wurden 
32882  Stühle  ermittelt,  denen  in  314  Fabriken  1270  Maschinen-  und 
5392  Handstühle  gegenüberstanden.  Auch  hier  ging  die  alte  Betriebs- 
weise rasch  zurück,  von  1882 — 1907  um  30000  Webstühle  und  44000 
Arbeiter,  während  die  Zahl  der  Fabrikarbeiter  fünfmal  so  groß  als  die 
der  Hausarbeiter  geworden  war. 

Die  revolutionäre  Bewegung  von  1848  hatte  auch  die  Weber 
von  Krefeld  ergriffen.  Abstellung  von  Mißbräuchen  der  Werkmeister 
und  Faktoren,  Ankauf  sämtlicher  Webstühle,  eine  Weber-  und  Wirker- 
innung wurden  ertrotzt,  sogar  eine  Lohnliste  vereinbart,  die  ein  gleich- 


IV.  Die  Fortschritte  der  landwirtschaftlichen  und  industriellen  Gütererzeugung.      ij  c 

mäßigeres  Einkommen  verbürgen  sollte.  In  den  fünfziger  Jahren  konnten 
diese  Errungenschaften  unter  der  glänzenden  Konjunktur  aufrecht- 
erhalten bleiben,  die  Krise  von  1857  und  die  Seidenwurmkrankheit 
von  1859  brachten  unliebsame  Unterbrechungen,  von  der  Mitte  der 
sechziger  folgten  zehn  gute  Jahre,  in  deren  bester  Zeit  die  rheinische 
Seiden-  und  Sammetindustrie  50000  Webstühle  und  150000  Personen 
beschäftigte. 

Im  Gegensatz  zu  den  bisher  dargestellten  Textilindustrien  ist  das 
Leinwandgewerbe  aus  den  oben  gegebenen  Gründen  rückständig 
geblieben.  Die  Revolutionszeit  mit  ihrer  Geschäftsstockung  brachte 
Arbeitslosigkeit.  „10 — 20000  Menschen  lägen  im  Eulengebirge  sozu- 
sagen in  den  letzten  Zügen",  wurde  der  preußischen  Nationalversamm- 
lung im  September  1848  berichtet.  Geldspenden  und  Notstandsarbeiten 
wurden  gefordert  und  gewährt.  Die  gesamte  schlesische  Industrie 
hatte  kurz  vorher  einen  schweren  Schlag  dadurch  erlitten,  daß  die 
Krakauer  Republik,  die  auf  Grund  der  Wiener  Verträge  von  18 15  ein 
Freihandelsgebiet  war,  in  Österreich  und  damit  in  dessen  Zollinie  ein- 
verleibt worden  war.  Am  härtesten  w^urden  damit  die  Leinwandweber 
getroffen,  die  im  Zollverein  nirgends  einen  Ersatz  finden  konnten. 
Ein  Ausschuß  des  neugebildeten  Herrenhauses  teilte  1850  mit,  daß  die 
Zahl  der  Weber  und  Spinner  Schlesiens  100  000  betrage.  Ein  fertiger 
Spinner  verdiente  täglich  6  Pfg.  bis  1^/2  Sgr.  Nicht  viel  besser  sei  die 
Lage  der  Weber.  Die  besonderen  Ursachen  des  Darniederliegens  des 
Gewerbes  seien  die  Zunahme  des  Baumw  oll  waren  Verbrauches,  die  Ein- 
führung des  Großmaschinengewerbes  in  anderen  Ländern  und  der 
Mangel  an  guten  Zolleinrichtungen. 

Wiederum,  wie  ehedem,  erwartete  die  Regierung  eine  Besserung 
von  der  Förderung  des  Flachsbaues  und  der  Flachsaufbereitung,  in- 
dem sie  Prämien  und  Zuschüsse  bewilligte.  1852  gab  es  im  Regie- 
rungsbezirk Oppeln  keine  mechanische  Spinnerei,  in  den  beiden  anderen 
schlesischen  ließ  sich  in  den  letzten  Jahren  keine  Zunahme  der  Spinnerei 
nachweisen.  Die  Zollwünsche  wurden  auf  den  Generalzollkonferenzen 
nicht  berücksichtigt.  Im  Gegenteil,  in  dem  Handelsvertrag  mit  Öster- 
reich wurde  1853  vereinbart,  daß  österreichisches  Leinenhandgarn  zoll- 
frei eingehen  dürfe  und  Maschinengarn  nur  15  Sgr.  Zoll  zu  entrichten 
habe.  1854  gingen  2000  Zentner  des  letzteren  in  den  Zollverein  ein, 
1865  81000.  Die  Weber  hatten  einigen  Vorteil  davon,  den  sie  durch 
zwei  glückliche  Zufälle  ausnutzen  konnten.  Der  erste  war  der  Krim- 
krieg, unter  dem  die  russische  Industrie  stockte,  so  daß,  da  die  Grenze 
schlecht  bewacht  wurde,  viel  schlesische  Ware  nach  Polen  geschmug- 
gelt werden  konnte;  der  zweite,  der  amerikanische  Bürgerkrieg  mit 
seinem  Baumwollmangel  für  ganz  Europa,  wodurch  die  Leinwand  rasch 
im  Preis  stieg,  um  den  Ausfall  an  baumwollenen  Geweben  zu  decken. 


1^5  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von    1848  — 1871. 


Doch  erfolgte  jedesmal  der  Rückschlag  schnell,  so  daß  Mitte  der  sech- 
ziger Jahre  das  gesamte  Leinwandgevverbe  wieder  in  schlechter  Ver- 
fassung lag,  die  in  der  kommenden  Freihandelsära  noch  verschlimmert 
wurde. 

Die  Weberei  hatte  noch  immer  an  erster  Stelle  in  Schlesien  und 
dort  über  ganze  Distrikte  ihren  Sitz,  daneben  steht  Westfalen  mit 
Bielefeld  und  Umgebung,  wo  die  mechanischen  Webstühle  allein  eine 
Bedeutung  gewonnen  hatten.  In  Bayern  und  Baden  gab  es  noch  eine 
große  Zahl  von  gewerblichen  Handwebern,  eine  geringere  finden  wir 
in  allen  sonstigen  Staaten  des  Zollvereins. 

Die  Gewerbestatistik  von  1861  gibt  einen  guten  Einblick  in  die 
damaligen  Betriebsweisen.  Die  größte  Summe  der  Webstühle  diente 
nur  der  ländHchen  Nebenbeschäftigung.  Es  waren  370970,  gegen- 
über 12022g,  die  gewerbsmäßig  von  Hausindustriellen  und  Handwerks- 
meistern gehalten  wurden.  Fabriken  waren  nur  302,  welche  über 
350  Maschinen  Stühle,    2678  Handstühle   und    4802  Arbeiter   verfügten. 

Die  Leinwandweberei  als  Nebenbeschäftigung  diente  dem  eigenen 
Bedarf  der  Familie  und  entzog  so  den  gewerblichen  Betrieben  den 
Absatz.  Im  Westen  Deutschlands  ist  sie  rascher  als  im  Osten  rück- 
gängig geworden,  da  sowohl  in  jenem  die  Landwirtschaft  intensiver 
wurde,  also  mehr  Arbeitskraft  aufsog,  als  auch  weil  die  Abwanderung 
in  die  Städte  und  Industriezentren  sich  schon  früh  fühlbar  machte, 
igöi  schätzte  G.  Schmoller  die  gewerbsmäßige  Herstellung  auf 
300  Millionen  Ellen,  die  der  haushohen  Nebenarbeit  auf  50  Millionen. 

Die  Ausfuhr  von  gebleichter  und  gefärbter  Leinwand  war  nach 
dem  Gesagten  zeitweise  nicht  schlecht  gewesen.  Bei  einem  Überblick 
über  einen  längeren  Zeitraum  wird  jedoch  ihr  Rückgang  im  Ganzen 
offenbar.  1842  waren  noch  59851  Ztr.  ins  Ausland  geschickt  worden, 
1861  nur  20057.  Am  besten  hatten  sich  die  feinen  Sorten,  Damaste, 
Drelle  und  Jacquardgewebe  gehalten,  die  vorzugsweise  in  Fabriken 
hergestellt  wurden.  Das  deutsche  Zollparlament  hat  dann  1868 — 70 
den  freihändlerischen  Anträgen  der  Regierung  zugestimmt,  mit  denen 
die  Leinwandindustrie  der  fremden  Konkurrenz  aufgeopfert  wurde.  In 
schwerer  Not  hielt  sich  die  Hausweberei  kümmerhch  am  Leben.  Die 
Fabriken  allein  konnten  von  dem  1879  einsetzenden  Zollschutz  noch 
Nutzen  ziehen.  Je  mehr  sie  gediehen,  um  so  rascher  wurde  mit  der 
Hausindustrie  aufgeräumt.  Nach  der  Gewerbezählung  von  1882  gab 
es  noch  29266  Nebenbetriebe  und  unter  72393  Hauptbetrieben  29054, 
die  hausindustriell  waren.  1895  war  die  Zahl  der  Hauptbetriebe  auf 
34493,  die  der  Nebenbetriebe  auf  15960  gesunken,  unter  ersteren 
waren  noch  19  157  hausindustrielle.  Endlich  waren  1907  noch  14720 
Hauptbetriebe  vorhanden,  unter  denen  sich  9127  Alleinbetriebe  be- 
fanden.    Trotz  der  Zusammenziehung  des  Leinwandgewerbes  —  in  der 


IV.  Die  Fortschritte  der  landwirtschaftlichen  und  industriellen  Gütererzeugung.      j-jn 


Spinnerei  war  sie  vollkommen  durchgeführt  —  gehört  es  keineswegs 
zu  der  Gattung  der  Industrie,  die  Hervorragendes  leistet,  was  sich  aus 
der  geschilderten  historischen  Zwiespältigkeit  der  Arbeitsweise  wohl 
verstehen  läßt.  Der  Einfuhrwert  von  Flachs-  und  Flachswerggarn 
betrug  igo8  20348000  M.,  dem  eine  Ausfuhr  von  nur  506000  M. 
gegenüberstand.  Die  Ausfuhr  von  dichten  Geweben  aus  Flachs,  Flachs- 
werg und  Ramie  wurde  auf  10074000  M.  festgestellt  neben  der  Ein- 
fuhr von  3932000  M.  Was  das  gegenüber  der  großen  Vergangenheit 
des  Gewerbes  bedeutet,  ergibt  sich  aus  der  Tatsache,  daß  am  Ende  des 
18.  Jahrhunderts  allein  aus  Schlesien  eine  Ausfuhr  von  45  Millionen  M. 
in  Leinenwaren  bestanden  hatte. 

In  dem  Zollverein  waren  zahlreiche  Industrien  außer  den  bisher 
genannten  zur  Ausbildung  gelangt,  auf  die  einzugehen  uns  hier  zu 
weit  führen  würde.  Aus  der  Handelsbilanz  von  1864  sollen  nur  noch 
die  herausgegriffen  werden,  die  in  der  Stärke  ihrer  Ausfuhr  ihre 
Herstellungsfähigkeit  erwiesen : 


Gegenstände 

Einfuhr,   Wert  in  Tlr. 

Ausfuhr,  Wert  in  Tlr. 

Chemische  Fabrikate 

Feine  Holzwaren 

Fertige  Kleider  und  Leibwäsche      .    .    . 
Kupfer-  und  Messingwaren 

1  587  960 
373950 

67  600 
884  880 

474  300 
2 1 9  000 

475  630 

2  852  928 

174  150 
3  776 

6415770 
5  128  650 
2  821  200 
2  287  920 
22  196  300 

Feine  Lederwaren 

Branntwein,  Arrak,  Rum      

Mühlenfabrikate 

1  819  200 
9  446  560 

7494952 

2  098  950 
I  048  512 

Fertiges  Steingut 

Zinkwaren 

Die  guten  Leistungen  der  deutschen  Industrie  in  den  beiden 
Jahrzehnten  nach  1848  lassen  sich  auch  an  den  Urteilen  messen,  die 
ihnen  auf  den  internationalen  Ausstellungen  zuteil  geworden  sind.  Die 
Londoner  von  1851  erkannte  nur  England  und  Frankreich  als  Staaten 
mit  neuzeitlicher  Technik  an.  Einige  deutsche  Spezialitäten,  wie  der 
Kunsteisenguß,  feine  Tonwaren,  Damaste,  auch  die  Telegraphenapparate 
von  Siemens  &  Halske  wurden  höflich  ausgezeichnet,  und  mit  einer 
Mischung  von  Wohlwollen  und  Hohn  wurde  der  wissenschaftliche 
Charakter  in  der  Anordnung  und  Vorführung  des  Eingesandten  kund- 
gegeben. 

Auf  der  Weltausstellung  Paris  1867  führten  die  deutschen 
Fabrikanten  und  Künstler  mit  ihren  2200  Anmeldungen  viel  Wert- 
volles und  darunter  einzig  Dastehendes  vor.  Der  Gußstahlblock 
Krupps  von  80000  Pfd.  und  ein  Geschützrohr  von  10  000  Pfd. 
derselben  Firma,   die   35  Fuß  langen   Schiffspanzerplatten   von  Horde, 

A.  Sartorius  v.  Waltershausen    Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        12 


lyg  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848 — 1871. 

Borsigs  2000.  Lokomotive  gaben  denen  etwas  zu  denken,  die  der 
Gründung  des  Norddeutschen  Bundes  mit  wenig  Freude  zugesehen 
hatten.  Dieses  politische  Kunstwerk  stellte  sich  in  Europa  selbst 
aus,  und  niemand  konnte  behaupten,  daß  es  ein  Abklatsch  der  her- 
gebrachten Staatseinrichtungen  sei.  Ebenso  konnte  es  in  den  Pa- 
riser Räumen  der  vereinigten  preußischen  Bergwerksbesitzer  nicht 
verborgen  bleiben,  daß  hier  in  origineller  Weise  das  Beste  seiner 
Art  in  bezug  auf  wissenschaftliche  Klassifikation,  Vollständigkeit 
und  instruktive  Zusammenfassung  vorlag.  Daß  Deutschland  in 
seiner  Wissenschaft  ein  starkes  Hilfsmittel  seiner  Zukunft  besitze, 
blieb  tiefer  blickenden  englischen  Konkurrenten  nicht  verborgen, 
aber  sie  glaubten  dem  Gegner  mit  überlegener  Kapitalmacht, 
niedrigem  Zinsfuß  und  überseeischem  Absatz,  den  drei  Ge- 
waltigen, die  ihnen  niemand  abspenstig  machen  könne,  zu  be- 
gegnen. Für  die  technische  Fortbildung  im  Gewerbewesen  hatte 
sich  auch  der  Staat  in  der  Errichtung  von  neuen  Polytechniken  ein- 
gesetzt (Neugründungen  1862  Braunschweig,  1869  Darmstadt,  1870 
Aachen)  und  die  älteren  wurden  reformiert.  Auch  die  Anfänge  von 
niederen  Gewerbeschulen,  Handwerkerschulen,  Sonntagszeichen- 
schulen, Spezialschulen  für  Spinnen,  Bauen,  Strohflechten,  Weben 
treffen  wir  in  dieser  Zeit  schon  häufiger  an. 

Berlins  industrielle  Entwicklung,  die  im  dritten  Abschnitt 
bis  1846  kurz  erzählt  worden  ist,  zeigt  von  da  bis  1871  zahlreiche, 
sehr  erhebliche  Fortschritte.  Auf  den  fünf  in  die  Stadt  einmündenden 
Eisenbahnlinien  fuhren  vor  der  Revolution  120,  vor  dem  Krieg 
mit  Frankreich  gegen  900  Lokomotiven.  Die  Zahl  der  Güterwagen 
ist  von  869  auf  14425  vermehrt  worden,  und  während  1842  die  ein- 
geführte Gütermenge  175  617,  die  ausgeführte  177964  Zentner 
betragen  hatte,  wird  sie  1868  auf  35482924  bzw.  16583545  fest- 
gestellt. Diese  letztere  Bilanz  bringt  das  Wesen  der  Industrie- 
stadt, dem  Industriestaat  entsprechend,  zum  Ausdruck.  Demgemäß 
haben  wir  eine  Zunahme  der  Dampfmaschinen  und  deren  Kräfte 
zwischen  1846 — 75  von  75  auf  1034  Stück  bzw.  883  auf  13906  PS. 
Während  in  dem  Jahrzehnt  vor  1850  10 — 20  Genehmigungen  für 
einen  bescheidenen  Fabrikbau  erteilt  werden,  sind  1853  134,  1854 
88,  1855  132,  und  in  den  Jahren  der  späteren  schlechten  Kon- 
junktur immer  noch  über  30  weit  größere  zugelassen  worden. 
Der  gestiegene  Geld-  und  Kreditverkehr  läßt  sich  daran  messen, 
daß  1849  ein  im  Bankgewerbe  „Selbsttätiger"  auf  1286  Einwohner 
entfällt,   1861   auf   1080,   1867  auf  562,   1871   auf   196. 

Wie  ehedem  hat  auch  jetzt  Berlin  der  Tatsache  der  Residenz- 
und  Hauptstadt  viel  zu  verdanken.  Die  Staatsbauten  gaben  nicht 
minder   Verdienst   wie   der   Aufbau   der   neuen    Quartiere   um   die 


IV.  Die  Fortschritte  der  landwirtschaftlichen  und   industriellen  Gütererzeugung.      j^g 

Bahnhöfe.  B  o  r  s  i  g  liefert  dem  Staat  Lokomotiven,  Ludwig 
Löwe  Waffen,  Siemens  telegraphische  Anlagen.  Die  staat- 
lichen Waffen-  und  Munitionswerke  in  Spandau  werden  erweitert. 
Die  Regierung  ist  bemüht,  die  Universität  und  andere  höhere 
Schulen  durch  berühmte  Forscher  und  Lehrer  glänzen  zu  lassen, 
wodurch  Tausende  von  Studenten  herangezogen  werden.  Die  neuen 
Krankenhäuser  genießen  eines  deutschen  Rufes,  die  Museen  und 
Theater  ziehen  schaulustige  Fremde  herbei.  Der  königliche  Hof 
bleibt  der  Nährboden  für  mancherlei  feine  Gewerbe. 

Neue  Industrien  sind  entstanden,  die  chemische  und  ,  die 
elektrotechnische,  die  Möbelschreinerei,  die  Färberei  (Spindler  an 
der  Oberspree),  die  Papierherstellung  im  großen,  die  Wäsche- 
und  Kleiderkonfektion,  die  Lederverarbeitung,  die  Anfertigung 
künstlicher  Mineralwässer.  Von  den  alten  Textilindustrien  sind 
wieder  einige  emporgekommen.  Bei  den  Nahrungs-  und  Genuß- 
mitteln verdoppelt  sich  von  1846 — 67  die  Zahl  der  Selbsttätigen, 
die  Brauereien  haben  ihre  Biermenge  verzehnfacht.  Im  Beklei- 
dungs-  und  Reinigungsgewerbe  ist  von  1846 — 71  die  Summe  der 
Selbständigen  und  Abhängigen  von  20918  auf  69374  gewachsen, 
in  der  Maschinen-,  Werkzeug-  und  Instrumentenindustrie  von  4601 
auf  14529,  im  Baugewerbe  von  6021  auf  16  814,  in  der  Industrie 
der  Holz-  und  Schnitzstoffe  von  8093  auf  21  482,  in  der  Papier- 
und  Lederindustrie  von  3903  auf  9950. 

Berlin  gleicht,  wie  uns  das  Wilhelm  Wundt  in  seiner 
Selbstbiographie  erzählt,  um  1856  einem  Komplex  zusammen- 
gebauter Dörfer  und  erinnert  mit  seinen  alten  Festungstoren  an 
das  Mittelalter.  Nach  10  Jahren,  bei  seinem  zweiten  Besuch,  findet 
er  die  Umwandlung  zu  einer  eleganten  imponierenden  Großstadt 
vor.  Die  Kommunalverwaltung  wird  durch  Anlage  von  Wasser- 
werken, Pflasterung,  Straßenbeleuchtung  einer  der  größten  Arbeit- 
geber. 1860  wird  einer  Gesellschaft  die  Konzession  für  fünf  Om- 
nibuslinien erteilt  und  die  tausendste  Droschke  gefeiert.  181 5 
war  von  Warschau  das  Droschkenfuhrwesen  nach  Berlin  ge- 
kommen. Die  russisch-polnische  Bespannung  wurde  beibehalten 
wie  der  Name  des  Gefährtes,  während  der  Wagen  die  westeuro- 
päische Bauart  hatte.  Um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  werden  die 
breiten  Schaufenster  in  den  Hauptstraßen  zuerst  bewundert,  bald 
wird  die  Reklamesäule  erfunden,  und  die  Anpreisungen  in  den 
Zeitungen  erfüllen  ganze  Bogen.  Die  Schattenseiten  des  groß- 
städtischen Lebens  finden  ihre  Schriftsteller.  Die  Wohnungs- 
mieten schnellen  empor.  Wohnungen  bis  90  M.  machen  1830 
noch  250/0  aller,  1875  nur  noch  i  1/2  0/0  aus,  während  solche  von 
300  bis  600  M.  von   13  V2  a^uf  31.^/0   steigen.     Der  Bedürfnisstand 

12* 


l8o  IV-  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848 — 1871. 

der  Bevölkerung  hebt  sich,  zugleich  wachsen  die  Lebensmittel- 
preise, über  die  man  sich  beunruhigt.  Die  Löhne  schwanken 
unter  Arbeitslosigkeit  und  Überarbeit,  ein  Zeichen  der  Unfertig- 
keit  der  Industrie  und  ihres  Absatzes.  Dem  späteren  Beobachter 
erscheint  beides  nur  als  ein  Vorspiel  der  Gründerzeit  und  der  Ver- 
kehrsstockung der  siebziger  Jahre,  bei  deren  Darstellung  wir  auf 
Berlin  zurückzukommen   haben. 

V.  Geld-  und  Bankwesen.  Der  mit  dem  Zollverein  und 
dem.  erleichterten  Fernverkehr  werdende  nationale  Markt  verlangte 
gebieterisch  die  Einheit  des  Geldwesens.  Die  lästigen  Schwan- 
kungen der  innerdeutschen  Wechselkurse,  die  unbeholfenen  Bar- 
zahlungsmethoden von  einem  Vereinsstaat  zum  anderen,  der  schwie- 
rige Absatz  von  Effekten  außerhalb  ihres  Heimatlandes,  die 
rechtliche  Ablehnung  des  Papiergeldes  bei  einem  Angebot  oft  in 
der  Nähe  des  Ursprungslandes  machten  den  deutschen  Kaufleuten 
und  Bankiers  eine  Geldeinrichtung  erwünscht,  auf  die  sie,  als 
einen  festen  Punkt  in  der  Flucht  der  Konjunkturerscheinungen, 
ihre  Berechnungen  begründen  konnten.  Da  in  dem  Zollvereins- 
vertrag der  Artikel  aufgenommen  worden  war:  „Es  werden  die 
Vereinsregierungen  dahin  wirken,  daß  in  ihren  Landen  ein  gleiches 
Münzsystem  in  Anwendung  komme",  wurden  1838  in  Dresden  V^er- 
handlungen  gepflogen,  deren  Ergebnisse,  obwohl  sie  weit  davon 
entfernt  waren,  ein  gemeinsames  Geldwesen  zu  bringen,  doch 
einen  Fortschritt  bedeuteten.  Es  wurde  für  alle  Zollvereinsstaaten 
einerlei  Münzwert  festgelegt,  die  Kölnische  Mark  =  233,856 
Gramm  — ,  aus  der  14  Taler  oder  24  1/2  Gulden  ausgeprägt  werden 
sollten.  Außerdem  verpflichteten  sich  die  Länder,  die  Kurant- 
münzen  ungekürzt  auszubringen  und  nur  die  unvermeidbaren  ge- 
ringen Münzfehler  zuzulassen,  die  im  Verkehr  abgenutzten  Stücke 
an  ihren  Kassen  zum  vollen  Wert  anzunehmen  und  einzuziehen,  die 
Scheidemünzen  nach  dem  Bedarf  zu  kontingentieren  und  ihrem 
Wesen  gemäß  sie  der  Zahlkraft  über  eine  bestimmte  Höhe  hinaus 
zu  entkleiden.  Es  wurde  auch  eine  Vereinsmünze  im  Werte  von 
2  Tlr.  =  3  1/2  Gulden  geschaffen,  die,  im  Volksmunde  Champagner- 
taler genannt,  im  Zahlungsverkehr,  der  sie  nicht  ablehnen  durfte, 
keine  größere  Bedeutung  gewann  als  das  Champagnertrinken  in 
der  damals  noch  einfachen  Lebenshaltung  deutscher  Lande.  Der 
Vorschlag  der  sächsischen  Regierung,  für  den  Zollverein  das  Dezi- 
malsystem mit  einer  Münze  von  1/3  Tlr.  einzuführen,  hat  sich  erst 
33  Jahre  später  verwirklicht,  damals  war  er  nur  für  das  Königreich 
ein  praktischer,  sich  bewährender  Versuch,  dem  sich  Hannover, 
zugleich  mit  einer  Zehnteilung  des  Groschens,  anschloß.  In 
Preußen  zerfiel  der  Taler  in  30  Gr.  und  360  Pfg. 


V.  Geld-  und  Bankwesen. 


Der  Haupteinwand  gegen  die  Dresdener  Vereinbarung  be- 
stand gegen  den  Dualismus  von  Taler  und  Gulden.  In  den  süd- 
deutschen Staaten,  König  Ludwig  I.  voran,  war  man  überzeugt, 
daß  die  Wohlfeilheit  in  ihren  Gebieten  durch  das  Münzwesen  be- 
stimmt werde,  und  daß  man  nach  Annahme  des  Talers  in  ihnen 
so  viel  zu  bezahlen  haben  werde  als  in  Gulden  bisher.  Richtig 
war,  daß  in  dem  engen  abgeschlossenen  Wirtschaftsleben  mancher 
süddeutschen  Gegenden  örtliche,  vom  Herkommen  bedingte 
Preise  üblich  waren,  Arbeitslöhne  und  Kleinverkaufspreise  aus 
eigenen  Rohstoffen  hergestellter  Waren  niedriger  als  im  Rhein- 
land oder  Berlin  standen.  Soweit  die  Fernkonkurrenz  wirkte  oder 
der  Weltmarkt  mit  Baumwolle,  Gewürzen,  Zucker,  Kaffee,  Tabak 
in  Frage  stand,  überhaupt  es  sich  um  Gegenstände  handelte,  die 
in  Bayern  nicht  fabriziert  wurden,  war  die  Anschauung  falsch, 
wie  man  z.  B.  in  Norden  und  Süden  2  Tlr.  oder  3  1/2  Gulden  für 
eine  Flasche  Champagner  zu  zahlen  hatte. 

Die  Sicherstellung  des  14  Talerfußes  hatte  das  günstige  Er- 
gebnis, daß  1848  die  Mecklenburgs,  1856  Lübeck  und  Hamburg 
ihn  annahmen  mit  einer  Teilung  allerdings  in  48  bzw.  40  Schil- 
linge. In  den  übrigen  Staaten  des  Deutschen  Bundes  blieb  alles 
beim  alten.  Österreich  und  Lichtenstein  hatten  ihren  besonderen 
Guldenfuß,  Bremen  den  Goldtaler  =  1/5  Pistole,  Luxemburg  den 
holländischen  Gulden. 

Alle  Staaten  mit  der  Bremer  Ausnahme  hatten  die  Silber- 
währung. Die  Handelsstadt,  die  ihr  Gold  im  Handel  mit  England 
auszunutzen  suchte,  hatte  den  Nachteil,  daß  ihre  Münzen  im  nach- 
barlichen Verkehr  vom  Silberkurs  abhängig  waren,  so  daß  man 
bei  etwaigem  Kleingeldmangel  die  5  und  10  Groschenstücke  von 
Hannover  und  Oldenburg  nicht  gebrauchen  konnte.  Im  Sommer 
sammelten  die  ortsnahen  Bauern  beider  Länder  die  Bremer  Silber- 
linge  bei  der  Bezahlung  ihrer  Produkte  auf  und  brachten  sie  erst 
im  Winter  zu  ihren  Einkäufen  der  Stadt  wieder,  die  inzwischen 
unter  der  Knappheit  der  kleinen  Zahlungsmittel  litt.  Hamburg 
und  Lübeck  hatten  es  leichter,  indem  sie  den  preußischen  und 
mecklenburgischen  Münzen  einen  festen  Kurs  verleihen  konnten. 
Im  Großverkehr  bediente  sich  Hamburg  einer  auf  Feinsilber- 
barren begründeten  Bankrechnung,  der  Mark  banco,  die  dem  Giro- 
verkehr Festigkeit  verlieh. 

Die  umlaufenden  Goldmünzen,  die  Friedrichsdors,  Louisdors, 
Pistolen,  Dukaten  schwankten  nach  ihrem  Kurswert  zum  Silber. 
Nur  Preußen  hatte  für  die  seinigen  1832  einen  Kassenkurs  von 
5  2/3  Tlr.  festgelegt,  der  dem  Edelmetallverhältnis  von  1:15  ^/is 
entsprach.     Die   Dresdener   Vereinbarung   änderte   an   diesem   Zu- 


l82  IV'  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848 — 1871. 

Stande  nichts.  Es  gab  nirgends  eine  Doppelwährung,  höchstens 
konnte  von  einer  beschränkten  Parallelwährung  gesprochen  wer- 
den, da  gewisse  Zahlungen  in  Gold  bedungen  und  geleistet 
wurden. 

Daß  der  1853  zwischen  dem  Zollverein  und  Österreich  abge- 
schlossene Reziprozitätsvertrag  keinen  sonderlichen  Erfolg  zeigte, 
hatte  in  der  Währungsverschiedenheit  beider  Gebiete  einen  mit- 
bestimmenden Grund.  Österreich  hatte  Mitte  der  fünfziger  Jahre 
Papiergeld  mit  starkem  Disagio  gegen  Silber.  Jede  weitere  Ent- 
wertung des  Papierguldens  wirkte  wie  ein  steigender  Schutzzoll 
des  Emissionslandes,  und  der  Wechselkurs  zum  Zollverein  war 
im  voraus  unberechenbar  und  stark  schwankend.  Daher  wurde 
wiederholt  der  Versuch  gemacht,  die  Barzahlung  aufzunehmen  und 
die  Initiative  zu  einem  Münzvertrag  ergriffen,  der,  als  er  1857  ab- 
geschlossen wurde,  auch  für  die  Zollvereinsstaaten  bedeutungsvoll 
wurde.  Die  Münzmark  wurde  jetzt  das  neuzeitliche  metrische  Zoll- 
pfund, aus  dem  30  Tlr.  oder  45  österreichische  oder  52 1/2  süd- 
deutsche Gulden  ausgeprägt  wurden,  was  eine  Gewichtsminderung 
um  0,220/0  brachte.  Die  Legierung  wurde  auf  die  erprobte  Rate  von 
1/10  Kupfer  und  ^/-^q  Silber  geregelt.  Ein  anderes  Zugeständnis  an 
das  Dezimalsystem  war  unter  Beseitigung  künftiger  sonstiger '  Gold- 
ausprägung eine  Goldmünze  von  10  Gramm  für  alle  Vertrag- 
schließenden, die  als  Handelsmünze  ohne  gesetzliche  Zahlungs- 
kraft und  ohne  Annahmezwang  bei  der  Staatskasse  für  den  Aus- 
landsverkehr gedacht  wurde.  Endlich  wurden  einige  Bestim- 
mungen über  die  technische  Seite  des  Münzwesens  getroffen  und 
die  Vereinstaler  nach  dem  30  Talerfuß  geschaffen,  die  mit  den 
nötigen  Bürgschaften  für  ihren  Silbergehalt  ausgestaltet  worden 
waren.  Diese  vertragsmäßige  Währungsmünze  neben  dem  bis- 
herigen Geld  sowie  die  neuen  Goldkronen  hatten  keinen  prak- 
tischen Erfolg.  Der  Verkehr  des  Zollvereins  mit  der  Donau- 
monarchie wurde  nicht  gehoben,  da  der  Krieg  mit  Frankreich 
1859  wiederum  zur  Papiergeldausgabe  trieb,  und  der  Krieg  von 
1866  den  Vertrag  löste,  was  1867  zur  besonderen  Anerkennung 
kam.  Der  Vereinstaler  verdrängte  auch  im  Zollverein  die  groben 
Landessilbermünzen  nicht,  obwohl  er  dadurch  bevorrechtigt 
wurde,  daß  Verträge,  auf  Landeswährung  lautend,  in  ihm  beglichen 
werden  konnten,  während  die  auf  ihn  gestellten  allein  in  ihm  er- 
füllt werden  mußten.  Die  neuen  Kronen  waren  in  ihrer  spar- 
samen Ausprägung  für  die  künftige  Goldwährung  kein  Vorbild, 
da  sich  der  Außenhandel  ihrer  nicht  bediente.  Zu  überseeischen 
Zahlungen  war  man  im  Zollverein  auf  die  Vermittlung  Englands 
angewiesen,   in   europäischen   auch   auf  die   von   Paris.     Hier   war 


V.  Geld-  und  Bankwesen.  183 


auch  der  größte  Markt  für  internationale  Darlehen,  der  erst  um 
1870  von  London  übernommen  worden  ist,  als  Frankreich  durch 
den  Krieg  in  Währungs-  und  Finanzschwierigkeiten  geraten  war. 

Im  Zollverein  verlangte  der  Geschäftsaufschwung  nach  1850 
eine  steigende  Ausprägung  von  Silberkurantmünzen,  der  leicht 
entsprochen  werden  konnte.  Da  diese  Vermehrung  ihm  nicht  ge- 
nügte, mußten  papierene  Umlaufsmittel  als  Kreditscheine  den  Be- 
darf decken. 

Das  deutsche  Wirtschaftsleben  hatte  es  nach  1815  nur  in  den 
größeren  Städten  wie  Berlin,  Frankfurt  a.  M.,  Nürnberg,  Augs- 
burg, Hamburg  zu  einer  umfassenderen  Kreditorganisation  ge- 
bracht, die  auf  Wechselhandel,  Girobanken  oder  einer  bescheidenen 
Banknotenausgabe  beruhte.  Das  Diskont-  und  Lombardgeschäft 
war  ganz  rückständig.  In  einem  so  agraren  Lande,  wie  es  Deutsch- 
land damals  war,  galt  der  landwirtschaftliche  Immobiliarkredit 
für  das  wichtigste,  und  damit  hing  es  zusammen,  daß  die  mit  der 
Notenausgabe  betrauten  Institute  Notenkapitalien  gegen  Verpfän- 
dung des  Grundbesitzes  ausliehen.  Nur  die  Geringfügigkeit  des 
Geschäftes  ließ  den  hiermit  verbundenen  Mangel  an  erforderlicher 
Liquidität  nicht  zu  sehr  empfinden. 

In  Preußen  war  die  von  Friedrich  dem  Großen  begründete 
Königliche  Bank  eine  reine  Staatsbank,  die  nach  der  Katastrophe 
von  1806  reorganisiert,  das  Privilegium  der  Notenausgabe  allein 
besaß.  Dazu  kam  1823  der  Kassenverein  in  Berlin  und  die  ritter- 
schaftliche Privatbank  in  Stettin,  denen  ein  geringer  Betrag  noten- 
ähnlicher Papiere  zugestanden  wurde.  Der  erstere,  zum  Giro-  und 
Inkassoverkehr  begründet,  gab  Depositenscheine  aus,  für  die  seine 
Mitglieder  solidarisch  hafteten,  und  die  dem  Vorzeiger  gegen  bar 
eingelöst  wurden. 

Bei  der  Menge  des  aus  der  Kriegszeit  vorhandenen  staat- 
lichen Papiergeldes  hielt  die  Regierung  in  den  dreißiger  Jahren 
die  Banknoten  für  einen  schädlichen,  überflüssigen  Zirkulations- 
luxus und  ließ  sie  durch  hohe  Stempelgebühren  und  Konzessions- 
erschwerungen aus  dem  Verkehr  verschwinden.  Die  Verschieden- 
heit zwischen  ihr  und  dem  vorhandenen  Papiergeld  wurde  nicht 
erkannt.  Denn  während  dieses  eine  unveränderliche,  von  der  Zu- 
verlässigkeit der  Staatsverwaltung  im  Wert  abhängige  Summe  dar- 
stellte, konnte  jene,  richtig  in  der  Deckung  und  der  Ausgabe  ge- 
handhabt, eine  elastische  Menge,  die  sich  dem  volkswirtschaft- 
lichen Bedarf  anpaßt,  werden. 

In  Bayern  entstand  1834  die  auf  einem  Aktienkapital  be- 
ruhende Bayerische  Hypotheken-  und  Wechselbank,  die,  wie  der 
Name    sagt,    den    verschiedenen    Kreditwünschen   des    Königreichs 


iSa  ^^'  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848 — 1871. 

entsprechen  sollte  und  das  Monopol  der  Notenausgabe  erhielt. 
1838  folgte  für  Sachsen  die  Leipziger  Bank  mit  ebenfalls  viel- 
seitigen Aufgaben,  wenn  auch  unter  Zurücktreten  des  Hypotheken- 
geschäftes. Auch  in  Lübeck  gab  die  Diskontokasse  Kassenan- 
weisungen aus,  die  als  Banknoten  gelten  können. 

Als  nun  die  neue  Wirtschaftsära  mit  ihrem  konzentrierten 
Bedarf  nach  rasch  verlangtem  Kapital  heraufkam,  erhob  das  Dis- 
kont- und  Lombardgeschäft  seine  Ansprüche,  denen  die  Privat- 
bankiers und  die  wenigen  Notenbanken  nicht  genügten.  Daneben 
drängte  die  schwerfällige  Silberwährung  zur  Ausgabe  bequemerer 
Zahlungs-  und  Tauschmittel  für  den  mittleren  und  den  Reise- 
verkehr. 

Die  private  Initiative  zur  Gründung  von  Notenbanken  er- 
schien auf  dem  Plan,  da  der  Staat  sich  zurückhielt.  Bis  1850 
waren  nur  wenige  Anstalten  von  örtlicher  Bedeutung  zu  den  be- 
stehenden hinzugekommen. 

Die  preußische  Regierung  verstand  in  dem  früheren  Präsi- 
denten der  Königlichen  Bank,  dem  Minister  R  o  t  h  e  r ,  die  Zeichen 
der  Zeit,  und  als  in  Dessau  eine  Privatbank  sich  zu  bilden  an- 
schickte, die  offenbar  mit  ihren  Notengeschäften  auf  preußisches 
Gebiet  überzugreifen  trachtete,  schritt  sie  1846  zur  Umbildung 
ihres  Bankwesens  und  schuf  die  Preußische  Bank,  eine  unter 
staatlicher  Leitung  und  Aufsicht  stehende  Aktiengesellschaft.  Der 
Staat  beteiligte  sich  mit  einer  Million  Tlr.  an  dem  Betriebskapital. 
Dem  kaufmännischen  Einfluß  auf  die  Geschäftsführung  wurde 
durch  den  aus  Großgewerbetreibenden  zusammengesetzten  Ge- 
schäftsausschuß Rechnung  getragen,  dem  analoge  beratende  Kol- 
legien bei  den  Zweiganstalten,  die  durch  das  ganze  Königreich 
verteilt  wurden,  zur  Seite  standen.  Eine  Kontinuität  mit  der 
alten  Staatsbank  war  insofern  vorhanden,  als  ihre  Beamten  über- 
nommen wurden,  der  Effektenbesitz  der  Vergangenheit  behalten 
wurde,  gerichtliche  Depositen  auch  ihr  zuflössen,  und  sie  im 
Dienst  der  staatlichen  Kassenverwaltung  weiter  tätig  blieb.  Die 
Notenausgabe  wurde  auf  21  Millionen  Tlr.  als  Maximum  be- 
messen. Ein  Drittel  mußte  bar,  das  übrige  in  Wechseln,  Lom- 
bardforderungen, Staatsschuldscheinen   gedeckt  sein. 

Die  weitere  Entwicklung  des  Banknotenwesens  in  Deutsch- 
land ist  interessant,  weil  sie  zeigt,  wie  sich  nach  mancherlei  Ver- 
suchen unter  Ausscheidung  alles  Unbrauchbaren  das  herausge- 
bildet hat,  was  der  Volkswirtschaft  als  einem  Ganzen  passend 
war.  Die  Staatsverwaltung  hat  über  die  private  den  Sieg  davon- 
getragen, die  Vereinheitlichung  über  die  selbständige  Vielheit,  die 


V.  Geld-  und  Bankwesen.  185 


unbeschränkte  Notenausgabe  mit  Kautelen  über  die  direkte  Kon- 
tingentierung. 

Was  sich  schon  während  der  fünfziger  Jahre  in  der  Haupt- 
sache durchsetzte,  war  die  Abscheidung  des  Immobiliarkredits  von 
der  Notenausgabe.  Außerdem  wurde  damals  von  den  größeren 
Banken  dem  Bedürfnis  nach  der  allgemeinen  Verbreitung  der 
Banknote  durch  Zweiganstalten  entsprochen. 

Das  Jahr  1848  hat  in  zweifacher  Weise  auf  das  Banknoten- 
wesen eingewirkt.  Unter  der  Unsicherheit  der  Revolutionszeit 
war  ein  Mangel  an  Zahlungsmitteln  entstanden.  In  Preußen  half 
man  sich  mit  staatlichen  Darlehnskassen,  die  gegen  Pfandsicher- 
heit Staatspapiergeld  ausgaben.  Nur  in  Breslau  gelang  es,  für 
eine  städtische  Bank  der  Regierung  das  Notenausgaberecht  abzu- 
trotzen, und  auch  der  Chemnitzer  Stadtbank  war  ähnlich  von 
Sachsen  willfahrt  worden.  Man  schloß  irrigerweise  aus  dem  vor- 
übergehenden Nutzen  dieser  Institute  in  der  Notlage  auf  die 
Zweckmäßigkeit  solcher  Einrichtungen  überhaupt. 

Das  Prinzip  der  freien  Notenbankgründung  —  das  war  das 
zweite  —  wurde  in  manchen  Kreisen  während  der  fünfziger  Jahre 
als  eine  Forderung  des  liberalen  Bürgertums  aufgefaßt,  die  1848 
eigentlich  schon  hätte  bewilligt  werden  müssen.  Die  Parteigegen- 
sätze prallten  auch  auf  diesem  Gebiete  hart  aufeinander.  Im 
preußischen  Abgeordnetenhause  folgten  die  städtischen  Liberalen 
dem  Abgeordneten  H  a  r  k  o  r  t ,  die  ländlichen  dem  Verteidiger 
des  erleichterten  Kredits  der  Grundbesitzer  v.  Lavergne- 
Peguilhen.  Literarisch  war  der  Statistiker  und  Nationalökonom 
Otto  Hübner  für  die  Notenfreiheit  tätig.  Lavergne  empfahl 
zuerst  1851,  dann  1857  die  Errichtung  von  Hypotheken-,  Spar- 
und  Leihbanken  in  den  einzelnen  Regierungsbezirken  mit  der  Be- 
fugnis,  Noten   gegen   Verpfändung   von    Pfandbriefen   auszugeben. 

Das  Wesen  der  Banknote  wurde  auch  jetzt  noch  nur  unvoll- 
kommen erkannt.  Da  sie  als  allgemeines  Tausch-  und  Zahlungs- 
mittel verwendet  werden  sollte,  so  mußte  der  Grundsatz  des 
Geldes,  die  staatliche  Ordnung  und  Zuverlässigkeit,  in  ihre  Aus- 
gabe aufgenommen  werden,  und  ebenso,  wie  man  die  Einheit  des 
Geldes  für  den  ganzen  Zollverein  forderte,  mußte  die  Logik  auch 
zu  einer  einheitlichen  Banknote  führen.  Bei  der  Notenfreiheit 
stand  beides  nicht  zu  erwarten.  So  kam  es  zum  Schaden  des 
deutschen  Wirtschaftslebens  zunächst  zu  unfruchtbaren  Experi- 
menten, teils  auf  Antreiben  des  Doktrinarismus,  teils  aus  Profit- 
sucht der  nach  1850  erstarkten  Geldmächte,  teils  aus  Eigenwillig- 
keit der  Kleinstaaten.  Berliner,  Frankfurter,  Kölner  Bankhäuser, 
die    Bleichröder,     Hansemann,    Erlanger,     Mewissen,     Oppenheim 


l86  ^^-  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848 — 187 1. 

traten  an  die  Regierung  mit  ihren  Vorschlägen  heran.  Zunächst 
ohne  Erfolg  in  Preußen.  Die  Kleinstaaten  waren  nachgiebiger.  Es 
entstanden  als  Aktienbanken  mit  Notenausgaberecht  die  Rostocker, 
die  Bank  für  Süddeutschland  in  Darmstadt,  die  Frankfurter, 
Geraer,  Gothaer,  Weimarer,  thüringische  in  Sondershausen, 
niedersächsische  in  Bückeburg,  mitteldeutsche  in  Meiningen, 
braunschweigische,  hannoversche,  Lübecker  und  Bremer.  Manche 
waren  für  ihr  Landesgebiet  zu  groß,  suchten  daher  bei  den  großen 
Nachbarn,  Preußen,  Bayern,  Sachsen  ihre  Zettel  zu  vertreiben.  Hier 
erwehrte  man  sich  zuerst  der  Überschwemmung  mit  „wilden 
Scheinen"  dadurch,  daß  man  den  Umlauf  der  kleinen  Abschnitte 
verbot,  dann,  als  nun  um  so  mehr  größere  hereinströmten,  auch 
diese  ausschloß.  So  entstand  ein  Kampf  aller  gegen  alle,  der  den 
eigentlichen  Zweck  der  Einrichtung,  den  Verkehr  zu  erleichtern, 
aufhob. 

In  Preußen  waren  schon  1846,  dann  wiederum  1848  Nor- 
mativbestimmungen für  Privatnotenbanken  erlassen,  doch  war  nur 
eine  Konzession  in  Köln  erteilt  worden.  Die  preußische  Bank  be- 
währte sich,  was  auch  ihre  Gegner  zugaben,  obwohl  sie  sich  von 
dem  Privatsystem  mehr  versprachen.  Als  nun  1856  der  Minister 
V.  d.  H  e  y  d  t  für  sie  einen  Gesetzentwurf  des  unbeschränkten 
Notenausgaberechts  und  eine  Erhöhung  des  Aktienkapitals  vor- 
legte und  eine  erweiterte  Tätigkeit  in  Aussicht  nahm,  die  mit  der 
Einziehung  etwa  der  Hälfte  des  zirkulierenden  Papiergeldes  im 
Interesse  des  Staatskredits  begründet  wurde,  konnte  dies  die  Re- 
gierung ohne  Verständigung  mit  dem  Notenliberalismus  nicht 
durchsetzen.  So  wurden  die  Magdeburger  Privatbank,  die  Königs- 
berger, die  Danziger  und  die  des  Großherzogtums  Polen  zuge- 
lassen, denen  weiterhin  eine  Milderung  der  bestehenden  gesetz- 
lichen Vorschriften  zuteil  wurde.  Jede  war  an  das  Emissions- 
maximum von  einer  Million  Tlr.  gebunden,  die  Annahme  verzins- 
licher Depositen   wurde   gestattet. 

Zu  den  bisher  genannten  Privatbanken  sind  in  den  sechziger 
und  am  Anfang  der  siebziger  Jahre  noch  einige  wenige  hinzuge- 
kommen, wie  die  sächsische  Bank  in  Dresden,  der  Leipziger 
Kassenverein,  die  württembergische,  oldenburgische,  badische. 

Im  allgemeinen  schlug  nach  1857  die  Stimmung  zu  einer 
Gegnerschaft  gegen  die  privaten  Zettelbanken  um.  Die  Banken 
konnten  teilweise  ihrer  Einlösungspflicht  in  der  Krise  dieses 
Jahres  nicht  genügen,  da  sie  Geschäfte  betrieben  hatten,  die  eine 
Liquidität  nicht  verbürgten  und  sich  sogar  auf  die  Effekttenspeku- 
lation  eingelassen  hatten.  Aus  Mangel  an  Mitteln  stellten  viele 
die  Diskontierung  ein,  gerade  als  sie  am  wichtigsten  war.  Mehrere 


VI.  Die  Wirtschaftskrise  von   1857.  187 

kamen  um  Staatshilfe  ein,  die  ihnen  nicht  versagt  wurde.  Das 
alles  sprach  zugunsten  der  Staatsverwaltung.  Andererseits  hatte 
die  preußische  Bank  die  erste  große  kapitalistische  Katastrophe 
des  deutschen  Wirtschaftslebens  gut  überstanden.  Abgesehen  von 
ihrer  vorsichtigen  Verwaltung  und  der  Unterlassung  jeder  Speku- 
lation, verdankte  sie  es  dem  bei  ihr  eingeführten  „Prinzip  der 
bankmäßigen  Deckung".  Sie  hatte  1/3  bar  zu  halten  und  die  üb- 
rigen Noten  nur  in  guten  Wechseln  anzulegen,  die  bei  ihrer  kurzen 
Verfallzeit  und  bei  der  Möglichkeit  der  Rediskontierung  am  leich- 
testen unter  den  sonstigen  privaten  Kreditpapieren  sich  in  Geld 
zurückverwandeln  lassen.  Der  Notenumlauf  war  in  der  Periode 
der  Hochkonjunktur  von  19  V2  auf  74  Millionen  Tlr.  gestiegen 
und  hatte  dem  Bedürfnis  der  Zeit  entsprochen.  Es  vollzog  sich 
ohne  Schwierigkeit,  daß  die  Ziffer  in  den  Jahren  des  Niederganges 
entsprechend  einschrumpfte. 

Es  war  also  bewiesen  worden,  daß  die  Zentralbank  die  Fähig- 
keit besaß,  sich  den  Phasen  des  Wirtschaftslebens,  die  unabhängig 
von  ihr  vorhanden  sind,  anzupassen.  Die  moderne  Notenbank  hat 
die  Aufgabe,  die  in  den  Verkehr  eingegangenen,  noch  nicht  fäl- 
ligen Wechselforderungen  in  Banknoten  umzuwandeln,  soweit  sie 
als  Zahlungsmittel  nötig  werden.  Ein  Kreditmittel  wird  also  durch 
ein  anderes  ersetzt,  das  die  Tausch-  und  Zahlungsmitteleigenschaft 
vollkommener  besitzt.  Die  Bankgesetzgebung  hat  dafür  zu  sorgen, 
daß  dies  geschieht,  ohne  daß  der  Wert  der  Noten  im  Verkehr  an- 
gezweifelt wird. 

VI.  Die  Wirtschaftskrise  von  1857.  Den  industriellen 
Kreislauf,  in  dem  sich  England  bis  in  die  Mitte  des  19.  Jahrhun- 
derts wiederholt  bewegt  hatte:  Geschäftsauf schwung,  Hochkon- 
junktur, Überspekulation,  Krise,  Geschäftsniedergang  bis  zu  einem 
Tiefpunkt,  kannte  Deutschland  bisher  nicht.  Die  Stockung,  die 
1847  in  England  so  tief  eingriff,  zog  wohl  kauf  männische  Geschäfte 
in  einer  Anzahl  deutscher  Städte  in  den  Strudel  hinein,  die 
Effektenmärkte  verzeichneten  Kursverluste,  und  einige  Fabriken 
wurden  fallit.  Aber  damit  hatte  die  Störung  ihr  Bewenden,  die  ,nur 
ein  fester  Anstoß  von  außen  gewesen  war,  nicht  eine  Explosion 
aus  eigener,  innerer  Spannung.  In  dem  folgenden  Jahrzehnt  war 
die  industriell  kapitalistische  Kraftentfaltung,  besonders  in 
Kohlen,  Eisen  und  Stahl  eine  ganz  andere  geworden,  die  Erspar- 
nisse und  Verwendungen  zu  produktiven  Zwecken  waren  ins  Große 
gegangen,  der  Kredit  war  in  neuen  Formen  auf  dem  Markt  er- 
schienen, so  daß  Deutschland  aus  sich  heraus  eine  Hochkonjunktur 
gebar,  deren  Übertreibung  zu  einem  jähen  Umschlag  führte. 


l88  IV.  Absclinitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848 — 187 1. 

Die  agrarischen  Teile  des  Landes  verheerte  die  Krise  weniger 
als  die  industriellen,  und  erstere  waren  1857  zahlreicher  und  aus- 
gedehnter als  bei  der  nächsten  von  1873.  Bayern  wurde  weniger 
betroffen  als  das  Rheinland  und  Westfalen,  Sachsen  und  Berlin 
mehr  als  die  östlichen  Provinzen  Preußens,  wo  allerdings  das 
Spiritusgeschäft  direkt,  mittelbar  auch  die  Getreideausfuhr  nicht 
unbehelligt  blieben.  Überall  litten  die  Mittelpunkte  des  Handels, 
Hamburg,  Frankfurt,  Leipzig,  ebenso  alle  Börsenplätze.  Die  In- 
tensität der  Bewegung  äußerte  sich  darin,  daß  der  Übergriff  in 
das  Handwerk  und  den  Kleinhandel  nicht  ausblieb,  daß  vielerorts 
Arbeiter  und  Gesellen  entlassen  wurden,  daß  die  Verbraucher  all- 
gemein sich  einschränken  mußten,  wo  das  verkehrsmäßige  Wirt- 
techaftsleben  vorherrschte. 

Die  Phase  des  Aufschwunges  beginnt  ein  bis  zwei  Jahre  nach 
der  Revolution,  die  lebhafte  Tätigkeit  dauert  bis  1857,  der  Nieder- 
gang nach  der  Krise  dieses  Jahres  ist  am  Anfang  der  sechziger 
Jahre  überwunden,  worauf  ein  neuer  Kreislauf,  erst  accelerando, 
dann  rallentando,  und  wenn  auch  nicht  mit  denselben  Zeiträumen, 
so  doch  in  den  gleichen  Rhythmen:  Andante,  Allegro,  Prestissimo, 
Adagio,  Largo  einsetzt.  Die  ganze  Bewegung  kann  man  auch  mit 
einem  kunstvoll  aufgebauten  Drama  und  seiner  Peripetie  ver- 
gleichen, das  dem  individuellen  oder  dem  Völkerleben  nachge- 
bildet, also  etwas  allgemein  Menschliches  ist. 

Der  Zusammenhang  mit  den  Auslandsstockungen  wurde 
durch  den  Großhandel  vermittelt,  der  im  Zollverein  erstarkt  war. 
1834  hatte  die  verzollte  Einfuhr  105  Millionen  Tlr.,  die  Ausfuhr 
143  betragen.  1857  waren  die  entsprechenden  Zahlen  354  und  353 
»geworden. 

Die  deutschen  Kapitalien  strömen  nach  der  Beendigung  der 
Revolution  unter  der  neugewonnenen  politischen  Sicherheit  leb- 
haft dem  Eisenbahnbau  zu.  Von  diesem  Mittelpunkte  aus  belebt 
sich  die  Nachfrage  nach  allen  Betrieben  hin,  die  mit  ihm  auch 
noch  so  mittelbar  zu  tun  haben  und  bei  dem  allgemein  steigenden 
Einkommen  auch  nach  solchen,  die  dem  menschlichen  Verbrauch 
an  Lebens-  und  Genußmitteln  dienen.  Der  Preisstand  wird  ge- 
hoben, und  die  Aussicht  auf  Gewinn  zieht  das  spekulative  Kredi- 
tieren, erst  in  besonnener,  dann  in  lebhaft  leichtfertiger  Weise  in 
bisher  ungeübten  Formen  in  den  volkswirtschaftlichen  Kreislauf 
hinein,  um  es  zu  einem  neuen  Schwungrad  werden  zu  lassen.  Der 
Zins  geht  als  Warnung  in  die  Höhe,  man  glaubt  ihn  aus  steigenden 
Einnahmen  befriedigen  zu  können.  Schließlich  gerät  die  über- 
hastete Maschinerie  aus  den  Bändern,  Achsen  und  Fugen.  In  den 
führenden    Industrien    kommt    es    zur    Überkapitalisation,    da    der 


VI.  Die  Wirtschaftskrise  von   1857,  ign 

künftige  Gesamtbedarf  überschätzt  wird,  die  Überproduktion  an 
Waren  ist  plötzlich  da,  die  Nachfrage  seitens  der  betroffenen 
Geschäfte  setzt  aus,  und  der  Ausfall  wälzt  sich  wellenförmig  fort. 
Die  Preise  sinken,  die  fälligen  Wechsel  und  Zinsen  können  nicht 
bezahlt  werden,  Bankerotte  schließen  sich  an.  Der  Großhandel 
sieht  ein  unrealisierbares  Kapital  entwertet  und  vermag  seine  Außen- 
stände nicht  einzuziehen.  Unternehmungen,  selbst  gesicherter  Art, 
erhalten  nirgends  Geld,  da  jedermann  das  seinige  in  die  Kasse 
einschließt,  um  bevorstehenden  Ansprüchen  zu  genügen. 

Damit  die  Ausdehnung  der  Geschäfte  hatte  Platz  greifen 
können,  waren  ihr  entsprechende  kapitalistische  Formen  die  Vor- 
aussetzung gewesen,  Aktien-  und  ähnliche  Gesellschaften,  der  Bank- 
kredit im  großen,  die  Effektenemission.  In  den  vier  Jahren  1853 
bis  1857  entfiel  nach  M.  Wirth  auf  die  in  deutschen  Landen  ge- 
gründeten Bankaktiengesellschaften  ein  Kapital  von  über  200  Mil- 
lionen Tlr.,  auf  die  Eisenbahnen  von  140  und  auf  Bergwerks-, 
Hütten-,  Dampfschiffahrts-  und  Maschinenbaugesellschaften, 
Zuckersiedereien  und  Spinnereien  ein  solches  von  über  130 
Millionen.  Dazu  kamen  206  Millionen  Tlr.  Prioritäts-Obli- 
gationen für  die  gesamten  fünfziger  Jahre.  1856  wurden 
in  Preußen  allein  Gesellschaften  mit  einem  Betrage  von 
150  Millionen  konzessioniert.  Der  Gründungsparoxismus  wird  da- 
durch in  das  rechte  Licht  gestellt,  daß  in  dem  Königreich  von 
1850 — 1870  800  Millionen  in  neuen  Aktien  ausgegeben  wurden,  die 
Hälfte  davon  allein  von  1853 — 1857.  In  Baden  gab  es  um  die 
Mitte  der  dreißiger  Jahre  nur  ganz  vereinzelte  kleine  Aktiengesell- 
schaften, im  Verlaufe  der  fünfziger  Jahre  meldet  ein  zuverlässiger 
Beobachter,  daß  sie  als  größere  wie  Pilze  aus  dem  Boden  ge- 
schossen seien.  In  Sachsen  kannte  man  1850  nur  10,  3  davon  in 
Leipzig,  von  1851  — 1870  wurden  57  mit  90  Millionen  M.  zugelassen. 
Man  zog  damals  den  eilfertigen  Schluß,  daß  die  Krise  der  Tatsache 
der  Aktiengesellschaft  entsprungen  sei.  Man  übersah,  daß  diese 
Kapitalassoziation  nur  eine  Form  der  neuen  Unternehmungen  war, 
und  daß  sie  für  den  Großhandel  keine  Bedeutung  hatte.  Ihre 
Zurückschraubung  würde  nur  zu  formell  sie  umgehenden  neuen 
Einrichtungen  geführt  haben,  da  das  Bedürfnis  zur  Kapitalanlage 
fortbestand. 

Die  Zunahme  des  Reichtums  in  der  deutschen  Volkswirtschaft 
läßt  sich  auch  aus  der  Gründung  der  Versicherungsgesellschaften 
ersehen,  von  denen  zwischen  1850  und  60  an  50  mit  60  Millionen 
Tlr.  entstanden.  Da  dieser  Geschäftszweig  unter  dem  Prinzip 
„der  großen  Zahl"  steht,  mußte  er  von  Anfang  an  auf  bedeu- 
tenden Kapitalien  aufgebaut  werden.    In  dem  Maße,  als  die  Nation 


IQO  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848 — 1871. 


wohlhabender  wurde,  schwollen  die  Aktiva  und  Passiva  der  Lebens-, 
Feuer-,  Unfall-  und  Haftpflicht-,  der  landwirtschaftlichen  usw.  Ver- 
sicherungsanstalten, auf  Aktien  und  auf  Gegenseitigkeit  errichtet, 
an,  die  man  191 1  auf  6 1/2  Milliarden  M.  berechnete.  Das  Ge- 
schäft war  so  umfangreich  geworden,  daß  im  gleichen  Jahr  allein 
30  Rückversicherungsgesellschaften  nötig  wurden,  um  die  einge- 
tretenen Schäden  möglichst  zu  verteilen. 

Es  wurde  auch  die  Banknote  angeklagt,  daß  sie  die  Ver- 
kehrsstockung durch  zu  leichten  Wechselkredit  verursacht  hätte. 
Man  verwechselte  die  mißbräuchliche  Anwendung  eines  an  sich 
wertvollen  Mittels  des  wirtschaftlichen  Fortschrittes  mit  dem  all- 
gemeinen Vorwärtsdrängen,  das  sich  aus  zahlreichen  inneren  An- 
regungen Kraft  gesogen  hatte.  Die  Klagen  über  die  Massen- 
haftigkeit  der  Gefälligkeitswechsel,  der  Wechselreiterei  trafen  zu- 
dem die  Notenbanken  weniger  als  gewissenlose  Privatbankiers 
und  Kaufleute.  Der  Kreditmißbrauch  hatte  die  Spannung  ver- 
stärkt, aber  keineswegs  geschaffen.  Industrie  und  Handel  hatten 
Banken  verschiedener  Art  nötig,  um  diejenige  Elastizität  zu  ge- 
winnen, die  die  große  nationale  und  internationale  Geschäftslage 
erforderte.  Die  Gründung  von  industriellen  und  Bahn-Aktiengesell- 
schaften konnte  nur  gelingen,  wenn  die  Kapitalien  rasch  und  sicher 
zusammengebracht  wurden,  die  tätigen  Unternehmungen  bedurften 
der  Diskontierung  und  Lombardierung,  des  Depositenverkehrs,  des 
Kontokorrentkredits,  der  erleichterten  Zahlungsmethoden,  um  in 
Bewegung  zu  bleiben. 

Der  Privatbankier,  dessen  Geschäft  der  zwanziger  Jahre  wir 
kennen  gelernt  haben,  hatte  zwar  die  neue  Zeit  verstanden  und 
mit  dem  Eisenbahnbau  sein  Emissionsgeschäft  von  den  staatlichen 
Fonds  auf  die  Aktien  übertragen,  insbesondere  in  Berlin,  wo  die 
Firmen  S.  Bleichröder  und  Mendelson  &  Co.  hervorragen, 
in  Köln  mit  dem  Haus  A.  Oppenheim  und  A.  Schaaf- 
hausen,  weniger  in  Frankfurt  a.  M.  Hier  brachte  der  Kurszettel 
1847  nur  12  Bahnaktien,  während  in  Berlin  33  notiert  wurden. 
Man  glaubte  mit  den  Staatsobligationen  ein  solideres  Geschäft  zu 
pflegen,  hielt  auch  deshalb  so  zähe  an  ihnen  fest,  weil  man  sich 
Weltbörse  nannte,  auf  der,  wie  in  London,  Paris  und  Wien,  die 
geldbedürftigen  Staatsregierungen  zusammenkamen.  Nach  der 
Revolution  von  1848  meinte  man  durchaus  das  Richtige  getroffen 
zu  haben,  da  in  Berlin  die  Aktienspekulation  zusammengebrochen 
war,  die  einige  Jahre  lang  hier  floriert  hatte.  Bis  1866/70  blieb 
Frankfurt  der  erste  deutsche  Platz  für  Staatspapiere  unter  der 
Ägide  des  Hauses  Rothschild,  unter  die  die  Aktien  nicht  unterzu- 
schlüpfen vermochten. 


VI.  Die  "Wirtschaftskrise  von   1857.  igi 


Die  Mittel  der  Privatbankiers  reichten  für  das  vergrößerte 
Geschäft  einerseits  jetzt  nicht  mehr  aus,  andererseits  war  ihnen 
gegenüber  das  Publikum  skeptisch  geworden,  da  auffallende  Zah- 
lungseinstellungen die  Sparer  ihnen  entfremdet  hatten.  Dem  neuen 
Bedürfnis  haben  die  nicht  ganz  richtig  so  benannten  Effekte n- 
banken  entsprochen,  allerdings  zunächst  mit  einem  Geschäfts- 
gebahren,  das  ihre  großen  Gewinne  mit  ihren  volkswirtschaft- 
lichen Pflichten  nicht  in  Übereinstimmung  brachte.  Die  uner- 
fahrenen Aktienzeichner  waren  ebenso  wie  die  späteren  Aktien- 
käufer die  Leidtragenden,  als  die  Banken  dem  volkswirtschaft- 
lichen Bedarf  nicht  mehr  dienten,  sondern  nur  der  Agiotage,  um 
verfügbare  Gelder  zu  beschäftigen.  Es  bedurfte  erst  der  Erfah- 
rung der  Kapitalisten  und  des  geschärften  Verantwortlichkeits- 
gefühls der  Direktoren  und  Aufsichtsräte,  bis  leidlich  planmäßige 
Ordnung  in  die  Gründungen  der  Banken  und  deren  Verwaltung 
hineinkam,  die  in  den  ersten  25  Jahren  des  deutschen  großen 
Aktienwesens  nur  unvollkommen  erreicht  wurde. 

Von  den  Effektenbanken  der  fünfziger  Jahre  ist  die  1853 
errichtete  Bank  für  Handel  und  Industrie,  kurz  die  '  D  a  r  m  - 
Städter  Bank  genannt,  in  gutem  und  schlechtem  Sinne  die  be- 
kannteste geworden.  Allerdings  waren  bereits  1 848  der  A.  S  c  h  a  a  f  - 
hausen  sehe  Bankverein  in  Köln  und  185 1  die  Diskonto - 
gesellschaft  in  Berlin  entstanden,  letztere  trat  erst  1856  aus 
dem  engeren  Rahmen  der  reinen  Kreditbank  für  geringere  An- 
sprüche heraus,  während  der  erstere,  der,  aus  der  falliten  Firma 
des  Gründers  hervorgegangen,  eine  Reihe  von  Jahren  gebrauchte, 
um  größeren  Geschäften  gewachsen  zu  sein.  Die  Mittel- 
deutsche Kreditbank  und  die  Berliner  Handels- 
gesellschaft blieben  nach  ihrer  Gründung  1856  zunächst  auf 
zu  mäßige  Kapitalien  beschränkt,  um  damals  die  genannte  wirt- 
schaftliche Entwicklung  entscheidend  mitbestimmen  zu  können. 

Das  Kapital  der  Darmstädter  Bank  war  für  die  damalige  Zeit 
hoch,  25  Millionen  Gulden,  unter  auf  das  Doppelte  geplanter  Er- 
höhung, durch  welche  jedoch  die  Krise  von  1857  einen  Strich  zog. 
Das  Vorbild,  hieß  es,  sei  der  Credit  mobilier  der  Gebrüder  Pereire 
gewesen.  Eine  genaue  historische  Untersuchung  hat  ergeben,  daß 
nur  die  Anregung  zur  Aktienbankgründung  aus  Paris  gekommen 
ist.  Denn  die  französische  Bank  verwirklichte  nicht  einmal  ihre 
vorgenommenen  Zwecke.  Der  auf  Saint  Simonistischen  Einfluß 
zurückgreifende  Gedanke,  Effekten  verschiedener  Art  und  wech- 
selnder Einnahmen  in  der  Bank  zu  zentralisieren,  die  Privat- 
kapitalisten durch  kurz-  und  langfristige  Obligationen  zu  be- 
teiligen  und    ihnen   das    Risiko    der   Dividendenschwankung   abzu- 


IQ2  IV-  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848 — 187 1. 

nehmen,  wurde  von  der  Napoleonischen  Regierung  nicht  gestattet. 
Der  Credit  mobilier  wurde  ein  Aktienemissionshaus  größeren  Stils, 
die  Darmstädter  Bank  pflegte  das  reguläre  Bankgeschäft  von  An- 
fang an  mit  gutem  Erfolge  und  diente  neben  dem  Vertrieb  von 
Aktien  auch  dem  der  staatlichen  und  kommunalen  Obligationen. 

Als  den  Ort  des  Hauptsitzes  wählte  sie  das  kleine  Darm- 
stadt, weil  die  Frankfurter  Staatsverwaltung  die  Konzession  nicht 
erteilen  wollte.  Dennoch  wurde  die  Frankfurter  Börse  ihr  haupt- 
sächliches Arbeitsgebiet.  Als  der  Mann,  der  das  Unternehmen  ge- 
schaffen hat,  wird  M.  v.  Haber  bezeichnet,  seine  Geldgeber 
waren  die  Kölner  W.  L.  Deichmann,  G.  Mevissen,  W. 
Wendelstadt  und  Abraham  Oppenheim.  Der  Kurs  der 
Bankaktie  wurde  bald  über  den  Ertragswert  hinausgetrieben,  wo- 
für durch  nicht  ganz  lautere  Reklame  hinlänglich  gesorgt  wurde. 
Das  kaufende  Publikum  war  auch  nicht  ohne  Schuld,  das  nur  zu 
gern  bezog,  um  bald  mit  Gewinn  wieder  abzustoßen.  Am  14. 
Januar  1856  war  der  Kurs  284,  am  2.  Juni  438.  In  der  Krise  ging 
er  unter  Pari  zurück,  zu  welchem  Stande  die  Gründer  sich 
wiederum  in  ihren  ziemlich  ausverkauften  Besitz  setzten.  Kleinere 
neue  Bankunternehmen  wurden  noch  härter  betroffen,  die  nach 
1857  nicht  einmal  wußten,  wie  sie  das  zurückgeflossene  ausge- 
liehene Kapital  anlegen  sollten.  Sie  kauften  billige  Effekten  auf 
und  untergruben  damit  die  Flüssigkeit  ihres  Bankgeschäfts,  so 
daß  mehrere  von  ihnen  sich  nicht  halten  konnten. 

Das  Haus  Rothschild  hatte  bei  seinem  Handel  mit  Staats- 
papieren verharrt,  deren  europäischer  Stand  für  damals  auf  20  Mil- 
liarden M.  berechnet  worden  ist.  Die  Gründung  der  Darmstädter 
Bank  war  gegen  diese  berühmte  Firma  gerichtet,  um  den  neuen 
Werten  einen  größeren  Markt  zu  schaffen.  Der  deutsche  Ef- 
fektenmarkt wurde  seit  1854  auch  durch  die  Aktien  des  rheinisch- 
westfälischen Montangebietes  bereichert.  Es  entstanden  der 
Bochumer  Gußstahl-Verein,  die  Hörder-,  Eschweiler-,  Harpener-, 
Phönix-,  Stolberger-Gesellschaften,  meist  Umwandlungen  älterer 
Privatwerke.  Die  Hauptspielpapiere  an  der  Börse  waren  außer 
den  neuen  Bankaktien  die  österreichischen  Kreditaktien,  die  Aktien 
der  österreichisch-französischen  Staatsbahn  und  einige  deutsche 
Eisenbahnpapiere.  Das  Kursniveau  war  allgemein  von  1851  — 1854 
gehoben,  der  Krimkrieg  drückte  es  zeitweise  herab,  nach  dem  Pa- 
riser Frieden  wurden  die  Spielpapiere  in  wenigen  Monaten  um 
30 — 40  0/0   erhöht. 

Die  Börsenspekulation  war  keineswegs  nur  auf  Personen  der 
Börsenplätze  beschränkt.  Der  Telegraph  war  durch  den  Morse- 
Schreibapparat   mit   schmalen  langen    Papierstreifen   praktisch   ge- 


VI.  Die  Wirtschaftskrise  von   1857.  ig^ 

worden,  anfangs  in  den  Dienst  der  Eisenbahnen  und  der  Militärver- 
waltung, bald  in  den  des  Handels  gestellt  worden.  1844  läuft  er 
zuerst  die  Eisenbahnlinie  von  Kastei — Wiesbaden  entlang,  1846 
die  von  Berlin— Potsdam,  1847/48  Frankfurt  a.  M. — Berlin.  Im 
folgenden  Jahre  gestattet  Preußen  die  Benutzung  durch  das  Pub- 
likum unter  dem  Zonentarif.  Die  Einrichtung  bürgert  sich  an- 
fangs auf  weite  Strecken  nur  langsam  ein,  da  die  Verschiedenheit 
der  Leitungen  und  der  Apparate  die  Landesgrenze  sperren.  1850 
war  der  schlimmste  Partikularismus  durch  den  Telegraphenverein 
überwunden,  den  Preußen,  Österreich,  Bayern  und  Sachsen  zu 
Dresden  unterzeichneten.  Die  übrigen  deutschen  Staaten  schlössen 
sich  ihm  im  folgenden  Jahre  an.  Der  Einheitstarif  wurde  erst 
1879  eingeführt. 

In  der  Haussezeit  der  fünfziger  Jahre  bemächtigte  sich  des 
Telegramms  auch  das  Börsengeschäft.  Das  Wolffsche  Tele- 
graphenbureau mit  seinen  Kursberichten  wurde  eröffnet.  Bald 
darauf,  1860,  hat  der  Deutsche  Ph.  Reis  das  Telephon  erfunden, 
das  aber  unbeachtet  blieb,  bis  es  der  Schotte  Bell  1877  praktisch 
gestaltete,  so  daß  es  auch  bald  für  den  Börsenverkehr  dienlich 
wurde.  Es  erschien  in  den  Zeitungen  die  Wiedergabe,  die  die  Kon- 
junktur in  Groß-  und  Kleinstadt  bekannt  machte.  Nachschlage- 
werke wie  „Mosers  Handbuch  für  Kapitalisten"  und  „Benders 
Verkehr  mit  Staatspapieren"  fanden  Verbreitung.  Die  Wertpapier- 
börsen wurden  insofern  zu  nationalen  Einrichtungen,  als  ihnen 
das  Kapital  aus  allen  Teilen  der  Volkswirtschaft  zuströmte  und 
Gewinn  und  Verlust  nicht  mehr  örtlich  gebunden  waren.  Eine 
Unabhängigkeit  vom  Ausland  mußte  erst  schrittweise  erkämpft 
werden.  Bereits  in  den  sechziger  Jahren  ist  der  Einfluß  von 
Paris  und  London  bei  einigen  Effekten,  die  dort  gehandelt  wur- 
den, geschwunden,  im  folgenden  Jahrzehnt  haben  wichtige  Werte 
der  nordischen  Staaten,  Österreichs,  des  Balkans,  Rußlands  in 
Berlin  und  Frankfurt  ihren  Hauptmarkt. 

Der  Anstoß  zum  Konjunkturumschlag,  den  Deutschland  für 
sich  und  aus  sich  vorbereitet  hatte,  ebenso  wie  andere  wirtschaft- 
lich fortgeschrittene  Länder,  war  von  Nordamerika  ausgegangen, 
London  war  bald  in  Mitleidenschaft  gezogen,  und  nun  konnte  sich 
im  Sommer  1857  auch  Hamburg  nicht  halten.  Die  Panik  war  hier 
ungeheuer.  Ein  Garantie-Diskontoverein  und  Staatsvorschüsse  bis 
zu  15  Millionen  M.  banco  vermochten  sie  nicht  zu  beschwören. 
Das  Unheil  ging  monatelang  seinen  vernichtenden  Weg.  Von  hier 
aus  sprang  es  auf  Deutschlands  Großindustrie,  Börsen,  Großhandel 
und  Banken  über.  Die  Engrospreise  sanken  bis  30  0/0,  Börsen- 
papiere bis   auf  den  halben   Nominalkurs.     Die   Preußische   Bank 

10 


194  ^^"  ■^t)schnUt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848 — 1871. 

setzte  ihren  Diskont  auf  71/2  ^/o,  kleinere  Notenbanken  gingen  noch 
höher.  Überall  suchten  Schutzgesellschaften,  Warenvorschußvereine, 
Staats-  und  Privathilfe  zu  retten,  was  noch  möglich  war.  Die  Er- 
fahrung, wie  man  einzugreifen  habe,  fehlte.  Erst  im  Dezember 
war  die  Hauptgefahr  für  Hamburg,  Berlin,  Mittel-  und  Süddeutsch- 
land beseitigt.  Große  englische  Getreidekäufe  brachten  im  Osten 
die  erste  Erleichterung.  Die  meisten  Geschäftsleute,  die  im  großen 
Verkehr  zu  tun  hatten,  waren  zunächst  ärmer  geworden,  und  ihre 
geschwächte  Kaufkraft  wirkte  auf  kleine  und  mittlere  Firmen  zu- 
rück. Reicher  wurden  nach  der  Krise  nur  die,  die  rechtzeitig  an 
der  Börse  verkauft  hatten.  Einige  wurden  auch  reicher  an  Ein- 
sicht, wenn  auch  der  Zusammenhang  der  Dinge  noch  nicht  recht 
begriffen  wurde. 

Die  Verluste  wurden  als  Wertminderung  privatwirtschaftlich 
empfunden.  Allein  die  meisten  Unternehmungen  wurden  weiter- 
geführt. Die  ökonomischen  Kapitale,  wie  Eisenbahnen,  Maschinen, 
Schiffe,  Bergwerke,  Fabriken,  standen  für  neue  Betätigung  bereit, 
und  die  geistig  ökonomischen  Kräfte  waren  nicht  vernichtet.  Der 
industrielle  kapitalistische  Kreislauf  ist  nicht  nur  privatökono- 
misch, wie  es  von  der  damals  herrschenden  individualistischen  Auf- 
fassung des  Wirtschaftslebens  geschah,  sondern  auch  volkswirt- 
schaftlich zu  denken.  Man  summierte  damals,  wenn  auch  ohne  sta- 
tistische Genauigkeit,  die  erlittenen  Werteinbußen  und  zog  das 
Ergebnis  von  dem  Reichtum  der  Haussezeit  ab  und  behauptete, 
das  Land  sei  um  1/4  oder  1/3  ärmer  geworden.  Es  hieß,  die  National- 
ökonomie habe  anzugeben,  wie  die  Krisen  aus  der  Welt  zu  schaffen 
seien,  und  an  Vorschlägen  fehlte  es  nicht. 

Nun  wäre  es  ganz  schön  vielleicht,  wenn  man  dem  Ziele  der 
Reichtumsvermehrung,  schrittweise  besonnen,  ohne  Unterbrechung 
nachgehen  könnte,  nach  dem  Prinzip  der  Alpenreisebücher:  „chi 
va  piano  va  sano,  chi  va  sano  va  lontano".  Der  begeisterte  Alpi- 
nist weiß  auch  den  Reiz  einer  anderen  Bewegung  zu  schätzen  und 
hält  es  für  seine  schönsten  Augenblicke,  den  unbezwomgenen  Gipfel 
jauchzend  im  Ansturm  zu  nehmen.  Auch  in  dem  Erklimmen  neuer 
Wirtschaftsstufen  ist  das  lebhafte  Temperament  der  führenden 
Persönlichkeiten  ein  wertvoller  Bestandteil  des  Vorwärtskommens. 
Er  gibt  die  Richtung  an,  und  Tausende  folgen,  bleiben  auch 
manche  zurück  und  sinken  andere  erschöpft  zu  Boden.  Wie  in  der 
organischen  Naturwissenschaft  Mutationen,  sprunghafte  .Neue- 
rungen für  die  Entwicklung  glaubhaft  gemacht  worden  sind,  so 
hat  sich  im  letzten  Jahrhundert  durch  die  großen  Aufschwungs- 
zeiten das  Niveau  der  Volkswirtschaften  gehoben.  Es  wurde  nach 
dem  Umschlag  in  der  Hauptsache  behauptet,  und  jeder  folgende 


VI.  Die  Wirtschaftskrise  von  1857.  ig 5 


Kreislauf  setzte  ungefähr  auf  der  vorher  gewonnenen  Höhe  ein. 
Nur  nach  der  Krise  von  1873  kann  dies  nicht  voll  gelten,  da  die 
Niedergangsperiode  zu  lange,  mehr  als   6  Jahre,  andauerte. 

Die  kapitalistisch-industriellen  Zyklen  in  dem  angegebenen 
Sinne  lassen  sich  an  der  Steinkohlenerzeugung  mit  Genauigkeit 
verfolgen.  Die  Durchschnittswerte  sinken,  nach  K.  Fle- 
gel, von  der  Krise  bis  zum  Anfang  der  sechziger  Jahre,  dann 
folgt  ein  erstes  Steigen  bis  1868,  im  Anschluß  daran  ein  zweites 
rascheres  bis  1873.  Nun  ein  jäher  Sturz  bis  zum  Tiefpunkt  von 
1879.  Der  Niedergang  ist  zu  Ende,  ein  Zustand  der  gleichmäßigen 
Ruhe  reicht  bis  1888.  Jetzt  ein  Steigen  bis  1890,  ein  neuer  Rück- 
gang bis  1894.  Eine  starke  Erhöhung  vollzieht  sich  weiter  bis 
1901,  dann  ein  Umschwung  bis  1904,  ein  Emporschnellen  bis  1908, 
weiter  eine  gegenteilige  Bewegung,  endlich  von  19 10 — 191 2 
wiederum  die  nach  oben  gerichtete  Tendenz.  Die  Konjunktur  der 
ganzen  Volkswirtschaft  findet  in  diesen  Jahreszahlen  der  Kohlen- 
werte einen  zutreffenden  Ausdruck,  da  sich  die  Kohle  mit  allem 
Produzieren  solidarisch  unter  Voraussetzung  des  Eisenbahn-,  Dampf- 
schiff- und  Dampfmaschinenwesens  verhält.  Der  höchste  Stand 
ist  1873  nach  10  jähriger  Aufwärtsbewegung.  Nach  dem  tiefen 
Punkt  von  1879  setzt  ein  stufenmäßiges  Steigen  mit  nicht  zu  be- 
deutenden Rückschlägen  ein,  bis  191 2  fast  die  Preishöhe  von  1873 
wieder  gewonnen  ist.  Anders  ist  es  mit  den  Produktions- 
ziffern. Diese  zeigen  durch  alle  Konjunkturschwankungen  hin- 
durch eine  Zunahme,  die  nur  einmal  nach  der  Krise  von  1873 
unterbrochen  wird: 

Tausend  Tonnen 

1860       12347,8                     1880      46973.6  1900  109225,0 

1865       21794,7                     1885       58320,4  1905  121298,6 

1870       26397,8                     1890      78237,8  1910  152827,8 

1875       37436,4                     1895       79169,2  1912  174875.3 

Die  Konjunktur  spielt  sich  in  der  Bewegung  der  Preise  ab, 
die  produktive  Bewegung  des  Ganzen  veranschaulichen  die  Tonnen- 
zahlen. Die  privatwirtschaftlichen  Schäden  mit  ihrem  großen  Ge- 
schrei übertönen  die  Produktivzahlen  der  Volkswirtschaft,  die  dem 
sozialen  Ganzen  das  Wichtigste  sind. 

Plat  auch  die  deutsche  Industrie  in  der  hier  geschilderten 
Periode  noch  manche  ihrer  Einrichtungen  und  Methoden  aus  dem 
Auslande  bezogen,  kein  Zweifel,  sie  konnte  sich  weit  mehr  als  in 
der  vorausgehenden  auf  technische  Neuerungen  stützen,  die  im 
eigenen  Lande  gemacht  worden  waren.  Ein  Stand  tüchtiger  Unter- 
nehmer,  die   Erfinder  oder   Organisatoren  waren,   erglänzt   in   be- 


Iq6  IV-  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848— 187 1. 

rühmten  Namen.  Borsigs  Lokomotivenfabrik  galt  1859  als  die 
größte  der  Erde.  1837  beschäftigte  sie  50,  1866  1600  Personen 
und  fertigte  auch  Dampfmaschinen  zu  anderen  Zwecken  als  für 
die  Bahnen  an.  Richard  Hartmann  wanderte  als  beschei- 
dener Zeugschmiedgeselle  am  Anfang  der  dreißiger  Jahre  in 
Chemnitz  mit  zwei  Talern  in  der  Tasche  ein.  Nach  einigen  Jahren 
begann  er  dort  ein  Geschäft,  das  sich  in  weiteren  zwanzig  über 
2000  Arbeiter  und  40  Gebäude  erstreckte.  Lokomotiv-  und  Tender- 
bau war  seine  Hauptaufgabe,  mit  der  er  ein  Nebenbuhler  Borsigs 
wurde.  1858  war  die  100.  Lokomotive  fertiggestellt.  Maschinen 
der  verschiedensten  Art  gingen  in  der  Folgezeit  aus  den  Werken 
hervor,  1866  wurde  für  sie  eine  Fabrik  mit  dem  Aufwände  von 
3  Millionen  M.  gebaut,  die  vor  allem  der  Textilindustrie  lieferte. 

Alfred  Krupp  hat  185 1  704  Angestellte  und  Arbeiter  im 
Dienst,  1861  2000,  1873  16000.  In  den  fünfziger  Jahren  erfolgte 
die  Erweiterung  der  Fabrikanlagen  durch  das  große  Walzwerk, 
das  neue  Hammerwerk,  die  Puddel-  und  Schweißwerke,  die  me- 
chanische Werkstatt,  1861  schließen  sich  das  Bessemerwerk  und 
die  Geschützfabrikation  im  großen,  1869  das  Martinwerk  an. 
1864/65  werden  Eisengruben  angekauft  und  eigene  Hochöfen  auf- 
geführt. Die  soziale  Fürsorge  verbindet  sich  mit  dem  finanziellen 
Erfolg.  1861  errichtet  die  Firma  die  ersten  Meisterwohnungen, 
1863  die  Arbeiterkolonie  Altwestend  mit  160  Wohnungen,  1874  sind 
bereits  3270  Familienwohnungen  bezogen. 

Andere  bekannte  Großindustrielle  sind  Friedrich  Har- 
kort in  Wetter  (Kupfer-,  Leder-,  Maschinenwerke),  N.  Dreyse 
in  Sömmerda  (Gewehrfabrik),  Ludwig  Löwe  in  Berlin  (Waffen-,, 
Munitions-,  Werkzeugfabriken),  Ch.  Zimmermann  in  Apolda 
(Wollfabrik),  A.  Lange  in  Glashütte,  Sachsen  (Uhrenfabrik), 
K.  B.  Sondermann  und  K.  H.  Stier  in  Chemnitz  (Werkzeug- 
maschinen), Georg  Egestorff  in  Hannover  (Zuckerraffinerie, 
Eisengießerei,  Zündhütchenfabrik,  chemische  Produkte),  J.  L. 
Faber  in  Nürnberg  (Bleistifte),  G.  E.  K  eßler  in  Eßlingen  und 
Burgeff  &  Co.  in  Hochheim  (Schaumweine),  G.  Sedlmayer 
und  Pschorr  in  München  (Bier),  Thorbecke  in  Mannheim 
(Zigarren),  Flinsch  in  Blankenburg  und  C.  Fr.  Fischer  in 
Bautzen  (Papier). 

Es  sind  dies  nur  einige  Beispiele,  von  denen  galt,  was 
Werner  v.  Siemens  über  die  damalige  Zeit  später  nieder- 
schrieb, „daß  ein  junger  Mann  auch  ohne  ererbte  Mittel  und  ein- 
flußreiche Gönner,  ja  sogar  ohne  richtige  Vorbildung,  allein  durch 
eigene  Arbeit  sich  emporschwingen  und  Nützliches  leisten  kann". 


VI.  Die  Wirtschaftskrise  von   1857.  igy 


Die  Firma  Siemens  &  Halske  in  Berlin  wurde  eine  Groß- 
unternehmung mit  Filialen  in  London  und  Petersburg,  die  später 
selbständig  gemacht  wurden,  um  das  Risiko  zu  teilen,  ferner  in 
Tiflis  und  Wien.  Die  fünf  Brüder,  von  denen  Werner  in  Berlin, 
Carl  in  Rußland,  Wilhelm  in  England  lebten,  wurden  durch  die 
Anlage  von  Landtelegraphen  und  Seekabeln,  durch  die  Anferti- 
gung elektrischer  Apparate  zu  einer  internationalen  Berühmtheit. 
Sie  ergänzen  sich  in  wissenschaftlicher,  technischer  und  kaufmän- 
nischer Begabung  und  waren  darin  einig,  die  zahlreichen  Ange- 
stellten durch  Tantiemen  an  den  Ergebnissen  des  Geschäfts  zu 
interessieren  und  auch  mit  den  Arbeitern  durch  Alters-,  Invaliden-, 
Witwen-  und  Waisenkassen  ein  gutes  Verhältnis  anzubahnen. 
Werner  Siemens  bemerkt  in  seiner  Biographie,  wie  der  in  allen 
Teilnehmern  und  Mitarbeitern  erzeugte  Korpsgeist  einen  großen 
Teil  der  geschäftlichen  Erfolge  erkläre,  setzt  indessen  hinzu,  daß 
die  persönliche  Initiative  bei  allen  Neuerungen  der  nervus  rerum 
gewesen  sei.  Wie  unwahr  erscheint  uns,  wenn  wir  die  Lebensläufe 
solcher  Männer  kennen  lernen,  die  öde  Wert-  und  Mehrwerttheorie, 
nach  der  die  Schöpfer  allen  Reichtums  die  Handarbeiter  allein 
sein  sollen.  Wie  eng  ist  die  Wirtschaftsgeschichte  eines  Volkes 
mit  der  Befähigung  führender  Männer  verknüpft,  und  wie  ver- 
mittelt die  persönliche  Auslese  des  Geistes  und  des  Charakters 
den  dauernden  Erfolg! 

Die  erste  große  Krise,  die  Deutschland  heimsuchte,  hatte  frei- 
lich auch  erwiesen,  daß  da,  wo  viel  Licht  ist,  auch  die  tiefen 
Schatten  nicht  fehlen.  In  großen,  mittleren  und  kleineren  Unter- 
nehmen gab  es  Leute,  die  im  Strome  mitzuschwimmen  verstanden 
und.  rücksichtslos  nur  ihren  Gewinn  ergatterten.  Agiotagebetriebe, 
Erregung  zum  Börsenspiel,  unlauterer  Wettbewerb,  gewandter 
Massenbetrug  beim  Effektenhandel  werden  genannt,  um  die  Zeit 
des  gewaltigen  Vordringens  herabzusetzen.  Die  Schuldigen  waren 
eine  ganz  andere  Klasse  von  Menschen  als  jene  genialen  Schöpfer 
neuer  Produktionszweige.  Es  waren  Werte  und  Ideen  vertreibende 
und  verteilende  Spekulanten,  schnell  rechnende,  auf  den  eigenen 
Vorteil  allein  eingestellte  Köpfe.  Auch  sie  versuchten  an  der 
Drehung  des  großen  volkswirtschaftlichen  Schwungrades  mitzu- 
helfen, durch  rasche  Kapitalverschiebungen,  Neugründungen,  Auf- 
lösung veralteter  Einrichtungen  und  ökonomischer  Anschauungen 
und  taten  es  zuweilen  auch  mit  Erfolg.  Hätten  sie  mehr  Gewissen, 
mehr  Takt  besessen,  sie  würden  sich  den  Namen  der  Profitmacher 
um  jeden    Preis  haben  ersparen  können. 

Deutschland  war  bis  zur  Mitte  des  Jahrhunderts  hinter  Eng- 
land  und   Frankreich   im   inneren   und   äußeren   Verkehr   weit   zu- 


igS  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848 — 187 1. 

rückgeblieben.  Jetzt  hatte  es  angefangen,  seine  starken  Glieder 
machtvoll  zu  recken.  Ungelenk  war  es  in  der  Bewegung,  und  die 
Nachbarn  unterschätzten  es  daher.  Es  hatte  noch  zu  lernen,  wie 
man  im  Auslande  sich  zu  verhalten  habe,  wie  im  Inlande  der  er- 
worbene Reichtum  in  den  Dienst  der  Gesamtheit  zu  stellen  und 
wie  dem  Leben  Eleganz  und  Vertiefung  beizulegen  sei.  Die  künst- 
lerische und  sozialwissenschaftliche  Literatur  jener  Tage  brachte 
die  Mängel  der  Zeit  höchst  bescheiden  zum  Ausdruck,  und  wenn 
es  geschah,  so  fand  sie  nur  wenig  Beachtung. 

VII.  Arbeiterfrage  und  Sozialdemokratie.  Die 
neue  Industrie  hatte  große  Menschenmengen  zusammengezogen, 
eine  neue  Klasse  nur  von  ihrer  Handarbeit  lebender  Leute,  die 
Proletarier,  mit  ihrem  damals  großen  Familiennachwuchs  und  mit 
einem  ihr  ergebenen  Anhang  von  Wirten,  Saalbesitzern,  Klein- 
kaufleuten und  Wohnungs Vermietern.  Ihr  Hauptsitz  waren  die 
rasch  anschwellenden  Großstädte,  in  denen  sich  die  nach  Rassen 
und  Volksstämmen  bunte  Masse  zusammendrängte  und  durch 
Heirat  untereinander  eine  Mischbevölkerung  bildete,  die  ihrer 
Natur  nach  dem  Gleichheitsideal  außerordentlich  zugänglich  war. 
Die  Arbeiter  wurden  durchschnittlich  nicht  gut  und  dazu  der 
Konjunktur  gemäß  ungleichmäßig  bezahlt,  die  Arbeitszeit  war  lang, 
für  Kranke  und  Invalide  wurde  in  der  Regel  schlecht  gesorgt,  in- 
dem sie  der  kümmerlichen  und  entwürdigenden  Armenunter- 
stützung anheimfielen,  die  Wohnungen  waren  eng  und  unsauber 
und  leisteten  jeder  Art  der  Unsittlichkeit  Vorschub.  Sobald  diese 
Masse  Verständnis  für  ihre  Lage  und  Gesamtempfinden  gewann, 
konnte  sie  daher  zunächst  nicht  anders  als  rein  materielle  Lebens- 
ziele anstreben,  so  daß  den  Zeitgenossen  diese  soziale  Frage  allein 
als  „eine  Magenfrage"  erschien. 

Von  den  mittleren  Arbeitgebern  —  auf  die  genialen  Spitzen 
der  Klasse  ist  im  vorigen  Abschnitt  hingewiesen  —  waren  manche 
aus  dem  Handwerkerstande  hervorgegangen,  weshalb  in  Frankreich 
Lamartine  die  gleiche  Spezies  Amphibien  zwischen  Proletariat 
und  Bourgeoisie  genannt  hatte.  Sie  blieben  in  Manieren  und 
Sitten  ungehobelt,  in  der  Lebensanschauung  der  Pflichtenlehre 
beschränkt  und  glaubten  von  jedem  ihrer  Leute  so  viel  erlangen  zu 
können,  als  sie  selbst  als  Ausnahme-  und  Kraftnaturen  geleistet 
hatten.  Der  Emporkömmling  dieser  Art  ist  ein  unduldsamer  Herr, 
aber  der  soziale  Fortschritt  muß  ihn  als  positiven  Bestandteil  der 
Auslese  mit  in  den  Kauf  nehmen.  In  den  industriellen  Kapitalge- 
sellschaften schalteten  und  walteten  damals  solche  Direktoren,  die 
fast  ausschließlich  nach  ihrem  technischen  Können  ausgewählt 
waren.    Eine  charaktervoll  gebildete,  pflichtbewußte  Schicht  dieser 


VII.  Arbeiterfrage  und  Sozialdemokratie.  Igg 

Leute  bestand  noch  nicht.  Der  Verkehr  mit  den  Arbeitern  war  oft 
gewissenlosen  Werkstättenvorstehern,  Meistern  anvertraut,  die  nur 
auf  Zufriedenstellung  nach  oben  hinschielten,  die  Unterstellten 
schikanierten  und  nach  Belieben  fortjagten.  Unter  den  Arbeitern 
gibt  es  viel  rohe  Elemente,  Schlägerei  ist  an  der  Tagesordnung;^ 
Bier  und  Schnaps  lassen  den  Verdienst  der  guten  Zeiten  rasch 
hinschwinden.  Die  Obrigkeit  hat  kein  anderes  Bedürfnis,  als  Ruhe 
im  Lande.  Wer  nicht  pariert,  wird  vom  Gendarm  gefaßt,  ins  Loch 
gesteckt,  wo  er  sich  mit  Ungeziefer  und  Verbrechern  herumplagen 
mag,  bis  er  abgeschoben  wird. 

Die  Zeiten  der  werdenden  Großindustrie  zeigen  keine  freund- 
lichen Seiten.  Die  Gebräuche,  Feste  und  Aufzüge,  die  den  Zünften 
ehemals  Glanz  verliehen  hatten,  waren  weggefegt,  höchstens  blie- 
ben noch  inhaltslose  Formalitäten  bei  den  wandernden  Gesellen 
und  in  dem  Herbergswesen  übrig.  Die  patriarchalischen  Bezie- 
hungen in  der  Heimarbeit  waren  aufgelöst,  die  brutale  Konkurrenz 
tritt  den  zu  Boden,  der  sich  nicht  zu  behaupten  vermag. 

Doch  soll  man  diese  Periode  deutscher  Sozialgeschichte  nicht 
schlechter  machen  als  sie  war.  Man  lese  die  Denkwürdigkeiten 
und  Erinnerungen  des  Arbeiters  Carl  Fischer,  wenn  man  sich 
ein  objektives  Bild  ohne  gewollte  Schwarzmalerei  späterer  sozia- 
listischer Agitatoren  machen  will.  In  dem  deutschen  Volke  steckt 
ein  guter  Kern,  der  eine  Gewähr  für  eine  bessere  Zukunft  dar- 
bietet. Der  gesunde  Menschenverstand  kommt  immer  wieder  oben 
auf,  Gutmütigkeit  und  Kameradschaftlichkeit  sind  nicht  ausge- 
storben. Fleißig  muß  man  sein,  und  für  Nachlässigkeit  gibt  es 
keine  Entschuldigung,  weder  bei  Vorgesetzten  noch  bei  Gleichge- 
stellten. Die  Leute,  die  technisch  etwas  verstehen,  werden  ebenso 
geachtet  als  die,  die  auf  stramme  Disziplin  halten.  Was  billig  und 
recht  ist,  wird  aus  der  Lage  der  Verhältnisse  beurteilt,  noch  nicht 
aus  einem  abstrakten  Dogma  einer  unwahren  Ausbeutungstheorie. 

Es  sind  die  Anfänge  der  Arbeiterbewegung  aus  dem  Jahre 
1848  erzählt  worden.  Einige  zunächst  noch  fortbestehende  Hand- 
werker- und  Bildungsvereine,  die  gewerkschaftliche  Ziele  ver- 
folgten, wurden  aufgelöst.  Die  Politik  mußte  der  Arbeiterschaft 
um  so  ferner  liegen,  als  das  radikale  Bürgertum  sich  auch  von  ihr 
ganz  zurückgezogen  hatte.  Die  Geschäftsstockung  von  1857  mit 
ihrer  Arbeitslosigkeit  hat  höchstens  in  der  Theorie  die  kommenden 
Arbeiterforderungen  beeinflußt,  die  erst  in  der  Zeit  des  belebten 
Geschäfts  erhoben  wurden,  als  der  Niedergang  schon  in  der  Praxis 
vergessen  war,  und  idealistischen  Motiven  entsprungen  waren,  die 
sich  aus  dem  allgemeinen  sozialen  Milieu  der  letzten  Jahrzehnte, 
nicht  aus  dem  Notstand  einiger  Monate,  ableiten  ließen. 


200  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848 — 187 1. 

Die  Arbeiterbewegung  der  sechziger  Jahre  knüpft  sich  an 
Ferdinand  Lassalle  an,  geboren  1825  als  Sohn  eines  wohl- 
habenden jüdischen  Handelsmannes  zu  Breslau.  Er  hatte  sich  in 
der  gebildeten  Welt  als  Historiker  der  Philosophie  (Philosophie 
Herakleitos  des  Dunkeln  1857)  und  Rechtsphilosoph  (System  der 
erworbenen  Rechte  1861)  einen  Namen  gemacht  und  durch  sein 
extravagantes  Leben  seit  1848  Stoff  zu  Kommentaren  und  Klatsch 
geliefert:  den  Scheidungsprozeß  der  Gräfin  Sofie  vonHatz- 
feld,  den  er  8  Jahre  mit  Erfolg  führte,  die  Anklage  wegen  eines 
Kassettendiebstahls  in  der  gleichen  Sache,  von  der  er  freige- 
sprochen wurde,  die  Aufreizung  der  Düsseldorfer  Bürger  zu  be- 
waffnetem Widerstand  gegen  den  Staat,  die  Widersetzlichkeit  gegen 
Beamte  im  Revolutionsjahr,  die  ihm  6  Monate  Gefängnis  brachte, 
nachdem  er  gegen  die  Begnadigung,  die  A.  v.  Humboldt  ver- 
mitteln wollte,  protestiert  hatte. 

Als  Anhänger  Hegels  sieht  er  in  allen  Rechtseinrichtungen 
geschichtliche  Verwirklichungen  von  Geistesbegriffen.  Da  diese  in 
der  ewigen  dialektischen  Bewegung  sich  ändern,  so  sind  auch 
jene  relative  Kategorien,  die  abzutreten  haben,  wenn  sie  der  Idee 
der  Zeit  nicht  mehr  entsprechen.  In  einem  Vortrag  „Über  den 
besonderen  Zusammenhang  der  gegenwärtigen  Geschichtsperiode 
mit  der  Idee  des  Arbeiterstandes"  sucht  er  im  Anschluß  an  seine 
Grundauffassung  den  Nachweis  zu  führen,  daß  die  Revolution  von 
1789  die  Bourgeoisie,  die  von  1848  den  vierten  Stand  zur  herr- 
schenden Stellung  im  Staate  berufen  habe,  der  jetzt  zu  vollenden 
habe,  was  durch  die  Natur  der  Geschichte  bereits  gegeben  sei. 
In  Konflikt  mit  der  preußischen  Regierung  gebracht,  veröffentlicht 
er  zwei  Verteidigungsreden  über  „Die  indirekte  Steuer"  und  „Die 
Wissenschaft  und  die  Arbeiter".  Hier  soll  nachgewiesen  werden, 
daß  die  Steuerlast  von  den  kleinen  Leuten  wesentlich  getragen 
werde,  und  daß  nur  zwei  Kräfte  in  der  modernen  Gesellschaft 
frisch  und  gesund  geblieben  seien,  die  Wissenschaft  und  die  Ar- 
beiter, die  eine  Verbindung  untereinander  eingehen  sollen,  um  das 
europäische  Leben  zu  reformieren.  In  Deutschland  will  Lassalle 
das  Bindeglied  zwischen  beiden  sein. 

Es  blieb  ihm  kein  anderer  Weg  als  der  agitatorische  Radika- 
lismus, wenn  er  zu  Ansehen  gelangen  wollte,  nachdem  ihn  die 
preußische  Fortschrittspartei,  deren  Führer  mit  ihrem  demokra- 
tischen Herdeninstinkt  seine  überlegene  Persönlichkeit  abgelehnt 
hatten,  und  da  er  im  damaligen  Staatsdienst  als  Jude  keine  her- 
vorragende Rolle  spielen  konnte. 

Von  einem  Zentralkomitee  zur  Berufung  eines  allgemeinen 
deutschen    Arbeiterkongresses    aufgefordert,    sich    darüber    auszu- 


VII.  Arbeiterfrage  und  Sozialdemokratie.  20I 


sprechen,  wie  dem  Arbeiterstande  zu  helfen  sei,  gab  er  mit  einem 
„Offenen  Antwortschreiben",  in  dessen  Veröffentlichung  die 
Sozialdemokratie  in  Deutschland  ihre  Geburtsstunde  feiert,  Be- 
scheid. Die  wissenschafthche  und  praktisch-ökonomische  Voraus- 
setzung des  Programms,  das  sogenannte  eherne  Lohngesetz  und 
die  geplante  Reform,  die  Produktivgenossenschaft  mit  Staatskredit,, 
waren  zwei  Schlagworte,  die  den  Arbeitern  leicht  verständlich 
waren.  Das  historisch  Dauerhafte  des  Programms  war  der  Hin- 
weis der  Arbeiter  auf  die  Erkämpfung  der  poHtischen  Macht  im 
bestehenden  Staate  mittels  des  allgemeinen  und  gleichen  Wahl- 
rechts. Eine  demokratische  Staatsverfassung  sollte  der  Arbeiter- 
schaft die  Möglichkeit  geben,  in  friedhcher  und  legaler  Weise 
soziale  Änderungen  zu  ihren  Gunsten  durchzusetzen.  Die  Arbeiter 
fingen  damals  an,  je  mehr  sie  das  Andenken  an  frühere,  anders- 
artige Beschäftigung  vergaßen,  gemeinsame  soziale  Bedürfnisse 
zu  fühlen,  zuerst  in  derselben  Fabrik,  dann  am  selben  Ort,  dann 
im  Staate,  so  daß  ein  leicht  faßbares,  zielbewußtes  Wort  auf 
fruchtbaren  Boden  fiel.  Daß  Lassalle  auf  den  bestehenden 
Staat  hinwies,  entsprach  seiner  Hegel  sehen  Geschichtsauffas- 
sung. Zugleich  war  der  Gedanke  für  Deutschland  passend.  Der 
Staat  hatte  als  absolute  Monarchie  und  bei  der  Durchführung  der 
liberalen  Ordnung  Hervorragendes  geleistet,  und  die  Kleinstaaterei 
brachte  den  gewöhnlichen  Mann  mit  der  Beamtenschaft  in  persön- 
liche Berührung,  so  daß  er  sich  etwas  Reales  unter  dem  Staats- 
begriff vorstellen  konnte.  In  England  und  Nordamerika  fand  die 
Arbeiterbewegung  von  Anfang  an  ihren  Schwerpunkt  im  Vereins- 
wesen. Man  hat  es  auch  nach  Deutschland  verpflanzt,  und  es  mag 
später  den  Arbeitern  manches  genützt  haben.  Die  Staatshilfe  ist 
aber  leistungsfähiger  als  die  Selbsthilfe  geblieben,  weil  sie  eine 
tiefe  historische  Wurzel  hatte,  wenn  auch  erst  noch  zwei  Jahr- 
zehnte vergehen  sollten,  bis  die  richtigen  Formen  gefunden  wurden. 
Die  nächste  Folge  des  Antwortschreibens  war  die  Gründung 
des  Allgemeinen  Deutschen  Arbeitervereins  am  13. 
Mai  1863  mit  dem  Sitz  in  Leipzig,  eines  Werbeverbandes  zur  Er- 
strebung des  genannten  Wahlrechts.  Lassalle  wurde  zum  Präsi- 
denten gewählt.  Er  hatte  gehofft,  in  kurzer  Zeit  über  100  000  An- 
hänger zu  verfügen,  aber  bei  seinem  Tode,  der  infolge  einer  Liebes- 
affäre im  Duell  schon  1864  erfolgte,  zählte  der  Verein  erst  4610 
eingeschriebene  MitgHeder.  Dennoch  hatte  die  Sache  ungeheures- 
Aufsehen  gemacht,  da  ihr  Führer  der  Mann  gewesen  war,  sie  und 
sich  durch  Reden  und  Schriften  stets  von  neuem  in  Erinnerung  zu 
bringen.  In  den  nächsten  Jahren  machte  der  Verein  infolge  innerer 
Streitigkeiten  und  bei  unfähiger  Leitung  nur  wenig  Fortschritte,, 


202  rV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848 — 187 1. 

erst  unter  von  Schweitzers  gewandter  Politik  ging  es  vor- 
wärts, 1867  hatte  die  Sozialdemokratie  zwei  Vertreter  in  '  den 
Reichstag  des  Norddeutschen  Bundes  entsandt.  Der  Krieg  von 
1870 — 1871  und  die  nationale  Begeisterung  nahmen  zeitweise  dem 
Klassenkampf  den  Wind  aus  den  Segeln.  Die  1873  einsetzende 
Wirtschaftsstockung  führte  dem  Verein  zwar  wieder  neue  Mit- 
glieder zu,  und  1874  gewannen  die  Lassallener  drei  Reichstags- 
sitze, aber  bei  dem  damaligen  Mangel  an  tüchtiger  Führung  und 
bei  der  Unfähigkeit,  das  Programm  fortzubilden,  unterlag  die 
ganze  Richtung  der  zielbewußten  Tätigkeit  des  Marxismus  und 
wurde  1875  i^i  Gotha  auf  dem  Einigungskongreß  von  der  hier  be- 
gründeten  sozialistischen   Arbeiterpartei   aufgesogen. 

Nach  alledem,  was  wir  über  die  Persönlichkeit  Lassalles 
aus  reicher  Literatur  zuverlässig  wissen,  war  er  ein  politischer 
Kopf,  der  eine  demokratische  Arbeiterbewegung  in  großem  Stile 
zu  entflammen  imstande  gewesen  wäre,  wenn  dabei  seine  Eitelkeit 
ihre  Rechnung  gefunden  hätte.  Es  fehlte  ihm  der  innere  Zwang 
der  Genialität,  der  ein  großes  Werk,  das  ihr  alles  ist,  schaffen 
will,  losgelöst  von  persönlichen  Wünschen  des  Ehrgeizes.  Von 
seiner  mit  orientalischem  bunten  Luxus  ausstaffierten  Berliner 
Wohnung  aus,  in  der  Bellevuestraße,  diktierte  er,  in  materieller 
Üppigkeit  dahinlebend,  ein  Dekadent  und  geistiger  Roue,  den  Ar- 
beitern mit  schwieligen  Fäusten  und  den  hungernden  Proletariern 
die  Parolen,  um  den  Reichtum  zu  zerstören,  den  er  nicht  missen 
konnte  und  wollte.  Doch  bleibt  sein  Verdienst  um  die  deutsche 
Arbeitersache  bestehen,  so  sehr  seine  theoretischen  Stützpunkte 
auch  hinfällig  wurden,  weil  sie  an  inneren  Widersprüchen  krankten. 
Die  wachsende  Partei  der  Lohnempfänger  mußte  die  Aufmerksam- 
keit der  Nation  immer  von  neuem  auf  deren  soziale  Ansprüche 
lenken,  die  vom  Standpunkt  des  Ganzen  von  den  leitenden  Staats- 
männern jedenfalls  als  teilweise  berechtigt  anerkannt  wurden. 

Von  Schweitzer  hatte  im  August  1868  in  der  Generalver- 
sammlung des  Allgemeinen  Deutschen  Arbeitervereins  in  Hamburg 
die  Gründung  von  Gewerkschaften  durchgesetzt,  die,  wenn  auch 
nur  von  geringer  Mitgliederzahl,  in  einen  Bund  zusammengefaßt 
wurden.  Auch  die  Fortschrittspartei,  die  damals  noch  die  Arbeiter 
zu  sich  heranzuziehen  hoffte,  war  konkurrierend  hervorgetreten 
und  schuf  die  Hirsch-Duncker  sehen  Gewerkvereine,  die  den 
englischen  nachgebildet  werden  sollten,  sich  aber  von  ihnen  inso- 
weit unterschieden,  als  sie  in  politischer  Abhängigkeit  verharrten, 
was  auch  von  den  christlich-sozialen  Arbeitervereinen  galt,  die  von 
den  Ultramontanen  der  Richtung  von  Ketteier  1869  ins  Leben 
gerufen  wurden.     Auch   die   deutschen  Anhänger   der   sogleich   zu 


VII.  Arbeiterfrage  und  Sozialdemokratie.  203 


besprechenden  Internationalen  Arbeiter-Assoziation 
beteiligten  sich  an  der  Gewerkschaftsgründung.  Sie  wollten  eben- 
falls in  ihr  keinen  Selbstzweck  sehen,  von  dem  sie  fürchteten,  daß 
er  in  seiner  Verwirklichung  zu  einer  konservativen  Arbeiter- 
bewegung führen  würde. 

Diese  Gewerkschaften  waren  an  erster  Stelle  als  Agitations- 
vereine des  kommunistischen  Radikalismus  gedacht  und  wurden 
es  auch,  bis  sie  das  Sozialistengesetz  auflöste. 

Wir  sind  K.  Marx  schon  1848  begegnet.  Aus  Deutschland 
vertrieben,  hielt  er  in  London  den  Bund  der  Kommunisten  noch 
einige  Zeit  zusammen,  der  sich  durch  Adressen  und  Flugblätter 
für  die  baldigst  zu  erwartende  neue  Revolution  vorbereitete  und, 
als  diese  nicht  kam,  in  Kliquen  zerfiel.  Marx  vertiefte  sich  ganz 
in  die  nationalökonomische  Literatur  aller  Länder  und  Zeiten,  die 
in  der  reichen  Bibliothek  des  britischen  Museums  angehäuft  ist. 
Die  erste  Frucht  war  das  1859  erscheinende  Heft  „Zur  Kritik  der 
politischen  Ökonomie",  eine  Wert-  und  Geldlehre,  die  eine  Vor- 
arbeit des  1867  veröffentlichten  ersten  Bandes  „Das  Kapital",  der 
theoretischen  Hauptleistung  seines  Lebens,  war.  Die  beiden  fol- 
genden Bände,  zu  deren  Fertigstellung  die  erschöpfte  Arbeitskraft 
nicht  ausreichte,  sind  als  Torso  1885  und  1894  von  Engels  aus 
dem   Nachlaß   herausgegeben  worden. 

1864  tritt  Marx  als  Propagandist  des  Kommunismus  wieder 
in  das  öffentliche  Leben,  als  auf  sein  Betreiben  die  Internationale 
Arbeiter-Assoziation  begründet  wurde,  die  alle  fortgeschrittenen 
Länder  Europas  und  Amerikas  umfassen  sollte.  Ihr  Sinn  war,  die 
Köpfe  der  Proletarier  zu  revolutionieren,  die  „kapitalistische"  Ge- 
sellschaft kritisch  zu  vernichten,  Staat  und  Nation  in  eine  inter- 
nationale Gesellschaft  aufzulösen  und  den  Glauben  an  eine  künftige 
gemeinsame  Verwaltung  aller  Produktionsmittel  durch  die  Arbeiter 
und  an  die  Verteilung  des  Arbeitsertrags  nach  einem  gerechten 
Maßstab  zu  erwecken.  Obwohl  der  Verband  nicht  viele  Mitglieder 
gezählt  hat  und  schon  1872  an  den  nationalen  Tatsachen  der  Länder 
und  den  Sonderauffassungen  ihrer  revolutionären  Führer  scheiterte, 
so  hat  er  doch  den  Erfolg  gehabt,  daß  der  Marxismus  überall  dort 
eingezogen  ist,  wo  eine  unzufriedene  industrielle  Arbeiterschaft 
fähig  war,  in  die  Opposition  gegen  die  bestehenden  Zustände  ein- 
zutreten. Marx  war  kein  Politiker  wie  Lassalle,  und  der  Auf- 
bau der  sozialdemokratischen  Parteien  in  den  verschiedenen  Län- 
dern ist  das  Werk  anderer  positiv  organisierenden  Personen  ge- 
wesen. Ein  herostratischer  Zug  ist  ihm  eigen,  da  es  ihm  gleich- 
gültig ist,  ob  das  „erbärmliche  Europa"  früher  oder  später  zu- 
grunde geht.    Er  hat  die  Petarden  geliefert,  die  von  anderen  gelegt 


20A  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848  — 187 1. 

wurden.  Seinen  Mißerfolg  in  politischer  Hinsicht  mochte  er  um  so 
schwerer  verwinden,  als  „der  gefährlichste  persönlichste  Ehrgeiz, 
der  in  ihm  alles  Gute  zerfressen  hatte",  wie  sich  1850  ein  Anhänger 
seiner  Sache,  der  Offizier  von  Techow,  ausdrückte,  nicht  auf 
seine  Rechnung  gekommen  war.  Seine  herrschsüchtige  Gehässig- 
keit, mit  der  andere  revolutionäre  Größen  von  ihm  verspottet  und 
beschimpft  wurden,  wie  Weitling,  Sigel,  Mazzini,  Baku- 
nin.  Lassalle,  scheint  diesem  Urteil  recht  zu  geben.  Der 
letzerte  war  schon  in  einer  Anmerkung  des  Vorworts  des  „Kapitals" 
wegwerfend  abgekanzelt  und  in  einer  Kritik  des  Gothaer  Pro- 
gramms der  deutschen  Sozialisten  später  wiederum  lächerlich  ge- 
macht worden,  obwohl  damit  dem  eigenen  Lebenswerk  mehr  ge- 
schadet als  genützt  werden  mußte. 

Die  Marxsche  Lebensarbeit  ist  in  der  Hauptsache  Negation 
gewesen.  Wird  doch  „Das  Kapital"  als  Kritik  der  politischen 
Ökonomie  bezeichnet,  und  kam  es  darauf  an,  neben  der  bestehenden 
Wirtschaftsordnung  die  geltenden  Kulturwerte  Staat,  Nation, 
Kirche,  Ehe  zu  durchlöchern,  um  die  historisch  gewordene  Gesell- 
schaft über  den  Haufen  werfen  zu  können.  Unfruchtbarkeit  im 
Positiven,  internationales  Gefühl,  Aufwiegelung  der  Massen  lassen 
Eigenschaften  eines  Geistes  erkennen,  die  unter  den  Intellektuellen 
des  unter  den  Völkern  der  Erde  versprengten,  in  der  Abwehr  be- 
griffenen, unterdrückten  und  zugleich  machthungerigen  Judentums 
angetroffen  werden.  Das  „Kapital"  ist  jedem,  der  dem  Buche 
objektiv  gegenübersteht,  trotz  aller  seiner  einseitigen  Abstraktionen. 
eine  Fundgrube  wertvoller  Erörterungen,  die  der  nationalökono- 
mischen Wissenschaft  von  dauerndem  Nutzen  gewesen  sind.  Den- 
noch muß  man  sagen,  daß  das  System  als  Ganzes  verfehlt  ,ist. 
Es  ist  auch  keine  historische  Leistung  im  eigentlichen  Sinne.  Viel- 
mehr liegen  ihm  erdachte  Formeln  zugrunde,  denen  die  Wirklich- 
keiten der  Geschichte  wohl  oder  übel  angepaßt  werden.  Es  ent- 
hält Nachklänge  der  Hegeischen  Philosophie,  deren  Mecha- 
nismus unzart  von  dem  ideellen  auf  das  materielle  Gebiet  über- 
tragen worden  ist.  Aber  während  Hegel  hoch  über  den  Interessen 
des  Tages  stehen  wollte  und  daher  von  allen  Parteien  reklamiert 
wurde,  ist  das  Marx  sehe  Werk  von  einem  glühenden  Haß  durch- 
tränkt gegen  alles,  was  in  seiner  Zeit  Macht  und  Ansehen  besaß. 
Dazu  kommt,  daß  seine  Gedankenwelt  in  eine  Wertlehre  einge- 
zwängt ist,  die  den  subjektiven  Tatsachen  der  ökonomischen 
Realität  nicht  entspricht,  sondern  im  günstigsten  Falle  als  ein 
vorläufiges  Schema  zur  Erläuterung  von  Einzelerscheinungen 
gelten  kann.  So  gleicht  die  Marx  sehe  Wissenschaft  einer 
auf    schwachem    Untergrund    stehenden,    weiträumigen,    provisori- 


VII.  Arbeiterfrage  und  Sozialdemokratie.  20^ 

sehen,  von  außen  mit  massiven  Formen  übermalten  Halle,  in  der 
manche  schöne  Sachen  ausgestellt  worden  sind.  Nach  dem  Aus- 
stellungsjahr wird  sie  abgerissen,  und  die  Kunstgegenstände  ver- 
teilen sich  über  alle  Welt.  Das  schließt  aber  nicht  aus,  daß  man- 
cher, der  sich  die  Einzelheiten  angesehen  hat,  befriedigt  nach  Hause 
gegangen  ist  und  wirksame  Anregungen  mitgenommen  hat. 

Die  Theorie  des  Werts,  des  Mehrwerts,  des  Lohns,  der  zu- 
nehmenden Verelendung  der  Massen,  die  Konzentration  des  Eigen- 
tums in  wenigen  Händen  haben  die  Probe  auf  die  Geschichte  der 
folgenden  50  Jahre  nicht  bestanden.  Die  Arbeiterklasse  ist  viel- 
mehr als  ganze  gehoben,  die  Arbeitszeit  ist  abgekürzt  worden,  die 
Löhne  sind  gestiegen.  Das  Kapital  hat  sich  nicht  in  den  Händen 
weniger  zusammengeballt,  sondern  ist  als  Eigentumsgröße  verteilt 
geblieben,  wenn  auch  die  industriellen  Betriebe  stark  gewachsen 
sind.  Die  Wirtschaftskrisen  sind  durch  Planmäßigkeit  der  Kartell- 
produktion, durch  Handeln  nach  der  Erfahrung  früherer  Vorgänge, 
durch  staatliches  Eingreifen  gemildert  worden.  Von  einem  Ab- 
sterben des  Staates,  das  Engels  prophezeite,  ist  nichts  zu  merken. 
Vielmehr  sind  dem  Staate  immer  neue  Aufgaben  des  menschlichen 
Zusammenlebens  zugewiesen  worden.  Der  Entwicklungsgang  der 
„Emanzipation  des  vierten  Standes"  hat  sich  im  demokratischen 
Staate  vollzogen,  wie  es  Lassalle  sich  gedacht  hatte.  Es  hat 
sich  ereignet,  was  in  der  Geschichte  schon  oft  erlebt  worden  ist: 
Zuerst  wird  eine  aufstrebende,  unterworfene  Klasse  sich  ihrer 
Zusammengehörigkeit  bewußt,  dann  fordert  sie  gleiche  Rechte,  und 
sind  diese  gewährt,  Vorrechte,  auf  denen  sie  die  alleinige  Macht 
aufzubauen  gedenkt. 

„Gebt  Freiheit,  nifen  die  Partei'n, 

Mit  was  für  Farben  sie  sich  schmücken: 

Das  heißt:  Gebt  uns  das  Reich  allein, 

Daß  wir  die  andern  unterdrücken. 

So  ist  es,  war's  und  wird  es  sein."  (E.  Geibel.) 

Wie  das  siegreiche  Christentum  in  der  antiken,  das  Bürgertum 
in  der  feudalen  Gesellschaft  sich  mäßigen  mußten,  um  das  Er- 
kämpfte zu  behaupten,  so  wird  auch  ein  zur  Macht  gelangter  Sozia- 
lismus die  Prinzipien  preisgeben,  um  die  persönliche  Gegenwart  zu 
retten.  Das  Christentum  hat  Staat,  Gericht,  Krieg,  Priestertum, 
Theologie,  Künste,  Weltlichkeit  gutgeheißen,  die  es  anfangs  voll- 
ständig verurteilt  hatte,  das  Bürgertum,  den  Staatsbetrieb,  die 
Finanzmonopole,  den  Schutzzoll,  die  Zwangsgenossenschaft  und 
andere  Freiheitsbeschränkungen,  die  ehedem  verfehmt  waren.  So 
wird  auch  eine  herrschende  Sozialdemokratie  nimmer  den  Marx- 
schen  Kommunismus  verwirklichen,  sondern  Armut  und  Reichtum, 


206  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848 — 1871. 

Eigentum  und  Rente,  Herrschaft  und  Luxus  als  etwas  Notwendiges 
zu  behaupten  wissen. 

Die  Betonung  der  wirtschaftlichen  Ursächlichkeit  in  den  ge- 
schichtlichen Zuständen  und  Ereignissen  ist  ein  Verdienst  von 
Marx,  da  diese  Richtung  bisher  kaum  gewürdigt  war.  Allein 
diese  sogenannte  materialistische,  richtiger  ökonomische  Ge- 
schichtsauffassung zum  Schlüssel  von  allem  Geschehen  zu  machen, 
woran  sich  auch  eifrige  Marxisten  wiederholt  versucht  haben,  blieb 
eine  Einseitigkeit,  die  man  höchstens  zu  den  praktischen  Zwecken 
der  Parteipolitik  festhalten  konnte.  Auch  der  aufgestellte  Gegen- 
satz der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  zu  derjenigen,  ,  in 
welcher  das  Produzieren  und  Austauschen  unmittelbar  dem  Ver- 
brauch dient,  also  nicht  durch  die  Durchgangsstufe  des  Gewinns 
vermittelt  wird,  hat  neue  Einsichten  in  die  Gegenwart  und  Ver- 
gangenheit gewährt,  solange  man  sich  dessen  eingedenk  bleibt, 
daß  dieser  Kapitalismus  nicht  eine  allbeherrschende  Naturgewalt 
ist,  sondern  ein  Werkzeug  des  ökonomischen  Vorankommens,  das 
die  Menschen  je  nach  ihrer  Beschaffenheit  zu  handhaben  ver- 
mögen, die  das  eigentliche  Aktive  in  der  Geschichte  ist. 

Anders  als  vom  Standpunkt  der  Wissenschaft  hat  das 
„Kapital' '  als  eindringliches  Werbebuch  der  Sozialdemo- 
kratie gewirkt.  Der  kampfbegeisterten  Führerschaft  war  es  eine 
Bibel,  aus  der  sie  alle  Sätze  und  Wendungen  herausholte,  die  im 
Klassenkampf  brauchbar  waren.  Es  ist  besonders  für  die  siebziger 
und  achtziger  Jahre  ein  gewaltiges  Arsenal  geschärfter  und  ver- 
gifteter Waffen  gewesen,  das  schier  unerschöpflich  war,  eine 
Mobilmachungsvorbereitung  zielbewußtester  Art. 

Vermittelt  und  mundgerecht  gemacht  wurde  der  agitatorische 
Marxismus  den  deutschen  Arbeitern  durch  zwei  Männer,  W.  Lieb- 
knecht und  A.  B  e  b  e  1.  Der  erstere  war  ein  Fanatiker  des 
Kommunismus,  sein  Leben  war  ein  gutgläubiger,  haßerfüllter 
Kampf  gegen  die  vorhandenen  Mächte  in  Staat  und  Gesellschaft. 
Der  andere,  aus  dem  Handwerkerstand  hervorgegangen,  fand 
immer  für  die  Massen  das  richtige  Wort,  er  wußte,  wo  dem  ge- 
wöhnlichen Mann  der  Schuh  drückt.  Fähig,  Organisationen  zu 
schaffen,  parlamentarisch  begabt,  blieb  er  eine  geistig  freie  Per- 
sönlichkeit, an  die  Doktrin  nicht  so  gefesselt  wie  sein  in  Leiden- 
schaft aufbegehrender  Mitarbeiter.  Den  Verband  deutscher  Ar- 
beitervereine, der  1863  von  dem  Liberalismus  gegen  Lassalle 
geschaffen  wurde,  zog  Bebel  ganz  in  das  sozialistische  Netz. 
1869  wurde  auf  dem  Kongreß  zu  Eisenach  aus  diesem  Verband  die 
sozialdemokratische  Arbeiterpartei,  die  die  Internationale  aner- 
kannte, einen   demokratischen  Volksstaat  verlangte,   der  an   Stelle 


VII.  Arbeiterfrage  uud  Sozialdemokratie.  207 

der  Lohnarbeit  „die  genossenschaftliche  Arbeit  mit  dem  vollen 
Arbeitsertrag  für  jeden  Arbeiter"  setzen  soll.  1871  wurden  120  108 
Stimmen  für  den  Sozialismus  überhaupt  abgegeben,  1874  beinahe 
400000  und  10  Abgeordnete  gewählt,  darunter  die  genannten 
Führer  der  extremen  Richtung.  Im  folgenden  Jahre  brachte  der 
schon  erwähnte  Einigungskongreß  mit  den  Lassalleanern  zu  Gotha 
ein  Programm,  das  bis  1891  seine  Gültigkeit  bewahrt  hat.  Der 
Ausgleich  beider  Gruppen  wurde  darin  gefunden,  erstens,  daß  als 
letztes  Ziel  die  Verwandlung  der  Arbeitsmittel  in  Gemeingut  .der 
Gesellschaft,  als  näheres  hingegen  Produktivgenossenschaften  für 
Industrie  und  Ackerbau  mit  Staatshilfe  unter  demokratischer  Kon- 
trolle des  Volkes  verlangt  werden;  zweitens,  daß  die  sozialistische 
Gesellschaft  mit  allen  gesetzlichen  Mitteln  erkämpft  werden  soll, 
also  auch  mit  Gewerkschaften,  daß  jedoch  auf  die  politische  Tätig- 
keit das  Hauptgewicht  gelegt  wird. 

Marx  hat  dieses  Programm  aufs  schärfste  gegeißelt  und 
bewies  damit,  daß  ihm  die  Politik  als  die  Kunst  des  möglichst  Er- 
reichbaren nicht  lag.  Das  Gothaer  Programm  erschien  seiner 
abstrakten  Denkweise  als  ein  Wirrwarr,  mit  dem  seine  Schüler  ;der 
Praxis,  die  an  kleine  Interessen,  hergebrachte  Meinungen  und 
Personen  gebunden  sind,  ohne  Bedenken  fertig  wurden.  Keiner 
von  ihnen  hat  die  Theorie  nur  um  einen  Schritt  weiter  gebracht,, 
aber  viele  haben  mit  ihren  Reden  die  Arbeiterstimmen  für  den 
Reichstag  vermehrt.  Die  gemäßigten  sozialistischen  Schriftsteller 
der  nächsten  Generation,  die  sich  Revisionisten  nannten,  haben  das 
Unrealistische  des  Marxismus,  indem  sie  sich  der  Argumente  der 
verhaßten  bürgerlichen  Nationalökonomen  bedienten,  sanft  bei- 
seite geschoben,  um  den  Sozialismus  als  Theorie  zu  retten.  Dabei 
wurden  sie  theoretische  Führer  der  Arbeiterdemokratie,  die  die 
Arbeiter  aufzureizen  hatten  und  ihnen  den  Sozialismus  als  etwas 
Selbstverständliches  hinstellten,  den  man  nicht  mehr  ökonomisch 
zu  rechtfertigen  habe.  Auch  der  Hunger  konnte  bald  nicht  mehr 
als  Triebfeder  zum  Umsturz  in  der  Presse  gebraucht  werden,  seit- 
dem die  Löhne  in  der  erstarkten  deutschen  Volkswirtschaft  rasch 
stiegen.  Da  nun  aber  die  Lebensbedürfnisse  der  Arbeiter  sich 
noch  schneller  ausweiteten,  hatte  der  Volksredner  immer  ein  dank- 
bares Publikum,  wenn  er  „der  größten  Menge  das  größte  Glück", 
bei  dem  sich  jeder  Zuhörer  ein  reichlicheres  Genießen  dachte,  als 
ihm  gerade  beschert  war,  versprach.  So  kam  es,  daß  die  M  a  r  x  - 
sehe  Ausbeutungstheorie  ihre  Gläubigen  nicht  verlor,  obwohl  die 
reicher  gewordene  besitzende  Klasse  den  steigenden  Bedürfnis- 
stand der  nicht  besitzenden  volkswirtschaftlich  anerkannte,  wie  ein 
wohlhabendes  Haus  die  Dienstboten  besser  leben  läßt  als  ein  armes. 


2o8  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848 — 187 1. 

Zu  dieser  allgemeinen  Verbesserung  der  Lage  der  Lohn- 
arbeiter hat  die  nationale  Wirtschaftspolitik  der  achtziger  Jahre 
beigetragen.  Aber  ehe  sie  einsetzen  konnte,  hat  das  deutsche  Volk 
erst  die  Möglichkeit  der  gegenteiligen  politischen  Praxis  an  sich 
erproben  wollen.  Das  führt  uns  zu  der  Handelspolitik  des  Zoll- 
vereins zurück,  wie  sie  sich,  in  den  sechziger  Jahren  einsetzend, 
vollzogen  hat.  Der  Lebenshaltung  der  Arbeiterklasse  ist  sie  ab- 
träglich gewesen,  und  die  schlimmsten  Jahre  der  Arbeiterbewegung 
fallen  mit  den  Folgen  der  verfehlten  Wirtschaftspolitik  in  den 
siebziger  Jahren  zusammen. 

VIII.  Die  Freihandelsära  des  Zollvereins.  Auf 
den  Generalzollkonferenzen  in  der  zweiten  Hälfte  der  fünfziger 
Jahre  standen  keine  umgestaltenden  Dinge  zur  Beratung.  Der 
Zolltarif  blieb  derselbe,  nur  einige  Verbrauchsabgaben  wurden  neu 
geordnet.  1856  trat  die  freie  Hansestadt  Bremen  mit  einem  Teil 
ihres  Gebiets  dem  Verein  bei. 

Der  Verkehr  mit  dem  Ausland  war  durch  Bahnanschlüsse  er- 
leichtert worden.  Das  Bahnnetz  zählte  1855  auf  dem  Gebiete  des 
späteren  Reichs,  ohne  Elsaß-Lothringen,  7826  km,   1865   13900. 

Die  Tragfähigkeit  der  deutschen  Handelsflotte  war  an  Segel- 
schiffen nach  W.  Vogel  1825  300000  Tonnen  zu  1000  kg,  1850 
750000  und  1875  I  650000.  Die  Dampfschiffe  machten  1850  erst 
10  000  Tonnen  aus  und  stiegen  in  den  nächsten  25  Jahren  auf 
333  000.  Freilich  war  England  gewaltig  überlegen,  das  nach  der 
Aufhebung  der  Navigationsakte  der  Stapelplatz  Europas  geworden 
war  und  den  Seeverkehr  mit  Massenartikeln,  wie  Getreide, 
Kohlen,  Eisen,  Baumwolle,  Salpeter,  an  sich  gezogen  hatte.  Nur 
in  der  Südsee  war  die  Hamburger  Firma  J.  C.  Godeffroy, 
&  Sohn  bei  weitem  die  erste  Reederei  und  das  erste  Handelshaus. 
Man  nannte  ihren  Inhaber  den  Fürsten  der  Südsee,  der  mit  kleinen 
Schiffen  die  Verbindung  unter  den  Inseln  herstellte,  mit  den 
größeren  Asien  und  Amerika  anlief  und  sie  beladen  nach  Europa 
zurückführte.  1850  verkehrten  in  Hongkong  10  Hamburger  Schiffe 
mit  4500  Tonnen,   1864  315  mit  94000. 

Wie  ein  Krieg  für  Jahrzehnte  wirtschaftliche  Tätigkeiten 
zerstören  kann,  hat  der  amerikanische  im  Anfang  der  sechziger 
Jahre  gezeigt.  Durch  Kaperei  und  Stillegen  verschwanden  die 
Schiffe  der  Nord-  und  Südstaaten  auf  dem  Ozean,  und  die  ver- 
lorene Position  ist  bis  19 14  nicht  eingeholt  worden.  Die  Hanse- 
städte nutzten  die  Gelegenheit  aus.  Von  1860 — 70  verdreifachte 
sich  ihr  Anteil  an  dem  Seeverkehr  mit  den  Vereinigten  Staaten. 

In  Hamburg  war  1847  zu  diesem  Zweck  die  Hamburg- 
Amerikanische    Paketfahrt-Aktiengesellschaft    mit 


VIII.  Die  Freihandelsära  des  Zollvereins. 


209 


300000  M.  Grundkapital  durch  die  Initiative  des  Schiffsmaklers 
August  Bolten  und  der  Kauf leute  und  Reeder  Adolf 
Godeffroy,  der  33  Jahre  ihr  Direktor  gewesen  ist,  E.  Merck, 
C.  Woermann  und  F.  Laeiß  errichtet  worden.  Die  Schiffe 
waren  in  England  gebaut,  4  Segelschiffe  und  2  Dampfschiffe 
aus  den  Jahren  1848  und  1855.  Der  deutsche  Schiffsbau  folgt  aber 
der  Flagge  auf  dem  Meere  bald  nach.  1858  war  das  erste  große 
Segelschiff  auf  Reihersteigs  Werft  in  Hamburg  vom  Stapel 
gelaufen.  In  Bremen  genießt  die  Schiffsbaugesellschaft  von  H.  F. 
Ulrichs  nach  1870  eines  begründeten  Ansehens.  Hier  ist  1857 
für  den  transatlantischen  Verkehr  der  Norddeutsche  Lloyd 
aus  der  Zusammenlegung  mehrerer  kleiner  Gesellschaften  hervor- 
gegangen. Dem  schon  erwähnten  H.  H.Meier,  dem  Vorsitzenden 
des  Aufsichtsrats,  ist  das  Hauptverdienst  um  diese  Gründung  zuzu- 
schreiben, und  bis  1877  trägt  die  Gesellschaft  den  Stempel  dieses 
Mannes.  Die  Fäden  zu  erweitern,  welche  die  Nationen  überall  ver- 
knüpfen, war  ihm  ebenso  am  Herzen  gelegen,  wie  daheim  die 
Kräfte  zu  beleben,  die  für  ausländische  Beziehungen  von  grund- 
legender Bedeutung  sind,  sei  es  im  Waren-,  sei  es  im  Passagier- 
verkehr. Der  erste  langjährige  Direktor  war  Crüsemann.  Der 
Lloyd  brachte  es  1866  auf  20000  Brutto-Registertonnen,  1875  ^^f 
looooo.  Hamburger  Seeschiffe  hatte  es  1841 — 45  211  mit  39570 
Brutto-Registertonnen,  1867  487  mit  183000  gegeben.  Hamburg 
war  damals  an  eigenem  Schiffsraum  Bremen  schon  überlegen. 

Die  beiden  genannten  Dampferlinien  nach  Amerika,  die  uns 
weiter  unten  noch  beschäftigen  werden,  sind  groß  geworden  durch 
rastlose  Einstellung  neuer  Strecken,  durch  technische  Verbesse- 
rungen des  Transports,  durch  die  Qualitätsleistung  für  Passagiere, 
durch  die  Liniendampfer  mit  festen  Routen  und  Ausfahrttagen 
was  alles  in  den  Köpfen  tatkräftiger  und  weitschauender  Männer 
zusammengefaßt  wurde. 

Über  den  Außenhandel  des  Zollvereins  hat  H.  Rau  folgende 
Angaben  gemacht: 


Jahr 

Wert  der  Einfuhr 

Auf  den  Kopf 

Wert  der  Ausfuhr 

Auf  den  Kopf 

in  Mill.  Tlr. 

der  Bevölkerung 

in  MiU.  Tlr. 

der  Bevölkerung 

1834 

105,94 

4.5 

143.62 

6,1 

1842 

188,67 

6,7 

162,94 

5.8 

1854 

269,12 

8,2 

334.19 

10,3 

1857 

354.31 

10,7 

354.31 

10,6 

1860 

365,06 

10,9 

465,39 

13.8 

A.Sartorius  v.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        14 


2IO 


IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848 — 187 1. 


Seit  1854  ist  die  Steigerung  der  absoluten  Zahl  stark.  Über 
die  Zusammensetzung  des  Handels  gibt  für  1864  Bienengräber 
diese  Auskunft: 


Gegenstände 

Einfuhr 
in  Vo 

Ausfuhr 

in7„ 

Verbrauchsgegenstände 

Rohstoffe 

26,66 
38.12 
22,58 

9,17 
1,27 

22,94 
15,12 

9,00 
51.55 

1.39 

Halbfabrikate  und  Fabrikmaterialien 

Ind.  Ganzfabrikate 

Andere  Gegenstände 

Von  den  Verzehrungsgegenständen  waren  die  hauptsäch- 
lichsten Ausfuhrprodukte  Getreide,  Branntwein,  Wein,  Mühlen- 
fabrikate; von  den  Fabrikaten  baumwollene,  wollene,  seidene  und 
leinene  W^aren,  dann  chemische,  Eisen-,  Stahl-,  Holz-,  Kurz-  und 
Glaswaren,  Instrumente,  fertige  Kleider,  Kupfer-  und  Messing-, 
gegenstände,  Papier,  Steingut  und  Porzellan. 

Diese  P'ortschritte  machten  den  damaligen  Nationalökonomen 
und  Politikern  gewaltigen  Eindruck,  so  daß  sie  andauernd  eine 
größere  Freiheit  des  Außenhandels  befürworteten.  Der  Schutzzoll 
habe  erzieherisch  seine  Schuldigkeit  getan,  die  Industrie  sei  der 
frischen  Luft  des  Weltverkehrs  gewachsen  und  werde  erst  recht 
vorankommen,  wenn  man  zum  Freihandel  übergehe.  England  mit 
seinen  P^abriken,  Maschinen,  Verbesserungen  der  Lage  der  ge- 
lernten Industriearbeitern  wurde  als  Vorbild  und  seine  Wirtschafts- 
politik als  das  Ergebnis  seiner  weisen  Theorien  gepriesen.  In  den 
zwanziger  Jahren  hatte  die  liberale  Politik  mit  den  Gesetzen 
Cannings  und  Huskissons  begonnen,  wohlüberlegt  war  sie 
von  Peel  von  1842 — 46  fortgesetzt  und  durch  die  Tarife  Glad- 
stones  1853  und  1860  vollendet  worden.  Man  hatte  zuerst  die 
Einfuhrverbote  und  die  Ausfuhrzölle,  dann  die  Rohstoff-  und  Lebens- 
mittel-, endlich  die  industriellen  Einfuhrzölle  beseitigt.  Es  blieben 
nur  die  reinen  Finanzzölle,  die  auf  wenige  Hauptartikel  von  großer 
Einträglichkeit  beschränkt  waren. 

England  im  Besitz  seiner  Weltindustrie,  seiner  Welthandels- 
flotte und  seiner  Kapital-  und  Geldmacht  konnte  eine  solche  Politik 
wohl  wagen,  obwohl  man  es  nach  sechzigjähriger  Erfahrung, dahin- 
gestellt sein  lassen  mag,  ob  sie  die  richtige  gewesen  ist.  Das 
System  zeichnete  sich  jedenfalls  durch  einfache  und  billige  Ver- 
waltung aus  und  führte  zu  einer  weiteren  Erstarkung  der  Industrie 
durch  die  Verbilligung  der  Rohstoffe  und  Nahrungsmittel.  Es 
mußte  um  so  erfolgreicher  sein,  wenn  in  der  Konkurrenz  schwächere 


VIII.  Die  Freihandelsära  des  Zollvereins.  2 1 1 


Länder  es  wiederholten,  was  man  mittels  einer  logisch  durch- 
gebildeten Theorie  und  einer  gewandten  Diplomatie  zu  erreichen 
suchte.  Als  Hauptbeweisgrund  betonte  man  die  internationale 
Arbeitsteilung,  indem  man  den  Nutzen  der  Spezialisierung  für  die 
Verbraucher,  den  A.  Smith  für  die  Nadelfabrik  erkannt  hatte, 
auf  große  Reiche  übertrug,  das  Nebeneinander  von  agraren  und 
industriellen  Staaten  in  diesem  Sinne  interpretierte  und  jedem 
Lande  großmütig,  aber  gut  berechnend,  diejenige  Industrie  in  dem 
freien  Weltwettbewerb  auszubilden  empfahl,  für  die  es  aus  natür- 
lichen Gründen  am  besten  geeignet  sei,  obwohl  für  jede  Industrie 
die  geschichtlich  gegebene  Entwicklungsmöglichkeit  das  eigentlich 
Entscheidende  ist.  Das  letzte  Ziel  bestand  darin,  den  Inselstaat 
als  eine  industrielle  Stadt  zu  denken,  die  von  einem  agraren 
Länderkreis  umgeben  sein  sollte.  Unter  steter  Konkurrenz  aller 
ihrer  Bewohner  hatte  die  agrare  Zone  Rohstoffe  und  Lebensmittel 
zu  liefern  und  als  Gegengabe  Fabrikate  aller  Art,  d.  h.  von  jener 
allein,  also  unter  Monopolpreisen  zu  empfangen. 

Die  volle  Einsicht  in  diesen  raffinierten  Egoismus  hatte  F  r. 
List  bereits  besessen,  war  aber  den  meisten  deutschen  Volkswirten 
verloren  gegangen.  Warum  sollte  man,  so  fragten  sie  sich,  der 
Lockung  nicht  folgen,  da  Agrarländer  wie  Rußland,  Italien,  Däne- 
mark, die  Vereinigten  Staaten,  um  ihre  Überschüsse  los  zu  werden, 
dem  internationalen  freien  Verkehr  Zugeständnisse  zu  machen  sich 
anschickten  und  Norddeutschland  noch  in  der  Lage  war,  Getreide 
und  Vieh  auszuführen? 

Welche  Handelspolitik  ein  Land  wählen  soll,  entscheiden  in 
konstitutionellen,  noch  mehr  in  parlamentarisch  regierten  Staaten 
die  Parteien  und  die  Berufsgruppen  für  sich  nach  ihrem  Interesse 
daran,  wobei  sie  stets  behaupten,  daß  sich  ihr  Wohl  mit  dem  der 
Volksgesamtheit  decke.     Für  einen  über  beiden  stehenden  Staats- 
mann erwächst   dann  die   schwierige   Frage,   wie  diese   Ansprüche 
gegeneinander   abzuwägen   sind,   wobei   er   sich   von   mechanischen 
Majoritätsergebnissen  um  so  weniger  wird  leiten  lassen,  als  er  ein 
.  festes    politisches    Ziel   verfolgt,    das    nicht    oft    ein   ausschließlich 
wirtschaftliches  sein  wird.     Irrtümlich  ist  es  zu  glauben,   daß   die 
Engländer  mit  ihrem  Freihandel  nur  naheliegende  wirtschaftliche 
Wünsche    haben    befriedigen    wollen.      Ihre    vom    stärksten    Herr- 
schaftswillen getragene  Politik  hat  immer  in  die  Zukunft  geschaut, 
und  immer  haben  sie  andere  Völker  umnebelnde  humanitäre  Wen- 
dungen  gefunden,   um   ihre   Machtgier   zu   verhüllen.     Das   wurde, 
ihnen  dadurch  so  erleichtert,  daß  für  solche  Pläne  seiner  Führer 
das  ganze  Volk  immer  ein  instinktives  Mitempfinden  gehabt  hat, 
während   in    Deutschland   große    patriotische    Ziele    seiner    Staats- 

14* 


212  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848' — 1871. 

männer  regelmäßig  die  heftigste  Gegnerschaft  haben  erdulden 
müssen.  Zu  diesen  Zielen  gehörte  der  Freihandel  der  sechziger 
Jahre  nicht. 

Die  Stellung  der  deutschen  Erwerbsgruppen  zu  der  äußeren 
Handelspolitik  war  diese:    Den  Freihandel  forderte  der  Handels- 
stand der  Seestädte  an  der  Nord-  und  Ostsee  mit  seinem  binnen- 
ländischen Gefolge,  da  er  ihm  nur  größere  Umsätze  bringen  konnte. 
Ihm   stimmte   die   ausführende   Landwirtschaft   zu,   die   durch   stei- 
genden Absatz   von   Getreide,   Vieh,   Branntwein,   neuerdings   auch 
Zucker,  Vorteile  erwartete  und  sich  bei  der  Einfuhr  von  Maschinen, 
Werkzeugen,     Kunstdünger    billiger    zu    versorgen    hoffte.      Das 
Bankiergewerbe,   soweit   es    sich   vernehmen   ließ,   hatte   sich   dem 
Großhandel    angeschlossen.      Die    Lohnarbeiter    hatten    politisch 
nichts  zu   sagen  und  besaßen  als   Klasse  keine  Organe,  um   sich 
äußern  zu  können.     Sie  waren  auch  direkt  wenig  interessiert,   da 
die  Lebensmittelzölle  nicht  zur  Diskussion  standen.    Die  liberalen 
Politiker  behaupteten  zudem,  daß  der  Freihandel  einer  Erhöhung 
des  Sachlohns  gleichkäme.     Nun  trat  für  die  Aufhebung  der  Schutz- 
zölle noch  eine  große  Zahl  von  Berufsparlamentariern,  Publizisten, 
Nationalökonomen   ein,    die    sich   für    die   Verteidiger    der    Konsu- 
menten ausgaben.     Konsument  sei  jeder,  und  da  der  Freihandel 
die  Waren  verbillige,   so   müßten  alle  durch   ihn  gewinnen.     Die 
Frage  nach  dem  Gesamtinteresse  schien  daher  spielend  gelöst  zu 
sein.     Indessen    ist   es    schwer,    zu   glauben,    daß    die    Advokaten, 
Ärzte,   Kreisrichter,   Professoren  und  Rentiers,   die  in  den  Volks- 
vertretungen saßen  und  den  Freihandel  am  lebhaftesten  priesen, 
deshalb  so  für  ihn  begeistert  waren,  weil  sie  unter  ihm  vielleicht 
einen   billigeren   Anzug   oder   einen   billigeren    Hut   hätten   kaufen 
können.    Das  ungeheure,  andauernde  Geschrei,  das  in  ihrer  Presse 
erhoben  wurde,   ist  nur  zu  begreifen,   wenn  Wichtigeres  auf  dem 
Spiele  stand,  das  man  mit  dem  Verbraucherwohl  zu  verschleiern 
Veranlassung  hatte.     Schon  Saint  Simon  hatte  in  seiner  histo- 
rischen   Klassenbetrachtung    darauf   hingewiesen,    daß    das    arbei- 
tende   Volk,    das    er    die    Industriellen    nennt,    von    einer    kleinen 
Schicht    der    Legistes,    Rechtsanwälte,    Schriftsteller    und    anderen 
sogenannten  Intellektuellen  am  Gängelband  geführt  werde,  deren 
es  sich  zu  er\Vfehren  habe.    Sie  mache  sich  zum  Selbstzweck,  indem 
sie  die  politische  Macht  an  sich  risse,  die  sie  für  ihre  persönliche 
Befriedigung   auszunutzen    verstände.     Diese    Gruppe    von    Leuten 
war    auch    in    Deutschland    vorhanden,    und    die    handelspolitische 
Streitfrage  war  ihr  eine  erwünschte  Gelegenheit,  ihre  Fähigkeiten 
zur    Herrschaft    zu    erproben    und    die    wirtschaftlich    produktiven 
Klassen  an  die  Wand  zu  drücken. 


VIII.  Die  Freihandelsära  des  Zollvereins.  2I3 


Auf  der  anderen  Seite  finden  wir  die  großen  und  mittleren 
Fabrikanten  im  Eisen-  und  Textilgeschäft,  die  Besitzer  von  Kohlen- 
und  Eisengruben,  die  Maschinenfabrikanten,  die  Anfertiger  von 
Eisenbahnmaterial,  zahlreiche  Schichten  des  Handwerks.  Die 
industriellen  Großproduzenten  waren  es  in  England  gewesen,  die 
sich  für  den  Freihandel  eingesetzt  hatten,  die  Manchesterleute,  in 
Deutschland  war  es  umgekehrt,  und  das  hätte  schon  darauf  auf- 
merksam machen  können,  wie  falsch  es  war,  die  fremde  Politik 
nachzuahmen.  Mochte  auch  noch  so  oft  die  Behauptung  auf- 
gestellt werden,  die  ganze  deutsche  Industrie  sei  bereits  auf  dem 
Weltmarkt  konkurrenzfähig,  viele  ihr  Angehörige  wußten  es 
besser,  weshalb  sie  politisch  ihre  englischen  Kollegen  nicht  nach- 
ahmen wollten. 

Die  Freihandelsbewegung  würde  nun  am  Anfang  der  sech- 
ziger Jahre  diesen  Umfang  nicht  angenommen  haben,  wenn  sich 
für  sie  der  politische  Liberalismus  mit  den  eben  genannten  Wort- 
führern nicht  eingemischt  hätte.  Er  hatte  die  Niederlage  von 
1848  nicht  vergessen  und  wollte  sein  Bedürfnis  an  der  Verwirk-, 
lichung  der  Doktrin,  das  er  auf  politischem  Gebiete  damals  aus 
Frankreich  zu  decken  vergeblich  gehofft  hatte,  nun  mit  einem 
englischen  Import  decken.  In  Preußen  war  es  namentlich  die 
Fortschrittspartei,  welche  das  ganze  Wirtschaftsleben  individuali- 
sieren wollte  und  um  so  eifriger  darauf  bestand,  weil  sie  sich  in 
einem  Konflikt  mit  dem  leitenden  Staatsmann  um  die  Heeres- 
reorganisation befand. 

Die  liberalen  Nationalökonomen  tagten  jährlich  auf  den 
volkswirtschaftlichen  Kongressen,  wo  Freihandel,  Gewerbefreiheit, 
freie  Notenemission,  freie  Konkurrenz  für  Privatbahnen  und  Ver- 
sicherungsgesellschaften verherrlicht  wurden.  Die  Hauptwort- 
iührer  waren  O.  Michaelis,  Redakteur  der  Nationalzeitung, 
K.  Braun,  O.  Hübner  und  der  gemäßigte  ,  B  enni  g  s  en. 
Eifrige  Berater  in  Wirtschaftsdingen  waren  diesen  Politikern  die 
Ausländer  J.  Faucher  und  John  Prince  Smith,  letzterer 
ein  naturalisierter  Engländer,  ganz  befangen  in  dem  Handelsgeist 
seiner  Heimat,  in  seiner  Beschränktheit  fest  überzeugt,  daß  billig 
einkaufen  das  Glück  der  Menschen,  der  Freihandel  den  ewigen 
Frieden  der  Völker  verbürge.  Seine  Lehre  war  ein  Auszug  der 
englischen  Vulgärökonomie,  wie  sie  C  o  b  d  e  n  und  B  r  i  g  h  t  ver- 
flacht hatten,  um  den  Freihandel  der  Masse  mundgerecht  zu 
machen,  und  aus  B  a  s  t  i  a  t  s  geistreichen,  aber  grundverkehrten 
„Ökonomische  Harmonien".  Alle  sozialen  Fragen  lösen 
sich  diesen  Lehren  gemäß  in  der  freien  Konkurrenz  von  selbst, 
der   Besitz    von   Kapital   ist   der   Hauptgrund   des   Abstandes    von 


214  ^^'  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848 — 187 1. 

Kultur   und    Unkultur,    der   freie    Verkehr   bringt   die    „wirtschaft- 
liche Weltgemeinde",  auf  die  ihr  Wunsch  gerichtet  war.    Es  kann 
kein  Monopol  an  Naturkräften  und  Kapital  geben,  also  auch  keine 
Arbeiterfrage,   wenn   nur   der   freie   Wettbewerb   aufrecht   erhalten 
wird.    Diese  „Manchesterlehre"  war  eine  Folgerung  der  englischen 
Nutzenphilosophie,  die  bei  Jeremias  Bentham  einen  extremen 
Ausdruck  gefunden  hatte  und  dem  englischen  Geiste,  damals,  wie 
noch   heute,   angepaßt  war.     Jeder   habe   so   viele    Glücksgüter   zu 
erstreben  als  nur  möglich  sei,  und  sein  egoistisches  Begehren  nur 
so  weit  einzudämmen,  als  er  dazu  durch  die  Rücksicht  auf  andere 
Menschen  genötigt  sei,  die  von  demselben  Willen  geleitet  werden. 
Da  nun  der  Reichtum  das  wesentliche   Gut  ist,   das   der  einzelne 
sich  erwerben  und  erhalten  kann,  so  steht  er  im  Vordergrund  allejr 
Betrachtung.     Die    Nationalökonomie   setzte   hinzu,   daß    das   wirt- 
schaftliche   Wohl    einer    Gesamtheit    das    summierte    aller    Einzel- 
personen  sei  und  daß,   wenn  jedem   die   volle   Freiheit   des   Wirt-^ 
schaftens  gegeben  sei,  wenn  der  Staat  sich  nicht  in  die  Angelegen- 
heiten  der   Erwerbszweige   einmische,    der   Egoismus    durch   einen 
natürlichen    Mechanismus    die    Kostenherabsetzung    aller    Waren 
herbeiführe    und    somit    den    Verbrauch    aller    verbillige.      Dieser 
Utilitarismus  ist  so  undeutsch  wie  möglich,  und  jeder,  der  je  einen 
Einblick    in    die    deutsche    idealistische    Philosophie    getan    hatte, 
wußte,  daß  dieser  seichte  Eudämonismus  niemals  mit  der  Pflichten- 
lehre gegen  die   Mitmenschen  und  gegen  den   Staat   in   Einklang 
gebracht   werden   konnte.     Nach    deutscher   Auffassung    steht    das 
Individuum  um  so  höher,  je  mehr  es  sich  seiner  Aufgaben  gegen 
die  Gemeinsamkeit  bewußt  ist,  und  der  Staat,  je  mehr  er  Pflichten 
gegen    seine    Bürger  anerkennt.     Die  deutsche   Nationalökonomie 
hat   denn    auch    entschieden    Stellung    gegen    die    Manchesterlehre 
genommen.     Schon    A.    Müller,    Fr.    List,    Thünen,    Rod- 
bert u  s ,    W.    Röscher    hatten    anders    gedacht,    der  ;  späteren 
sozialpolitischen  oder  ethischen  Richtung  blieb  es  vorbehalten,   in 
der  praktischen   Nationalökonomie   die   Staats-   und   Pflichtenlehre 
tiefer  historisch  zu  begründen.     Das   Staatsideal  der   Manchester- 
schule ist  der   Nachtwächter,   der  an  vorsichtige  Behandlung  ;des 
Feuers  jund  des  Lichts  mahnt  und  Frieden  .gebietet,  wenn  es  Krakehl 
gibt.    Sind  aber  der  Unruhestifter  zu  viele,  so  zieht  er  sich  vorsichtig 
zurück,  bis   die  Machtfrage  entschieden  ist,  unbekümmert   darum, 
wer  im  Rechte  ist. 

Zu  dem  Kreis  der  liberalen  Nationalökonomen  gehörte  auch 
F.  H.  Schulze  (geb.  1808  in  Delitzsch),  der  sich  schon  i848,iher- 
vorgetan  hatte,  als  er  als  Mitglied  der  preußischen  Nationalver- 
sammlung den  Vorsitz  in  der  Kommission  zur   Prüfung  des   Not- 


VIII.  Die  Freihandelsära  des  Zollvereins. 


215 


Standes  im  Arbeiter-  und  Handwerkerstände  führte.  1849  begrün- 
dete er  eine  Kranken-  und  Sterbekasse  und  1850  den  ersten  auf 
dem  Prinzip  der  Solidarhaft  ruhenden  Vorschußverein.  Seitdem 
hat  er  unermüdHch  für  das  nach  ihm  benannte,  auf  Selbsthilfe 
gestellte  Genossenschaftswesen  gewirkt  und  Großes  zuwege  ge- 
bracht. Sein  Jahresbericht  von  1881  meldet  3481  Erwerbs-  und 
Wirtschafts-,  Kredit-  und  Konsumvereine,  die  sich  derart  bewährt 
hatten,  daß  sie  auch  in  anderen  Ländern,  wie  Frankreich  und 
Italien,  Nachahmung  fanden.  Lassalle  hatte  Schulze,  den 
Abgeordneten  der  Fortschrittspartei,  in  einer  Broschüre  angepöbelt 
(Herr  Bastiat-Schulze  von  Delitzsch,  der  ökonomische  Julian  oder 
Kapitalund  Arbeit,  1864)  und  die  freien  Genossenschaf ten  lächerlich 
zu  machen  gesucht.  Gewiß,  es  konnte  die  Lohnarbeiterfrage  mit 
diesem  Mittel  nicht  gelöst  werden,  aber  Schulze  hat  viel  für  den 
Kleingewerbetreibenden  geleistet  und  manchen  vor  dem  Herab- 
sinken in  das  Proletariat  gerettet.  Da  er  die  Staatshilfe  für  seine 
Schützlinge  nicht  direkt  in  Anspruch  nahm,  haben  ihn  die  Liberalen 
sich  immer  zugerechnet.  In  Wahrheit  vertritt  seine  Schöpfung  die 
soziale  Ordnung,  „die  Haftung  aller  für  einen,  einer  für  alle", 
statt  den  Individualismus.  Eben  darum  ist  sie  groß  geworden. 
Sie  hat  auch  des  Staates  nicht  entraten  können,  der  ihr  durch 
Gesetzgebung  eine  wertvolle  Rechtsgrundlage  verliehen  hat. 

Die  freihändlerische  Richtung  wurde  von  der  preußischen 
Regierung  bei  der  Verfolgung  allgemeiner  politischer  Ziele  unter- 
stützt. Die  Ermäßigung  der  Schutzzölle,  die  Vereinfachung  des 
Tarifs,  die  Beseitigung  des  allgemeinen  Eingangs-  und  jeder  un- 
erheblichen Finanzabgabe  waren  jedoch  bei  der  bestehenden  Zoll- 
vereinsverfassung schwerlich  durchzusetzen.  Hatte  doch  die  Publi- 
zistik daher  den  Gedanken  vertreten,  daß  die  Mehrheit  der  Staaten 
zu  einer  Entscheidung  genügend  sein  und  ein  öffentlich  tagendes 
Parlament  die  nichtöffentlichen  Zollkonferenzen  ersetzen  sollte, 
um  den  nationalen  Erwerbsinteressen  einen  unmittelbaren  Einfluß 
einzuräumen. 

Darauf  war  nun  freilich  nicht  zu  rechnen,  und  es  würde  auch 
zu  einer  Änderung  der  Handelspolitik  nicht  sobald  gekommen  sein, 
wenn  nicht  von  außen  her  sich  etwas  ereignet  hätte,  das  von 
Preußen  geschickt  aufgegriffen  wurde.  Dies  war  der  Wechsel 
der  französischen  Zollpolitik  seitens  Napoleons  III.  In  den 
fünfziger  Jahren  gab  es  keinen  Staat  in  Westeuropa,  dessen  Gesetz- 
gebung den  Verkehr  mit  dem  Ausland  ungünstiger  behandelte  |als 
Frankreich.  Neben  Einfuhrverboten,  prohibitiven  und  Ausfuhr- 
zöllen war  bei  der  Einfuhr  zur  See  die  französische  Flagge  be- 
günstigt.    Mit  diesem  System  brach  der  Kaiser  zuerst  durch  den 


2l6  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  "Wirtschaftsgeschichte  von   1848 — 1871. 


Abschluß  eines  Handelsvertrags  mit  England  1860,  dem  Cobden- 
vertrag,  der  nach  dieser  freihändlerischen  Berühmtheit,  die  an 
dem  Zustandekommen  des  Vertrags  einen  selbständigen  Anteil  ge- 
habt hatte,  benannt  wird.  Napoleon  hatte  keine  durchgreifenden 
wirtschaftlichen  Gründe  für  ein  besonderes  Entgegenkommen  gegen 
England,  sondern  politische,  um  eine  Annäherung  an  Gladstone 
zu  gewinnen,  der  ihn  mißtrauisch  beobachtete.  Die  französischen 
Industriellen  unter  T  h  i  e  r  s  Führung  opponierten  zwar  heftig, 
allein  der  Vertrag  wurde,  ohne  den  Kammern  Einfluß  zu  ge- 
statten, abgeschlossen  und  ausgeführt. 

Nachdem  nun  einmal  das  bestehende  Zollwesen  durchbrochen 
worden  war,  das  zum  Teil  noch  auf  das  erste  Kaiserreich  zurück- 
ging, war  es  nur  logisch,  auch  mit  den  übrigen  Nachbarn  zu  Ver- 
kehrserleichterungen überzugehen,  da  man  unter  den  fremden 
Staaten  England  kein  Monopol  auf  dem  französischen  Markt  zu 
geben  gesonnen  war.  So  kam  es  zu  Verhandlungen  mit  Belgien 
und  dem  Zollverein.  Preußen  trat  nach  Benachrichtigung  der 
Vereinsmitglieder  in  Verhandlungen  ein  und  schloß,  zunächst  sich 
allein  bindend,  am  29.  März  1862  einen  Handels-  und  Schiffahrts- 
vertrag ab,  dem  eine  Übereinkunft  betreffs  Zollabfertigung  des 
internationalen  Verkehrs  auf  den  Eisenbahnen  und  gegenseitigen 
Schutzes  der  Rechte  an  literarischen  Erzeugnissen  und  Werken  der 
Kunst  hinzugefügt  wurde.  Es  suchte  die-  Vergünstigungen  zu  er- 
langen, die  an  England  und  Belgien  gewährt  waren,  dafür  waren 
Zugeständnisse  zu  machen  in  der  Herabsetzung  von  Einfuhrzöllen, 
Beseitigung  der  Durchfuhr-  und  Ausfuhrzölle,  Behandlung  auf  dem 
Fuße  der  meistbegünstigten  Nation. 

Das  Protokoll  wurde  den  deutschen  Staaten  von  Preußen  zur 
Annahme  empfohlen,  und  alsbald  begannen  schwierige  Ausein- 
andersetzungen unter  den  Vereinsmitgliedern.  Es  zeigte  sich,  daß 
Sachsen  mit  seiner  leistungsfähigen  Ausfuhrindustrie  bald  zu- 
stimmte, dann  folgten  dem  Beispiele  Baden,  Oldenburg  und  die 
thüringischen  Staaten.  Die  übrigen  äußerten  starke  Bedenken, 
die  im  Grunde  mehr  politischer  als  wirtschaftlicher  Art  waren. 
Wie  während  der  letzten  Zollvereinskrise,  so  stand  auch  jetzt 
wieder  das  Verhältnis  zu  Österreich  bei  den  Erwägungen  an  der 
Spitze.  Der  Unionsgedanke  war  immer  noch  nicht  begraben. 
Bayern,  Württemberg,  die  beiden  Hessen  neigten  ihm  zu,  Preußen 
war  mehr  denn  je  entschlossen,  ihn  zu  Fall  zu  bringen.  Der  fran- 
zösische Handelsvertrag  war  ihm  dafür  das  geeignetste  Mittel,  wie 
dies  der  damalige  Leiter  der  Handelspolitik,  R.  von  Delbrück, 
in  seinen  Lebenserinnerungen  ausdrücklich  bestätigt  hat:  „Wir 
wußten  recht   gut,   daß   ein  Vertrag  mit   Frankreich  die   deutsch- 


VIII.  Die  Freihandelsära  des  Zollvereins.  zZ"] 


Österreichische  Zolleinigung  in  eine  absolute  Ferne  rücken,  der  so- 
genannten Parifizierung  der  Tarife  schwer  zu  überwindende 
Hindernisse  bereiten  und  überhaupt  die  weitere  Ausbildung  des 
Februarvertrags  von  1853  erschweren  werde,  aber  wir  wollten 
keine  deutsch-österreichische  Zolleinigung".  Österreich  stand  vor 
der  Wahl,  den  Unionsplan  aufzugeben  oder  den  französischen  Ver- 
tragstarif in  der  Hauptsache  auch  anzunehmen.  Das  letztere  ver- 
bot der  Stand  seiner  Industrie,  die  in  dem  letzten  Jahrzehnt  einen 
langsamen  Gang  eingeschlagen  hatte.  Es  versuchte  daher  \diploma- 
tisch,  die  Vereinsstaaten  einzuschüchtern,  daß  sie  Preußen  wider- 
strebten. Anfangs  schien  es  zu  glücken,  bis  dessen  Regierung  er- 
klärte, nachdem  beide  Kammern  zugestimmt  hatten,  von  dem  Ab- 
kommen mit  Frankreich  unter  keinen  Umständen  zurücktreten  zu 
wollen  bzw.  entschlossen  zu  sein,  den  Zollverein  nicht  wieder  zu 
erneuern.  So  zogen  sich  die  Verhandlungen  durch  1863  und  1864 
hin,  unterbrochen  durch  den  dänischen  Krieg.  Die  politische  Lage 
im  deutschen  Bunde  veränderte  sich,  und  Österreich  mußte  mit 
seinen  handelspolitischen  Ansprüchen  zurückhalten.  Kurhessen  und 
Hannover  traten  jetzt  Preußen  bei.  Dann  überzeugten  sich  auch  die 
übrigen  Staaten,  daß  sie  weder  allein,  noch  mit  Österreich  gemein- 
sam auf  ihre  wirtschaftliche  und  finanzielle  Rechnung  kommen 
würden.  Sie  gaben  nach,  der  Handelsvertrag  wurde  angenommen 
und  der  Zollverein  auf  12  Jahre  erneuert. 

Die  freihändlerische  Strömung  hatte  in  hohem  Maße  mit- 
geholfen, das  Abkommen  mit  Frankreich  populär  zu  machen.  Den 
preußischen  Räten  wurde  es  nicht  schwer,  diese  Bundesgenossen- 
schaft anzunehmen,  da  sie  mit  der  Volksstimmung  harmonierten. 'So 
sagte  Bis  mar  ck  1879  in  seiner  berühmten  Rede  zur  Begründung 
der  Tarifvorlage  über  jene  Zeit:  „Die  Überzeugung  von  der  Zu- 
kunft des  Freihandelsideals  war  eine  so  starke,  daß  jeder  Versuch 
der  Regierung,  damals  ihr  entgegenzutreten,  mißlungen  wäre.  Wir 
wären  in  keinem  Parlament  damit  durchgekommen,  wenn  wir  eine 
Schützzollpolitik,  eine  mehr  schützende  als  die  damalige,  hätten 
betreiben  wollen". 

Frankreich  hatte  den  preußischen  Standpunkt  von  Anfang  an 
durchschaut  und  stellte  daher  die  Forderungen  hoch,  ohne  sich  zu 
rechten  Gegengaben  zu  verstehen.  Es  blieb  trotz  der  Konzessionen 
noch  reichlich  geschützt,  da  es  relativ  bei  seinem  hohen  Tarif  weit 
weniger  als  der  Verein  preisgab,  der  zudem  in  der  Herabsetzung 
von  Luxus-  und  Finanzzöllen  auf  hochfeine  Seidenware,  künstliche 
Blumen,  wertvolle  Putzware,  Olivenöl  und  Wein  seine  Einnahmen 
noch  schädigte.    Dazu  kam,  daß  der  veraltete  deutsche  Tarif  kein 


2l8  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848 — 1871. 

geeignetes   Verhandlungsinstrument    war,    so    daß    bei   mangelnder 
Spezialisierung  der  Warensätze  wiederholt  fehlgegriffen  wurde. 

Die  Eisen-  und  Baumwollfabrikanten  fühlten  sich  am  meisten 
betroffen.  Auch  die  von  Leder-  und  Glaswaren  klagten.  Einigen 
inländischen  Produzentengruppen  waren  Versöhnungsgaben  ge- 
boten worden.  Die  innere  geringe  Weinsteuer  in  Preußen  wurde 
aufgehoben,  eine  Ermäßigung  des  Salzpreises  den  Sodafabriken 
zugestanden,  der  Eisenindustrie  der  Ausbau  des  staatlichen  Eisen- 
bahnnetzes versprochen. 

Die  vollen  W^irkungen  des  Vertrags  traten  erst  dadurch  her- 
vor, daß  1865  auch  in  den  Handelsverträgen  mit  Belgien,  Groß- 
britannien und  Österreich  die  Meistbegünstigung  ausgesprochen 
wurde.  Dem  ersteren  wurden  zudem  noch  einige  Zölle  gebunden, 
die  wiederum  den  anderen  meistbegünstigten  Staaten  von  Nutzen 
waren.  Das  zweite  hatte  vermöge  seines  Freihandels  dem  Zoll- 
verein nichts  in  Europa  zu  bieten.  Um  nun  anderen  Ländern 
gleichgestellt  zu  sein,  gewährte  es  die  Meistbegünstigung  auch  für 
seine  Kolonien,  so  daß  dort  die  deutsche  Ware  nicht  anders  als 
die  des  Mutterlandes  eingelassen  wurde.  Mit  Österreich  war  das 
Differentialabkommen  von  1853  abgelaufen  und  wurde  nicht  wieder 
erneuert.  Nach  Festlegung  der  gegenseitigen  Meistbegünstigung 
stand  es  dem  Zollverein  nicht  anders  als  die  übrigen  Vertrags- 
staaten gegenüber.  Es  hatte  seinen  Generaltarif  erhöht,  und  wenn 
es  bei  der  jetzigen  Zollbindung  auch  einen  Teil  aufgeben  mußte, 
so  war  doch  in  bezug  auf  BaumwoU-  und  Wollgewebe,  Baumwoll- 
garn, Stabeisen,  Blech,  leinene  Maschinengarne,  Lederwaren  die 
Einfuhr  aus  dem  Verein  gegen  früher  erschwert  worden.  Getreide, 
Mehl  und  zum  Teil  Vieh  konnte  es  jedoch  jetzt  zollfrei  in  ihm  ein- 
führen. Da  der  österreichische  Vertragssatz  bald  zum  allgemeinen 
Tarif  erhoben  wurde,  so  verschwinden  jetzt  die  AgrarzöUe  aus 
der  deutschen  Handelspolitik.  Damit  waren  zwar  die  ungarischen 
Verkäufer  der  überseeischen  und  russischen  Konkurrenz  auf 
dem  deutschen  Markt  ausgesetzt,  sie  schätzten  sie  damals  aber 
nicht  hoch  ein.  So  glaubte  die  österreichische  Regierung  doch 
noch  ein  gutes  Geschäft  gemacht  zu  haben.  Im  ganzen  steht  sie 
geschlagen  da,  da  die  Zollunionsidee  aufgegeben  worden  war,  ein 
Vorspiel  zu  den  Vorgängen  von  1866,  mit  denen  der  Dualismus  der 
Großmächte  im  Deutschen  Bund  beseitigt  wurde. 

Der  Zollverein  verabredete  auch  mit  Italien  einen  Meistbe- 
günstigungsvertrag, mit  dem  auch  die  deutschen  Mittelstaaten  die 
neugewonnene  Einheit  jenes  Landes  anerkannten,  was  für  die 
preußische  auswärtige  Politik  des  nächsten  Jahres  nicht  ohne  Be- 


VIII.  Die  Freihandelsära  des  Zollvereins.  2I9 


lang  war,  da  das  junge  Königreich  zu  Dank  verpflichtet  wurde  — 
ferner  mit  der  Türkei  und  einer  Reihe  überseeischer  Staaten. 

Als  Ergebnis  dieser  handelspolitischen  Vorgänge  des  Zoll- 
vereins haben  wir  festzustellen,  daß  auswärtigpolitische  Gesichts- 
punkte stark  in  sie  hineingespielt  haben.  Das  läßt  sich  um  so 
sicherer  nachweisen,  seitdem  Herr  von  Bismarck  an  die 
Spitze  des  preußischen  Staatsministeriums  getreten  war,  ein  Er- 
eignis, das  für  Deutschland  jahrzehntelang  ausschlaggebend  und 
für  ganz  Europa  von  Bedeutung  wurde.  Schon  als  Gesandter  in 
Paris  hatte  er  die  Napoleonische  Handelspolitik  Preußen  gegen- 
über eifrigst  unterstützt.  Er  war  stets  ein  Gegner  der  Zollunion 
mit  Österreich  gewesen,  und  im  Sommer  1862,  kurz  vor  seinem 
Eintritt  in  die  Regierung,  hatte  er  erklärt:  „In  der  Tat  scheint  es 
auch,  daß  es  schwer  sein  würde,  unseren  finanziellen  und  poli- 
tischen Interessen  einen  härteren  Schlag  beizubringen  als  durch 
die  Verschmelzung  Preußens  und  Österreichs  zu  einem  Zollverein", 
und  im  Herrenhause  verlangte  er  (Oktober  1862)  das  Festhalte^n 
am  französischen  Vertrag:  „Gefährlich  für  die  Dauer  des  Zoll- 
vereins sind  alle  Zweifel,  die  bei  den  übrigen  Zollvereinsregierungen 
an  den  Ernst  der  Entschließung  Preußens  auftauchen  könnten, 
das  Rechnen  auf  eine  Nachgiebigkeit  im  letzten  Augenblick,  die, 
solange  die  gegenwärtige  Regierung  am  Ruder  bleibt,  nicht  er- 
folgen wird". 

Ein  Gegner  des  Freihandels  war  Bismarck  damals  nicht. 
Als  ehemaliger  Konservativer  verstand  er  genau  die  Vorteile,  die 
die  ausführende  Landwirtschaft  des  Ostens  davon  erwartete,  und 
da  er  das  Wohl  der  Landwirtschaft  stets  als  die  gesicherte  Grund- 
lage des  Staates  betrachtet  hat,  war  er  um  so  mehr  geneigt,  der 
handelspolitischen  Einsicht  seiner  Räte,  insbesondere  ^Del- 
brücks, zu  vertrauen.  Außerdem  war  ja  gerade  ihm  das  Wich- 
tigste für  Deutschlands  staatsrechtliche  Einheit  das  Zurückdrängen 
österreichischer  Ansprüche,  wozu  die  Freihandelspolitik,  wie  ge- 
zeigt wurde,  ein  brauchbares  Mittel  war.  Insofern  ist  die  frei- 
händlerische Politik  die  richtige  gewesen.  Vom  rein  wirtschaft- 
lichen Standpunkt  war  sie  verfehlt,  wie  sich  das  nach  einigen 
Jahren  herausstellen  sollte.  Allerdings  waren  ihre  Mängel  von  der 
Mitte  der  sechziger  Jahre  bis  zu  der  Krise  von  1873  nicht  so  ein- 
fach zu  durchschauen,  da  die  volks-  und  weltwirtschaftliche  Kon- 
junktur mit  ihren  überall  steigenden  Preisen  die  Gefahr  des  über- 
starken ausländischen  Konkurrenzdrucks  für  Industrie  und  Land- 
wirtschaft verschleierte. 

Trotz  der  vielen  produktiven  Fortschritte  im  Zollverein  würde 
man  ein  unrichtiges  Urteil  aussprechen,  wenn  man  das  Gedeihen 


220  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848 — 1871. 

aller  Art  Wirtschaft  in  den  deutschen  Ländern  hätte  behaupten 
wollen.  Es  ist  nicht  alles  Gold,  was  gleißt.  Die  hohen  Zahlen  des 
Außenhandels,  der  neugebildeten  Kapitalgesellschaften,  der  in  der 
Großindustrie  tätigen  Arbeiter  schlössen  keineswegs  das  Wohl- 
befinden aller  Kleinbetriebe  in  Landwirtschaft,  Handwerk  und 
Verkehr,  auch  nicht  aller  ländlichen  und  städtischen  Lohnarbeiter 
in  sich  ein.  Als  Beweis  dafür  wird  man  die  Auswanderungsziffern 
heranziehen  dürfen,  die  in  den  dreißig  Jahren  vor  der  Reichs- 
gründung zeitweise   erschreckenden  Umfang  angenommen  hatten. 

Im  zweiten  Abschnitt  haben  wir  auf  die  deutsche  Aus- 
wanderung zwischen  1815  und  1830  einen  Blick  geworfen.  Sie 
war  in  ihren  Schwankungen  durch  die  heimischen  Ernteergebnisse 
stark  bestimmt  worden,  in  den  Hunger  jähren  18 16/17  besonders 
groß  gewesen,  dann  unter  den  niedrigen  Lebensmittelpreisen  der 
Agrarkrise  von  1820 — 1830  auf  einige  hundert  Personen  jährlich 
zusammengeschrumpft. 

Wenn  wir  die  Auswanderungstabellen  der  nächsten  Jahrzehnte 
als  einen  Barometerstand  des  volkswirtschaftlichen  guten  und 
schlechten  Wetters  gelten  lassen  wollten,  so  ist  eine  solche  Auf- 
fassung jedoch  nur  mit  starken  Korrekturen  zuzulassen.  Es  ist 
richtig,  daß  schlechte  Erntejahre,  allgemeine  Handelskrisen,  Um- 
wälzungen der  agraren  und  gewerblichen  Verfassung  auffallende 
Beweggründe  zur  Auswanderung  gewesen  sind  und  umgekehrt 
günstige  Konjunkturen  die  Leute  in  der  Heimat  zurückgehalten 
haben,  aber  es  gibt  daneben  die  politischen  höchst  wirksamen 
Motive  der  Unzufriedenheit  mit  der  Regierung  für  den  Fortzug. 
So  war  es  in  der  Mitte  der  dreißiger  Jahre  nach  der  Julirevolution, 
so  in  den  fünf  Jahren  nach  1849,  so  von  1866 — 1868. 

Die  sozialökonomischen  Zustände  wirken  mehr  in  großer 
Linie  durch  ganze  Perioden  hindurch  und  können  als  eine  grund- 
legende Kausalität  der  ganzen  Bewegung  gelten.  Wenn  wir  aus 
den  Nachweisungen  der  Vereinigten  Staaten  erfahren,  daß  von 
1830 — 1840  152454  Deutsche  (ohne  Österreicher)  anlangten,  1840 
bis  1850  434626,  so  ist  dieser  Unterschied,  da  die  Hauptmasse  .aus 
wenig  bemittelten  Familien  besteht,  aus  den  steigenden  Preisen  der 
Lebensmittel  nach  1840  infolge  des  Aufschwungs  der  Volkswirt- 
schaft durch  den  Zollverein  und  die  Eisenbahnen  bei  gleichzeitiger 
Notlage  des  Handwerks,  der  Hausindustrie  und  der  technisch  und 
ökonomisch  zurückbleibenden  Kleinlandwirtschaft,  die  unter  Boden- 
zersplitterung und  Verschuldung  litt,  zu  begreifen.  Die  Not-  und 
Hungerjahre  vor  1848  sind  nur  das  Tüpfchen  auf  dem  i.  Umge- 
kehrt können  wir,  unserer  geschichtlichen  Darstellung  vorgreifend, 
sagen,   daß   der   glänzende  Aufschwung  der   deutschen   VolksAvirt- 


VIII.  Die  Freihandelsära  des  Zollvereins.  221 

Schaft  von  1895  — 191 4,  ^^^  sich  auf  alle  Klassen  der  Bevölkerung 
erstreckte,  dafür  entscheidend  gewesen  ist,  daß  die  Auswanderung 
auf  geringfügige  Ziffern  zusammensank. 

Nun  ist  zur  Beurteilung  einer  internationalen  Wanderbewegung 
noch  ein  anderer  sehr  wichtiger  Beweggrund  nicht  zu  vergessen: 
die  Zustände  im  Einwanderungsland,  deren  anziehende  und  ab- 
stoßende Kraft.  Die  deutschen  Abwanderer  von  18 15— 1835  scheinen 
sich  zwar  nicht  viel  darum  gekümmert  zu  haben,  sie  zogen  ziemlich 
planlos  auf  allgemeine  Erzählungen  des  Wohlstands  und  Gerüchte 
billigen  Landerwerbs  in  die  Vereinigten  Staaten  leichten  Sinnes 
fort  und  sind  dann  oft  genug  von  dem  Regen  in  die  Traufe  ge- 
kommen. Das  wird  aber  anders,  als  Hunderttausende  von  Deut- 
schen in  der  Union  angesiedelt  sind  und  in  regelmäßigen  Korre- 
spondenzen in  ihre  ehemalige  Heimat  über  die  neue  Welt  genau 
berichten.  Man  muß  allerdings  zugeben,  daß  in  diesen  Briefen  gar 
gern  zu  rosige,  interessierte  Schilderungen  des  transatlantischen 
Lebens  mit  unterliefen,  und  die  deutschen  Gesellschaften  in  New- 
York,  Philadelphia,  Maryland  u.  a.  m.  lassen  es  in  deutschen  Zei- 
tungen und  in  Flugschriften  an  ihrer  warnenden  Stimme  nicht 
fehlen,  wie  schwer  es  ganz  vermögenslose  Leute,  wenig  ausgebil- 
dete Handwerker  und  alle  Kopfarbeiter  treffen  werde,  wenn  ihnen 
keine  feste  Stellung  vor  der  Ankunft  zugesichert  sei.  Jedoch  im 
großen  ganzen  gibt  diese  briefliche  Auswanderungsagentur  doch 
ein  Bild  von  der  Arbeitsnachfrage  in  der  Union.  Wir  haben  oben 
erwähnt,  wie  durch  die  Entdeckung  der  Goldfunde  in  Kalifornien 
die  amerikanische  Volkswirtschaft  einen  lebhaften  Anstoß  zum 
Voraneilen  empfing.  Die  großen  Auswanderungszahlen  von  1850 
bis  1854  finden  darin  einen  Ausdruck,  wenn  sie  auch,  wie  gesagt, 
ohne  die  politischen  Flüchtlinge  und  die  vielen  politisch  Ent- 
täuschten nicht  ganz  zu  verstehen  sind,  die  nach  1850  dem  reaktio- 
nären Vaterland  den  Rücken  zu  kehren.  Am  Ende  der  fünfziger 
Jahre  wirft  der  amerikanische  Bürgerkrieg  seine  Schatten  voraus, 
und  mit  seinem  Ausbruch  läßt  die  Zuwanderungslust  gewaltig 
nach,  freilich  ohne  ganz  zu  erlöschen.  Die  Auswanderung  über 
Hamburg  und  Bremen,  die  1857  81  014  Personen  betragen 
hatte,  senkt  sich  1858  auf  42976,  1859  auf  35235,  1860 — 1863 
durchschnittlich  auf  38  880.  Nach  dem  Siege  des  Nordens  werden 
die  Bedingungen  für  das  freie  Bauerntum  zu  Ansiedelungen  im 
Westen  günstiger  als  je  zuvor,  zumal  der  Eisenbahnbau  dorthin 
verstärkt  aufgenommen  worden  ist.  Die  amerikanische  Statistik, 
die  auch  die  deutschen  Ankömmlinge  über  Belgien,  Holland, 
Frankreich  und  England  umfaßt,  meldet  für  das  Fiskaljahr  (i.Ok- 


222  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848 — 1871. 

tober  bis  30.  September)   1866  115  892,  1867  133426,  1868  123070, 
1869  124788  Personen. 

Allerdings  hatten  die  deutschen  Zustände  an  dieser  Steige- 
rung auch  ihren  Anteil.  Die  Einführung  der  dreijährigen  Dienst- 
pflicht in  Preußens  neuerworbenen  Provinzen  veranlaßte  manchen 
zu  dem  Unternehmen,  in  der  amerikanischen  Freiheit  sich  wohl 
fühlen  zu  wollen.  Wichtiger  war,  daß  die  Erwerbszustände  durch- 
aus nicht  so  gefestigt  waren,  als  die  manchesterlichen  Zeitungen 
sie  verherrlichten.  Im  Handwerk  und  der  Heimarbeit  gab  es 
ebensoviel  Mißvergnügte  als  in  der  Lohnarbeit  der  Großindustrie 
und  in  den  landwirtschaftlichen  zersplitterten  Kleinbetrieben. 
Hatten  auch  die  Gewinne  in  der  Großindustrie  und  Großlandwirt- 
schaft die  nationale  Sparkraft  verstärkt,  so  war  das  Kapital  doch 
noch  nicht  so  in  alle  Kanäle  des  Erwerbs  eingedrungen,  daß  die 
unteren  Klassen  wesentlich  besser  lebten  als  10  oder  15  Jahre 
vorher. 

Daß  sich  der  Staat  um  die  Beseitigung  des  sozialen  Übels 
der  Auswanderung  durch  innere  Reformen  zu  kümmern  habe,  lag 
der  Politik  ganz  fern.  Man  hielt  die  Auswanderungsfreiheit  für 
die  einzige  Maßnahme  erleuchteter  Staatskunst,  um  die  „natür- 
liche" Übervölkerung  zu  beseitigen,  und  für  die  Auswanderungs- 
Vermittlung  glaubte  man  am  besten  gesorgt  zu  haben,  wenn  man 
sie  der  „einsichtigen"  priVaten  Spekulation  überließ.  Der  natio- 
nalen Seite  des  Volksverlustes  stand  man  ganz  kalt  gegenüber, 
wenn  aus  Nordamerika  die  verbürgte  Nachricht  über  die  dortigen 
Deutschen  einlief,  daß  die  erste  Generation  der  Auswanderer  noch 
deutsch  spricht,  die  zweite  es  noch  gerade  versteht,  und  daß  die 
Enkel  zu  Stockamerikanern  geworden  sind.  Dabei  konnte  es  auch 
national  empfindenden  Männern  nur  ein  schwacher  Trost  sein,  daß 
nach  1848  die  Deutschamerikaner,  die  sich  bisher  nur  aus  wenig 
gebildeten  Schichten  zusammengesetzt  hatten,  in  den  poHtischen 
Flüchtlingen  eine  bescheidene  Führung  erhalten  hatten,  daß  es 
eine  deutschsprachige  Presse  gab,  und  die  großen  Städte  des 
Westens  deutsche  Vereine  zu  geselligen  Zwecken  besaßen.  Denn 
die  „Pressionspolitik",  die  die  Deutschen  auf  die  großen  Parteien 
des  Landes  auszuüben  versuchten,  kam  über  ephemere  Erfolge 
niemals  hinaus.  Einsichtige  Amerikaner  erkannten  zwar  an,  daß 
das  sehr  umfangreiche  Ingredienz  an  Sparsamkeit,  Fleiß  und 
Talent,  das  die  deutsche  Zuwanderung  in  den  großen  Schmelz- 
tiegel der  nordamerikanischen  Nation  geworfen  hatte,  wertvoll 
sei,  da  es  ohne  Beschwerde  mittels  der  Maxime  „ubi  bene  ibi 
patria"  dem  hergebrachten  Volkstum  assimiliert  wurde.  Schrieben 
wir  hier  statt  deutscher  Wirtschaftsgeschichte  diejenige  der  Erde, 


IX.  Der  Norddeutsche  Bund.  223 


SO  würden  wir  den  „Kulturdünger",  der  mit  der  deutschen  Volks- 
kraft überseeischen  Ländern  einverleibt  wurde,  freilich  als  einen 
höchst  produktiven  Faktor  nicht  zu  übersehen  haben. 

IX.  Der  Norddeutsche  Bund.  Der  Zollverein,  der  von 
1865 — 1877  von  neuem  verabredet  worden  war,  wurde  völkerrecht- 
lich durch  den  Krieg  von  1866  aufgelöst.  Tatsächlich  blieb  er 
fortbestehen,  da  während  des  kurzen  Kampfes  zwischen  Preußen 
und  den  deutschen  Staaten  die  Zölle  für  die  gemeinsame  Rechnung 
weiter  erhoben  wurden.  Nach  dem  Friedensschluß  setzte  man 
die  Verträge,  und  zwar  nur  unter  kurzer  Kündigungsfrist,  wiederi 
in  Kraft,  um  einer  bald  zu  erwartenden  Neuordnung  nicht  vorzu- 
greifen. 

Der  Norddeutsche  Bund  unterstellte  das  Zoll-  und  Handels- 
wesen sowie  die  für  ihn  erforderlichen  Steuern  seiner  Gesetz- 
gebung und  machte  damit  für  die  Bundesglieder  die  vertrags- 
mäßige Zolleinigung  überflüssig.  In  dem  nun  folgenden  neuen 
Zollverein  ist  er  nur  eines  der  Mitglieder,  die  anderen  sind  Bayern, 
Württemberg,  Baden,  Hessen  südlich  des  Mains.  Der  Anschluß 
Luxemburgs  wurde  gewahrt.  Von  den  Staaten  des  Norddeutschen 
Bundes  waren  zunächst  die  Hansestädte  und  die  Mecklenburgs 
außerhalb  der  Zollgrenze  geblieben.  Hamburg  und  Bremen  ver- 
harrten in  ihrem  Reservatrecht  bis  1888.  Die  beiden  Mecklenburg 
und  Lübeck  wurden  1868  aufgenommen,  nachdem  das  Hindernis 
bei  de?i  ersteren,  ihr  Sondervertrag  mit  Frankreich,  der  für  den 
Zollverein  des  niedrigen  Weinzolls  wegen  als  nicht  übernehmbar 
galt,  nach   mühsamen  Verhandlungen  beseitigt  worden   war. 

Der  neue  Verein  besaß  eine  von  dem  alten  wesentlich  ab- 
weichende Verfassung.  Der  Majoritätsbeschluß  wurde  entschei- 
dend. An  die  Stelle  der  Generalzollkonferenzen  trat  der  Zoll- 
bundesrat mit  58  Stimmen,  von  denen  Preußen  17  führte.  Es 
hatte  die  Präsidialmacht  und  ein  Veto,  wenn  es  sich  um  die  Auf- 
hebung bestehender  Einrichtungen  handelte,  es  berief,  vertagte 
und  schloß  das  Zollparlament,  das  die  Teilnahme  der  Bevölkerung 
an  der  Zoll-  und  Steuergesetzgebung  durch  Abgeordnete,  das  sind 
die  Mitglieder  des  deutschen  Reichstags  und  Vertreter  der  süd- 
deutschen Staaten,  die  nach  gleichen  Grundsätzen  wie  jene  ge- 
wählt wurden,  verbürgte.  Jetzt  war  der  Weiterentwicklung  der 
Handelspolitik  nach  den  Bedürfnissen  der  Volkswirtschaft  größerer 
Spielraum  gegeben.  Es  konnten  notwendige  Beschlüsse  nicht  mehr 
durch  die  Eigenbrödelei  kleinstaatlicher  Sonderwünsche  durch- 
kreuzt werden. 


2  24  ^^'  -Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848 — 1871. 

Obgleich  schon  die  ersten  Verhandlungen  eine  versöhnende 
und  einigende  Kraft  bewiesen,  und  der  Bundeskanzler  mit  den 
wirtschaftlich  tonangebenden  Liberalen  Fühlung  nahm,  leistete  der 
neue  Verein  für  die  Handels-  und  Finanzpolitik  nur  wenig,  für  die 
erstere  war  kaum  eine  Gelegenheit,  da  die  freihändlerischen 
Handelsverträge  mit  gebundenen  Zöllen  weiterliefen  —  neu  abge- 
schlossen wurden  daneben  solche  mit  Liberia  1868,  mit  Japan, 
Hawaii,  Mexiko,  der  Schweiz  1869  — ,  die  zweite  hatte  in  der 
neuen  Organisation  selbst  eine  innere  Hemmung.  Die  Zölle,  die 
Salz-,  Zucker-  und  Tabaksteuer  wurden  für  Rechnung  des  Vereins 
erhoben.  Da  er  aber  außer  seinen  geringen  Verwaltungskosten 
keine  Ausgaben  hatte,  wurde  der  Ertrag,  wie  ehedem,  an  die 
Einzelstaaten  nach  Maßgabe  ihrer  Bevölkerung,  jedoch  jetzt  ohne 
jedes  Präzipuum,  verteilt.  Das  hatte  das  Mißliche,  daß  er  über 
Art  und  Höhe  wichtiger  Einnahmen  beschloß,  während  seine 
Glieder  ihre  öffentlichen  Ausgaben  feststellten.  Die  Einheitlichkeit 
der  Finanzwirtschaft  war  nicht  gegeben,  und  ein  systematischer 
Ausbau  der  einzelstaatlichen  Verwaltungszwecke  damit  erschwert. 

Die  ganze  Einrichtung  machte  den  Eindruck  des  Provisori- 
schen, man  hoffte,  wie  man  sich  damals  ausdrückte,  aus  dem  Zoll- 
ein Vollparlament  hervorgehen  zu  lassen. 

Mit  dem  Krieg  von  1866  war  auch  der  Handelsvertrag  mit 
Österreich  aufgehoben  worden.  Im  Prager  Frieden  wurde  er 
widerruflich  mit  dem  Bemerken  aufgenommen,  daß  man  sich  im 
Sinne  größerer  Verkehrserleichterung  eine  Revision  vorbehalte. 
1868  erhielt  Deutschland  Zugeständnisse  für  seine  Papier-,  Glas-, 
Ton-,  Metall-,  Leder-  und  Färberei-Industrie,  gewährte  dafür  Er- 
mäßigungen und  Freiheiten  für  Erzeugnisse  der  Landwirtschaft. 
Daß  man  in  Österreich  jetzt  zu  einer  liberaleren  Handelspolitik 
hinneigte,  hatte  zunächst  darin  seinen  allgemeinen  Grund,  daß  man 
dem  eigenen  bisherigen  Verwaltungssystem  nicht  traute  und  ihm 
die  Mitschuld  an  dem  Unterliegen  von  1866  beimaß.  Der  Minister 
von  Beust,  der  in  seiner  früheren  sächsischen  Stellung  schon 
dem  Freihandel  zugetan  war,  glaubte  ihn  auch  als  das  zukünftige, 
allgemein  übliche  europäische  System  in  seinem  neuen  Amte 
empfehlen  zu  müssen  und  unterstützte  damit  den  Reformeifer,  mit 
dem  man  preußische  Einrichtungen  kopieren  wollte.  Besondere 
Motive  der  freiheitlichen  Richtung  waren  ein  Entgegenkommen 
gegen  England  und  Frankreich,  auf  deren  Geldmarkt  man  An- 
leihen unterzubringen  hoffte,  und  die  Beeinflussung  der  Gesamt- 
politik durch  das  Agrarprodukte  ausfuhrbedürftige  Ungarn,  das 
1867  seine  staatsrechtliche  Selbständigkeit  gewonnen  hatte. 


IX.  Der  Norddeutsche  Bund.  225 


Der  neue  Vertragstarif  wurde  im  Zollverein  als  allgemeiner 
anerkannt,  nur  Portugal  wurde  des  erniedrigten  Weinzolles  nicht 
teilhaftig,  da  die  auf  eine  Gegengabe  gerichteten  Verhandlungen 
zu  keinem  Abschluß  geführt  hatten. 

Die  Generalisierungen  der  Vertragstarife  beweisen  die  an- 
dauernd freihändlerische  Neigung  des  Zollparlaments  und  Bundes- 
rats. Man  ging  sogar  noch  weiter  und  setzte  autonom  die  Zölle 
herab,  geriet  damit  in  den  passiven  Freihandel  hinein,  bei  dem 
man  dem  Ausland  Vorteile  hingab,  ohne  etwas  dafür  zu  bean- 
spruchen. So  sehr  war  man  von  der  Vortrefflichkeit  der  Doktrin 
überzeugt,  daß  man  die  Konsequenz  zog,  daß  Handelsverträge  ein 
Hindernis  für  die  Handelsfreiheit  bildeten,  die  man  vollkommen 
nur  durch  die  eigene  Gesetzgebung  gewinnen  könne.  Die  auto- 
nome Reform  von  1868 — 1870  ließ  sich  bei  einigen  Zollsätzen 
damit  rechtfertigen,  daß  in  dem  System  der  Handelsverträge 
Lücken  beständen,  wie  z.  B.  Ganz-  und  Halbfabrikate  eine  Ab- 
gabeermäßigung erfahren  hätten,  während  ihre  Roh-  und  Hilfs- 
stoffe nicht  entsprechend  entlastet  worden  wären.  Aber  die  Re- 
gierung ging  darüber  mit  dem  Programm  hinaus,  daß  man  den 
Schutzzoll  schließlich  ganz  aufgeben  und  nur  Finanzzölle  behalten 
wollte.  Diesem  englischen  Vorbilde  nachzueifern  klang  der  Mehr- 
heit des  Zollparlaments  zwar  verlockend,  doch  war  sie  nicht  ge- 
neigt, den  Petroleumzoll  als  Ersatz  für  die  Ausfälle  zu  bewilligen, 
da  sie  eine  größere  Einnahme  fürchtete  als  zur  Deckung  der  Aus- 
gaben nötig  sei.  Nach  längeren  Verschleppungen  und  kleinlichem 
Feilschen  kam  es  zu  einem  Ausgleich  zwischen  den  beiden  Seelen, 
die  in  der  Brust  des  damaligen  Liberalismus  wohnten,  der 
städtischen  und  ländlichen  Freihandelsschwärmerei  und  dem  ängst- 
lichen Mißtrauen,  daß  die  Regierung  einen  Groschen  zuviel 
unbewilligten  Geldes  in  die  Hand  bekäme,  —  derart  daß  der 
Kaffeezoll  erhöht,  der  Zoll  auf  Roheisen  und  Eisenfabrikate  herab- 
gesetzt wurde.  Den  süddeutschen  Baumwollspinnern  gelang  es, 
ihren   geringen   Schutz   zu   behaupten. 

Das  wenig  erfreuliche  Bild,  das  die  letzten  Jahre  des  Zoll- 
vereins bieten,  ist  glücklicherweise  nicht  eindrucksvoll  genug  ge- 
wesen, seine  großen  wirtschaftlichen  Verdienste  der  Vergangen- 
heit herabzuwürdigen.  Der  Norddeutsche  Bund  war  eine  Periode 
der  politischen  Spannung  und  des  Überganges,  die  Nation  stand 
unter  dem  Druck  des  großen  Zieles  der  politischen  Einheit. 
So  war  es  verständlich,  daß  die  wirtschaftlichen  Angelegenheiten, 
so  manches  es  auch  zu  ordnen  galt,  nicht  mit  der  Intensität 
behandelt  wurden,  als  sie  sie  aus  sich  heraus  forderten. 

A.Sartorius  v.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        ^  j^ 


226  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848 — 1871, 

Auf  die  volkswirtschaftliche  Vereinheitlichung,  der  noch  so 
manches  mangelte,  wies  die  gesetzliche  Kompetenz  des  neuen 
Nordbundes  hin.  Ihr  sind  unterstellt  die  Bestimmungen  über  die 
Freizügigkeit,  die  Heimats-  und  Niederlassungsverhältnisse,  den 
Gewerbebetrieb,  das  Münz-,  Maß-  und  Gewichtswesen,  das  Papier- 
geld und  die  Banken,  die  Erfindungspatente,  Eisenbahnen,  Wasser- 
straßen, Post  und  Telegraphie.  Das  in  der  Verfassung  aus- 
gesprochene Bundesindigenat,  nach  dem  ein  Bundesstaat  die  An- 
gehörigen eines  anderen  nicht  mehr  als  Ausländer  behandeln 
durfte,  führte  zu  dem  Gesetz  über  die  Freizügigkeit  im  ganzen 
Gebiete.  Im  Zollverein  hatte  es  die  freie  Bewegung  von  Waren, 
doch  nicht  von  Personen  gegeben.  Jedem  Bundesangehörigen, 
imd  zwar  ohne  Rücksicht  auf  Konfession  und  Religion,  wird  jetzt  der 
Aufenthalt  und  die  Niederlassung  an  jedem  Orte  des  Bundes, 
ferner  der  Erwerb  von  Grundbesitz  und  der  Betrieb  eines  Ge- 
werbes unter  gleichem  Recht,  wie  es  die  Einheimischen  besitzen, 
gestattet,  während  die  Ordnung  des  Ortsbürgerrechts,  der  Armen- 
pflege und  der  Teilnahme  an  den  Gemeindenutzungen  nicht  be- 
rührt wird. 

Für  die  örtliche  Arbeitsspezialisierung  erwartete  man  bedeut- 
same Folgen  aus  diesen  Bestimmungen,  zumal  auch  der  Paß- 
zwang, die  Plage  der  Reisenden,  und  die  Wanderbücher,  die  die 
Arbeiter  in  eine  ewige  Fehde  mit  der  Polizei  verwickelten,  be- 
seitigt wurden.  Die  Industrie  konnte  sich  jetzt  in  erleichterter 
Weise  mit  Hilfskräften  versorgen,  also  dort  erblühen,  wo  die 
besten  Bedingungen  geboten  waren.  Die  Wendung  zum  ein- 
seitigen Industriestaat  mußte  sich  um  so  schneller  vollziehen,  je 
mehr  in  den  Großstädten  die  Bevölkerung  anschwoll  und  sich 
der  Abstrom  vom  Lande,  über  den  schon  in  den  fünfziger  Jahren 
geklagt  wurde,  in  ein  breites  Flußbett  ergießen  konnte. 

Zunächst  trat  nur  das  günstige  Ergebnis  der  industriellen 
Zusammenballung  in  Erscheinung.  Daß  sich  unter  der  Freizügig- 
keit überall  die  Bevölkerung  auf  das  zweckmäßigste  für  das  Ganze 
von  selbst  gruppieren  würde,  war  damals  die  allgemeine  An- 
schauung, und  man  zögerte  nicht,  die  Folgerung  für  die  Gewerbe- 
freiheit zu  ziehen.  Denn  man  sagte  sich,  daß  dem  Zuwanderer 
die  freie  Niederlassung  nichts  wert  sei,  wenn  es  ihm  irgendwie 
noch  verboten  sei,  sich  durch  ein  Gewerbe  den  Unterhalt  zu 
verdienen.  Freizügigkeit  ohne  Gewerbefreiheit,  sagte  der  Ab- 
geordnete Braun,  heißt  ein  Gehen,  bei  dem  ein  Bein  gebunden, 
eins  entfesselt  ist.  Verkehrt  war  es,  die  Freiheit  im  Sinne  ab- 
soluter wirtschaftlicher  Willkür  als  endgültiges  Ziel  zu  setzen, 
was    der     extreme    Liberalismus     zu    betonen    nicht    müde    wurde. 


IX.  Der  Norddeutsche  Bund. 


227 


Prince-Smith  ging  so  weit,  daß  er  meinte,  jede  Gewerbe- 
regulierung sei  von  Übel,  da  sie  sich  dem  volkswirtschaftlichen 
Naturgesetz   entgegenstemme. 

Die  Regierung  legte  1868  ein  großes  Gesetz  vor,  das  in 
seiner  äußeren  Fassung  sich  an  die  preußische  Gewerbeordnung 
anlehnte,  materiell  die  Freiheit  verkündete.  Es  enthielt  noch  eine 
Summe  von  Vorbehalten,  von  denen  mehrere  in  der  Reichstags- 
kommission angefochten  wurden,  insbesondere  auf  dem  Gebiete 
des  Konzessions Wesens.  Da  eine  Einigung  zunächst  nicht  zu  er- 
zielen war,  machten  die  Abgeordneten  M  i  q  u  e  1  und  L  a  s  k  e  r  ' 
den  Vorschlag  eines  Provisoriums,  das  nur  allgemeine  Sätze  ent- 
hielt und  die  Einzelheiten  der  Zukunft  überließ. 

So  entstand  das  Notgewerbegesetz  mit  dem  Inhalt,  daß  die 
Zünfte  keinem  Nichtzünftigen  die  Ausübung  des  Gewerbes  ver- 
bieten durften,  daß  niemand  gehindert  werden  konnte,  mehrere 
Lehrlinge  nach  Belieben  anzunehmen,  und  daß  ein  Unterschied 
Gewerbe  nebeneinander  zu  betreiben  oder  Gesellen,  Arbeiter  und 
zwischen  Stadt  und  Land  für  die  gewerbliche  Tätigkeit  nicht 
mehr  sein  sollte.  Es  waren  dies  Grundsätze,  die  für  die 
Praxis  auch  kürzerer  Zeit  nicht  ausreichten.  Der  Bundesrat 
legte  daher  im  nächsten  Jahre  einen  neuen  Entwurf  vor,  der 
die  beanstandete  Beschränkung  der  Kolportage  von  Druckschriften, 
an  der  den  zielbewußten  liberalen  Volksboten  so  viel  gelegen 
war,  beseitigte  und  die  Aufhebung  und  Ablösung  von  ausschließ- 
lichen Gewerbeberechtigungen,  Zwangs-  und  Bannrechten  zuließ. 
Nachdem  der  Reichstag  noch  einige  Freiheitsrechte  erredet  hatte, 
entstand  die  Gewerbeordnung  vom  21.  Juni  1869,  die  später  auf 
das  Reich  übergegangen  ist  und  die  Grundlage  des  Gewerberechts 
bis  zur  Gegenwart  bildet,  wenn  auch  zahlreiche  Novellen,  bis  1896 
allein  23,  erforderlich  wurden. 

Als  Leitsatz  wurde  aufgestellt,  daß  der  Betrieb  eines  Ge- 
werbes jedermann  gestattet  ist,  falls  nicht  durch  das  Gesetz  Aus- 
nahrnen  vorgeschrieben  oder  zugelassen  sind.  Demnach  ist  die 
Gewerbefreiheit  die  Beseitigung  einer  Reihe  von  polizeilichen  Be- 
schränkungen, soweit  sie  ohne  unmittelbare  Benachteiligung  von 
Staat  und  Gesellschaft  als  möglich  gedacht  wurde.  Weder  die 
Staats-  noch  Ortsangehörigkeit,  noch  das  Geschlecht  begründen 
das  besondere  Recht,  einen  Betrieb  zu  errichten.  Die  Linien  des 
Notgesetzes  werden  aufrecht  erhalten.  Ein  Befähigungsnachweis 
ist  nur  in  wenigen,  gesetzlich  bestimmten  Fällen  zu  erbringen, 
wie  von  Seeschiffern,  Seesteuerleuten,  Maschinisten  für  Seedampf- 
schiffe und  Lootsen,  Hufschmieden,  Apothekern  und  Ärzten.     Der 

Konzession   bedürfen    die   Unternehmer    von    Privatkranken-,    Ent- 

]5* 


2  28  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von  1848  — 187 1. 

bindungs-  und  Irrenanstalten,  die  Schauspieler,  Gast-  und  Schank- 
wirte, Pfandleiher  und  Stellenvermittler. 

Die  P'reiheit  besteht  hinsichtlich  der  Zulassung  zum  Gewerbe; 
für  die  Art  der  Ausübung  gelten  mancherlei  Vorschriften,  wie  die 
Anzeigepflicht  des  Betriebsbeginnes,  die  Auslegung  von  Taxen  in 
Gasthäusern,  der  Schutz  der  gewerblichen  Arbeiter,  die  Sonntags- 
ruhe, der  Ladenschluß,  das  Anlageverbot  gewisser  Betriebe  an 
bestimmten  Orten,  damit  die  benachbarten  Grundstücke  und  das 
Publikum  nicht  belästigt  werden.  Speziell  geregelt  ist  der  Ge- 
werbebetrieb  im   Umherziehen  und   der   Marktverkehr. 

Die  Vereinigung  von  Einzelpersonen  zur  Verfolgung  wirt- 
schaftlicher und  sozialer  Zwecke  wurde  als  ein  weiteres  Recht 
anerkannt.  Für  die  Handels-,  Aktien-  und  ähnliche  Gesellschaften 
schloß  bereits  das  Handelsgesetzbuch  mancherlei  V^-^illkür  aus, 
für  die  Kredit-,  Erwerbs-  und  Wirtschaftsgenossenschaften  diente 
ein  besonderes  Gesetz  vom  4.  Juli  1868,  das  ihnen  die  gewünschte 
Rechtsfähigkeit  verlieh,  sie  von  der  Überwachung  und  Leitung 
der  Staats-  und  Kommunalverwaltung  lossprach  und  die  ordent- 
lichen Gerichte  allein  als  die  Behörde  zuließ,  die  bei  der  Bildung 
und  Auflösung  einzugreifen  hat.  Die  vorhandenen  Innungen  selb- 
ständiger Meister  dürfen  als  freie  Privatvereine  fortbestehen,  und 
neue  können  als  solche  geschaffen  werden,  wenn  sie  sich  den 
gesetzlichen  Normativen  unterwerfen.  Die  Gewerbefreiheit  wurde 
durch  sie  nicht  angetastet,  und  alle  öffentlich  rechtlichen  Be- 
fugnisse wurden  ihnen  entzogen.  Der  Eintritt  konnte  niemanden 
versagt  werden,  es  sei  denn,  daß  er  sich  nicht  in  dem  Besitz 
der  bürgerlichen  Ehrenrechte  befand  und  nicht  infolge  gericht- 
licher Anordnung  in  der  Verfügung  über  sein  Vermögen  be- 
schränkt war.  Ebenso  war  das  Ausscheiden  jedem  vorbehaltlich 
der  Erfüllung  der  übernommenen  Verpflichtungen  gestattet. 

Die  Koalitionsverbote  der  Arbeiter,  die  in  den  Einzelstaaten 
galten,  waren  bereits  in  den  ersten  Monaten  des  Norddeutschen 
Bundes  Gegenstand  der  Reichstagsberatung  gewesen.  Ein  Antrag 
von  Schultze-Delitzsch  und  Becker-Dortmund,  sie  zu 
beseitigen,  wurde  damals  angenommen,  erhielt  aber  die  Zustimmung 
des  Bundesrates  nicht.  Er  war  ihm  in  §  i  zu  allgemein  gefaßt  ge- 
wesen, bezog  sich  auch  auf  die  Landwirtschaft  und  das  Dienst- 
botenverhältnis. Man  wird  nicht  behaupten  können,  daß  die  An- 
tragsteller die  künftige  Entwicklung  der  Gewerkvereine  und  Un- 
ternehmerverbände vorausgesehen  haben.  Sie  glaubten  ein  Grund- 
recht zu  verteidigen,  dessen  Anwendung  sich,  wie  jede  soziale 
Freiheit,  selbst  regulieren  würde,  und  konnten  sich  nicht  vor- 
stellen, daß    eine  Assoziation  ihre  Genossen  ebenso  zu  tyrannisieren 


IX.  Der  Norddeutsche  Bund. 


229 


vermöge  wie  die  Polizei  die  Untertanen  in  einem  despotischen 
Staate. 

Die  Gewerbeordnung  regelt  nur  die  Koalitionen  der  gewerb- 
lichen Arbeiter,  jedoch  mit  dem  Zusatz,  daß  jedem  Teilnehmer 
der  Rücktritt  freisteht,  und  daß  aus  diesem  weder  Klage  noch 
Einrede  stattfindet.  Damit  war  der  Schutz  einer  etwaigen  Minori- 
tät, die  sich  nicht  beteiligen  will,  rechtlich  gewährleistet,  wenn 
er  auch  in  der  Praxis  oft  bedeutungslos  sein  mochte.  Um  ihm 
einen  weiteren  Nachdruck  zu  geben,  ist  der  Strafparagraph  153 
hinzugefügt :  „Wer  andere  durch  Anwendung  körperlichen  Zwanges, 
durch  Drohungen,  durch  Ehrverletzung  oder  Verrufserklärung  be- 
stimmt oder  zu  bestimmen  versucht,  an  solchen  Verabredungen 
teilzunehmen,  oder  andere  durch  gleiche  Mittel  hindert  oder  zu 
hindern  versucht,  von  solchen  Verabredungen  zurückzutreten,  wird 
mit  Gefängnis  bis  zu  3  Monaten  bestraft,  sofern  nach  dem  all- 
gemeinen   Strafgesetz    nicht    härtere    Strafe    eintritt." 

Hiermit  war  den  Arbeitswilligen  bei  einem  Streik  die  Freiheit 
ihrer  individuellen  Entscheidung  gegenüber  einer  Verbands- 
herrschaft erleichtert,  was  dem  Gedanken  der  Gewerbeordnung 
durchaus  entspricht.  Ein  ganz  konsequenter  Liberaler,  J.G.  Hoff- 
mann, wollte  1841  den  Gesellen  nicht  einmal  die  Bildung  von 
Hilfskassen  gestatten,  da  diese  sich  zu  Körperschaften  auswachsen 
könnten,  in  denen  die  Mitglieder  unter  sich  selbst  Polizei  hand- 
haben und  ihre  Rechte  gemeinsam  gegen  die  Arbeitgeber  ver- 
teidigen würden.  Die  Gewerbeordnung  hat  dem  Produktions- 
prozeß unter  der  freien  Konkurrenz  Gefahren  ersparen  und  den 
Arbeiterverbänden  einen  Selbstzweck  in  der  Volkswirtschaft  nicht 
einräumen    wollen. 

Es  ist  verkehrt,  die  Arbeitseinstellungen  allein  vom  Stand- 
punkt der  Arbeitgeber  und  Arbeiter  zu  erfassen.  Sie  sowohl  wie 
die  Aussperrungen,  welche  die  Koalitionen  im  Gefolge  haben 
können,  sind  Störungen  der  Gütererzeugung,  ein  Ausfall  an  Ein- 
kommen, eine  Schädigung  der  Verbraucher,  leicht  eine  Veran- 
lassung sozialer  und  politischer  Verärgerung.  Sie  sollten  daher 
möglichst  durch  Ausgleiche  beseitigt  werden,  wenn  man  sie  nicht 
aus  der  W^elt  schaffen  kann.  Die  Gewerbeordnung  hat  die  Er- 
richtung eines  Einigungsamtes  nicht  vorgesehen  und  war  insofern 
lückenhaft. 

In  dem  letzten  Drittel  des  19.  Jahrhunderts  sind  die  Streiks 
eine  häufige  Erscheinung  gewesen,  ein  Zeugnis  dafür,  daß  die 
Konsolidierung  der  Volkswirtschaft  auf  dem  gewerblich-sozialen 
Gebiete  unfertig  geblieben  ist.  Einer  der  ersten  größeren  war 
der    der    Leipziger    Buchdrucker    von    1865,    der    sich    unter    der 


230  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  "Wirtschaftsgeschichte  von   1848 — 1871. 

damals  schon  gewährten  sächsischen  Koalitionsfreiheit  vollzog  und 
mit  einer  Lohnerhöhung  der  Gehilfen  endete.  Alsbald  nach  der 
Einführung  der  Gewerbeordnung  bricht  in  Berlin  das  Streikfieber 
aus,  vornehmlich  im  Baugewerbe.  Hamburg  folgte.  Der  erste 
große  Kohlenarbeiterausstand  war  im  schlesischen  Waldenburger 
Revier  und  ging  für  die  Bergleute  verloren.  Der  deutsch-fran- 
zösische Krieg  unterbrach  die  begonnene  Reihe,  aber  bald  nach 
dem  Frieden  setzte  die  Bewegung  als  Massenerscheinung  und  oft 
in  gewalttätiger  Weise  ein.  Das  Leben  war  teuerer  geworden, 
und  diese  Tatsache  begründete  die  Forderung  höheren  Lohnes. 
Die  starke  Nachfrage  nach  Arbeit  in  der  günstigen  volkswirt- 
schaftlichen Konjunktur  machte  die  Bewegung  von  vornherein 
erfolgreich.  Hunderte  gewonnene  Ausstände  wurden  der  Schrecken 
der  Unternehmer,  die  sich  zu  Gegenverbänden  einigten  und  mit 
Aussperrungen,  schwarzen  Listen  und  Entlassungsscheinen  fochten, 
bis  die  Krise  von  1873  ihnen  zu  Hilfe  kam.  Die  Abhängigkeit 
der  Streikfolge  vom  Auf-  und  Niedergang  des  Geschäftes  ist 
seitdem  geblieben.  Der  Höhepunkt  der  Ziffern  fällt  in  die 
Hausseperioden  187  i  — 1874,  1888 — 1800,  1895 — igoo,  1905 — 1908, 
1910 — 1912. 

Das  Bewußtsein  eigener  Macht  in  der  Arbeitsklasse  war 
durch  das  im  Norddeutschen  Bunde  eingeführte  allgemeine 
gleiche  Stimmrecht  gehoben  worden  und  bedurfte  nur  noch 
einer  geringen  Zeitspanne,  um  seine  Ansprüche  in  der  politischen 
Arena  anzumelden.  Das  neue  Wahlsystem  ist  nicht  etwa  unter 
dem  Druck  der  Arbeitermassen  gewährt  worden,  wie  es  die  so- 
zialistisch-ökonomische Geschichtskonstruktion  ihnen  gern  vorreden 
möchte.  Sollte  auch  damals  Bismarck,  wie  von  Sybel 
meint,  die  Hoffnung  gehabt  haben,  „größeren  Respekt  vor  den 
Wünschen  des  Königs  bei  den  Volksmassen  als  bei  dem  mittleren 
und  höheren  Bürgertum  zu  finden",  so  hat  er  doch  in  seinen 
Gedanken  und  Erinnerungen  sich  deutlich  genug  ausgesprochen, 
weshalb  er  vor  der  radikalen  Maßregel  nicht  zurückgeschreckt 
ist:  „Die  Annahme  des  allgemeinen  Wahlrechtes  war  eine  Waffe 
im  Kampf  gegen  Österreich  und  weiteres  Ausland,  im  Kampfe 
für  die  deutsche  Einheit,  zugleich  eine  Drohung  mit  letzten 
Mitteln  im  Kampfe  gegen  Koalitionen."  Man  erinnere  sich,  daß 
am  8.  April  1866  Preußen  beim  deutschen  Bunde  einen  Antrag 
auf  Berufung  eines  deutschen  Parlamentes  auf  Grund  des  all- 
gemeinen gleichen  und  direkten  Wahlrechtes  unter  Ausschluß 
Österreichs    gestellt    hatte. 

Ebenso  wie  die  auswärtige  Politik  das  entscheidende  Motiv 
für  den   Freihandel  der   sechziger  Jahre   gewesen  ist,   so   war   die 


IX.  Der  Norddeutsche  Bund. 


231 


„Rettung  der  Unabhängigkeit  nach  außen"  auch  jetzt  ausschlag- 
gebend. „Die  Liquidation  und  Aufbesserung  der  angerichteten 
Schäden"  sollte  später  erfolgen,  wie  es  denn  mit  der  Wirtschafts- 
politik von  1879  im  ersteren  Falle  geschehen  ist.  Im  zweiten 
kam  es  zu  einer  Abänderung  nicht,  vielmehr  bemächtigte  sich  die 
Arbeiterschaft  des  gebotenen  Kampfmittels,  um  schließlich  in  der 
Revolution  das   Bismarcksche  Lebenswerk   zu   zerstören. 

Der  Norddeutsche  Bund  hat  noch  eine  Anzahl  anderer  Ge- 
setze mit  direkter  oder  indirekter  wirtschaftlicher  Wirkung  ge- 
bracht, 1867  über  die  Aufhebung  der  gesetzlichen  Zinsbeschrän- 
kungen, entsprechend  der  Anschauung,  daß  in  der  heutigen  Volks- 
wirtschaft der  sich  ändernde  Gewinn  den  Zins  an  erster  Stelle 
bestimmt;  über  die  Organisation  der  Berufskonsulate,  die  Na- 
tionalität der  Kauffahrteischiffe,  womit  das  Recht  der  Reeder 
und  Befrachter  festgelegt  wurde,  1868  über  die  Beseitigung  poli- 
zeilicher Beschränkungen  bei  der  Eheschließung,  die  Bayern,  wenn 
auch  Milderungen  kamen,  nicht  annahm,  über  die  Aufhebung 
der  Schuldhaft,  als  eines  für  den  Gläubiger  nichtssagenden  Schutz- 
mittels, für  die  übrigens  später  in  der  Konkursordnung  von  1879 
eine  straffere  Handhabung  der  Realexekution  als  Kompensation 
verliehen  wurde,  über  die  Gleichberechtigung  der  Konfessionen. 
1869  folgte  das  Vereinszollgesetz,  das  die  Verwaltung  des  Zoll- 
wesens bei  dem  Niederlage wesen,  in  den  Grenzbezirken,  bei  De- 
frauden  und  Zollstreitigkeiten  regelte,  das  Gesetz  über  Maßregeln 
gegen  die  Rinderpest,  über  die  Beschlagnahme  des  Arbeits-  und 
Dienstbotenlohnes;  1870  dasjenige  über  den  Unterstützungs- 
wohnsitz in  der  Gemeinde,  über  die  Vermeidung  der  Doppel- 
besteuerung in  den  einzelnen  Staaten,  über  das  Urheberrecht  an 
Schriftwerken,  Abbildungen,  musikalischen  Kompositionen  und  dra- 
matischen Werken,  über  die  Flößereiabgaben,  über  den  Erwerb 
und  den  Verlust  der  Bundes-  und  Staatsangehörigkeit,  die  Ehe- 
schließung  und    die   Beurkundung   des    Personenstandes. 

Diese  Gesetze  sind  in  der  Hauptsache  dann  später  vom 
Reiche  übernommen  worden.  Die  Armenunterstützung  der  Ge- 
meinde, die  1870  nach  zweijährigem  Aufenthalte  in  derselben  be- 
gründet wurde,  wurde  1898  schon  nach  einem  Jahre  einem  jeden 
gewährt,    der    das    16.    Lebensjahr   zurückgelegt    hatte. 

Tief  eingreifend  in  den  gesamten  Verkehr  wurde  die  M  a  ß  - 
und  Gewichtsordnung  vom  17.  August  1868,  die  schon  1861 
von  einer  Sachverständigen-Kommission  des  deutschen  Bundes  aus- 
gearbeitet und  1865  bestätigt  worden,  aber  nur  eine  schöne  Idee 
geblieben  war.  Jetzt  wurde  die  Einheit  festgelegt,  die  weiterhin 
auch   auf   Süddeutschland   Anwendung   fand.    Die   Grundlage   des 


232  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche  Wirtschaftsgeschichte  von   1848 — 187 1. 

Maßes  und  Gewichtes  wird  das  Meter  oder  der  Stab  mit  dezi- 
maler Teilung  und  Vervielfachung. 

Die  bestehenden  Zustände  waren  mit  der  vergrößerten  Ver- 
kehrsentwicklung unerträglich  geworden,  da  sie  eine  Vielartig- 
keit der  Einrichtungen  einschlössen,  von  denen  einige  Beispiele 
gegeben  sein  mögen:  Hessen  hatte  einen  kleinen  Fuß,  Frank- 
furt a.  M.  die  kleine  Elle,  Nassau  den  größten  Fuß,  den  eine's 
Riesen,  von  1/2  Meter.  In  Preußen  hatte  ein  Pfund  30  Loth 
zu  15  Quentchen,  in  den  nordwestdeutschen  Staaten  10  Loth  und 
100  Quint,  in  den  südwestdeutschen  32  zu  4  Quentchen.  Das 
Pfund  als  solches  war  wenigstens  durch  Vermittelung  des  Zoll- 
vereins 1837  ein  einheitliches  geworden,  das  zunächst  als  Zoll- 
pfund =  500  Gramm  in  Zollsachen,  später,  mit  Ausnahme  von 
Bayern,  zum  allgemeinen  Gewicht  erhoben  wurde.  In  Kassel  galt 
übrigens  noch  daneben  i  Zentner  Schwergewicht  zu  100  Pfd.,  in 
Frankfurt  a.  M.  108,  in  Königsberg  128.  In  Preußen  maß  man  das 
Land  nach  Morgen,  in  Bayern  nach  Tagewerk,  in  Württemberg 
nach  Jauchert,  Größen,  die  voneinander  stark  abwichen,  in  Baden 
das  Getreide  nach  Zuber,  Malter,  Sester,  Mäßlein  und  Becher, 
die  Flüssigkeiten  nach  Fuder,  Ohm,  Stützen,  Maß  und  Glas. 
Innerhalb  Preußens  gab  es  verschiedene  Großhandelsmaße.  Das 
Getreide  wurde  in  Königsberg  zu  85  Pfd. -Gewicht,  in  Danzig 
nach  Last,  in  Stettin  nach  Scheffel,  in  Köln  nach  Malter  notiert; 
In  Elbing  und  Stralsund  galten  Amsterdamer  Pfunde.  In  Danzig 
bedeutete  die  Last  561/2,  in  Stralsund  72  Scheffel.  Der  Wispel 
wurde  in  Preußen  offiziell  zu  24  Scheffel  gerechnet,  im  Ver- 
kehr bei  Hafer  zu  26,  bei  Weizen,  Roggen,  Gerste  und  Erbsen 
gleich  25.  Bei  der  Schiffsbelastung  rechnete  man  die  gewöhn- 
liche Last   zu   4000    Pfd.,   die   Kommerzlast  zu   6000. 

Anders  als  das  Eisenbahn-  hat  das  Postnetz  seinen  histo- 
rischen Aufbau  gefunden.  Während  jenes  ein  staatlich-privates, 
ein  gemischtes  war,  ist  dieses  mit  Ausnahme  der  Thurn-  und 
Taxisschen  Post  ein  ausschließlich  staatliches  gewesen.  Es  wurde 
nach  den  Bedürfnissen  des  Staatswesens  und  des  Wirtschafts- 
lebens erweitert,  wobei  das  Finanzielle,  wenn  es  auch  beachtet 
wurde,  durchaus  an  zweiter  Stelle  stand.  Die  Privatbahnen  folgten 
den  Dividendenerwägungen  bei  ihrer  Gründung  und  Verwaltung, 
so  daß  sich  in  der  Volkswirtschaft  eine  Differentialdividende  ähn- 
lich der  Ricardo  sehen  Fruchtbarkeitsrente  der  Grundstücke 
herausbildete,  bestimmt  wesentlich  durch  die  Größe  des  Bahn- 
betriebes. Bei  der  Post  wurden  die  guten  und  schlecht  brin- 
genden Strecken  ineinander  zu  einem  Einheitsertrage  für  die 
Staatskasse   verrechnet,    der   freilich   größer   gewesen   sein   würde, 


IX.  Der  Norddeutsche  Bund.  233 


wenn  sich  die  Kleinstaaterei  mit  i6  Postverwaltungen  und  31 
Postgebieten  ihm  mit  ihren  Sonderwünschen  und  Kontrollen 
nicht    widersetzt    hätte. 

Während  des  Krieges  von  1866  hatte  die  preußische  Re- 
gierung auf  Anregung  des  Geheimrates  Stephan,  des  späteren 
hochverdienten  Leiters  des  deutschen  Reichspostwesens,  die 
Thurn  und  Taxis  sehe  Postverwaltung,  die  sich  über  21  Klein- 
und  Mittelstaaten  erstreckte,  mit  Beschlag  belegt  und  unter  Ver- 
waltung genommen.  Nach  dem  Frieden  wurde  der  Fürst  von 
Taxis  mit  3  Millionen  Tlr.  abgefunden  und  verzichtete  damit 
auf  das  alte  kaiserliche  Regal,  mit  dem  sein  Vorfahr  1520  von 
Karl  V.  belehnt  worden  war.  Die  Einrichtung,  die  sich  in  einem 
wohlgeordneten  Betrieb  bewegte,  hatte  bei  der  deutschen  Klein- 
staaterei viel  Gutes  geleistet,  jetzt  mußte  sie  als  überlebt  gelten, 
da  eine  postalische  Einheit  für  den  Norddeutschen  Bund  nicht 
hinauszuschieben  war.  Die  großstaatlichen  und  volkswirtschaft- 
lichen Zwecke  der  Post  mußten  anerkannt  werden,  die  finanziellen, 
die  bei  der  Thurn  und  Taxisschen  Verwaltung  in  dem  Vordergrund 
standen  und  die  notwendigen  Ausgaben  für  die  Bequemlichkeit 
des    Publikums    beschränkt    hatten,    an    zweite    Stelle    treten. 

Schon  die  Frankfurter  Reichsverfassung  hatte  für  das  Post- 
wesen die  Reichshoheit  und  den  Reichsbetrieb  gefordert.  Ver- 
waltungsverbesserungen brachten  im  Anschluß  der  Dresdener  Kon- 
greßverhandlungen der  deutschen  Postverwaltungen  von  1847  und 
an  die  Postverträge  zwischen  Österreich,  Bayern,  Baden,  Sachsen, 
Preußen,  Thurn  und  Taxis  von  1843/44  der  preußisch-öster- 
reichische Postvertrag  von  185 1  und  die  Postkonferenzen  der 
deutschen  Staaten  in  den  folgenden  Jahren.  Mit  §  48  der  Ver- 
fassung des  Norddeutschen  Bundes  wurden  die  längst  gehegten 
Wünsche  der  Einheitspost  wenigstens  für  Norddeutschland  erfüllt. 
Die  Staaten  südlich  der  Mainlinie  blieben  abseits,  wenn  sie  auch 
die  praktischen  Grundsätze  des  Nordens  im  inneren  Verkehr  nach- 
ahmten. 

Der  Bund  übernahm  nach  preußischem  Muster  die  Ver- 
waltung, deren  Einnahmen  und  Ausgaben  in  den  Etat  eingesetzt 
wurden.  Das  Postregal  wurde  über  das  notwendige  Maß  nicht 
ausgedehnt,  so  daß  der  Verkehr  mit  Paketen,  Geld-  und  W^ert- 
sendungen  frei  blieb,  obwohl  er  bald  faktisch  auf  die  Staats- 
anstalt überging.  Von  den  Tarifreformen  war  die  wichtigste  das 
einstufige  Briefporto,  das  die  Zonensätze  beseitigte,  so  daß  jetzt, 
nachdem  mit  Süddeutschland  und  Österreich  Verträge  vereinbart 
worden  waren,  der  Brief  von  einem  Loth  —  später  15  Gramm  — 
für   einen    Groschen   von   Memel  bis    Konstanz   oder   von    Haders- 


234  ^^'  -A^bschnitt.     Die  deutsche  "Wirtschaftsgeschichte  von  1848 — 187 1. 

leben  nach  Triest  befördert  wurde,  wobei  die  Postverwaltung 
unter  rascher  Ausdehnung  des  Verkehrs  keine  schlechten  Ge- 
schäfte machte. 

Die  großstaatliche  Postverwaltung  war  für  den  Abschluß 
internationaler  Postverträge  ganz  anders  geeignet  als  die  ehe- 
malige Summe  der  vielen  deutschen  Partikularposten.  Ein  großer 
Erfolg  war  aber  hier  erst  dem  Reich  beschieden.  Schon  1863 
hatten  die  Vereinigten  Staaten  eine  zwischenstaatliche  Post- 
konferenz veranlaßt,  die  nur  zu  Beratungen,  aber  zu  keinem  Er- 
gebnis geführt  hat.  Erst  1874  war  es  dem  Ingenium  des  deutschen 
Generalpostmeisters  Stephan  beschieden,  den  allgemeinen 
Postverein  zu  Bern  zustande  zu  bringen,  eine  Dauer- 
einrichtung  mit  niedrigen  Einheitstarifen  für  alle 
sich  anschließenden  Länder.  Bald  nach  seiner  Gründung  umfaßte 
er  300  Millionen  Menschen  und  700  000  Quadratmeilen  Landes. 
Der  dann  folgende,  nur  dem  Namen  nach  veränderte  „W  e  1 1  - 
postverein"  hielt  an  dem  leitenden  Grundsatze  fest,  wurde  zu 
einer  den  V^^eltverkehr  mächtig  fördernden  Einrichtung  unter 
Aufnahme  immer  weiterstrebender  Verbesserungen. 

Mit  der  Begründung  des  Norddeutschen  Bundes  haben  wir 
von  der  hundertjährigen  Geschichte,  in  der  wir  die  deutsche 
Volkswirtschaft  verfolgen,  die  Mitte  erreicht.  In  der  ersten  Hälfte 
entwickelt  sich  dieser  Zusammenhang  des  Ganzen  aus  dem  Vor- 
gehen der  Privatwirtschaften  und  Einzelstaaten  —  man  denke 
an  die  Eisenbahnen  —  heraus,  oft  ohne  genügenden  Plan  und 
daher  unter  steten  Korrekturen,  und  völkerrechtliche  Abmachungen 
unter  den  Bundesstaaten  bringen  eine  nur  zweifelhafte  Festigung, 
weil  sie  zu  oft  gefährdet  ist,  wie  das  z.  B.  der  Zollverein  be- 
wiesen hat.  In  der  zweiten  Hälfte  bleibt  in  der  auf  dem  Indi- 
vidualismus fußenden  Volkswirtschaft  den  einzelnen  Wirtschaften 
noch  Spielraum  genug  zur  verkehrsmäßigen  Gliederung  des  wirt- 
schaftenden Volkes,  allein  die  Politik  organisiert  zielbewußt  und 
verleiht  damit  der  Gesamtheit  vergleichsweise  zur  vorangehenden 
Periode  ein  rascheres  Vorwärtsschreiten,  das  im  Nordbunde  durch 
dessen  räumliche  Beschränkung  und  Unvollkommenheit  in  der 
Kompetenz  noch  zurückgehalten  wird,  im  Reich  rasch  ins  Große 
wächst. 

Literatur. 

I.     Bremer  Handelsblatt,  herausg.  von  A.  Lammers,   1851  — 1870. 

Otto  Hübner,  Jahrbuch  für  Volkswirtschaft  und  Statistik,   1856 — 1861. 
H.  von    Sybel,    Die    Begründung   des    Deutschen    Reichs    durch    Wilhelm   I.,    1901, 
Bd.  n  und  ni. 


Literatur.  235 

II.     A.  Judeich,  Die  Grundentlastung  in  Deutschland,   1863. 
W.  Bios,  Die  deutsche  Revolution,    1893. 
B.  Becker,  Die  Reaktion  in  Deutschland,   1869, 
F.  Mehring,  Geschichte  der  deutschen  Sozialdemokratie,   1897. 

F.  Goldschmidt,    Die    deutsche    Handwerkerbewegung  bis  zum   Siege  der  Gewerbe 
freiheit,  mit  Literaturangabe,   19 16. 

G.  Schmoller,  Zur  Geschichte  der  deutschen  Kleingewerbe,   1870. 

K.  F.  Eheberg,  Die  industrielle  Entwicklung  Bayerns  seit   1800,   1879. 

J.  Kaizl,    Der    Kampf  um    Gewerbereform    und    Gewerbefreiheit  in  Bayern   1799  bis 

1868,   1879. 
V.  Böhmert,    Freiheit    der  Arbeit,    Beiträge    zur  Reform  der  Gewerbegesetze,   1858. 
G.  Schönberg,  Gewerbe  I.  im  Handbuch  der  politischen  Ökonomie,   1882. 
W.  Köhler,  Die  deutsche  Nähmaschinenindustrie,   191 2. 
E.  Kaier,   Wilhelm  Weitling,  Seine  Agitation  und  Lehre,   1887. 
Fr.  Engels,  K.  F.  Marx,  Hw.  d.  Stw.     IIL  Aufl.     Bd.  VL 
G.  Adler,  Grundlagen  der  K.  Marxschen  Kritik  der  bestehenden  Volkswirtschaft,    1887. 

III.  Außer  der  bereits  angeführten  Zollvereinsliteratur: 

Der  Handelsvertrag  zwischen  Preußen  und  Hannover,  Deutsche  Vierteljahrsschrift,  1852. 
Asher,  Handelsvertrag  zwischen  Preußen  und  Hannover,    1862. 

A,   Beer,    Geschichte    der    österreichischen    Handelspolitik    im   19.  Jahrhundert,   1891. 
A.  Bienengräber,  Statistik  des  Verkehrs  und  Verbrauchs  im  Zollverein,   1868. 
Viehbahn,  Statistik  des  zollvereinten  und  nördlichen  Deutschlands,    1862. 

IV.  J.  Conrad,  Art.  Getreidepreise,  Hw.  d.  Stw.     III.  Aufl. 
*K.  Flegel,  Montanstatistik  des  Deutschen  Reiches,   1915. 

Handw.     d.    Stw.,     Art.    Baumwollindustrie,    Wolle    und    Wollindustrie,  Seide  und 

Seidenindustrie,  Leinenindustrie.     III.  Aufl. 
G.  Schmoller,  Entwicklung  und  Krise  der  deutschen  Weberei,    1873. 

E.  Schmidt-Weißenfels,  Geschichte  des  modernen  Reichtums,   1893. 
Deutsches  Museum,  Führer  durch  die   Sammlungen,   1916. 

*K.  Karmarsch,  Geschichte  der  Technologie,    1872. 

Die  Pariser  Internationale  Ausstellung,  Blätter  für  Industrie,  Kunst  und  Gewerbe  1867. 

Volz,  Großbritannien  und  Deutschland  auf  der  Industrieausstellung  zu  London,  Zeitschr. 
für  St.-Wiss.   1851. 

A.  Ebeling,  Die  Wunder  der  Pariser  Ausstellung,    1867, 

Wilhelm  Wundt,  Erlebtes  und  Erkanntes,   1920. 
V.     Helferich,  Die  Einheit  im  deutschen  Münzwesen,  Zeitschr.  für  St.-Wiss.    1850. 
*A.  Soetbeer,  Deutsche  Münzverfassung,   1874. 

Derselbe,  Die  Goldwährung  in  Deutschland,  Preuß.  Jahrb.   B.I.  XLIV. 

Karl  Helfferich,  Die  Folgen  des  deutsch-österreichischen  Münzvereins  von  185 1,  1894. 

11.  von  Poschinger,  Bankwesen  und  Bankpolitik  in  Preußen   1878/79. 

Die  Bank  des  Berliner  Kaagenvereins,  Denkschrift,   1900. 

O.  Hübner,  Die  Banken,    1853/54. 

F.  Hecht,  Bankwesen  und  Bankpolitik  in  den  süddeutschen  Staaten,   1880. 
W.  Lotz,  Geschichte  der  deutschen  Notenbanken  bis  zum  Jahre   1857,   1888. 

"Dr.  Rießer,  Zur  Entwicklungsgeschichte  der  deutschen  Großbanken,    1905. 

*G.  Obst,  Das  Bankgeschäft,  Bd.  H,    1914. 

*0.  Wormser,  Die  Frankfurter  Börse,  ihre  Besonderheiten  and  ihre  Bedeutung,    19 19. 

F.  Dannenbaum,  Deutsche  Hypothekenbanken,  191 1. 

H.   Rau,  Vergleichende  Statistik  des  Handels  der  deutschen  Staaten,    1863. 
VI.  *Max  Wirth,  Geschichte  der  Handelskrisen,   1874. 

Derselbe,  Illustrierter  deutscher  Gewerbekalender,   1866 — 187 1, 


2X6  IV.  Abschnitt.     Die  deutsche   Wirtschaftsgeschichte  von   1848— 1871. 

Otto  Michaelis,  Volkswirtschaftliche  Schriften  II,  Handelskrisis  von   1857. 

Ph.  Bauer,  Die  Aktiengesellschaften  in  Baden,   1903. 

R.  Steine  rt,  Kapitalbewegung  und  Rentabilität  der  Leipziger  Aktiengesellschaften,  191 2. 

Paul  Model,  Die  großen  Berliner  Effektenbanken,    1896. 

F.  L.  Knips,  Entwicklung  und  Tätigkeit  der  Bank  für  Handel  und  Industrie,    1912. 
VII.  *K.  Diehl,  Über  Sozialismus,  Kommunismus  und  Anarchismus,   191 1. 

C.  Fischer,  Denkwürdigkeiten  und  Erinnerungen  eines  Arbeiters,  Leben  und  Wissen, 
Bd.  II  und  IV. 

F.  A.  Lange,  Die  Arbeiterfrage.     IV.  Aufl.,    1879. 

V.  Plener,  F.  Lassalle,    1884. 

Brandes,  F.  Lassalle,  ein  literarisches  Charakterbild,    1877. 

B.  Becker,  Geschichte  der  Arbeiteragitation  F.  Lassalles,    1874/75. 

Hw.  für  St.-Wiss.,  Art.  Lassalle  mit  Literaturangabe.     III.  Aufl. 

K.  Marx,  Das  Kapital,   1867— 1893. 

R.  Meyer,  Der  Emanzipationskampf  des  vierten  Standes,   1882. 
*Ludwig  Bamberger,  Deutschland  und  der  Sozialismus,    1878. 

W.    Böhm  er t.     Die    Hamburg- Amerika-Linie    und    der    Norddeutsche    Lloyd,     1909. 

P,  Neubaur,  Der  Norddeutsche  Lloyd.   50  Jahre  der  Entwicklung  1857 — 1907,  1907. 
VIII.  *John  Prince  Smith,  Gesammelte  Schriften,    1877. 

W.  Wundt,  Die  Nationen  und  ihre  Philosophie,    19 15. 
*Die    Handelspolitik    des  Deutschen  Reichs  vom    Frankfurter    Frieden    bis  zur    Gegen- 
wart,  1899. 

Oswald  Schneider,  Bismarck  und  die  deutsche  Freihandelspolitik,   19 10. 

W.  Mönckmeyer,  Die  überseeische  Auswanderung,    1912. 

E.  V.  Philippovich,  Auswanderung,  Hw.  d.  Stw.,  III.  Aufl. 

H.  Blum,  Auf  dem  Wege  zur  deutschen  Einheit,    1893. 

K.  Maß,    25    Jahre    deutsche    Reichsgesetzgebung,     1892,    Denkschrift    der    national- 
liberalen Partei. 
*H.  von  Poschinger,  Bismarck  als  Volkswirt,    1889 — 1891. 

L,  Bamberger,   Vertrauliche  Briefe  aus  dem  Zollparlament,    1870. 

A.    von    Matlekovitz,    Die    Zollpolitik    der    Österreich-ungarischen    Monarchie    von 
1850  bis  zur  Gegenwart,    1877. 

L.  JoUy,  Maß  und  Gewicht  im  Handbuch  der  politischen  Ökonomie,    1882. 
IX.     R.  von  Landmann,  Die  Gewerbeordnung  für  das  Deutsche  Reich,    1884. 

Das  Gewerbewesen  im  Königreich  Bayern,    1859. 

Hw.  d.   Stw.,  Art,  Koalition  und  Koalitionsrecht  und  Arbeitseinstellungen  in  Deutsch- 
land von  W.  Stieda  und  K.  Oldenberg.     III.  Aufl. 

R.  V.  d.  Borght,  Die  Weiterbildung  des  Koalitionsrechts  der  gewerblichen  Arbeiter,  1899. 

H.  Herkner,  Die  Arbeiterfrage.     III.  Aufl.,   1897. 
*Paul  Laband,  Das  Staatsrecht  des  Deutschen  Reichs  seit   1876. 

Dietrich  Schäfer,  Deutsche  Geschichte  192 1. 


V.    Abschnitt. 
Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs  1871 — i8go. 

I.  Vorbemerkung.  Die  Beeinflussung"  der  Volkswirtschaft 
durch  eine  neue  politische  Verfassung  und  Verwaltung  ist  schwer- 
lich jemals  deutlicher  als  mit  der  Reichsgründung  hervorgetreten. 
Die  überwiegend  negative  wirtschaftliche  Gesetzgebung  des  Nord- 
deutschen Bundes,  entsprechend  der  manchesterlichen  Periode  des 
freien  Gehenlassens,  wurde  bald  durch  die  Neugestaltung  des  Geld- 
und  Bankwesens,  der  nationalen  Handels-,  Finanz-  und  Sozial- 
politik an  Bedeutung  überholt,  außerdem  erwies  sich  die  ge- 
wonnene Kraft  des  Einheitsstaats  im  Völkerverkehr  als  eine  starke 
Quelle  neuen  Wohlstandes. 

Es  war  das  Staatsgebiet  des  Nordens  um  die  süddeutschen 
Länder  und  um  Elsaß-Lothringen  vergrößert  worden.  Es  stand 
im  Herzen  Europas  ein  kaiserliches  Reich,  das  alle  wirtschaft- 
lichen Angelegenheiten  seiner  Bürger  im  Auslande  mit  seiner 
Wehrmacht  zu  schützen  willens  war,  das  seinen  diplomatischen 
Vertretern  und  Konsuln  eine  Achtung  zu  schaffen  verstand,  wie 
sie  die  Einzelstaaten  der  Vergangenheit  niemals  zur  Aufrecht- 
erhaltung und  Neuordnung  völkerrechtlicher  Abmachungen  be- 
sessen   hatten. 

Die  Deutschen  im  Auslande  haben  von  jeher  die  Eigenschaft 
gehabt,  sich  bei  der  Verfolgung  ihrer  persönlichen  Angelegen- 
heiten der  fremden  Sprache  und  Sitte  vortrefflich  anzupassen, 
wobei  ihnen  der  Vorwurf  nicht  erspart  bleiben  konnte,  daß  sie 
ihr  Volkstum  zu  leicht  preisgaben.  Die  Klagen  über  mangelnden 
nationalen  Stolz  sind  auch  nach  1871  nicht  verstummt.  Waren  sie 
schon  früher  zu  sehr  verallgemeinert  worden,  da  z.  B.  das,  was 
für  Nordamerika  galt,  für  Mittel-  und  Südamerika  nicht  paßte, 
der  gebildete  Großkaufmann  in  der  Fremde  anders  empfand  als 
der  ausgewanderte  Handwerker  und  Landarbeiter,  so  war  mit 
dem  neuen  Reich  das  Nationalbewußtsein  der  Auslandsdeutschen 
doch  gehoben  worden,  wenigstens  so  lange,  als  Bismarck  die 
Zügel  der  auswärtigen  Politik  in  der  Hand  hielt  oder  sein  Befehl 
noch  im  Herzen  vieler  nachklang. 

Wegen  ihrer  wirtschaftlichen  Tüchtigkeit  haben  die  Auslands- 
deutschen sich   den   Haß   ihrer  andersstaatlichen   Mitbewerber  zu- 


228  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs  1871 — 1890. 

gezogen.  War  sie  mit  der  vaterländischen  Hingebung  gepaart, 
so  wurde  sie  noch  schwerer  verziehen.  Dem  Einzelnen  wurden 
nationale  Lächerlichkeiten  nachgesagt,  und  der  Gruppe  Eigen- 
schaften irgendeiner  Person  angedichtet.  Nach  des  Kanzlers  Ent- 
lassung wurden  die  Deutschen  auch  außerhalb  des  Reiches  wieder 
Nur-Parteileute  und  beurteilten  ihr  Vaterland  nach  der  Presse, 
die  sie  lasen.  Manche  Dinge  daheim  vermochten  sie  rich- 
tiger abzuschätzen,  als  es  zu  Hause  geschah,  für  vieles  ver- 
loren sie  das  Augenmaß,  da  sich  hier  so  schnell  alles  veränderte. 
Wenn  sie  trotz  dieser  ihr  fehlenden  Geschlossenheit  von  ihren 
Gegnern  nicht  weniger  angefeindet  wurden  als  ehedem,  so  lag 
das  darin,  daß  ihre  technische  und  ökonomische  Überlegenheit 
wuchs,  die  nur  ein  Reflex  des  vaterländischen  Fortschrittes  war, 
und  daß  Deutschland  geschäftlich  jetzt  mehr  in  der  Weltwirt- 
schaft zu  sagen  hatte,  als  früher  seine  Einzelstaaten  zusammen 
auf  dem   europäischen   Kontinent. 

Man  hat  sich  oft  bei  uns,  besonders  in  den  Jahren  vor  dem 
Weltkrieg,  die  Frage  vorgelegt,  warum  auch  die  Deutschen  daheim 
von  allen  ihren  Nachbarn  so  angefeindet  worden  sind,  was  doch 
50  Jahre  früher  noch  keineswegs  der  Fall  gewesen  war.  Der 
Grund  ist  derselbe,  der  für  die  Auslandsdeutschen  soeben  genannt 
wurde:  die  Überlegenheit  an  Arbeitsfähigkeit,  Ordnungssinn  im 
Wirtschaftsleben,  Erfindungs-  und  Organisationstalent.  Der  Unter- 
offizierston in  gewissen  Kreisen,  die  Vorliebe  für  das  Jägerhemd, 
das  Biertrinken  oder  andere  gern  genannte,  angeblich  nationale 
Eigentümlichkeiten  konnten  wohl  Spott,  aber  niemals  wilden  Haß 
erregen.  Fehler,  auch  moralischer  Art,  werden  leicht  verziehen, 
niemals  aber  Überlegenheiten  —  ebenso  wenig  wie  im  indivi- 
duellen so  im  völkischen  Leben;  daher  denn  Fr.  Nietzsche 
mit  Recht  bemerkt:  „Worin  eine  gegnerische  Rasse  oder  ein 
gegnerischer  Stand  seine  Stärke  hat,  das  wird  ihm  als  sein 
Bösestes,  Schlimmstes  ausgelegt:  denn  damit  schadet  er  uns 
(seine  „Tugenden"  werden  verleumdet  und  umgetauft)."  Aus  Dis- 
ziplin wurde  Mihtarismus,  aus  Fleiß  Konkurrenzwut,  aus  wissen- 
schaftlicher Kraft  Hinterlist  gemacht.  Daß  das  deutsche  Volk 
diese  Täuschung  nicht  erkannte,  ja  selbst  schließlich  daran  glaubte, 
was  ihm  seine  Feinde  vorredeten,  gehört  zu  den  dunkelsten 
Punkten  seiner  neueren  Geschichte  und  ist  auch  wirtschaftlich 
verderblich   geworden. 

Das  Deutsche  Reich  macht  den  Zollverein  überflüssig.  Es 
bildet  verfassungsmäßig  ein  einheitliches  Handels-  und  Zollgebiet. 
Die  Zolleinnahmen  und  wichtige  Verbrauchssteuern  fließen  in  die 
Reichskasse  und  dienen  zur  Deckung  der  öffentlichen  Ausgaben. 


I.  Vorbemerkung.  23Q 


Der  Dualismus  im  Finanzwesen,  wie  ihn  der  Norddeutsche  Bund 
im  Zollverein  kannte,  ist  beseitigt  worden.  Die  Erhebung  und 
Verwaltung  der  Zölle  bleibt  dem  föderativen  Wesen  der 
neuen  Schöpfung  gemäß  den  Bundesstaaten  wie  bisher,  der 
Kaiser  überwacht  die  Einhaltung  des  gesetzlichen  Verfahrens  durch 
Reichsbeamte.  Die  äußere  Handelspolitik  wird  im  Wege  der  Ge- 
setzgebung unter  Übereinstimmung  von  Bundesrat  und  Reichs- 
tag festgestellt.  Die  Handelsverträge  werden  vom  Kaiser  unter 
Genehmigung  des  Bundesrates  abgeschlossen  und  bedürfen  zu 
ihrer  Gültigkeit  der  Genehmigung  der  Volksvertretung.  Die 
Reichskompetenz  für  das  innere  Wirtschaftsleben  schließt  sich  den 
Regeln  des  Norddeutschen  Bundes  an.  Die  Bundesgesetze  werden 
auf  das  Reich  übertragen,  soweit  keine  Reservatrechte  des  Südens 
in  Frage  stehen. 

Wir  haben  oben  bei  der  Periode  von  1833—1848  bemerkt, 
wie  damals  Südwestdeutschland  mit  seinem  lebhaften  demokrati- 
schen Gewoge  die  gesamte  deutsche  innere  Politik  der  Landtage 
ins  Schlepptau  nahm.  Noch  in  der  Frankfurter  Nationalversamm- 
lung diktierte  es  dem  ganzen  Volk  Gesetze.  Es  war  dieser  Vor- 
gang nur  aus  der  geschichtlichen  Vergangenheit  zu  begreifen. 
Denn  nirgends  war  ehemals  ein  Gebiet  so  in  eine  Unzahl  reichs- 
ritterschaftlicher  und  anderer  kleiner  Besitzungen  mit  partikula- 
ristischen  Tendenzen  zersplittert  gewesen,  und  nirgends  hatten 
sich  die  Abgrenzungen  der  Konfession  so  ineinander  verwickelt,  als 
hier  in  Baden,  Württemberg,  Rheinbayern,  Hessen  und  Nassau. 
War  damit  schon  der  Nährboden  für  individualistische  Gleichheits- 
bestrebungen gegeben,  die  sich  von  Frankreich  über  den  Rhein 
ergossen  hatten,  so  wurde  er  noch  andauernd  durch  die  viel- 
artigen wirtschaftlichen  Interessen,  die  sich  als  agrare,  gewerb- 
liche und  kommerzielle  in  der  geographischen  Enge  berührten, 
befruchtet.  Mit  der  Reichsgründung  verschob  sich  der  politische 
Schwerpunkt  nach  Preußen,  als  der  Vormacht  im  Bundesrat,  und 
in  die  großen  nationalen  Berufsstände,  die  im  Reichstage  ihre 
parlamentarischen  Kämpfe  ausfochten.  Die  Parteien  kommen  neben 
den  Ländern  zu  Wort  und  die  politische  Wirklichkeit  ist  oft  eine 
Resultante  aus   dem  Willen  beider. 

Die  politische  Begeisterung,  die  das  deutsche  Volk  1870/71 
in  heftigster  Erregung  gehalten  hatte,  konnte,  als  das  Reich  nun 
gefestigt  dastand,  unter  der  natürlichen  Reaktion  der  Dinge  in 
ihrer  hohen  Spannung  nicht  verbleiben.  Der  Sinn  richtete  sich 
auf  Lebensgenuß  und  Erwerb,  zumal  aus  der  Volkswirtschaft 
heraus  anspornende  Kräfte  tätig  waren.  Viel  Kapital  zu  neuen 
Unternehmungen  war  in  den  letzten  Jahren  angesammelt  worden, 


240  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871  — 1890. 

5  Milliarden  Franken  französischer  Kriegsentschädigung  er- 
gossen sich  in  die  deutsche  Volkswirtschaft.  Technische  Erfin- 
dungen, besonders  in  der  chemischen  Industrie,  waren  gemacht 
worden  und  harrten  der  Ausbeute.  Die  liberale  Wirtschaftsgesetz- 
gebung und  Verwaltung  drängte  zu  Gesellschaftsgründungen,  Zu- 
sammenziehung von  Arbeitskräften  und  großstädtischer  Menschen- 
anhäufung. 

Die  Übertreibung  der  spekulativen  Neubildung,  der  Schwindel, 
den  Banken,  Börsen  und  Publikum  betrieben,  endigte  mit  der 
stärksten  Krise,  die  das  Jahrhundert  gekannt  hat.  Die  Aufwärts- 
bewegung war  nicht  allein  deutschen  Ursprungs  gewesen,  sie  trug 
einen  internationalen  Charakter.  Daher  war  auch  der  Rückschlag 
überall.  Er  setzt  dem  vierzigjährigen  Vordringen  des  Erwerbslebens 
einen  Höhepunkt  in  Preisen,  Gewinnen,  Zinsfuß  und  Löhnen. 
Nachdem  das  Hinabgleiten  endlich  aufgehalten  worden  ist,  kommt 
eine  längere  Periode  der  Sammlung,  der  Erholung,  ehe  die  scharfe 
Richtung  nach  oben  wieder  eingeschlagen  werden  kann. 

In  Deutschland  brach  sich  gleichzeitig  die  Erkenntnis  Bahn, 
daß  die  manchesterliche  Wirtschaftspolitik  den  von  ihr  behaup- 
teten Segen  nicht  gebracht  habe.  Tief  prägten  sich  die  furcht- 
baren Wunden  dem  Volke  ein,  die  die  Orgien  der  wirtschaftlichen 
Willkü}-  geschlagen  hatten.  Eine  tiefe  Mißstimmung  wurde  die 
Voraussetzung  für  Reformen,  die  in  dem  Zugreifen  des  Reichs- 
kanzlers eine  glückliche  Linie  erhielten.  Eine  neue  Wirtschafts-, 
Finanz-  und  Sozialpolitik  kommt  herauf,  die  die  Kräfte  der  Nation 
verständiger  gliedert  und  einheitlicher  als  bisher  zusammenfaßt. 
Eine  starke  Anregung  erhält  das  nationalwirtschaftliche  Empfin- 
den durch  den  Erwerb  von  Kolonien  und  das  verstärkte  Ein- 
greifen in  die  Weltwirtschaft.  Materielle  und  Wissensschätze 
werden  aufgespeichert,  deren  volle  Nutzbarmachung  dem  folgenden 
Zeitraum   des    deutschen   Wirtschaftslebens   vorbehalten   bleibt. 

Wenn  man  unter  Kultur  den  engeren  Begriff  Nietzsches 
verstehen  will,  „Einheit  des  künstlerischen  Stiles  in  allen  Lebens- 
äußerungen des  Volkes",  so  wird  man  dem  Philosophen 
zustimmen,  als  er  in  seinen  „Unzeitgemäßen  Betrachtungen"  den 
Nachweis  zu  führen  unternimmt,  daß  es  im  neuen  Reich  mit  ihr 
nicht  zum  guten  bestellt  sei.  Aber  die  zehn  Jahre  vorher  war  es 
auch  nicht  viel  anders  gewesen.  Es  ist  nun  einmal  so,  daß  eine 
Nation,  die  sich  nach  einer  Seite  hin  gewaltig  ausgibt,  der  Fähig- 
keit, nach  einer  anderen  hinzuwirken,  ermangelt.  Wie  kann  man 
vom  Reich,  das  seine  politischen  Grundlagen  erst  zu  erproben  hat, 
wie  von  einer  atomistisch  zersplitterten,  erwerbshungrigen  Gesell- 
schaft  erwarten,    daß    sie    positiv   kulturell   etwas   leisten.    Immer- 


Vorbemerkung,  2  4 1 

hin  bleibt  die  Tatsache  der  Reichsgründung  nicht  ganz  ohne  Ein- 
fluß auf  den  künstlerischen  Gedanken.  Die  Historienmalerei,  er- 
zählt uns  R.  Muther  in  seiner  Geschichte  der  Malerei  im  19. 
Jahrhundert,  erhält  durch  1870  den  Todesstoß,  da  Deutschland 
keine  Veranlassung  mehr  hat,  sich  über  sein  politisches  Elend 
durch  Vorführung  von  Staatsaktionen  früherer  Zeiten  trösten  zu 
lassen.  „Germania",  schreibt  er,  „die  noch  Kaulbach  im 
Treppenhaus  des  Berliner  Museums  darstellte,  wie  ihr,  während 
sie  über  die  Lektüre  eines  alten  Buches  vertieft  ist,  unversehens 
die  Krone  vom  Haupte  rutscht,  hatte  mit  starker  Hand  das 
Zepter  ergriffen."  Man  erinnert  sich  auch  der  großen  deutschen 
Kunst  der  Vergangenheit,  und  glaubt  es  ihr  gleichtun  zu  müssen, 
und  etwas  Neues,  Nationales  hervorzubringen.  Das  mißglückt 
zwar,  da  man,  statt  sich  entschlossen  in  die  Gegenwart  zu  stürzen, 
an  „altdeutsch  und  stilvoll"  hängen  bleibt.  Das  Kunstwerk  reißt 
man  aus  der  Lethargie  des  verflachten  Biedermeier  allerdings 
heraus.  Man  trägt  zur  Verfeinerung  des  modernen  Damenkostüms 
etwas  bei  und  findet  wieder  Freude  an  der  Farbenpracht  der  Öl- 
gemälde. Die  nachgeahmten  alten  strengen  Formen  der  Archi- 
tektur hat  man  indessen  bald  satt,  fühlt  sich  durch  den  Ersatz 
des  Barocks  am  Ende  der  siebziger  Jahre  auch  nur  wenig  be- 
friedigt. Der  anschwellende  Reichtum  gibt  der  Richtung  zum 
Prunkvollen  Nahrung,  Renaissancepaläste  der  Banken  und  Ver- 
gnügungslokale durchbrechen  die  großstädtischen  Straßenfassaden, 
die  Privatwohnungen  füllen  sich  mit  schweren  Eichenholzbuffets 
und  Truhen  an,  und  altdeutsche  Kneipzimmer  und  Restaurants 
verdrängen  die  nüchternen  Bierhäuser  und  Weinstuben  mit  ihrem 
gelbbraunen  Ölfarbenanstrich  und  weißer  Gardine.  Indem 
man  das  Klein-  und  Spießbürgerliche  durch  den  Aufwand  von 
Millionen  abstreifen  will,  übersieht  man,  daß  man,  um  sich  von 
einer  eklektischen  Tradition  loszumachen,  doch  mehr  nötig  hat, 
als  sein  gutes  Deutschtum  zu  betonen. 

Was  die  Musik  angeht,  so  sind  während  des  Krieges  von 
1870  keine  neuen  Lieder,  in  die  die  deutsche  Seele  so  gern  aus- 
strömt, ertönt,  wie  einst  in  der  Leidens-  und  Sturmzeit  von  18 13. 
Auch  spielt  man  wieder  den  Pariser  Einzugsmarsch,  nach  dem 
man  schon  18 14  marschiert  war.  Wenn  Brahms  mit  seinem 
Triumphlied  und  Wagner  mit  dem  Kaisermarsch  hervortreten, 
so  sind  das  mehr  Gelegenheitsschöpfungen  als  spezielle  Ausdrucks- 
weisen eines  allgemeinen  nationalen  Empfindens  gewesen. 

Die  L  es  sing  sehe  Mahnung,  daß  wir  ein  Nationaltheater 
haben  sollen  auch  ohne  ein  politisch  geschlossenes  Vaterland,  ist 
seit    seiner    Zeit   ebenso   oft   ausgesprochen,    wie   nicht   ausgeführt 

A.Sartorius  v.  Waltershausen    Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        16 


242  V.  Abschnitt.     Dis  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871  — 1890. 

worden,  und  mit  dem  gesprochenen  Drama  ist  es  nach  1870  nicht 
anders  als  vorher  bestellt.  Das  Musikdrama  Wagners  hin- 
gegen erregt  durch  seine  Stoffe,  wenn  auch  zunächst  nur  in 
engeren  Kreisen,  eine  Begeisterung,  die  sich  in  den  „Meister- 
singern von  Nürnberg"  am  reinsten  auslöst.  Vor  allem  ist  der 
äußere  Höhepunkt  des  Wagner  sehen  Lebenswerkes,  die  erste 
Aufführung  der  Nibelungen-Trilogie  in  dem  neuen  Festspielhaus 
1876,  der  der  Kaiser  und  der  König  von  Bayern  beiwohnen, 
ein  nationales  Ereignis,  von  dem  her  für  die  Operndarstellung 
eine  neue  feste  Stillinie  datiert.  Bayreuth  ist  hernach  eine  euro- 
päische Angelegenheit  geworden,  nicht  bloß  aus  dem  Grunde  der 
allgemeinen  Rückwirkung,  sondern  auch,  weil  die  Musik  aus  italie- 
nischen, französischen  und  deutschen  Wurzeln  zugleich  ent- 
sprossen war. 

Für  die  Aufführungen  ist  der  moderne  Reichtum  eine  ihrer 
Voraussetzungen  geworden.  Die  kostbaren  Ausstattungen  können 
bald  alle  großen  deutschen  Theater  auTbringen,  und  der  goldene 
Reisestrom  der  reichen  Schaulustigen  ergießt  sich  als  Aktivum 
der  deutschen  Zahlungsbilanz  vom  Ausland  nach  München  und 
anderen  Städten,  wenn  eine  Reihenfolge  der  Werke  des  Meisters 
zur  Musterdarstellung  gelangt. 

Die  Oper  bleibt  in  der  Folgezeit  der  wirtschaftHchen  Ent- 
wicklung des  Reichs  der  Schwerpunkt  der  theatralischen  Lei- 
tungen. In  ihren  Klängen  suchen  die  vom  Hasten  und  Drängen 
des  Erwerbs  und  der  Politik  Ermüdeten  am  Abend  Erholung  und 
Vergessenheit,  in  einem  Kunstwerk,  das  das  verstandesmäßige, 
aufmerksame  Durchdringen  der  Vorgänge,  so  wie  beim  Schau- 
spiel, nicht  erfordert.  Hinter  den  Kulissen  und  in  der  Kritik 
der  Tageszeitungen  sieht  die  Sache  nicht  ganz  so  gefühlvoll  aus. 
Hier  herrscht  die  Geschäfts-,  die  Reklame-  und  Konkurrenzwut 
des  Zeitalters  und  das  Agentenunwesen  in  ebensolcher  brutalen 
Weise  als   an  der   Börse  von  Wertpapieren  und   Produkten. 

Richard  Wagner  hat  in  seinem  Aufsatz  „Deutsche  Kunst 
und  deutsche  Politik"  den  Vorstoß  der  sogenannten  französischen 
Zivilisation  gegen  das  deutsche  Theater  bekämpft  und  sucht  nach 
Mitteln  und  Wegen  für  eine  höhere  Kunstpflege,  als  sie  Ballett,  Ver- 
ballhornung von  Faust  und  Teil  und  frivoles  Lustspiel  und 
Operette  zu  bieten  vermögen.  Er  hofft,  daß  die  deutschen  Fürsten 
sich  seines  Ideals  annehmen  würden,  wobei  er  sich  in  König 
Ludwig  II.  von  Bayern  nicht  getäuscht  hat.  Er  erkennt  richtig, 
daß  der  moderne  Staat  als  abstrakte  Zweckmäßigkeitseinrichtung 
mit  seinem  demokratischen  Einschlag  weniger  geeignet  ist,  der 
Kunst  ein  Förderer  zu  sein  als  die  Fürsten  mit  ihren  menschlich- 


n.  Der  Frankfurter  Friede.     Elsaß- Lothringen  und  seine  Eingliederung  usw.        243 

persönlichen  Eigenschaften.  Die  Staaten  mit  parlamentarischer 
Regierung,  wie  England,  Frankreich,  Belgien,  Italien,  Nord- 
amerika, haben  als  solche  für  Kunst  und  Künstler  wenig  getan. 
Da  die  verfassungsmäßige  Aufgabe  des  Reichs,  „die  Pflege  der 
Wohlfahrt  des  deutschen  Volkes",  vornehmlich  wirtschaftlich  ver- 
standen wird,  bleibt  den  Einzelstaaten  die  Kulturpflege  mit  den 
nötigen  finanziellen  Aufwendungen  vorbehalten.  Sie  sind  auch 
dazu  bereit  gewesen,  und  wenn  sie  für  kostbare  Akademie-  und 
Museumsbauten  im  hergebrachten  Stil  mehr  Verständnis  haben 
als  für  die  Ausbildung  und  Verwirklichung  des  künstlerischen 
Geschmackes,  wie  etwa  in  Denkmälern  und  Straßenbild,  so  wird 
man  mehr  den  Zeitgeist  als  die  Entschlüsse  der  Minister  dafür 
verantwortlich  machen  müssen. 

II.  Der  Frankfurter  Friede.  Elsaß-Lothringen 
und  seine  Eingliederung  in  das  deutsche  Wirt- 
schaftsleben. Der  Krieg  von  1870/71  hatte  für  die  deutsche 
Volkswirtschaft  zwei  unmittelbar  tiefeingreifende  Folgen:  die  Be- 
seitigung des  Handelsvertrages  mit  Frankreich  und  den  Erwerb 
von  Elsaß  und  Lothringen. 

Die  freihändlerische  Stimmung  im  siegreichen  Deutschland 
brachte  den  Wunsch,  den  vertragsmäßigen  Zustand  des  deutsch- 
französischen Handels  wieder  in  Kraft  zu  setzen.  Allein  auf  fran- 
zösischer Seite  war  man  nicht  gewillt,  darauf  einzugehen,  weil 
T  h  i  e  r  s  ,  der  Präsident  der  Republik,  und  sein  Finanzminister 
Pouyer-Quertier  dem  Schutzzoll  zuneigten  und  erklärten,  daß 
ohne  erhöhte  Zölle  die  Zinsen  der  Kriegs-  und  Kriegsentschädi- 
gungsanleihen nicht  aufzubringen  seien.  Der  Reichskanzler,  der 
zuerst  die  Wiederaufnahme  des  bisherigen  Vertragsverhältnisses 
für  angemessen  gehalten  hatte,  gab  den  französischen  Unter- 
händlern nach  und  begründete  dies  am  12.  Mai  1871  im  Reichs- 
tage mit  der  Erklärung,  der  man  eine  prinzipielle  Bedeutung  nicht 
absprechen  kann:  „Es  ist  meines  Erachtens  nicht  tunlich,  im  inter- 
nationalen Verkehr  zwischen  großen  Völkern  einen  Handelsvertrag 
zu  einer  durch  den  Krieg  erkämpften  Bedingung  zu  machen,  die 
der  Souveränität  eines  großen  Volkes  in  der  Beschränkung  seines 
Gesetzgebungsrechtes  aufgelegt  würde.  Ich  habe  deshalb  auch 
nicht  darauf  bestanden  und  glaube  nicht,  daß  die  Maßregel  zweck- 
mäßig gewesen  wäre.  Namentlich  habe  ich  befürchtet,  daß  sie 
eine  so  starke  Verletzung  des  Nationalgefühls  enthielte,  daß  sie 
später  den  Frieden  beeinträchtigen  würde." 

Man  hat  sich  in  dem  §  1 1  des  Frankfurter  Friedens,  ohne  eine 
Zollbildung  anzunehmen,  auf  die  gegenseitige  Meistbegünsti- 
gung geeinigt,   die   die   Besonderheiten  besaß,   daß   sie   nicht   all- 


244  ^"  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871  — 1890. 

gemein  galt,  sondern  sich  auf  die  6  Staaten  England,  Belgien, 
Holland,  Österreich-Ungarn,  Schweiz  und  Rußland  beschränkte, 
und  daß  sie  unkündbar  war.  Das  Abkommen  entsprach  insofern 
den  französischen  Wünschen,  als  die  damaligen  Führer  der  Nation 
einer  autonomen  Zollpolitik  zustrebten,  die  sie  bei  einer  nur  teil- 
weisen Meistbegünstigung  leichter  als  bei  einer  vollen  wahren 
zu  können  meinten,  während  man  sich  auf  deutscher  Seite  gegen 
eine  Verdrängung  der  eigenen  Fabrikate  vom  französischen  Markte 
ausreichend  geschützt  erachtete,  da  die  wichtigsten  Industrie- 
ausfuhrstaaten auf  ihm  keinen  Vorzug  erlangen  konnten,  und  die 
landwirtschaftliche  Ausfuhr  aus  Deutschland  nach  Frankreich 
wenig  besagte,  man  also  gegen  die  französische  Begünstigung 
überseeischer  Länder  oder  auch  Spaniens  und  Italiens  keine  Vor- 
kehrungen für  nötig  hielt. 

Daß  eine  dauernde  statt  einer  lo-  oder  15jährigen  Bindung 
beider  Länder  abgemacht  worden  ist,  wurde  von  den  Franzosen 
deshalb  nicht  hoch  bewertet,  weil  sie  an  kein  langes  Bestehen 
des  Friedens  glauben  wollten,  wohingegen  B  i  s  m  a  r  c  k  ,  um  seinem 
großen  Ziel,  das  Deutsche  Reich  im  Innern  auszubauen,  nach- 
gehen zu  können,  alle  wirtschaftlichen  Erregungen,  Zollkriege  und 
Mißstimmungen  vermeiden  wollte,  die  jeder  Abschluß  eines  neuen 
Vertrages  mit  einem  von  der  Revancheidee  beseelten  Frankreich 
in  Zukunft  heraufbeschwören  konnte.  Ein  Tarifvertrag  wäre  übri- 
gens schwerlich  1880  oder  1885  zustande  gekommen.  Vermutlich 
hätte  man  die  gegenseitige  Meistbegünstigung  von  neuem  verein- 
bart,  die   man   sowieso   hatte. 

Die  praktischen  Folgen  im  einzelnen  für  das  Auslandsgeschäft 
ließen  sich  allerdings  nicht  voraussehen.  Der  Reichskanzler  als 
Meister  der  Diplomatie  fühlte  sich  jedenfalls  als  der  Mann,  im 
Besitze  seines  Vertrages  alle  Gefahren  von  Deutschland  ab- 
wenden zu  können.  Das  hat  er  auch  wiederholt  durch  die  Tat 
bewiesen,  und  solange  die  deutsche  Politik  in  seiner  kräftigen 
Hand  ruhte,  sind  auch  gegen  den  §  1 1  berechtigte  Klagen 
deutscher  Gewerbe  nicht  laut  geworden. 

Der  Erwerb  Elsaß-Lothringens,  industriereicher  De- 
partements von  Frankreich,  mit  einer  Bevölkerung  von  i  549  738 
Seelen,  erscheint  zunächst  als  eine  Verstärkung  der  deutschen 
Produktivkraft  und  als  Erweiterung  des  deutschen  Binnenmarktes. 
Diese  rein  additionelle  Auffassung  bedarf  einer  Ergänzung  durch 
die  organische.  Die  Volkswirtschaft  besaß  im  Zollverein  eine 
historisch  eingelebte  Gliederung,  die  in  sich  einen  solchen  Zu- 
wachs nicht  ohne  weiteres  aufnehmen  konnte,  wie  auch  umgekehrt 
das  Reichsland  sich  noch  weniger  rasch  in  die  neuen  Verhältnisse 


II.  Der  Frankfurter  Friede.     Elsaß-Lothringen  und  seine  Eingliederung  usw.        245 


ZU  finden  vermochte.  Eine  längere  Übergangszeit  ist  daher  er- 
forderlich gewesen.  Sie  wurde  durch  die  Einwanderung  aus  Alt- 
deutschland und  vor  allem  dadurch  vermittelt,  daß  das  neue 
Gebiet  die  wirtschaftliche  und  soziale  Gesetzgebung  des  Reiches 
in  diesem  und  mit  diesem  zusammen  erlebte,  also  in  einer  Zeit 
deutsch  wurde,  in  der  aus  der  bisher  noch  nicht  voll  gefestigten 
Verkehrswirtschaft   eine   starke  Einheit   wurde. 

Wenn  auf  anderen  Lebensgebieten  Elsaß-Lothringen  nicht  in 
dem  gleichen  Maße  deutsch  wurde,  so  hat  dies,  soweit  wirt- 
schaftliche Ursachen  in  Frage  standen,  an  der  Gegnerschaft 
derjenigen  gelegen,  die  ihr  Kapital  oder  mancherlei  Erwerb  in 
Frankreich  hatten,  oder  derer,  die  durch  Familien-  und  äußerlich 
kulturelle  Einflüsse  davon  abgehalten  wurden,  mit  den  Altdeutschen 
zusammenzuarbeiten  und  die  gebotenen  Vorteile  der  neuen  Verwal- 
tung zu  ergreifen,  oder  derjenigen,  die  mit  dem  hergebrachten 
wirtschaftlichen  Schlendrian  nicht  aufräumen  wollten  und  den  über 
den  Rhein  gekommenen  tatkräftigen  Konkurrenten  mit  Abneigung 
begegneten.  Das  Fehlen  einer  einheitlichen  Gemeinschaft  natio- 
naler Art  im  Reichslande  schädigte  das  V^irtschaftsleben,  weil 
sich  die  Angelegenheiten  der  Gütererzeugung  und  des  Verkehrs 
nicht  allein  nach  eigenen  Bedürfnissen  vollziehen  konnten. 

Die  starke  Abwanderung  nach  Frankreich  mußte  den  pro- 
duktiven Fortschritt  aufhalten,  und  sie  war  um  so  fühlbarer,  als 
der  Geburtenüberschuß  unter  dem  vom  Westen  her  übergreifenden 
Zweikindersystem,  vornehmlich  im  Oberelsaß,  gering  war.  Die 
Bevölkerung  hat  von  187 1  — 19 13  nur  um  21  0/0  zugenommen, 
während  das  Reich  63  0/0  verzeichnete.  Wenn  das  Reichsland 
besser  steht  als  Frankreich  mit  seinen  11  0/0,  so  ist  dies  der 
deutschen  Zuwanderung  mit  ihrem  Kindersegen  sowohl  zu  ver- 
danken als  auch  der  Abnahme  der  Sterblichkeit,  infolge  der  mit 
der  neuen  Verwaltung  durchgeführten  sozialen  und  der  hygie- 
nischen Politik,  unter  der,  wie  auch  französische  Elsässer  immer 
zugegeben  haben,  ihr  Ländle  sauber  gemacht  worden  sei.  Die 
langsame  Vermehrung  der  Menschenzahl  hielt  die  gewerbliche, 
arbeitsteilige  Zusammenfassung  zurück  —  1871  wie  19 10  gab  es 
nur  vier  Städte  mit  über  20000  Einwohnern  —  und  brachte 
der  Landwirtschaft  trotz  mancher  Fortschritte  nicht  diejenige 
volle  preissteigernde  Nachfrage,  die  erforderlich  war,  sie  zu 
raschen  Betriebsänderungen,  wie  im  Reiche  sonst,  zu  veranlassen. 

Das  Aufsaugen  der  Elsässer  durch  Frankreich,  insbesondere 
durch  Paris,  war  schon  vor  1871  eine  bekannte  Erscheinung  und 
hat  weiterhin  angehalten.  Oft  waren  es  die  tüchtigen,  unter- 
nehmenden Köpfe,   die  das  Land  verlor.     Ebenso  steckte  in  dem 


246  V-  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1  — 1890. 

Massenabzug  der  Optanten  viel  gebildetes  Bürgertum.  Die  an- 
dauernde Auslese  konnte  auf  die  Zurückbleibenden  nicht  ohne 
Einfluß  bleiben,  so  daß  die  Tatsache,  daß  die  eingeborenen 
Reichsländer  verhältnismäßig  wenig  ökonomisches  und  technisches 
Talent  hervorgebracht  haben,  von  hieraus  begreiflich  gemacht 
werden   kann. 

Die  beiden  wichtigsten  Großgewerbe,  die  Deutschland  mit 
der  Übernahme  des  Landes  einzugliedern  hatte,  waren  die  B  a  u  m  - 
Wollindustrie  des  Oberelsaß  und  das  Montangewerbe 
von  Lothringen.  Die  erstere  brachte  ein  Mehr  von  56  0/0  an 
Spindeln,  88  0/0  an  mechanischen  Webstühlen  und  100  0/0  an  Druck- 
maschinen für  Baumwollstoffe.  Bis  1873  empfand  man  weder  im 
Oberelsaß  noch  in  Altdeutschland  die  großen  Marktverschiebungen 
in  Baumwollwaren,  teils  weil  dem  Friedensschlüsse  gemäß,  wenn 
auch  unter  abbauenden  Staffelungen,  Frankreich  noch  offen  stand, 
teils  weil  die  allgemeine  weltwirtschaftliche  Hausse  den  Verkäufen 
ungemein  günstig  war.  In  der  Verkehrsstockung  bis  1879  wurden 
die  Spinnerei  und  Weberei  in  Mülhausen,  Colmar  mit  ihren  Um- 
gebungen an  den  Rand  des  Verderbens  gedrängt,  nur  die  Kattun- 
druckerei konnte  sich  gut  halten,  da  sie  in  Deutschland  und 
Frankreich  fast  konkurrenzlos  dastand,  und  ist  weiterhin  eine  der 
ersten  geblieben.  Der  Schwerpunkt  der  Spinnerei  lag  in  den 
feinen  Garnen,  deren  Bedarf  in  Deutschland  bisher  aus  England 
gedeckt  wurde.  Daher  wurden  nur  die  deutschen  Spinner,  die 
gröbere  Sorten  produzierten,  durch  die  elsässische  Konkurrenz 
betroffen.  Und  das  bedeutete  anfangs  nicht  viel.  Andererseits 
profitierten  die  Weber,  soweit  sie  die  feineren  Sorten  gebrauchten, 
von  dem  Preisdruck  bei  der  elsässisch-englischen  Unterbietung.  Der 
Zuwachs  an  Feinspinnereien  war  an  sich  eine  Vervollständi- 
gung der  deutschen  Volkswirtschaft.  Allein  die  damalige  Frei- 
handelspolitik wollte  diesen  Vorteil  nicht  einsehen.  Hätte  man 
damals  für  feine  Garne  einen  ausreichend  hohen,  gestaffelten 
Zolltarif  eingeführt,  so  würde  die  Krisis  im  Oberelsaß  vermieden 
worden  sein,  und  Deutschland  sich  unter  der  binnenländischen 
Arbeitsteilung  von  der  englischen  Einfuhr  größtenteils  befreit 
haben.  Die  Bismarcksche  Zollpolitik  von  1879  und  1885  suchte 
den  Fehler  wieder  gut  zu  machen,  der  günstige  Zeitpunkt  war  in- 
zwischen  verpaßt   worden. 

Die  reichsländische  Industrie  war  daher  auf  die  Selbsthilfe 
angewiesen.  Einerseits  verlegte  sie  durch  Auswanderung  des  Ka- 
pitals, der  Geschäftsführer,  Unternehmer  und  Arbeiter  einen  Teil 
ihrer  Kraft  in  das  zollgeschützte  Departement  des  Vosges,  wo 
schon    bedeutende    Anfänge     des     gleichen    Gewerbes     vorhanden 


II.  Der  Frankfurter  Friede,     Elsaß- Lothringen  und  seine  Eingliederung  usw.        247 

waren,  so  daß  Frankreich  dort  einen  Ersatz  für  den  erlittenen 
Verlust  gefunden  hat.  Andererseits  sah  sie  sich  genötigt,  sich 
dem  deutschen  Markt  durch  Übergang  zur  Grobspinnerei  anzu- 
passen. Das  hatte  den  Nachteil  der  jahrelangen  Überproduktion, 
unter  der  die  Elsässer  Kapitalverluste  hatten,  und  zugleich  viele 
Arbeiter  unter  Senkung  der  Löhne  ihrer  gelernten  Fähigkeiten 
entkleidet  wurden.  Die  politische  Abneigung  der  Oberelsässer 
gegen  das  Deutschtum  hat  aus  jener  Epoche  der  wirtschaftlichen 
Unzufriedenheit   Nahrung  gesogen. 

Nach  1880  hat  sich  die  Textilindustrie  des  Reichslandes  in- 
dessen in  die  deutsche  Volkswirtschaft  eingelebt.  Die  englische 
Konkurrenz  wurde  abgeschwächt  und  ein  Rest  der  Feingarn- 
Spinnerei  erhalten. 

Die  örtliche  Konzentrierung  brachte  jetzt  die  Vorteile  des 
großen  Betriebes.  1882  lebte  nur  ein  Drittel  der  Spinner  in 
Mülhausen  und  Umgebung,  1895  f^st  die  Hälfte,  während  die 
Kreise  Thann  und  Colmar  eine  Abnahme  aufwiesen.  Auch  die 
Weberei,  die  sich  mehr  über  das  Land  zerstreute,  wenn  sie  auch 
überall  in  Fabriken  vereinigt  war,  zeigte  in  Mülhausen  und  Colmar 
eine  Vermehrung,   in  Rappoltsweiler  und  Thann  eine   Minderung. 

Die  Spezialisierung  hat  sich  als  zweckmäßig  erwiesen. 
Spinnerei,  Weberei  und  Druckerei  haben  sich  in  der  Hauptsache 
in  Sonderunternehmungen  zerlegt.  Das  ehemals  kombinierte,  be- 
rühmte Werk  von  DoUfus-Mieg  z.  B.  ist  eine  der  größten  Näh- 
fadenfabriken der  Welt  geworden. 

Die  Baumwollverarbeitung  hat  sich  ferner  mehrfach  in  Wolle- 
industrie umgeformt.  Von  Wollwebereien,  von  denen  1882  762 
bestanden,  wurden  1907  1368,  darunter  37  Großbetriebe  mit  über 
50  Arbeitern,  statistisch  ermittelt.  Die  Kammgarnspinnerei  ver- 
mehrte in  30  Jahren  bis  1900  ihre  Arbeiterzahl  um  das  Drei- 
fache und  verfünffachte  ihr  Produkt.  Jute-  und  Filzfabriken  sind 
ganz   neu   entstanden. 

Entsprechend  der  Umgestaltung  im  Reiche  überhaupt  wurden 
die  maschinellen  Kräfte  ungemein  gesteigert  und  die  Arbeits- 
maschinen vielseitig.  Seit  1875  hat  die  Textilindustrie  55900 
Pferdekräfte  und  7500  Kilowatt  elektrischer  Energie  gewonnen. 
Zu  dem  Kattundruck,  der  in  dem  Musterschutzgesetz  von  1876 
einen  festen  Halt  erhielt,  und  den  Veredelungs  verkehr  der 
deutschen  Handelspolitik  ausnutzen  konnte,  ist  als  Sonderprodukt 
des  Landes  die  Kunstseide,  die  aus  Abfällen  der  Baumwoll- 
fabriken erzeugt  wird,  hinzugekommen.  Spezialschulen,  für  deren 
Einrichtung  und  Erhaltung  z.  B.  die  Industrielle  Gesellschaft  von 
Mülhausen    viel    geleistet    hat,    wie     die    Kunstgewerbeschule     für 


248  V-  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1  — 1890. 

Mädchen,  die  höhere  Schule  für  technische  Chemie,  die  Spinn-  und 
Webschule,  die  Zeichenschule  hoben  das  Können  der  Arbeiter 
ebenso  wie  die  Volksschule,  die  der  französischen  in  den  an- 
grenzenden Departements  weit  überlegen  ist.  Endlich  haben  auch 
Arbeiterschutz  und  die  Versicherung  dazu  beigetragen,  die 
Leistungskraft  der  Textilarbeiter  zu  erhöhen,  wovon  die  Arbeit- 
geber  trotz   steigender   Löhne   Gewinn   gezogen  haben. 

Sobald  eine  Industrie  einen  hohen  Stand  erreicht  hat,  pflegt 
ihre  prozentuale  Zunahme  nicht  mehr  so  bedeutend  zu  sein.  Wenn 
daher  die  elsässischen  Baumwollfabriken  weniger  rasch  der  Ar- 
beiterzahl nach  seit  1872  angewachsen  sind  als  diejenigen  in 
manchen  deutschen  Einzelstaaten,  so  ist  das  begreiflich.  Immer- 
hin ist  die  geringe  Zunahme  der  Spindelzahl  von  1869  bis  1900 
von  947000  auf  959000  und  der  Gespinste  von  21,2  auf  27,4 
Millionen  Kilogramm  damit  nicht  erklärt.  Auch  die  Tatsache, 
daß  die  Zahl  der  in  elsässischen  Spinnereien  beschäftigten  Ar- 
beiter 1882  28,8  0/0  des  Reiches  ausmachte,  1895  ^^Jy  ^9^7  ^"^^ 
14,1,  während  in  der  Weberei  der  Anteil  von  13,7  auf  11,7  und 
11,40/0  zurückging,  gibt  zu  denken.  Die  geschilderte  Schwierig- 
keit der  Übergangszeit  darf  als  einer  der  Gründe  angegeben 
werdeij,  das  zeigte  die  größere  Widerstandskraft  in  der  Zähl- 
periode 1895 — 1907  i"^  Vergleich  mit  der  vorhergehenden.  Immer- 
hin schien  in  der  Organisation  der  gesamten  Baumwollindustrie 
doch  etwas  Fehlerhaftes  zu  liegen.  Das  hatte  seine  Ursache  in 
der  Eigenart  der  altelsässischen  Werke,  die  auch  die  Tatsache 
nicht  verwischen  konnte,  daß  einige  Textilunternehmungen  ganz 
deutsch   waren. 

Man  kann  darauf  hinweisen,  daß  eine  Anzahl  privater  Fa- 
briken zu  Aktiengesellschaften  geworden  ist.  Das  würde  an  sich 
kaum  ein  Grund  des  Zurückbleibens  sein,  wenn  die  ehemaligen 
Besitzer,  die  hauptsächlich  über  die  Aktien  verfügten,  zu  tätigen 
Direktoren  geworden  wären.  Das  war  nicht  immer  der  Fall. 
Infolge  ihrer  nach  Frankreich  gerichteten  Lebenskultur  und  der 
Heiraten  mit  Französinnen,  vielleicht  auch  einer  gewissen  Er- 
müdung, der  Unternehmerfamilien  in  späteren  Generationen  nicht 
selten  verfallen,  haben  es  manche  vorgezogen,  nach  dem  ver- 
gnügungsreichen Paris  überzusiedeln  und  sich  mit  der  Stelle  eines 
Aufsichtsrates  daheim  zu  begnügen.  Der  Absentismus  ist,  wie  in 
der  Landwirtschaft,  so  auch  in  der  Industrie,  dem  produktiven 
Schaffen   nachteilig. 

Der  nationale  Gegensatz  hat  sich  auch  in  anderer  Weise 
gezeigt.  Die  Geschäftsführer  erwiesen  ihren  Abnehmern  in  Alt- 
deutschland nicht   immer  das   nötige   Entgegenkommen,   wenn   sie 


II.  Der  Frankfurter  Friede.     Elsaß-Lothringen  und  seine  Eingliederung  usw.        24g 


z.  B.  bei  der  französischen  Korrespondenz  beharrten,  woraus  sich 
dann  Auseinandersetzungen  und  Geschäftsabbruch  ergeben  konnten. 
Als  noch  wichtiger  wurde  in  der  neueren  Zeit  hervorgehoben, 
daß  man  keine  Altdeutschen  als  technische  Betriebsleiter  anzu- 
stellen Neigung  hatte,  sondern  vorwiegend  Elsässer  und  Schweizer 
wählte.  Nun  hat  die  deutsche  maschinelle,  elektrische  und  che- 
mische Technik  in  den  letzten  20  Jahren  außerordentlich  viel 
Unerwartetes  hervorgebracht,  nachdem  sich  die  Wissenschaft  mit 
aller  Energie  als  angewandte  auf  die  Industrie  warf.  So  blieb 
die  persönliche  Übermittelung  des  Neuesten  und  Besten  nicht 
immer  gewahrt,  und  die  Betriebe  bewegten  sich  länger  im  Her- 
gebrachten, als  in  der  Zeit  des  allgemeinen  Fortschrittes  er- 
wünscht  war. 

In  der  lothringischen  Eisenindustrie  hat  sich  der 
Vorgang  der  Eingliederung  schneller  und  gründlicher  vollzogen. 
Sie  wurde  bis  191 4  die  wichtigste  Industrie  des  Reichslandes  und 
für  die  Entfaltung  Deutschlands  zu  einem  der  ersten  Industrie- 
staaten der  Erde  unentbehrlich. 

Bei  den  Friedensverhandlungen  wurden  große  Minetteerz- 
felder  an  Deutschland  abgetreten,  deren  Wert  hier  richtig  erkannt, 
von  T  h  i  e  r  s  nicht  hoch  eingeschätzt  wurde.  Die  Eisenindustriellen 
hatten  bis  1873  noch  mit  guten  Weltmarktpreisen  zu  rechnen. 
Nach  der  Krise  zeigten  die  Werke  bei  dem  im  Vergleich  zu  Frank- 
reich niedrigen  Zoll  bald  einen  Stillstand  in  den  Produktions- 
zahlen, im  weiteren  Verlauf  der  Jahre  bis  1879  einen  Rückgang. 
Nur   der   Eisenguß    konnte    sich   leidlich   behaupten. 

Was  der  Eisenbesitz  Lothringens  für  die  Zukunft  Deutsch- 
lands bedeuten  mußte,  ist  daraus  abzumessen,  daß  er  auf  700 
Millionen  Tonnen  metallischen  Eisens  veranschlagt  worden  ist, 
dem  das  übrige  Reichsgebiet  nur  300  gegenüberzustellen  hatte. 
Wie  er  für  die  ganze  Volkswirtschaft  nutzbar  gemacht  worden  ist, 
ergibt  sich  aus  folgenden,  untereinander  verschlungenen,  jedoch 
wohl  zu  unterscheidenden  Richtungen,  bei  deren  Darstellung  wir 
unserer  allgemeinen  geschichtlichen  Darstellung  in  einigen 
Punkten  vorgreifen  müssen: 

I.  Die  Verarbeitung  der  Minette  zu  Roheisen  bedarf  der 
Kohlen  und  des  Koks,  die  an  Ort  und  Stelle  nicht  vorhanden  sind. 
Vor  1871  war  die  damals  geringe  lothringische  Eisenindustrie 
auf  die  Saarkohle,  seit  1880  die  große  neue  vor  allem  auf  den 
Koksbezug  von  dem  350  Eisenbahnkilometer  entfernten  Ruhr- 
gebiet angewiesen.  Lothringen  ist  selbst  in  dem  Besitz  von  Kohlen, 
deren  Gruben  sich  an  das  Saarbecken  westwärts  anschließen,  die 


250  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871  — 1890. 

jedoch   für    die    Industrie,    soweit    sie    Koks    nötig    hat,    wenig   in 
Betracht  kommen. 

Es  liegt  daher  die  Sache  so,  daß  die  Minette  entweder  nach 
dem  Rhein  geführt  werden  muß,  um  dort  verhüttet  zu  werden, 
oder  die  Koks  müssen  von  dort  herbeigeschafft  werden.  Beide 
Wege  sind  beschritten  worden,  zeitHch  zuerst  überwiegend  der 
erstere,  in  dem  letzten  Jahrzehnt  überwiegend  der  zweite.  Bedenkt 
man,  daß  zur  Herstellung  von  einer  Tonne  Roheisen  drei  Tonnen 
Minetteerz  und  eine  Tonne  Koks  gehören,  so  muß  es  vorteilhafter 
sein,  die  Hochöfen  in  Lothringen  als  in  Westfalen  und  im  Rhein- 
land anzublasen.  191 2  wurde  dementsprechend  von  dem  lothrin- 
gischen Eisenerz  nur  150/0  nach  dem  Osten  verschickt,  das  übrige 
wurde,  nachdem  große  Werke  aufgestellt  worden  waren,  woran 
es  ehedem  fehlte,  im  Lande  verhüttet. 

2.  Die  technischen  Vervollkommnungen  der  Eisen-  und  Stahl- 
industrie, die  Deutschland  die  Überlegenheit  über  England  und 
Frankreich  gebracht  haben,  flössen  auch  der  lothringischen  In- 
dustrie zu  und  belebten  sie  rasch,  zumal  die  führenden  Männer 
am  Rhein  auch  in  ihr  tätig  waren.  Die  Minette  war  erst  ein 
brauchbares  Material  geworden,  als  durch  das  Thomas-Gilch- 
richsche  Verfahren  die  Entphosphorung  im  Bessemerprozeß  1879 
gelungen  war.  Die  neue  Erfindung  machte  Lothringen  bald  kon- 
kurrenzfähig. Das  Thomas-Roheisen,  das  1882  nur  1,3  0/0  aus- 
gemacht hatte,  war  191 1  zu  82,20/0  an  der  Roheisenerzeugung 
beteiligt. 

Zwei  andere  in  Deutschland  schon  angewandte  Erfindungen 
brachten  weitere  gewaltige  Vorteile.  Die  aus  den  Hochöfen  stei- 
genden Gase  wurden  durch  die  Gasmotoren  so  nutzbar  gemacht, 
daß  sie  nicht  nur  die  Maschinen  des  Hochofenwerkes  selbst,  son- 
dern auch  die  der  angeschlossenen  Stahl-  und  Walzwerke  be- 
treiben konnten.  Außerdem  lernte  man  das  flüssige  Roheisen 
aus  dem  Hochofen  in  das  Stahlwerk  zur  Verarbeitung  zu  leiten 
und  den  Rohstahl  zu  Schienen  und  Trägern  in  der  vorhandenen 
Hitze  umzuformen,  während  man  es  früher  erkalten  ließ  und  in 
dem  Stahlwerk  wieder  erhitzte.  Bis  etwa  1900  wurde  das  lothrin- 
gische Roheisen  zu  den  fernen  Verarbeitungsstätten  versandt.  Nun 
war  es  nicht  mehr  nötig.  Es  entstand  im  Lande  eine  Vollindustrie, 
die  eine  aussichtsreiche  Zukunft  haben  mußte,  wenn  Lothringen 
in  engster  Verbindung  mit  der  deutschen  Volkswirtschaft  weiter- 
arbeitete. 

3.  Eine  fernere  Vereinigung  zwischen  Alt-  und  Neudeutsch- 
land bringt  die  kapitalistische  Ausweitung  und  Zusammenballung 
der   letzten    Jahrzehnte.    Die    vorherrschende    Firma   war    im   Be- 


II.   Der  Frankfurter  Friede.     Elsaß-Lothringen  und  seine  Eingliederung  usw.        25 1 

ginn  der  deutschen  Zeit  die  der  Familie  de  Wendel  in  Hayingen, 
Moyeuvre  und  Stryingen.  Von  1874— 1878  erscheinen  altdeutsche 
Unternehmer,  die  gegen  100  Bergwerkskonzessionen  erwerben. 
Neue  leistungsfähige  Hochöfen  erbauen  nach  1879  die  großen 
Hüttenbesitzer  des  Saargebietes  und  andere  deutsche  Aktien- 
gesellschaften, Burbach,  die  Dillingerhütte,  Röchling  und  Stumm, 
der  Aachener  „Rote  Hütte"-Verein,  die  alle  das  lothringische  Roh- 
eisen in  ihre  heimatlichen  Werke  leiten.  Dann  nach  1895  mit 
dem  Aufschwung  der  deutschen  Volkswirtschaft  und  der  Welt- 
konjunktur folgen  die  großen  einheitlichen  Eisen-  und  Stahl- 
werke, abgesehen  von  dem  de  Wendeischen,  mit  deutscher  Fi- 
nanzierung: Die  Rombacher  Hütte,  Aumetz-Friede,  die  Deutsch- 
luxemburgische Bergwerks-  und  Hüttengesellschaft.  Die  jenseits 
des  Rheins  erprobte  Kartellform  wird  nach  Lothringen  verpflanzt, 
und  weiterhin  schließen  sich  dortige  große  Werke  dem  deutschen 
Stahlwerkverband  an.  Hatte  das  System  der  gemischten  Werke, 
die  Kohlen-,  Eisen-  und  Stahlproduktion  in  sich  zu  vereinigen, 
schon  in  der  Weise  Platz  gegriffen,  daß  die  Lothringer  im  Ruhr-, 
Saar-  und  lothringischen  Lande  Kohlengruben  erwarben,  wird 
schließlich  das  gleiche  auch  zwischen  1905  und  191 3  in  um- 
gekehrter Weise  erreicht,  daß  die  großen  Kohlenfirmen  Gelsen- 
kirchen, Thyssen  und  Stinnes  ihrerseits  im  Moselgebiet  sich  mit 
neuen  Stahlwerken  festsetzen. 

4.  Die  hier  kurz  angeführten  Kapitalanlagen,  Kartellierungen 
und  Neugründungen  konnten  nur  gewahrt  werden  unter  dem  wirk- 
samen Schutzzoll,  der  seit  1879  dem  deutschen  inneren  Markte 
eine  gewaltige  Belebung  verlieh  und  der  Eisen-  und  Stahlindustrie 
eine  Weltmarktstellung  sicherte.  In  der  vorhergehenden  Frei- 
handelsperiode war  die  schlimmste  Zeit  für  das  lothringer  Eisen, 
so  daß  sich  große  Kapitalien  unter  den  französischen  Zollschutz 
flüchteten,  die  der  deutschen  Volkswirtschaft  verloren  gingen.  Wie 
sich  die  Wirtschaftspolitik  seit  1879  für  das  ganze  Reich  durch 
Erzeugung  zahlreicher  ökonomischer  Wechselwirkungen  segens- 
reich erwies,  so  hat  sie  auch  die  wirtschaftliche  Eingliederung 
des  Reichslandes  mächtig  gefördert,  und  innerhalb  desselben  enge 
Beziehungen  zwischen  Industrie,  Landwirtschaft,  Handel  und 
Transport  vermittelt. 

1872  waren  erst  684600  Tonnen  Eisenerz  gefördert  worden, 
1882  schon  1859  141,  1892  3571462,  1902  8793496,  1912  20083238. 
Die  Zahl  der  immer  leistungsfähiger  werdenden  Hochöfen  betrug 
1872  30,  1911  58,  die  mittlere  tägliche  Belegschaft  im  Hüttenwesen 
vervierfachte  sich,  das  verarbeitete  Material,  ohne  Brennstoffe, 
stieg  von   637595   Tonnen  auf  9758571.     Die   Kohlenzufuhr   war 


2i;2  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1  — 1890. 

1883    816000    Tonnen,    1912    2457000,    die    Stahlproduktion    1872 
185000,  40  Jahre  später  i  444950  Tonnen. 

Im  Jahre  1904  wurde  in  Witteisheim,  nordwestlich  von  Mül- 
hausen,  Kalisalz  entdeckt,  und  weitere  Bohrungen  gestatteten 
eine  zusammenhängende  Oberfläche  von  200  Quadratkilometern 
zu  umgrenzen.  Die  Eingliederung  dieser  wertvollen  Produktion 
in  die  deutsche  Volkswirtschaft  vollzog  sich  unter  einer  Förderung 
von  350000  Tonnen  im  Jahre  1913  nicht  allein  dadurch,  daß 
eine  Versorgung  der  transportnahen  Bundesstaaten  ins  Auge  ge- 
faßt wurde,  sondern  daß  auch  ein  Anschluß  an  das  deutsche  Kali- 
syndikat stattfand,  in  dem  191 2  die  Gewerkschaft  Amelie  die  dritte 
Stelle  mit  einem  Kontingent  von  i  ,4  3/4  %  einnahm,  und  daß  das 
Kapital  vorzugsweise  in  Altdeutschland  aufgebracht  wurde.  Somit 
gaben  das  Elsaß  den  Standort,  den  Naturstoff  und  die  Hand- 
arbeiterschaft, das  übrige  Deutschland  die  Kapitalkraft  und  die 
kaufmännische  und  technische  Leitung,  um  das  Einheitsgebilde, 
die  Unternehmung,  zusammenzuschweißen,  die  auf  dem  nationalen 
und    auf    dem    Weltmarkte    Ansehen   und    Gewinn    suchte. 

Andere  natürliche  Bodenschätze  sind  die  Steinsalzlager  in 
Lothringen  und  die  Petroleumquellen  des  Unterelsaß.  Auch  sie 
zeigen  wachsende  Produktionszahlen.  Die  letzteren  haben  sich 
in  40  Jahren  verzwölffacht,  die  ersteren  verdreifacht.  Das  Vor- 
dringen des  deutschen  Kapitals  im  Bergbaubetrieb  wurde  von 
den  reichsländischen  Politikern  freilich  mit  Mißvergnügen  auf- 
genommen, so  daß  die  partikularistische  Majorität  in  dem  Parla- 
ment übertrieben  hohe  und  unbillig  verteilte  Bergwerkssteuern 
den    Betrieben    wiederholt    auflegte. 

Von  anderen  beachtenswerten  verörtlichten  Industrien  seien 
noch  erwähnt  die  der  Konserven-,  Nahrungs-  und  G e - 
nußmittel,  die  Leder-  und  Maschinenindustrie,  die 
Getreidekunstmüllerei  in  Straßburg  und  L^mgebung,  die 
Glasindustrie  im  östlichen  Lothringen,  die  Fayenceindu- 
strie bei  Saargemünd,  die  Töpferei  bei  Sufflenheim  (U.-E.), 
die  Strohhutflechterei  in  den  Kreisen  Forbach  und  Chäteau- 
Salins,  die  Steinbruch-  und  Zementindustrie  in  den 
nördlichen  Vogesen,  die  Hilfsindustrien  der  Montan-  und 
Textilindustrie  in  deren  Gebieten,  —  die  alle  nicht  nur  im  Lande,^ 
sondern  auch  im  weiten  deutschen  Wirtschaftsgebiet  Kunden  in 
\vachsender  Zahl  gewonnen  haben. 

Vergleichen  wir  die  Ergebnisse  der  gewerblichen  Betriebe- 
zählungen von  1895  und  1907,  so  hat  sich  die  Zahl  der  Be- 
triebe in  der  gesamten  Industrie  des  Reichslandes  um  3,7  0/0, 
die  Zahl  der  beschäftigten  Personen  um  33,3  0/0   gesteigert.    Eine 


II.  Der  Frankfurter  Friede.     Elsaß-Lothringen  und  seine  Eingliederung  usw.        253 

Zunahme  der  Betriebsgröße  wird  damit  erwiesen,  ein  Vorgang, 
wie  er  im  Reiche  auch  sonst  sichtbar  ist,  und  mit  dem  sich 
ein  verstärkter  volkswirtschaftlicher  Austausch  unter  dem  Prinzip 
der  Aussonderung  verbindet.  Die  Tierzucht  und  Fischerei, 
das  Bekleidungs-  und  Reinigungsgewerbe,  das  künst- 
lerische Gewerbe  zeigen  eine  Abnahme  an  beschäftigten  Personen, 
andere  Einzelindustrien  einen  Stillstand,  wie  die  Brauerei,  wo- 
hingegen die  oben  genannten  Gewerbe  in  günstiger  Lage  eine 
Zunahme  an  Geschäftsleitern  und  Gehilfen  zwischen  30  und  50  0/0 
kenntlich  macht.  Die  lokalisierte  Arbeitsteilung,  soweit  sie  sich 
im  Binnenfreihandel  des  Reiches  ausgebildet  hat,  hat  auch  das 
Reichsland  in  ihren  Kreis  eingeschlossen  und  eine  vertiefte  Ver- 
kehrswirtschaft mit  Steigerungen  einerseits,  Einschrumpfungen  an- 
dererseits entstehen  lassen. 

Weniger  ist  die  Landwirtschaft  des  Reichslandes  durch 
deren  Angliederung  an  Deutschland  berührt  worden,  weil  sie  mehr 
als  das  verarbeitende  Gewerbe  auf  die  Bedarfsdeckung  der  Familie 
des  Bauern  und  des  Gutsbesitzers  und,  soweit  sie  verkehrsmäßig 
tätig  ist,  auf  den  Nahabsatz  der  vielen  nicht  haltbaren  oder  der 
versendungsschwierigen  Waren  bedacht  war.  Dieser  Zustand 
wurde  noch  dadurch  befestigt,  daß  sich  der  Klein-  und  Mittel- 
betrieb, der  1871  die  entscheidende  Betriebsform  war,  nicht  nur 
gehalten,  sondern  noch  verstärkt  hat,  da  der  größere,  über  20 
Hektar,  in  der  Zeit  zwischen  den  Aufnahmen  von  1882  und  1907 
zurückgegangen  ist.  1907  gab  es  nur  drei  Großbetriebe  über 
500  Hektar  und  349  von  100 — 500.  Die  bäuerlichen  Betriebe 
(5—100  Hektar)  umfassen  57,98,  die  Kleinbetriebe  34,73  der  be- 
nutzten Bodenfläche.  Die  letzteren  waren  der  Zahl  nach  206295, 
alle  übrigen  Betriebe  nur  38  658.  Die  Landwirte  sind  durch  den 
Anschluß  an  das  Reich  in  ihrer  sozialen  Gliederung  weder  durch 
die  Handelspolitik  noch  durch  den  Konkurrenzdruck  des  ost- 
deutschen Großbetriebes  beunruhigt  worden. 

Vom  Standpunkt  der  Betriebstechnik  aus  gesehen,  hat  die 
Landwirtschaft  in  Elsaß-Lothringen  in  den  letzten  40  Jahren 
manche  Umwandlung  durchgemacht,  die  sowohl  auf  die  neue 
staatliche  Zugehörigkeit,  als  auch  auf  weltwirtschaftliche  Vorgänge 
zurückgeht  und  es  mit  sich  brachte,  daß  einzelne  Erzeugnisse 
rückgängige,   andere   aufsteigende  Anbauzahlen   haben. 

Die  Umformung  hat  sich  in  der  Weise  vollzogen,  daß  der 
Getreidebau  im  ganzen  weniger  Land  beanspruchte,  und  daß 
Handelsgewächse  Flanf,  Hopfen,  Tabak,  Flachs,  Krapp,  Raps, 
Rübsen  und  andere  Ölfrüchte  Schwankungen  und  Rückgängen  der 
Anbaufläche   unterworfen    waren,    wohingegen    der    Kartoffel-   und 


21:4  ^-  Abschnitt     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs    1871  — 1890. 

Hackfruchtbau  —  neu  ist  die  Zuckerrübe  — ,  die  Wiesen,  die 
Gemüsefelder  und  der  Viehstand  über  einen  beachtenswerten  Zu- 
wachs verfügten.  Die  Durchschnittserträge  auf  den  Hektar  sind 
in  den  letzten  lo  Jahren,  wie  in  Deutschland  überall,  erhöht 
worden,  am  auffallendsten  bei  den  Kartoffeln,  Luzernen,  dem 
Wiesenheu  und  dem  Tabak.  Gemüse  und  Hackfrüchte  haben 
31  500  Hektar  auf  Kosten  der  Brache  und  des   Klees   gewonnen. 

Der  landwirtschaftliche  Anbau  richtet  sich  im  großen  ganzen 
seiner  Art  nach  den  Marktpreisen,  deren  Erhöhung  bei  den  gegen 
früher  mehr  hergestellten  Erzeugnissen  den  Landwirten  in  Elsaß- 
Lothringen  gute  Gelderträge  gesichert  hat.  Allerdings  in  ungleicher 
Weise  je  nach  der  Lage  und  Beschaffenheit  der  Güter  und  dem 
Grad  der  Preissteigerung.  Der  günstige  Preisstand  ist  zunächst 
der  deutschen  Handelspolitik  zu  verdanken,  besonders  dem  seit 
1906  in  Kraft  stehenden  Zolltarif;  dann  der  zunehmenden  In- 
dustrialisierung des  Landes  und  des  Reiches.  Die  quantitativ  und 
qualitativ  in  den  Städten  und  Industriegegenden  veränderte  Ver- 
brauchsrichtung einer  immer  zahlungsfähiger  werdenden  Bevölke- 
rung hob  die  Nachfrage  nach  Fleisch,  Milch,  Butter,  Gemüse, 
Kartoffeln,  Geflügel,  Obst  und  Wein  rasch.  In  den  warmen,  frucht- 
baren Niederungen  von  Metz  und  Straßburg,  bei  Hördt,  unweit 
Erstein,  bei  Schlettstadt,  Colmar  und  Neudorf  bei  Basel  entstand 
ein  ausgedehnter  Feldgemüsebau,  der  nicht  bloß  die  naheliegenden 
Städte  versorgte,  sondern  auch  auf  größere  Entfernungen  zum 
Versand  schritt.  Für  eine  Reihe  von  Spezialitäten  ist  Altdeutsch- 
land  der   Abnehmer   geworden. 

Der  Weinbau  ist,  wie  überall,  eine  schwere  Sorge  der 
Landwirtschaft.  Seit  1876  haben  die  Reblaus  und  weiterhin  die 
Peronospora  und  das  Oidium  unermeßlichen  Schaden  angerichtet, 
und,  soviel  auch  zur  Bekämpfung  getan  worden  ist,  bisher  konnte 
man  der  Schädlinge  nicht  Herr  werden.  Das  Rebland,  das  sich 
an  der  Hügelregion  der  Vogesen  von  Thann  bis  Weißenburg 
hinzieht  und  in  Lothringen  im  Moseltale  liegt,  hat  sich  in  seinem 
Umfange  seit  100  Jahren  kaum  verändert.  Als  vor  der  franzö- 
sischen Revolution  das  Reichsland  außerhalb  der  alten  Colbert- 
schen  ZoUinie  lag,  gingen  die  Qualitätsweine  bis  tief  in  das  Reich 
hinein.  Die  folgenden  Jahrzehnte  setzten  sie  im  Lande  selbst  dem 
Wettbewerb  Südfrankreichs  aus,  der  um  so  gefährlicher  wurde, 
als  die  Eisenbahnen  und  die  Kanäle  die  Zufuhr  von  dort  er- 
leichterten und  der  Zollverein  Zölle  am  Rhein  erhob.  Die  Bauern 
warfen  sich  auf  die  billigere  Massenproduktion,  die  zu  weichendem 
Preise  im  engeren  Wirtschaftsgebiet  abgesetzt  wurde.  Nach  der 
Wiedereinverleibung  des   Elsaß   konnte   alsbald  die  Ausfuhr  nach 


II.  Der  Frankfurter  Friede.     Elsaß-Lothringen  und  seine  Eingliederung  usw.        255 


Osten  aufgenommen  werden.  Sie  betrug  1873  überhaupt  130600 
Hektoliter  und  steigerte  sich  in  guten  Jahren  auf  mehr  als  das 
Doppelte,  wovon  nur  wenig  in  das  Zollausland  verschickt  wurde. 
Der  Anbau  edler  Sorten  wurde  wieder  mehr  gepflegt  und  die 
Kellerei  auf  einen  höheren  Stand  gehoben.  Dazu  kam,  vornehm- 
lich in  Lothringen,  die  Bereitung  des  Schaumweines,  191 2  in  30 
Fabriken,  die  allerdings  unter  Zuhilfenahme  französischer  Trauben 
über  2  Millionen  Flaschen  in  den  Verkehr,  auch  nach  Altdeutsch- 
land,  brachten. 

In  ganz  besonderer  Weise  und  mit  glücklicher  Hand  hat  sich 
die  deutsche  Regierung  der  Landwirtschaftspflege  zugewandt,  so 
daß  sich  einer  ihrer  besten  einheimischen  Kenner  vor  dem  Kriege 
von  19 14  so  aussprach,  „daß  unter  dem  wohltätigen  Einfluß  ge- 
setzlicher und  sonstiger  öffentlicher  Maßregeln  die  elsaß-lothrin- 
gische  Landwirtschaft  einen  Stand  der  Entwicklung  erreicht  hat, 
wie  er  in  der  Vergangenheit  noch  nicht  vorhanden  war". 

Das  Reich  hat  in  den  Grenzen  seiner  Kompetenz  eingegriffen. 
Die  Zölle  sind  schon  genannt  worden.  Es  sei  ferner  erinnert  an 
die  Viehseuchenpolizei,  das  Gesetz  zur  Bekämpfung  der  Reblaus, 
das  Vogelschutzgesetz,  die  Wucherparagraphen  des  Strafgesetzes, 
die   Gesetze   über   die   Erwerbs-   und   Wirtschaftsgenossenschaften. 

Die  Landesgesetzgebung  erstreckte  sich  u.  a.  auf  die  Neu- 
ordnung der  Jagd  und  Fischerei,  den  Viehwucher,  der  mit  der 
Viehverstellung  verbunden  war,  die  Körordnung  für  Zuchtstiere  und 
Hengste,  das  Gesindewesen,  die  Feldwege  und  Flurbereinigung, 
die  Einführung  des  Befähigungsnachweises  beim  Hufbeschlag,  auf 
Maßregeln  gegen  die  Weinverfälschung  und  auf  die  gerechtere 
Verteilung  der  Grundsteuer  und  deren  Herabsetzung.     - 

Zur  Unterstützung  der  vom  Ministerium  ausgeübten  landwirt- 
schaftlichen Verwaltung  wurde  1888  als  beratende  Körperschaft 
der  Landwirtschaftsrat  von  Elsaß-Lothringen  eingesetzt  und  das 
Vereinswesen  gefördert.  1869  zählten  die  landwirtschaftlichen 
Vereine  des  Landes  2000  Mitglieder,  1910  allein  39020  die  in 
einen  Landverband  verbundenen  landwirtschaftlichen  Kreisvereine, 
neben  denen  noch  über  300  Spezialvereine,  z.  B.  für  Bienenzucht, 
Obst-  und  Gartenbau,  die  Versicherungsvereine  und  die  Genossen- 
schaften stehen,  von  denen  1909  451  Raiffeisenkassen  in  einem  Ver- 
band zentralisiert  waren,  und  die  in  dem  „Revisions verband"  sich 
eine  zweite  Organisation  geschaffen  hatten.  Zu  ihnen  kommen 
noch  668  Meliorationsgenossenschaften,  die  zusammen  mit  dem 
Staat,  den  Syndikaten,  Korporationen  und  Gemeinden  seit  1877 
64,7  Millionen  Mark  für  Fluß-  und  Bachkorrektionen,  Wasser- 
leitungen  und   Stauweiher   ausgegeben   hatten,    die   Feldweg-   und 


256  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1 — 1890. 

Flurbereinigungsgenossenschaften,  deren  Zahl  bis  191 3  auf  734 
angewachsen  war.  Die  1872  gegründete,  unter  Aufsicht  des  Mi- 
nisteriums stehende  Aktiengesellschaft  für  Boden-  und  Kommunal- 
kredit gab  den  großen  und  kleinen  Landwirten  Darlehen  gegen 
hypothekarische  Sicherheit. 

Obwohl  ein  landwirtschaftliches  Vereins-  und  Genossenschafts- 
wesen und  der  Landwirtschaftsrat  von  Elsaß-Lothringen  geschaffen, 
für  das  Bildungswesen  erhebliche  Mittel  zur  Verfügung  gestellt 
wurden,  ein  regelmäßiger  Reblausdienst  entstand,  Viehprämi- 
ierungen  die  Aufzucht  ermunterten  und  die  Regierungsvertreter 
überall  persönlich  fördernd  und  belehrend  eingriffen,  hatten  es 
viele,  namentlich  stadtferne  Bauern,  an  sich,  an  dem  Alther- 
gebrachten mehr  als  erwünscht  festzuhalten,  so  daß  das  reiche 
und  gesegnete  Land  im  ganzen  nicht  auf  der  Höhe  der  land- 
wirtschaftlichen Kultur  des  neuzeitlichen  Deutschlands  stand.  Der 
größte  Teil  von  Lothringen  und  der  Südzipfel  des  Elsaß  verharren 
noch  dauernd  bei  der  Dreifelderwirtschaft,  in  den  Vogesen  war 
die  aus  alten  Zeiten  stammende  Brandwirtschaft  noch  verbreitet, 
der  Fruchtwechsel  war  nur  nördlich  von  Straßburg  bis  zur 
Pfälzer  Grenze  und  südlich  von  Saarbrücken  üblich.  Große,  über 
das  ganze  Land  zerstreute  Güter  als  Vermittler  des  landwirt- 
schaftlichen Fortschrittes  gab  es  nicht.  Diejenigen  in  den  Kreisen 
Chäteau-Salins,  Metz-Land  und  Bolchen  waren  verpachtet,  ge- 
hörten zum  großen  Teil  Franzosen,  welche  die  Renten,  die  sie 
von  extensiv  wirtschaftenden  Pächtern  bezogen,  in  Nancy  und 
Paris  verzehrten.  Während  in  Handel  und  Industrie  eingewanderte 
Deutsche  zahlreich  tätig  waren,  sind  in  die  Landwirtschaft  nur 
wenige  eingedrungen,  so  daß  die  unmittelbare  nachbarliche  An- 
regung durch  neue  ostrheinische  Fortschritte  fehlte. 

Die  Wirtschaft  des  Waldes  hängt  insofern  mit  dem 
Landbau  zusammen,  als  sie,  richtig  geführt,  den  Schutz  des 
Quellengebietes  und  damit  die  Bewässerung  sichert  und  Über- 
schwemmungen auf  Wiesen  und  Äckern  vorbeugt.  Zu  dem  Zweck 
soll  sie  über  weite  zusammenhängende  Flächen  verfügen,  die  auch 
im  Verhältnis  zum  gesamten  Nutzboden  des  Landes  groß  sein 
müssen.  Beides  ist  in  Elsaß-Lothringen  seines  gebirgigen  Teiles 
wegen  der  Fall.  Der  Wald  umfaßte  1871  30,60/0  des  ganzen 
Landes  und  78,8  0/0  von  ihm  gehörten  dem  Staat,  der  Gemeinde 
und  Anstalten,  die  überall  einen  einheitlichen  Großbetrieb  aus- 
übten. Unter  deutscher  Verwaltung  ist  die  Waldfläche  um  3000 
Hektar  vergrößert,  und  in  ihr  der  Privatwald  um  8,2  0/0  ver- 
kleinert worden,  so  daß  jene  volkswirtschaftlichen  Ziele  noch 
ausdrücklicher  verfolgt  werden  konnten. 


II.  Der  Frankfurter  Friede.     Elsaß-Lothringen  und  seine  Eingliederung  usw.        257 

Der  Wald  spielt  zudem  in  der  Ertragswirtschaft  eines  Landes 
eine  große  Rolle,  und  auch  hier  konnte  die  Forstverwaltung, 
die  fast  ganz  von  deutschen  Beamten  übernommen  wurde,  mit 
günstigen  Zahlen  aufwarten.  In  den  Staats-  und  in  den  vom 
Staat  mit  den  Gemeinden  ungeteilt  besessenen  Waldungen  ist  von 
1873  bis  19 12  die  Holzeinschlagsmasse  um  die  Hälfte,  auf  den 
Hektar  der  durchschnittliche  Ertrag  um  1/3,  um  ebensoviel  die  Nutz- 
holzgewinnung innerhalb  des  gesamten  Produktes  gesteigert  worden, 
wobei  das  Holzkapital  zugleich  angewachsen  ist.  Unter  dieser 
intensiveren  Betriebsweise  bei  gleichzeitig  eingetretener  Preis- 
erhöhung infolge  des  allgemeinen  volkswirtschaftlichen  Erblühens 
sind  höhere  Gelderträge  für  das  Staatsbudget  möglich  geworden. 

Unter  Übernahme  der  bewährten  Grundsätze  des  preußischen 
Forstwesens  wurde  der  im  Argen  liegende  Wegbau  umgestaltet, 
wurden  Waldbahnen,  breite  Forststraßen,  Erd-  und  Schlittenwege 
angelegt,  Ödländereien  aufgeforstet,  die  Hochwaldkulturen  aus- 
gedehnt. Auch  durch  die  vollständige  Regiewirtschaft  gestaltete 
sich  der  Betrieb  billiger  und  den  Wald  schützend.  Für  einen 
festen  Stamm  Waldarbeiter  wurde  gesorgt,  der  Holzverkauf  neu 
geregelt  und  die  auf  dem  Staatswald  ruhende  Holzabgabelast  teil- 
weise abgelöst.  Die  Aufsicht  der  Behörde  erstreckte  sich  auch 
auf  den  Gemeindewald,  der  Betriebsplänen  unterstellt  wurde,  und 
auf  die  Privatbesitzungen,  auf  denen  das  willkürliche  Abholzen 
'eingeschränkt  wurde. 

Die  Tätigkeit,  welche  die  Waren  der  geschilderten  Produk- 
tionen den  Verbrauchern  zu  übermitteln  hatte,  bedurfte  in  dem 
Maße,  als  sie  anwuchs,  der  geeigneten  Transportmittel.  Um- 
gekehrt mußte  jede  Verbesserung  derselben  auf  die  Stärke  der 
Gütererzeugung  zurückwirken.  Die  Reichseisenbahnen  hatten  1871 
eine  Linienlänge  von  768,  nach  40  Jahren  von  192 1  Kilometern, 
die  neue  Ortsverbindungen  schafften  und  in  die  Gebirgstäler 
hoch  hinaufliefen.  Das  Reich  hat  in  ihnen  ein  Kapital  von  879 
Millionen  Mark  zur  Anlage  gebracht  und  steigerte  von  1875  bis 
191 2  die  Zahl  der  Personenkilometer  von  228  auf  510,  der  Tonnen- 
kilometer von   1374  auf  3251   Millionen. 

Die  Eisenbahnen  sind  nur  ein  Stück  Verkehrsnetz,  das  durch 
Anpassung  an  die  Kanäle,  Flüsse  und  durch  Anschluß  der  Land- 
straßen, elektrischer  Trambahnen  und  Automobilrouten  erst  zu 
einem  Ganzen  wird,  dessen  Leistungsfähigkeit  sich  in  dem  zu- 
nehmenden Gebrauch  der  einzelnen  Einrichtungen  kundgibt.  Gute 
Straßen  und  Kanäle  gab  es  schon  zur  französischen  Zeit.  Wäh- 
rend jene  sich  unter  deutscher  Herrschaft  um  11 60  Kilometer 
in  40  Jahren  vermehrten,   lag  der  Schwerpunkt  der  Veränderung 

A.  Sartorius  v.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        1 ' 


258  V.  Abschnitt     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871 — 1890. 

dieser  darin,  daß  sie  für  300  Tonnen-Schiffe  fahrbar  gemacht 
wurden,  womit  der  doppelte  Verkehr  bewältigt  wurde.  Von  den 
Flüssen  sind  die  Mosel  und  vor  allem  der  Rhein  die  belebenden 
Schlagadern  des  volkswirtschaftlichen  Kreislaufes.  Die  Kanali- 
sierung der  ersteren  wurde  von  der  lothringischen  Montanindustrie 
seit  Jahrzehnten  dringend,  jedoch  vergeblich  gewünscht,  um  den 
Austausch  von  Kohlen  und  Erz  zu  erleichtern.  Der  Rhein  von 
Lauterburg  bis  Basel  war  ehemals  die  Landesgrenze  und  mit 
Zollwächtern  besetzt,  die  jeden  hinüberfahrenden  Kahn  visitierten, 
dann  wurde  er  ein  Großverkehrsmittel  ersten  Ranges.  Durch 
zwei  Häfen,  den  geringeren  bei  Lauterburg,  den  großen  bei 
Straßburg,  erschloß  er  das  Elsässer  Wirtschaftsleben  nach  außen 
hin  und  dies  in  um  so  besserer  Weise,  als  das  Rheinkorrektions- 
werk und  die  Herstellung  von  Hochwasserdämmen  vollendet 
wurden.  Ein-  und  Ausfuhr  aus  dem  Straßburger  Hafen  schwollen 
von  1894  bis  191 2  von  317000  auf  1655793  Tonnen  an;  dieser 
Rekord  gilt  für  den  Rheinverkehr  talwärts,  oberhalb  Kehl  beweg- 
ten sich  nur  12700  Tonnen.  Straßburg  war  um  1914  die  End- 
station der  Rheinschiffahrt.  Hier  stauten  sich  die  Mengen  auf,  um 
nach  allen  Seiten  in  Abzugsröhren  geleitet  zu  werden.  Mehr  als 
die  Hälfte  der  Einfuhr  kam  auf  Kohlen  und  Koks,  dann  folgte 
das  Getreide,  das  vorzugsweise  im  Rheinhafen  vermählen  woirde, 
mit  gut  1/4,  weiter  das  Petroleum  und  die  gemischte  Masse  der 
weniger    umfangreichen    Güter. 

Die  wirtschaftliche  Entwicklung  der  Landeshauptstadt 
wird  mit  Recht  auf  die  günstige  geographische  Lage  am  Rhein 
zurückgeführt,  doch  ist  mancher  andere  treibende  Faktor  daneben 
zu  nennen  gewesen.  Straßburg  ist  ein  Zentralpunkt  der  Eisen- 
bahnen, und  bei  ihr  begrüßen  sich  die  Endpunkte  des  Rhein-Rhone- 
und  des  Rhein-Marne-Kanals.  Beide  Kanäle  dienten  vorzugsweise 
dem  deutschen  Binnenverkehr.  Der  Umsatz  mit  Frankreich  auf 
der  Wasserstraße  war  nur  mäßig  und  abnehmend,  seitdem  dieses 
Land  sich  mit  dem  hohen  Minimalzoll  gegen  Deutschland  ab- 
geschlossen hatte.  Ein  Blick  auf  die  mitteleuropäische  Karte  zeigt, 
daß  Elsaß-Lothringen,  als  Mittelpunkt  gedacht,  die  Peripherie 
seiner  Warenbewegung  in  Frankreich,  in  der  Schweiz  und  Deutsch- 
land haben  könnte,  aber  nur  das  letztere  Land  stand  vornehmlich 
in  Frage,  da  es  jeden  Verkehr  zu  sich  erleichterte  und  keine 
Kosten  scheute,  um  dies  Ziel  zu  erreichen.  Das  beweisen  die 
Millionen,  die  die  Uferstaaten  für  die  Rheinkorrektion  aufbrachten, 
die  für  die  Bauten  der  Post-  und  Telegraphenanstalten,  die  von 
1874  bis  191 2  von  146  bzw.  74  auf  die  Höhe  von  1580  und  1398 
gelangten,   die   Erweiterung  der   schon   genannten   Bahnlinien,   die 


U.  Der  Frankfurter  Friede.     Elsaß-Lothringen  und  seine  Eingliederung  usw.       259 


Errichtung  der  Reichsbankstellen,  deren  Umsatz  von  841  Millionen 
Mark  um   1876  sich  bis   19 12  verzehnfacht  hat. 

Wer  Straßburg,  ehemals  „un  sale  trou  de  province",  191 3 
nach  46  Jahren  zuerst  wieder  erblickt  hätte,  würde  es  kaum 
wieder  erkannt  haben,  wenn  das  Münster  seinen  Finger  nicht 
reckte,  als  ein  altes  Wahrzeichen  deutscher  Kunst  und  Kultur. 
Zweimal  ist  die  Stadt  durch  Niederlegung  alter  Festungswälle 
erweitert  worden.  Sie  umgibt  ein  Kranz  von  Villenquartieren  und 
gewerblichen  Vororten,  der  die  bebaute  Fläche  von  ehemals  mehr 
als  verdoppelte.  In  vielen  Städten  des  19 14  besetzten  Frankreichs 
ruhte  seit  Jahrzehnten  die  Bautätigkeit.  Besuchern  während  des 
Weltkrieges,  die  den  Feldzug  1870  mitgemacht  haben,  ist  das 
gänzlich  unveränderte  Stadtbild  aufgefallen,  in  dem  noch  Ruinen 
an  den  damaligen  Krieg  erinnerten. 

Von  der  Beschießung  Straßburgs  war  nach  wenigen  Jahren 
nichts  mehr  zu  bemerken;  die  Spekulation  schuf  seit  den  acht- 
ziger Jahren  zuerst  die  Neustadt  und  begann  dann  den  Umbau 
der  Altstadt.  Daß  hier  der  Sitz  der  Landesverwaltung,  der  Reichs- 
universität und  einer  großen  Garnison  war,  belebte  die  öffentliche 
Bautätigkeit,  aber  auch  der  Handel  und  die  Industrie  bedurften 
zahlreicher  Großhäuser,  die  das  enge,  winkelige  Straßengewirr 
der  alten  Reichsstadt  durchbrachen,  um  aus  Jungdeutschlands  öko- 
nomischer Kraft  heraus  etwas   Neues  anzubahnen. 

Straßburg,  1871  mit  85654  Einwohnern,  besaß  einige  Nah- 
rungsmittelindustrien, und  sein  Handel  hielt  Beziehungen  zu  den 
Südstaaten  des  Zollvereins.  Die  reichen  Pariser  des  zweiten  Kaiser- 
reichs nächtigten  hier  auf  ihrer  Reise  nach  Baden-Baden,  dem 
damaligen  internationalen  Vergnügungsmittelpunkt  der  vornehmen 
Welt  in  Süddeutschland.  Straßburg  war  für  Waren  ein  Durch- 
fuhr- und  geringer  Umschlagsort,  1914  was  es  mit  180000  Ein- 
wohnern ein  industriell  selbstschaffender  Kraftpunkt  mit  Leder- 
großwerken und  Getreidekunstmühlen,  mit  Fabriken  für  Papier, 
Maschinen,  Korb-  und  Schuhwaren,  Schirme,  Möbel,  musikalische 
Instrumente,  Seife,  Tabak  und  zahlreiche  Nahrungs-  und  Ge- 
nußmittel. 

Die  staatsrechtliche  Sonderstellung  des  Reichslandes  hat  sich 
auf  -wirtschaftlichem  Gebiete  nicht  bewährt  gehabt.  Die  Nachteile 
der  kleinstaatlichen  Finanzwirtschaft  traten  in  den  ersten  beiden 
Jahrzehnten  nach  1871  nicht  so  auffällig  hervor  als  in  den  beiden 
folgenden.  Die  Staats-  und  Gemeindeausgaben  blieben  zuerst 
niedrig,  so  daß  mit  dem  übernommenen  französischen  Finanz- 
system leidlich  auszukommen  war.  Es  wurde  aber  auch  kul- 
turell und  sozial  nicht  viel  geleistet.    Sobald  unter  dem  Eindruck 

17* 


2  6o  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs  1871  — 1890 

der  ostnachbarstaatlichen  Verwaltung  dieser  Zustand  nicht  mehr 
haltbar  blieb,  wurden  die  staatlichen  Steuern  nebst  Bezirks-  und 
Gemeindezuschlägen  erhöht,  ohne  zu  genügen,  so  daß  bei  der 
Etatsausgleichung  zum  Schuldenmachen  gegriffen  werden  mußte. 
Es  fehlten  die  einträglichen  Erwerbseinkünfte.  Die  Eisenbahnen 
gehörten  dem  Reich,  das  Kali,  an  dem  sich  der  Staat  beteiligte, 
brachte  ihm  in  den  Jahren  der  Überproduktion  vor  dem  Kriege 
nicht  viel  ein,  die  Tabakmanufaktur  ergab  rund  175000  Mark, 
der  Wald  4 1/2  Millionen,  alles  dies  bei  78  Millionen  Staatsausgaben. 
So  haben  die  Ertrag-,  Verkehr-  und  Verbrauchsteuern,  von  denen 
die  ersteren  zwar  im  Sinne  der  Billigkeit  umgestaltet  wurden, 
aber  doch  vom  Standpunkt  der  Belastung  nach  der  Leistungs- 
kraft noch  viel  zu  wünschen  übrig  ließen,  die  Verwaltungslast 
fast  ganz  zu  tragen  gehabt,  die  bei  den  verhältnismäßig  hohen 
Ausgaben  für  die  Zentrale  und  gemeinsamen  Angelegenheiten  recht 
teuer    war. 

Die  Aufteilung  des  1871  wiedergewonnenen  deutschen  Landes 
unter  Preußen,  Bayern,  Baden  würde  dessen  wirtschaftliche  Ent- 
wicklung im  ganzen  nicht  beeinträchtigt  haben,  wenn  sie  auch 
anders  verlaufen  wäre.  Was  das  Reich  ihm  geboten  hat,"  wäre 
ihm  auch  so  zugefallen.  Lothringen  als  Teil  von  Preußen  würde 
mehr  gewonnen  haben,  Elsaß  vielleicht  etwas  weniger.  Indem 
der  Reichslandpartikularismus  sich  weniger  aufdringlich  geltend 
gemacht  hätte,  würde  der  wirtschaftlichen  Entfaltung  mehr  Spiel- 
»raurn  gegeben  gewesen  sein. 

Sagt  man  heute,  die  ganze  deutsche  Anstrengung,  die  neuen 
Gebiete  wirtschaftlich  und  sozial  zu  heben,  seien  vergeblich  ge- 
wesen, da  man  nur  für  Frankreich  gearbeitet  hätte,  so  kann  ein 
solcher  Vorwurf  der  Kurzsichtigkeit  der  Reichsleitung  von  1871 
nicht  gemacht  werden.  Denn  die  Annexion  war  eine  Notwendigkeit 
zum  Schutze  des  Rheins  im  Südwesten.  Hatten  die  Franzosen 
schon  von  1866  bis  1870  immerfort  eine  Revanche  für  Sadowa 
ausposaunt,  nicht  um  Österreich  wieder  zu  erheben,  sondern  um 
den  ihnen  unerträglichen  Gedanken  aus  der  Welt  zu  schaffen, 
daß  sie  nicht  die  erste,  glorreiche  Militärnation  der  Erde  seien, 
so  würden  sie,  auch  wenn  sie  Elsaß-Lothringen  nicht  verloren 
hätten,  ihr  Rachegefühl  nach  ihrer  Niederlage  nicht  um  einen 
Grad   herabgesetzt   haben. 

War  1871  ihnen  der  östliche,  politisch  zur  Einheit  erstarkende 
Nachbar  ein  ewiger  Stein  des  Anstoßes  bei  ihrer  beanspruchten 
Vormachtstellung  im  westlichen  Europa,  deren  Idee  den  Krieg 
von  1870  als  letzte  Ursache  hatte,  so  mußte  diese  grollende  Forde- 
rung   erst    recht    erhoben    werden,    nachdem    Deutschland    in    den 


III.  Die  Reichsgesetze  über  das  Geld-  und  Bankwesen.  26I 


folgenden   40   Jahren   daran    ging,    wirtschaftlich   zur   ersten    Kon- 
tinentalmacht  zu   erstarken. 

III.  Die  Reichs  ge  setze  über  das  Geld-  und  Bank- 
wesen. Bald  nach  dem  Frankfurter  Frieden  gelangten  die  Vor- 
arbeiten über  das  Geldwesen  zum  Abschluß,  die  im  Reichskanzler- 
amt vor  dem  Ausbruch  des  Krieges  begonnen  hatten.  Am  4.  De- 
zember 1871  wurde  das  Gesetz  betreffend  die  Ausprägung  von 
Reichsgoldmünzen  und  im  Anschluß  daran  am  9.  Juni  1873  das 
Reichsmünzgesetz  erlassen. 

In  den  sechziger  Jahren  setzten  sich  die  deutschen  Flandels- 
tage  als  Vertreter  der  Handelskammern  und  verschiedener  kauf- 
männischer Verbände,  ferner  die  Kongresse  deutscher  Volkswirte 
streng  liberaler  Richtung  für  die  Reform  des  Geldwesens  ein.  Sie 
verlangten  eine  allgemeine  deutsche  Münzeinheit,  die  Rechnungs- 
größe von  1/3  Tlr.  mit  dezimaler  Einteilung  und,  im  Verlaufe  der 
Jahre  mehr  und  mehr,  die  Goldwährung. 

Der  starke  Silberabfluß  nach  Ostasien,  der  von  1861  — 1864 
stattgefunden  hatte,  schien  die  Gefahr  des  Silbermangels  herauf- 
beschworen zu  haben.  Die  aus  Kalifornien  und  Australien  stam- 
menden Goldschätze  erfüllten  den  europäischen  Umlauf  immer 
stärker.  Man  sah  daher  in  dem  Goldverkehr  eine  durch  die 
Funde  gegebene  natürlich  -  wirtschaftliche  Notwendigkeit.  Der 
deutsche  Handelsstand,  besonders  soweit  er  mit  dem  Auslande 
zu  tun  hatte,  war  der  Ansicht,  daß  Gold  für  den  internationalen 
Verkehr,  in  dem  es  seit  langem  die  erste  Rolle  gespielt  habe, 
das  geeignetste  Zahlungsmittel  sei.  Jetzt  sei  Deutschland  im  Be- 
griff, ein  Industrie-  und  Handelsstaat  zu  werden  wie  England 
und  habe  von  dem  Rivalen  im  Geldwesen  zu  lernen.  Die  Gold- 
währung entsprach  somit  als  englische  Einrichtung  dem  Glauben 
der  herrschenden  Freihandelsschule,  die  die  Klinke  der  Gesetz- 
gebung in  der  Hand  hatte.  Nicht  unvorbereitet  ist  sie  eingeführt 
worden.  Ein  Jahrzehnt  hatte  die  Theorie  gearbeitet,  für  die 
Adolf  Soetbeer  in  Hamburg,  dessen  Verdienste  für  die  Kennt- 
nis der  Geschichte  der  Edelmetallproduktion  anerkannt  sind,  das 
Gründlichste  geleistet  hatte.  Die  französische  Kriegsentschädigung 
von  5  Milliarden  Franken  enthielt  große  Goldbestände,  so  daß 
die  praktische  Durchführung  des  als  richtig  Angenommenen  ge- 
sichert war. 

Nach  dem  erstgenannten  Gesetz  wurde  die  Auspräg-ung  von 
genau  umschriebenen  Goldmünzen  angeordnet,  und  zwar  zu  139V2 
Stück  aus  einem  Pfunde  fein,  den  Zehnmarkstücken,  und  zu  693/4 
Stück,  den  Zwanzigmarkstücken.  Da  nach  dem  bestehenden  nord- 
deutschen   Münzfuß     30    Tlr.     aus     einem    Pfund    Silber    geprägt 


202  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1  — 1890. 

worden  waren,  und  im  Verkehr  ein  Pfd.  Gold  =  151/2  Pfd.  Silber 
gerechnet  wurde,  dem  durchschnittlichen  Wertverhältnis  einer  län- 
geren Vergangenheit  und  der  Zeit  der  Gesetzgebung  entsprechend, 
setzte  man  den  Taler  gleich  3  Goldmark  und  fand  einen  be- 
quemen Anschluß  des  alten  zu  dem  neuen  Geldsystem  in  etwa 
2/3  des  Reichsgebietes,  während  die  Guldenländer  mit  7  Gulden 
gleich  12  Mark  es  schwieriger  hatten.  Die  vorhandenen  Gold- 
münzen der  Vergangenheit  woirden  eingezogen,  die  Ausprägung 
bisheriger  Silberkurantmünzen  eingestellt,  und  der  Reichskanzler 
erhielt  die  Ermächtigung,  die  letzteren  aus  dem  Verkehr  zu  ziehen 
und  durch  neue  goldene  zu  ersetzen,  denen  die  gesetzliche  Zah- 
lungskraft beigelegt  wurde.  Es  war  für  die  Übergangszeit  inso- 
fern eine  Doppelwährung  vorhanden,  als  jede  Schuld  sowohl  in 
der  alten  Silber-,  als  auch  in  der  neuen  Goldwährung  geleistet 
werden   konnte. 

Das  Reichsmünzgesetz  proklamiert  die  Goldwährung  grund- 
sätzlich, ordnet  einheitlich  die  Scheidemünzen  von  Silber,  Nickel 
und  Kupfer,  und  beseitigt  im  Prinzip  alle  Münzen  aus  der  früheren 
Zeit.  Privatpersonen  erhalten  das  Recht,  für  ihre  Rechnung 
20-Markstücke  ausbringen  zu  lassen,  damit  der  Münzwert  dem 
des  Barrengoldes  möglichst  nahe  steht.  Als  Vermittlerin  trat  hier- 
für mit  dem  späteren  Bankgesetz  dife  Reichsbank  ein,  die  für 
das  Pfund  feinen  Goldes  1392  Mark  in  gegen  Goldgeld  einlösbare 
Noten  verabfolgte,  womit  der  Schlagschatz  auf  3  Mark  dauernd 
festgelegt  worden  war. 

Die  deutschen  Reichsgesetze  treffen  ferner  genaue  Be- 
stimmungen über  die  Mischungsverhältnisse,  über  das  Remedium 
oder  den  gesetzlich  gestatteten,  unvermeidlichen  Münzfehler  und 
das  Passiergewicht,  d.  h.  die  Einziehung  der  im  Verkehr  abge- 
nutzten   Stücke,    die    für    Rechnung    des    Reiches    geschehen    soll. 

In  den  nächsten  Jahren  wurde  die  neue  Währung  durch- 
geführt. Bis  zum  Jahre  1879  waren  1080486138,38  Mark  zur 
Herstellung  von  Silberbarren,  d.h.  zum  Verkauf,  und  382  784841,28 
Mark  als  Prägesilber  für  Scheidemünzen  und  zur  Deckung  des 
Prägeabganges  eingezogen  worden.  Da  nun  in  der  Zwischenzeit 
der  Silberpreis  auf  dem  Weltmarkte  stark  gesunken  war,  sowohl 
durch  das  Angebot  der  deutschen  Silberbestände  und  die  man- 
gelnde Aufnahme  des  Metalles  durch  die  Münzstätten  der  la- 
teinischen Münzkonvention,  als  auch  durch  die  vermehrte  nord- 
amerikanische Silberproduktion,  wurde  mit  der  Beseitigung  des 
Restes  der  noch  vorhandenen  Silbertaler  —  man  schätzte  den 
Betrag  auf  400 — 450  Millionen  Mark  —  zunächst  Halt  gemacht, 
so  daß  der  Taler  noch  als  Währungsgeld  fortbestand.    Erst   1907 


III.  Die  Reichsgesetze  über  das  Geld-  und  Bankwesen.  26^ 

hat  seine  Todesstunde  geschlagen,  nachdem  etwa  die  Hälfte  des 
noch  vorhandenen  Bestandes  zum  erweiterten  Kontingent  der 
Reichssilbermünzen  —  darunter  auch  Dreimarkstücke  —  unter 
der  gesetzlichen  Ausbringung  von  loo  Mark  aus  einem  Pfd.  feinen 
Silbers,  Verwendung  gefunden  hatte. 

Die  Neuordnung  des  Geldwesens  im  Sinne  der  Einheitlich- 
keit war  notwendig  geworden.  Indem  die  Goldwährung  mit  der 
Vielseitigkeit  der  Vergangenheit  aufräumte,  glaubte  man  ihr  schon 
dadurch  ein  besonderes  Verdienst  einräumen  zu  können.  Die 
Gründe,  warum  man  vom  weißen  zum  gelben  Metall  überging, 
werden  in  den  Erläuterungen  der  Gesetzvorlagen  kaum  berührt. 
Die  Silberwährung  bringe  viel  Unbequemlichkeit  beim  Reise- 
verkehr und  in  der  Versendung  und  führe  zu  einer  übertriebenen 
Anwendung  papierener  Umlaufsmittel.  Die  Doppelwährung  sei 
beim  Sinken  des  Goldwertes  gegen  Silber  den  Schuldnern  eine 
nicht  zu  rechtfertigende  Entlastung  oder  im  umgekehrten  Falle 
der  Silberentwertung  eine  Illusion,  da  in  Silber  weitergezahlt 
werde.  Der  eigentliche  Grund  für  die  Einführung  der  Gold- 
währung ist  die  Erleichterung  und  Sicherung  des  internationalen 
Geschäftes  gewesen.  Die  Vereinigten  Staaten  und  Frankreich 
hatten  viel  Gold  ausgeprägt.  Man  glaubte,  sie  würden  zur  Gold- 
währung übergehen.  Man  wollte  nicht  zu  kurz  und  zu  spät 
kommen.  Auch  Japan  hatte  sich  für  das  Gold  entschieden.  Eng- 
land besaß  es  schon  lange  und  hatte  aus  der  Währung  große 
Vorteile  gezogen,  durch  den  indirekten  Wechselverkehr,  den  Welt- 
handel, den  Seetransport,  die  ausländische  Kapitalanlage,  wobei 
stets  in  Gold  gezahlt  werden  mußte.  Deutschland  gewann  mit  der 
neuen  Währung  ein  festes  Wechselpari  mit  England.  Die  Schwan- 
kungen der  englischen  Devise  wurden  eingeschränkt,  dem  Waren- 
handel wurde  die  Differenzschwankung  zwischen  teuerem  und 
billigem  Weltgeld   teilweise   genommen. 

Die  folgenden  40  Jahre  haben  den  Beweis  gebracht,  daß 
die  Wahl  der  neuen  Währung  für  sie  das  richtige  gewesen  ist, 
und  man  wird  dem  wirtschaftlichen  Liberalismus  es  zuzugestehen 
haben,  daß  er  kräftig  die  Initiative  ergriffen  hat.  Im  inneren 
Verkehr  hat  die  Goldmenge  genügt  und  war  allen  wirtschaft- 
lichen und  politischen  Krisen  gewachsen.  Im  auswärtigen  wurde 
die  zweckmäßige  Wahl  des  Systems  schon  dadurch  erwiesen,  daß 
auch  andere  Länder,  wie  Österreich-Ungarn  und  die  Vereinigten 
Staaten,  zu  ihm  übergingen,  und  daß  die  Doppelwährungsländer 
die  Silberausprägung  einstellten  oder  stark  verminderten.  Die 
Zunahme  des  deutschen  Außenhandels  auf  das  Fünffache,  des 
Auslandskapitals    auf    25 — 30    Milliarden,    des    direkten    Wechsel- 


264  ^"  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871  — 1890. 

Verkehrs  mit  überseeischen  Ländern,  genoß  in  der  gesicherten 
Valuta  eine  wertvolle  Unterstützung.  Bedenken  waren  nur  von 
der  Mitte  der  siebziger  bis  Ende  der  achtziger  Jahre  aufgestiegen, 
als  die  Weltgoldproduktion  gegenüber  den  vorausgehenden  25 
Jahren  einen  Rückgang  erlebte.  Damals  trat  der  Bimetallismus 
agitatorisch  hervor.  Die  Reichsregierung  traf  die  glückliche  Ent- 
scheidung, sich  auf  die  Änderung  der  Währung  nicht  einzulassen, 
und  als  dann  die  großen  Funde  in  Transvaal  und  anderen  Ländern 
kamen,  mußte  die  Gefahr  des  absoluten  Ungenügens  an  Gold  für 
absehbare  Zeiten   als   gebannt   gelten. 

Die  Goldwährung  wurde  weiterhin  mit  der  relativen  Wert- 
beständigkeit des  Goldes  unter  den  gegebenen  Zuständen  durch 
die  Wissenschaft  gestützt.  Die  Kaufkraft  des  Goldgeldes  sei  zwar 
eine  örtliche  und  zeitlich  schwankende,  folge  aber  aus  der  Kon- 
junktur der  Waren,  Nutzungen  und  Leistungen.  Von  der  Gold- 
seite her  sei  eine  Preisbeeinflussung  ausgeschlossen.  Werde  das 
Goldangebot  durch  Funde  vergrößert,  so  verteile  es  sich  rasch 
auf  die  Goldwährungsländer  der  Weltwirtschaft  und  könne  das 
Niveau  des  großen  internationalen  Reservoirs  nicht  sichtbar  ver- 
ändern, zumal  immer  Länder  bereit  seien,  ihre  Goldrechnung  mit 
tarifierten  Silbermünzen  zur  Goldwährung  zu  machen.  Ebenso- 
wenig, wie  man  von  einer  neuen  eingeschobenen  Kaufkraft  des 
Geldes  sprechen  könne,  wie  sie  etwa  in  der  Renaissancezeit  beim 
Silber  bestanden  habe,  sei  auch  bei  dem  Reichtum  vorhandenen 
Goldes  ein  Mangel  an  Zahlungsmitteln  infolge  der  vermehrten 
Nachfrage  nach  solchem  nicht  zu  befürchten,  zumal  die  Umlaufs- 
geschwindigkeit des  Goldes  bei  den  bestehenden  Spar-Depositen- 
banken  ungemein  elastisch  gestaltet  werden  könne,  im  übrigen  die 
ausgebildeten  Kreditzahlungsmittel  und  Giroeinrichtungen  allen 
Ansprüchen  genügen  würden,  da  ihre  Goldunterlage  aus- 
reichend   sei. 

Ebenso  wie  das  Geld-  und  Münz-,  war  das  Notenbank- 
wesen der  Gesetzgebung  des  Norddeutschen  Bundes  unterstellt 
worden  und  wurde  nun  Reichssache.  Noch  in  höherem  Maße 
wie  bei  jenem  waren  hier  Untersuchungen  und  Vorbereitungen 
nötig,  um  das  volkswirtschaftlich  Richtige  zu  finden.  Zunächst 
kam  es  darauf  an,  die  Notenbanken  nicht  noch  weiter  zu  ver- 
mehren. Dem  entsprach  das  Bundesgesetz  vom  27.  März  1870, 
nach  dem  eine  neue  Befugnis  zur  Ausgabe  von  Banknoten  nur  auf 
Grund  eines  Bundesgesetzes  erworben  werden  konnte,  und  Banken 
mit  einem  bestimmten  Notenausgaberecht  dasselbe  nur  mit  Ge- 
nehmigung des  Bundes  erweitern  durften.  Diese  Banknotensperre 
wurde  durch  das  Reich  wiederholt  und  auch  auf  Süddeutschland 


III.  Die  Reichsgesetze  über  das  Geld-  und  Bankwesen.  265 


ausgedehnt.  Ebenso  wurde  die  Ausgabe  von  Papiergeld  den  Bun- 
desstaaten verboten,  damit  dieses  nicht  an  die  Stelle  der  verhin- 
derten Noten  trete.  Auch  das  Reichsmünzgesetz  griff  in  das 
Notenwesen  und  das  Papiergeld  mit  der  Vorschrift  ein,  daß  sämt- 
liche nicht  auf  Reichswährung  lautenden  Noten  einzuziehen  seien, 
und  nur  solche  von  loo  Mark  an  in  den  Verkehr  gebracht  werden 
dürfen,  daß  das  einzelstaatliche  Papiergeld  zu  beseitigen  und  nur 
das  des  Reiches  auszugeben  sei.  Dieses  neue  Papiergeld  waren 
die  Reichskassenscheine,  deren  dauernder  Bestand  auf  120  Millio- 
nen Mark  festgesetzt  wurde.  Sie  besaßen  keinen  Zwangskurs  und 
waren  einlösbar,  obwohl  kein  eigentlicher  Einlösungsfonds  für  sie 
bestand.  Man  rechnete  bei  ihrer  geringen  Menge  und  ihrer 
Stückelung  in  5,  20  und  50  Mark,  daß  sie  als  bequemes  und 
erwünschtes  Umlaufsmittel  im  Verkehr  gebunden  sein  würden,  und 
daß  der  zur  Einlösung  verpflichteten  Reichskasse  aus  disponiblen 
Reichsmitteln  keine  Beschwerde  erwachsen  würde.  Darin  hat  man 
sich  auch  nicht   getäuscht. 

Der  gesamte  Notenumlauf  betrug  am  31.  Dezember  1874 
I  325  441  699  Mark.  Die  Vielartigkeit  vor  der  Neuregelung  wird 
durch  die  Statistik  beleuchtet,  daß  350555  Abschnitte  zu  einem 
Taler,  421  iio  Gulden  in  Fünf  guldenscheinen,  751  150  Tlr.  in 
Fünf  talerscheinen,  i  498  000  Mark  zu  20  Mark,  40  439  200  Gulden 
zu  10  Gulden,  57440600  Tlr.  zu  10  Tlr.,  5532725  Gulden  zu 
25  Gulden  vorhanden  waren;  unter  50  Mark,  19,40/0  des  ganzen 
Umlaufes,  von  50 — 100  Mark  21,20/0  und  darüber  59,40/0.  Das 
Papiergeld  hatte  1873  i^o  Millionen  Mark  überschritten,  die  Zahl 
der  verschiedenen  Arten  von  Noten  und  Staatspapiergeld  zu- 
sammen betrug  140.  Im  Reichsgebiet  gab  es  33  Banken,  die 
mit  einem  Notenausgaberecht  privilegiert  waren,  die  Größe  des 
Grundkapitals  war  höchst  ungleich,  schwankte  zwischen  i  und  60 
Millionen  Mark.  Sechs  Banken  hatten  ein  unbegrenztes  Noten- 
ausgaberecht, andere  ein  solches  bis  zur  Höhe  des  Stammkapitals 
ohne  oder  mit  Einrechnung  des  Reservefonds,  andere  wiederum 
bis  zur  zwei-  oder  dreifachen  des  Vermögens.  Die  Dauer  der 
Konzession  war  unbeschränkt  oder  auf  50  oder  100  Jahre  bemessen. 
Die  geographische  Verteilung  der  Banken  und  die  Höhe  des  wirk- 
lichen Notenumlaufes  waren  willkürlich,  dem  Bedürfnis  nicht  an- 
gemessen. In  Bayern  bestand  nur  ein  Institut  mit  einer  ge- 
statteten Menge  von  21  Millionen  Mark,  in  Sachsen  waren  fünf 
mit  120;  Schaumburg-Lippe  mit  32000  Einwohnern  und  Reußj.L. 
mit  89  000  hatten  in  ihren  Städtchen  Bückeburg  und  Gera  Noten- 
banken mit  unbegrenztem  Notenausgaberecht  und  mit  einem  tat- 
sächlichen von   10 — 12  Millionen  Mark.    Lübeck  hatte  zwei  Noten- 


266  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs  187 1 — 1890. 

banken,  Hamburg  keine.  Dazu  kam,  daß  die  Stellung  des  Staates 
zu  den  Banken  ganz  verschieden  aufgefaßt  war.  Einige  waren 
von  ihm  ganz  losgelöst  oder  nur  seiner  höchst  zweifelhaften  Auf- 
sicht unterworfen,  andere  hatten  Verpflichtungen  übernommen  zu- 
gunsten des  Fiskus  oder  der  Volkswirtschaft,  die  preußische  Bank 
wurde  von  Staatsbeamten  verwaltet  und  stand  unter  Staatsaufsicht 
(vgl.  A.  Soetbeer,  Kommentar  zur  Bankverfassung). 

Dies  alles  bereitete  der  Reichsgesetzgebung  Schwierigkeiten 
genug,  zu  denen  das  schwankende  Urteil  der  Sachverständigen 
über  das  Verhalten  der  Notenbanken  bei  der  Überspekulation  und 
der  Krise  von  1873  hinzukam.  Die  föderative  Natur  des  Reiches 
verlangte  Rücksichtnahme,  die  Gesamtwirtschaft  Einheitlichkeit 
schon  im   Hinblick  auf  die   geschaffene   Goldwährung. 

Der  erste,  1874  vorgelegte,  Entwurf  fand  im  Reichstage 
keine  Billigung,  weil  die  politische  Dezentralisation  und  die  wirt- 
schaftliche Zentralisation  unbeachtet  geblieben  waren.  Aus  einem 
zweiten  ist  das  Bankgesetz  vom  14.  März  1875  hervorgegangen. 
Als  Verfasser  desselben  gilt  der  Regierungsvertreter  O.  Michaelis, 
in  der  Reichstagskommission  war  L.  Bamberger,  im  Bundesrat 
der  bayerische  Bevollmächtigte  von  Riedel  ausschlaggebend. 
Das  Werk  war  diesmal  gelungen.  Es  werden  die  32  Privatnoten- 
banken erhalten,  aus  der  preußischen  Bank  geht  die  Reichsbank 
hervor.  Sie  erstreckt  ihre  Wirksamkeit  über  das  ganze  Reichs- 
gebiet, während  die  anderen  auf  den  Partikularstaat  beschränkt 
bleiben,  der  ihnen  Konzession  verliehen  hat.  Im  Verlaufe  der 
Jahre  haben  die  meisten  von  ihnen  die  Notenausgabe  unter  der 
Konkurrenz  der  ihnen  gegenüber  gesetzlich  begünstigten  Reichs- 
bank eingestellt.  1890  waren  noch  13  im  Betrieb,  191 4  noch  4, 
die  bayerische,  württembergische,  sächsische  und  badische.  Sie 
dürfen  nur  bestimmte  Geschäfte  betreiben,  haben  hohe  Reserve- 
fonds anzusammeln,  für  die  Deckung  und  Einlösung  der  Noten 
Vorschriften  zu  erfüllen,  wenn  sie  das  Recht  gewinnen  wollen, 
daß  ihre  Noten  außerhalb  des  Ausgabestaates  bei  Zahlungen  ver- 
wendet   werden    dürfen.     Sie    stehen    unter    Aufsicht    des    Reiches. 

Zu  den  allgemeinen  Bestimmungen  der  Bankverfassung  ge- 
hört die  gesetzliche  Einlösung  in  Geld,  zu  dem  auch  bis  1907 
die  Taler  zu  rechnen  waren,  das  Verbot  gefahrbringender  Ge- 
schäfte, die  wöchentliche  Veröffentlichung  der  Aktiva  und  Passiva. 
Die  Ausgabe  der  Notenmenge  ist  unbeschränkt,  aber  es  besteht 
die  indirekte  Kontingentierung,  nach  der  eine  fünfprozentige  Steuer 
erhoben  wird  über  jeden  ihnen  zugewiesenen  Betrag  und  über 
ihren  Barvorrat  hinaus.  Zu  dem  Barvorrat  werden  auch  die  Reichs- 
kassenscheine   gerechnet,    was    aus    der    Bankverfassung    nicht    zu 


III.   Die  Reichsgesetze  über  das  Geld-  und  Bankwesen.  207 

begründen  ist,  wohl  hingegen  bei  einer  Geldnot  unter  starkem 
Bedarf  nach  Noten  Nutzen  bringen  konnte,  da  sich  dies  Papiergeld 
durch  Reichsgesetz  vermehren  ließ,  was  tatsächlich  auch  später 
eingetreten   ist. 

Mit  der  indirekten  Kontingentierung  sollte  die  mechanische 
direkte,  die  in  England  gilt,  und  bei  den  großen  Wirtschaftskrisen 
von  1847,  1857  und  1866  versagt  hatte,  durch  eine  elastische 
Maßregel  ersetzt  werden.  Man  wollte  damit  ein  zu  umfangreiches 
Kreditgeben  verhindern,  nicht  etwa  ein  leichtfertiges,  gegen  das 
andere  Bürgschaften  in  den  Wechselvorschriften  und  der  Lom- 
bardfähigkeit gegeben  waren.  Die  Einrichtung  ist  für  die  Privat- 
banken nicht  unzweckmäßig  gewesen,  bei  denen  der  Gewinnanreiz 
in  den  Spekulationsperioden  abgeschwächt  wurde,  für  die  Reichs- 
bank dürfte  sie  überflüssig  gewesen  sein,  da  sich  diese  stets  an 
erster  Stelle  von  volkswirtschaftlichen  Gesichtspunkten  hat  leiten 
lassen.  Die  Besteuerung  trägt  zugleich  einen  finanziellen 
Charakter,  der  darin  begründet  ist,  daß  der  Vorteil  der  zinsfreien 
Notenausgabe,  der  sich  aus  dem  Gesamtumlauf  ergibt,  auch  dem 
Ganzen  durch   das  Reichsbudget  dienstbar  gemacht  wird. 

Die  Reichsbank  ist  der  preußischen  insofern  nachgebildet, 
als  sie  eine  Aktiengesellschaft  unter  Leitung  und  Aufsicht  des 
Staates  ist,  und  als  ein  Zentralausschuß  der  Aktieneigner  gut- 
achtlich zu  hören  ist.  Sie  hat  ihren  Hauptsitz  in  Berlin  und  ver- 
breitet ihre  Filialen  über  das  ganze  Reich.  1906  bestanden  neben 
den  19  Hauptstellen  70  Bankstellen  und  358  Nebenstellen,  1911 
hatte  sie  im  ganzen  488  Niederlassungen.  Sie  genießt  besondere 
Vorteile  gegenüber  den  anderen  Notenbanken.  Ihre  Noten  dürfen 
im  ganzen  Reichsgebiet  zur  Zahlung  verwendet  werden.  Sie  darf 
nach  ihrem  Ermessen  überall  Filialen  errichten.  Durch  Verord- 
nung sind  die  Reichs-  und  Landeskassen  angewiesen  worden,  ihre 
Noten  anzunehmen.  Sie  ist  befreit  von  staatlichen  Einkommen- 
und  Gewerbesteuern.  Ihr  sind  Erleichterungen  im  Lombardverkehr 
zugestanden.  Ein  steuerfreies  Notenkontingent  wächst  ihr  zu,  wenn 
Privatbanken  auf  ihre  Ausgabe  von   Noten  Verzicht  leisten. 

Die  Geschäfte,  die  sie  betreiben  darf,  sind  im  Gesetz  ge- 
nannt. Wechseldiskont,  Lombardgeschäft,  Gold-  und  Silberhandel 
und  Giroverkehr  sind  die  wichtigsten.  Sie  hat  die  allgemeinen 
Aufgaben,  den  Geldumlauf  im  ganzen  Reich  zu  regeln,  die 
Zahlungsausgleichungen  zu  erleichtern  und  für  die  Nutzbar- 
machung verfügbaren  Kapitals  zu  sorgen.  Besondere  Verpflich- 
tungen sind  ihr  aufgelegt:  Barrengold  gegen  Noten  einzuwechseln, 
ihren  Diskont  regelmäßig  bekannt  zu  geben,  die  Noten  zu  1/3  in 
bar,    zu    2/3    in    diskontierten    Wechseln,    die    eine    Verfallzeit    von 


208  V-  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs  187 1  — 1890, 


höchstens  3  Monaten  haben  und  aus  denen  drei,  mindestens  aber 
zwei  als  zahlungsfähig  bekannte  Personen  haften,  zu  decken.  Sie 
hat  sich  der  Finanz  Verwaltung  des  Reiches  zur  Verfügung  zu 
stellen  und  kann  auch   Geschäfte  der  Bundesstaaten  übernehmen. 

Die  Bankverfassung  ist  im  Verlaufe  der  nächsten  Jahrzehnte 
durch  Novellen  nur  in  einzelnen  Punkten  abgeändert  worden.  Das 
Grundkapital  der  Reichsbank  wurde  1899  von  120  auf  180  Mil- 
lionen Mark,  das  steuerfreie  Notenkontingent  1905  von  ursprüng- 
lich 250000  auf  550,  für  das  Quartalsende  auf  750  Millionen  Mark 
erhöht.  Der  Gewinnbezug  der  Aktionäre  wurde  wegen  der  vollen 
Sicherheit  seines  Einganges  mehrfach  herabgesetzt.  Die  Noten- 
abschnitte der  Reichsbank,  die  anfangs  auf  100,  500,  1000  Mark 
gelautet  hatten,  wurden,  nachdem  sich  die  zu  500  nicht  bewährt 
hatten  und  beseitigt  worden  waren,  von  1906  an  auch  als  solche 
von  20  und  50  Mark  in  den  Verkehr  gebracht,  in  der  richtigen 
Voraussetzung,  daß  die  kleinen  Noten  in  ihm  fester  gehalten 
werden,  als  die  großen,  was  der  Stärke  des  Goldbestandes  zu- 
gute kommen  müsse.  Alle  Reichsbanknoten  erhielten  die  Eigen- 
schaft eines  gesetzlichen  Zahlungsmittels,  eine  bisher  ausge- 
schlossene Bestimmung,  die  in  England  und  Frankreich  bestand, 
und  im  Hinblick  auf  einen  zukünftigen  Krieg  angewöhnt  werden 
sollte,  in  dem  der  Zwangskurs  für  unvermeidlich  galt.  Den  Ver- 
such der  Privatnotenbanken,  durch  Unterbieten  des  Diskonts  einen 
Teil  des  Reichsbankgeschäftes  an  sich  zu  ziehen,  beseitigte  die  No- 
velle von  1899,  nach  der  jene  an  den  offiziellen  Satz  des  Zentral- 
instituts  gebunden    werden. 

Auffällig  ist,  daß  unter  der  Herrschaft  der  liberalen  Wirt- 
schaftsidee eine  zentralisierte  Bankverfassung  geschaffen  wurde, 
die  dem  Staat  so  viel  Einfluß  einräumte.  Waren  zwar  die  schlech- 
ten Erfahrungen,  die  mit  den  privaten  kleinen  Notenbanken,  und 
die  guten,  die  mit  der  preußischen  großen  gemacht  worden  waren, 
keineswegs  vergessen,  so  dürfte  doch  der  Hauptgrund  für  die 
Errichtung  einer  solchen  Reichsbank  die  Erhaltung  der  Gold- 
währung gewesen  sein.  Denn  nur  eine  starke  Zentralbank,  wie 
sie  in  England  und  Frankreich  bestand,  konnte  eine  durchgreifende 
Diskontopolitik  führen,  durch  die  der  Abstrom  des  Goldes  bei 
passiver  Zahlungsbilanz  verhindert  wird.  Sie  wurde  dem  Staat, 
dem  in  Deutschland  der  Manchestermann  zwar  kein  verstandes- 
mäßig begründetes,  aber  unbewußt  instruktives  Vertrauen  trotz- 
alledem  entgegenbrachte,  unterstellt,  um  ein  gefährliches  privates 
Monopol  auszuschließen,  und  dies  war  um  so  mehr  geboten,  als 
sie  in  kritischen  Zeiten  der  öffentlichen  Verwaltung  unschätzbare 


III.  Die  Reichsgesetze  über  das  Geld-  und  Bankwesen.  269 


Dienste  leisten  konnte,  wie  das  ebenfalls  bei  dem  ausländischen 
Vorbild    erprobt    worden    war. 

Daß  sich  die  deutsche  Bankverfassung  vom  ersten  Tage  an 
bewährt  hat,  wird  nicht  bezweifelt.  Die  Privatbanken  erfüllten 
mit  ihrer  Tätigkeit  nur  einen  beschränkten  Wirkungskreis,  wäh- 
rend die  Hauptbank  durch  immer  weitere  Ausdehnung  ihrer  Mittel 
und  Stellen  die  Bank  aller  Arten  von  Banken  und  ihren  gesamten 
Aufgaben  völlig  gerecht  wurde.  Erstens  wurde  der  Geldumlauf 
im  Reichsgebiet  von  ihr  sowohl  dadurch  geregelt,  daß  Noten  und 
Geld  in  den  Verkehr  überall  dorthin  gelangten,  wo  das  Bedürfnis 
dazu  vorhanden  war,  als  auch  durch  den  Ankauf  von  Barrengold. 
In  der  von  der  Reichsbank  1900  herausgegebenen  Denkschrift 
heißt  es:  „Sie  war  bei  ihrer  Begründung  gedacht  als  Vermittlerin 
des  Goldzuflusses  und  der  Goldprägungen  und  hat  diese  Ver- 
mittlung so  vollständig  übernommen,  daß  sie  alles  vom  Ausland 
und  für  den  deutschen  Geldumlauf  bestimmte  Gold  in  Barren 
und  fremden  Sorten  an  sich  zieht,  und  daß  sie  tatsächlich  der 
einzige  Private  ist,  der  von  dem  Rechte  der  freien  Goldaus- 
prägung Gebrauch  macht.  Auf  diesem  Felde  war  es  ihre  Auf- 
gabe, durch  ihre  Diskontopolitik  den  notwendigen  Zufluß  von 
Gold  zu  befördern.  Der  Gesamtbetrag  der  Goldeingänge  stellte 
sich  von  1876  bis  1900  auf  2629  Millionen  Mark,  davon  sind 
ihr  315,5  von  1876  bis  1879  zur  Durchführung  der  Münzreform 
überwiesen,  den  ganzen  Rest  hat  sie  von  Privaten  aufgekauft. 
Das  meiste  davon  ist  ausgeprägt  worden.  Der  eigene  Goldbestand 
hat  sich  von  341  Millionen  Mark  1876  auf  501  um  1900  vermehrt, 
die  Maximalziffer  war  800".  1906  stieg  er,  der  durch  Giro- 
einzahlungen wirksam  zudem  verstärkt  v^oirde,  auf  891  und  191 3 
auf  1350  durchschnittlich  im  Jahre.  Im  ganzen  wurde  von  1871 
bis  Ende  März  19 14  die  Summe  von  4515  I39  900  Mark  Doppel- 
kronen und  772276600  Mark  Kronen  ausgeprägt,  von  denen 
102387600  Mark  bzw.  65604200  wieder  eingezogen  worden  sind. 

Die  zweite  Hauptaufgabe  der  Reichsbank  ist,  die  Zahlungs- 
ausgleichungen zu  erleichtern.  Das  hat  sie  vor  allem  durch  ihren 
Giroverkehr  getan.  Während  sie  am  i.  Januar  1876  einen  ein- 
gezahlten Girobestand  von  16  Millionen  Mark  aufwies,  wurde  er 
1877  178,  1887  352,  i8q7  471,  1907  579,  1913  605.  Die  Zahl  der 
Girokonten  ist  vom  i.  Januar  1877  bis  Ende  1913  von  3245  auf 
26148  gestiegen,  deren  Tätigkeit  sich  ungezählte  Personen  be- 
dienen, die  geschäftlich  hinter  ihnen  stehen.  Der  ganze  Umsatz 
belief  sich  1876  auf  16,7  MilHarden,  191 3  auf  19,7  Milliarden 
Barzahlungen,  50,5  Verrechnungen  mit  Konteninhabern,  66,7  Über- 
tragungen am  Platze  und  52,4  von  anderen  Bankstellen,  alles  auf 


2  70  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs  187 1 — 1890. 

der  Einnahmeseite  zusammen  189,6,  denen  189,5  ^^^  ^^^  Aus- 
gabeseite entsprachen.  Zu  looooo  Mark  Umsatz  war  1876  ein 
Guthaben  von  430  Mark,  1908  von  140  erforderhch.  Die  Über- 
tragung ist  kostenfrei,  die  Girobestände  werden  nicht  verzinst. 
Der  Giroverkehr  auf  edelmetallischer  Grundlage  bestand  ehedem 
in  Hamburg  mittels  der  dort  üblichen  Mark-Bankorechnung,  d.  h. 
eines  Depots  in  Barrenfeinsilber.  1875  fragte  der  Senat  in  Berlin 
an,  ob  die  Reichsbank  diese  Einrichtung  auf  sich  unter  der  Gold- 
währung übertragen  wolle.  Dem  wurde  zugestimmt,  doch  derart, 
daß  eine  Ausdehnung  auf  das  Reich  beschlossen  wurde,  womit 
zwischenörtliche  Übertragungen  ebenso  wie  die  am  Platze  Erledi- 
gung  fanden. 

Die  dritte  Aufgabe  der  Reichsbank  ist,  für  die  Nutzbar- 
machung verfügbaren  Kapitals  zu  sorgen.  Es  geschieht  dies  durch 
die  erwähnten  Geschäfte  der  Diskontierung  und  der  vor  allem  auf 
Effekten  beruhenden  Lombardierung.  Das  Aktivum  an  Wechseln 
war  1913  1135,9  Millionen  Mark,  an  Lombardforderungen  85,4,  in 
denen  stets  erhebliche  Teile  des  Grundkapitals  angelegt  werden. 
Der  Notenumlauf  aller  deutschen  Banken  war  gleichzeitig  2107 
Millionen  Mark,  davon  der  der  Zentralbank  1958,  woraus  deren 
volle   Überlegenheit   hervorgeht. 

Indem  sie  den  Ansprüchen  des  Wirtschaftslebens  in  Hoch- 
konjunkturen und  Krisen  genügte,  genoß  sie  volles  Vertrauen 
in  der  ganzen  deutschen  industriellen  und  kaufmännischen  Ge- 
schäftswelt, ebenso  wie  im  Ausland.  Sie  war  durch  ausgezeichnete 
Präsidenten,  zuerst  von  Dechend,  dann  seit  1890  von  Koch, 
der  die  Goldwährung  gegen  alle  bimetallischen  Anstürme  erfolg- 
reich verteidigt  hat,  als  Urheber  des  deutschen  Scheckgesetzes 
gilt,  und  auch  als  Jurist  und  Nationalökonom  schriftstellerisch 
fruchtbar  war,  und  zuletzt  von  Havenstein,  der  sie  durch  die 
schwierigen  Kriegs-  und  Nachkriegsjahre  hindurchgeführt  hat,  ge- 
leitet. Obwohl  sie  eine  Aktiengesellschaft  ist,  ist  sie  ihrer  Ver- 
waltung wegen  vom  Publikum  doch  stets  als  Staatseinrichtung 
bewertet  worden.  Sie  hat  die  Überlieferung  des  zuverlässigen  und 
den  Zeitansprüchen  Rechnung  tragenden  preußischen  Beamten- 
tums in  sich  aufgenommen  und  Staat  und  Volkswirtschaft  in  dem 
Umkreis  ihrer  Tätigkeit  derart  zu  einem  Ganzen  verknüpft,  daß 
die  wirtschaftliche   Gesamtkraft  des   Volkes   gehoben  wurde. 

Indem  wir  diesen  ersten  Abschnitt  über  die  wirtschaftliche 
Reichsgesetzgebung  zum  Abschluß  bringen,  erwähnen  wir  noch 
das  Markenschutzgesetz  von  1874,  nach  dem  Gewerbe- 
betreibende, deren  Firma  in  das  Handelsregister  eingetragen  ist, 
Zeichen,  welche  zur  Unterscheidung  ihrer  Waren  von  denjenigen 


IV.  Hochkonjuktur,  GründungsschwLndel  und  Wirtschaftskrise   1871  — 1873.        271 

anderer  Gewerbebetreibenden  auf  den  Waren  oder  deren  Verpackung 
angebracht  sind,  bei  dem  Handelsregister  anzumelden  befugt  sind, 
und  demgemäß  geschützt  werden.  Es  hat  im  ganzen  seinen  Zweck 
erfüllt  und  wurde  1894  durch  dasjenige  „zum  Schutze  der  Waren- 
bezeichnungen" ergänzt.  1876  folgte  das  Gesetz  über  das  Ur- 
heberrecht und  1 877  das  Patentgesetz,  das  an  die  Stelle 
von  29  einzelstaatlichen  Gesetzen  trat  und  dadurch  schon  eine 
Wohltat  wurde.  Der  einzelstaatliche  Schutz  war  wegen  der  Viel- 
heit der  Anträge  für  den  Erfinder  mit  hohen  Kosten  verknüpft 
und  schützte  doch  nicht  zuverlässig.  Das  Ausland,  namentlich 
England,  war  mit  seiner  großstaatlichen  Organisation  so  über- 
legen, daß  nicht  wenige  deutsche  Erfinder  sich  dorthin  wandten, 
um  die  Früchte  ihres  Talents  zu  ernten.  Durch  solche  Vorgänge 
wurde  die  auswärtige  Konkurrenz  aus  dem  technischen  Können 
der  Deutschen   gespeist. 

Die  Fanatiker  der  Gewerbefreiheit  wollten  ursprünglich  nichts 
von  einer  Belebung  des  erfinderischen  Geistes  durch  staatlichen 
Eingriff  wissen.  In  den  Notjahren  der  großen  Geschäftsstockung 
nach  1873  lernte  man  anders  denken.  Die  wachsende  Regsamkeit 
der  Erfinder  in  der  hier  beschriebenen  Epoche  wird  dadurch 
zur  Anschauung  gebracht,  daß  1878  5949  Anmeldungen,  1890 
11882  stattfanden.  Die  Hochflut  verdoppelte  sich  zweimal  in  den 
nächsten  zwei  Jahrzehnten.  1900  bringt  21925,  1909  45000  An- 
meldungen. Die  Gesetzgebung  wurde  1887  und  1891  in  Einzel- 
heiten revidiert,  ohne  daß  die  Grundlagen  des  Verfahrens  we- 
sentlich  abgeändert   wurden. 

IV.  Hochkonjunktur,  Gründungsschwindel  und 
Wirtschaftskrise  1871  — 1873.  Wir  schicken  ein  Wort  Wil- 
helm Raabes  unserer  Darstellung  voraus:  „Die  Wunden  der 
Helden  waren  noch  nicht  verharscht,  die  Tränen  der  Kinder  und 
Mütter,  der  Gattinnen  und  Bräute  und  Schwestern  noch  nicht 
getrocknet,  die  Gräber  der  Gefallenen  noch  nicht  übergrünt:  aber 
in  Deutschland  ging's  schon  —  so  früh  nach  dem  furchtbaren  Kriege 
und  schweren  Siege  —  recht  wunderlich  her,  wie  während  oder 
nach  einer  großen  Feuersbrunst  in  der  Gosse  ein  Sirupfaß  platzt 
und  der  Pöbel  und  die  Buben  anfangen  zu  lecken,  so  war  im 
deutschen  Volke  der  Geldsack  aufgegangen,  und  die  Taler  rollten 
auch  in  den  Gossen  und  nur  zu  viele  Hände  griffen  auch  dort 
danach.  Es  hatte  fast  den  Anschein,  als  sollte  dieses  der  größte 
Gewinn  sein,  den  das  geeinigte  Vaterland  aus  seinem  großen 
Erfolge  in  der  Weltgeschichte  hervorholen  könnte." 

Am  Anfang  der  sechziger  Jahre  ist  der  volkswirtschaftliche 
Niedergang   nach    der   Krise   von    1857    überwunden.     Die    Unter- 


2  72  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871  — 1890 

nehmungen,  die  den  Sturm  ausgehalten  hatten,  setzten  auf  brei- 
terer, festerer  Grundlage  zu  frischen  Taten  ein.  Auch  neue  er- 
scheinen auf  dem  Plane,  wenn  auch  nicht  in  so  großer  Zahl  wie 
vor  10  Jahren.  Wir  haben  eine  Periode  des  stetigen,  produktiven 
Anschwellens,  die  von  Übertreibung  und  Ausartung  frei  bleibt, 
weil  die  Sorgen  der  auswärtigen  Politik  hemmend  eingreifen. 
Die  Schleswig-Holsteinische  Frage,  die  Kriege  von  1864  und  1866 
mahnen  die  Kapitalgeber  und  Börsen  zur  Vorsicht,  weiterhin  auch 
die  Luxemburger  Angelegenheit,  als  Vorbote  des  Krieges  mit 
Frankreich,  und  dieser  selbst  erst  recht.  Die  Geldkrise  in  London 
1866  und  die  Börsenpanik  am  „Schwarzen  Freitag"  in  New  York 
tun  Deutschland  nicht  viel  an,  weil  sich  seine  Kapitalisten  auf 
Effekten-  und  Wechselspekulationen  an  beiden  Plätzen  kaum  ein- 
gelassen hatten,  und  heimische  Spekulationen  nicht  zusammen- 
brechen konnten,   da  sie  nicht  da  waren. 

Ein  Symptom  des  volkswirtschaftlichen  Aufstieges  bringt  der 
Zinsfuß,  der  als  hypothekarischer  zunächst  auf  seiner  Höhe  be- 
harrt, bei  den  Effekten  sogar  anfangs  etwas  sinkt,  dann,  angeregt 
durch  steigende  Gewinne,  später  auch  durch  den  Geldbedarf  in 
Österreich  und  den  Vereinigten  Staaten,  den  Durchschnittssatz  von 
50/0  für  sichere  Anlagen  annimmt.  Die  Kriegsanleihen  von  1870 
treiben  ihn  noch  darüber  hinaus. 

Diese  zehnjährige,  im  ganzen  günstige  Konjunktur,  wenn  auch 
nur  mittlerer  Intensität,  war  die  Fortsetzung  der  großen  ge- 
schilderten Vorwärtsbewegung  seit  den  vierziger  Jahren.  Es  be- 
durfte nur  noch  eines  energischen  Antriebes  nach  oben,  um  die 
Höchstschwellung  einzuleiten. 

Kaum  ist  der  Feldzug  von  1870/71  zu  Ende,  bricht  sich  die 
lange  zurückgehaltene  Unternehmungslust  freie  Bahn.  Explosiv- 
stoffe zur  Überspekulation  liegen  in  Europa  und  Amerika  aufge- 
häuft, nur  nicht  in  dem  finanziell  blutleeren  Frankreich.  Die 
Eisenbahnen  sind  in  ihren  wichtigsten  Linien  innerhalb  der  Staaten 
zwar  vollendet,  aber  der  auf  ihnen  gewonnene  Verkehr  bringt 
starke  Wünsche  zum  Ausbau  der  Netze,  der  doppelten  Geleise, 
der  Bahnhöfe  und  Güterhallen.  Nach  Kolbs  Statistik  ist  die  Kilo- 
meterlänge auf  der  Erde  von  1860 — 1871  von  106886  auf 
'^33  988  gewachsen,  auf  eine  so  imposante  ungeahnte  Ziffer,  daß 
man  später,  wenn  auch  mit  Übertreibung,  die  internationale  Krise 
von  1873  die  der  Eisenbahnen  genannt  hat. 

Von  großen  neuen  Plänen  auf  dem  europäischen  Festlande 
ist  der  berühmteste  die  Gotthardlinie,  die  mit  Unterstützung 
des  Reichs,  der  Schweiz  und  Italiens  als  kunstvolle,  sichere  Tunnel- 
und  Viadukt-Gebirgsbahn   1882  nach  zehnjähriger  Bauzeit  eröffnet 


IV.  Hochkonjunktur,  Gründungsschwindel  und  Wirtschaftskrise   1871  — 1873.        273 

wurde.  Politisch  war  sie  wertvoll  für  Deutschland  und  Italien, 
die  jetzt  durch  die  neutrale  Schweiz,  unabhängig  von  Österreich 
und  Frankreich,  miteinander  in  rascher  postalischer  Verbindung 
bleiben  konnten.  Wirtschaftlich  erwartete  Italien  von  dem  neuen 
Weg  das  meiste  dadurch,  daß  Genua  als  Welthafen  seinen  alten 
Ruhm  wiedergewinnen  werde.  Obwohl  1877  der  Hafen  erweitert 
wurde,  blieb  das  erwünschte  Ziel  bei  dem  damals  langsamen  Vor- 
ankommen der  italienischen  Volkswirtschaft  in  der  Ferne.  Erst  um 
1900  fing  man  an,  die  Früchte  zu  ernten.  Für  den  deutschen 
Warenexport  und  die  Auswanderung  ist  der  Transport  über  die 
Gotthardbahn  nicht  billig.  Deutsche  Kohlen  können  in  Genua, 
selbst  in  Mailand  nicht  mit  den  englischen  konkurrieren.  Auf 
das  Geschäft  der  deutschen  Nordseehäfen  hat  der  südliche  Han- 
delsplatz   keinen    nachteiligen   Einfluß    ausgeübt. 

1869  wurde  der  Suezkanal  feierlich  dem  Verkehr  über- 
geben. Die  Fahrt  von  der  Nordsee  und  englischen  Westküste 
nach  Indien,  Ostasien,  Australien  wurde  um  20 — 40  Tage  ver- 
kürzt. Auch  er  mußte  dem  Genuaer  Hafen  nutzbar  werden.  Den 
größten  Vorteil  haben  die  Engländer  mit  ihrer  überlegenen  Marine 
gehabt,  die  den  Erbauer  Lesepps,  da  dieser  ihnen  zuvorgekommen 
war,  als  einen  luftigen  Projektenmacher  anfangs  verhöhnt  hatten. 
1876  war  Englands  Anteil  an  den  passierten  Schiffen  70 0/0. 
die  Mehrzahl  der  Aktien  kam  bald  in  seine  Hand  und  seiner  .Diplo- 
matie in  Kairo  und  Konstantinopel  gelang  es  weiterhin,  das  Unter- 
nehmen unter  seine  Kontrolle  zu  bringen.  Als  die  deutsche  Ree- 
derei regelmäßige  Fahrten  nach  Ostasien,  Australien  und  Ost- 
afrika aufnahm,  kam  der  Kanal  auch  ihr  zu  statten.  1905  durch- 
fuhren ihn  41 15  englische,  601  deutsche  und  91  italienische 
Schiffe,  und  1909  war  die  englische  Br.-Rg.-Tonnage  13242000, 
die  deutsche  3373600,  die  italienische  209358. 

Aus  der  im  Frankfurter  Frieden  abgetretenen  Ostbahn,  die 
mit  325  Millionen  Franken  auf  die  Kriegsentschädigung  ange- 
rechnet wTirde,  entstand  die  Reichseisenbahn,  die  auch  Luxem- 
burger Linien  in  ihre  Verwaltung  einbezog.  Der  Hauptbetrag 
der  französischen  Zahlung  erfolgte  in  4248  Millionen  Franken 
Wechseln,  der  Rest  wurde  in  französischem  Golde  und  Silber 
mit  273  bzw.  239,2  Millionen  Franken  geleistet  und  105  Millionen 
in  deutschem  Geld,  das  während  der  Okkupation  in  Frankreich 
von  deutschen  Truppen  ausgegeben  worden  war.  Die  Millionen- 
werte strömten  in  der  Weise  in  die  deutsche  Volkswirtschaft,  daß 
die  Anleihen  des  Norddeutschen  Bundes  und  der  süddeutschen 
Staaten  im  Betrage  von  805  Millionen  Mark  zurückgezahlt  wurden, 
und     daß     das    Reich    zur    Reorganisation    des    Landheeres,    zum 

A.Sartorius  v.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.         18 


274  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs  1871 — 1890. 

Festungsbau,  zu  Dotationen,  zum  Reichsinvalidenfonds  große 
Summen  verausgabte,  und  einen  Kriegsschatz  von  120  Millionen 
Mark  in  Spandau,  um  die  Mobilmachung  erleichtern  zu  können, 
hinterlegte.  Der  Wunsch,  das  neue  Reich  schuldenfrei  antreten 
zu  sehen,  hatte  die  Finanzverwaltung  bestimmt,  die  Verpflich- 
tungen sofort  im  Ganzen  zu  tilgen.  Auf  dem  Effektenmarkt  ent- 
stand augenblicklich  Hausse,  da  die  bisherigen  Besitzer  der  Kriegs- 
anleihen zu  Neuanlagen  schritten,  auch  die  Dotationen  verzinsbar 
gemacht  wurden  und  das  Reich  als  Käufer  auftrat,  um  disponible 
Gelder  und  den  Invalidenfonds  verzinsbar  anzulegen.  Alle  diese 
Käufer  erwarben  vornehmlich  sichere  Werte,  einzelstaatliche  und 
Eisenbahnobligationen,  Pfandbriefe  und  dergleichen.  Die  Ver- 
käufer mußten  sich  schon  an  andere  Effekten,  wie  Stammaktien, 
Prioritätsaktien  halten.  Auch  die  zweiten  Verkäufer  mußten  neu 
anlegen,  und  so  ging  es  weiter,  bis  schließlich  die  freien  Beträge 
auf  dem  Geldmarkte  zu  produktiven  Darlehen  und  Aktiengrün- 
dungen erschienen. 

Die  Schuldtilgung  wurde  zu  schnell  vorgenommen.  Wäre  sie 
über  einige  Jahre  verteilt  worden,  es  wäre  besser  gewesen.  So 
mußte  sich  die  Reichsregierung  sagen  lassen,  daß  sie  eine  starke 
Anreizung  zur  Börsenspekulation  gegeben  habe.  Andere  wichtige 
Antriebe  aus  der  deutschen  Volkswirtschaft  und  der  Weltwirtschaft 
heraus  haben  neben  der  Milliardeneinfuhr  die  Spekulation  an- 
geregt. Es  ist  daher  die  französische  Behauptung  nicht  richtig, 
die  Kriegsentschädigung  habe  ihre  Revanche  in  sich  getragen 
und  Deutschland  mehr  geschädigt  als  genützt.  Das  Reich  konnte 
sorgenfrei  seine  Etats  der  nächsten  Jahre  antreten,  die  Kriegs- 
schäden wurden  beseitigt,  während  Frankreich  einen  Aderlaß  von 
mehr  als  lo  Milliarden  Franken  allein  in  wirtschaftlich  unproduk- 
tiven Anleihen  erlitten  und  hohe  Zinsen  für  sie  zu  zahlen  hatte. 
Von  übertriebenen  Neugründungen  blieb  es  daher  für  Jahre  be- 
freit, dann  wurde  es  jedoch  auch  in  einen  Bankschwindel  ver- 
wickelt (Bontoux  Krach),  und  als  der  europäische  Geschäftsnieder- 
gang so  lange  anhielt,  wurde  seine  Exportfähigkeit  auch  betroffen, 
die  vor  allem  im  Süden  in  der  Seidenindustrie  stark  empfunden 
wurde. 

Die  Hochkonjunktur  konnte  in  Deutschland  nicht  ausbleiben, 
nachdem  so  lange  Ruhe  gewesen  war.  Sie  war  für  das  Fort- 
schreiten der  Volkswirtschaft  erwünscht,  nicht  erwünscht  war  der 
beispiellose  Gründungs-  und  Bankschwindel  und  die  moralische 
Geschäftsverwilderung  in  vielen  Kreisen,  die  den  Vorgang  be- 
.gleiteten. 


IV.  Hochkonjunktur,  Gründungsschwindel  und  Wirtschaftskrise  1871 — 1873.        21') 


Für  das  Übermaß  schamloser  Ereignisse,  das  jahrzehntelang 
im  Gedächtnisse  der  Nation  bitter  empfunden  wurde,  haben  be- 
sondere Veranlassungen  vorgelegen.  Bis  1870  bedurften  die  Aktien- 
gesellschaften in  den  deutschen  Einzelstaaten  der  Konzession. 
Diese  Vorsicht  war  den  Enthusiasten  der  Gewerbefreiheit  ein  Dorn 
im  Auge  und  wurde  durch  das  Bundesgesetz  vom  11.  Juni  .1870 
beseitigt  und  durch  allgemeine  Normen  ersetzt.  Das  Prinzip  war 
durchaus  diskutabel,  was  aber  nicht  zu  billigen  war,  war,  daß 
das  Gesetz  in  4  Tagen  durch  die  Reichstagsverhandlungen  durch- 
gepeitscht wurde,  infolgedessen  die  Sicherungen  für  Gläubiger 
und  Aktionäre  nicht  kritisiert  wurden  und  ungenügend  ausfielen. 
Die  Fehlerhaftigkeit  des  Gesetzes  wurde  in  dem  Verein  für  Sozial- 
politik nach  einem  Referat  von  Ad.  Wagner  schon  1873  richtig 
erkannt,  und  Vorschläge  zur  Reform  wurden  hier  ähnlichen  In- 
halts, wie  sie  schon  der  deutsche  Juristentag  formuliert  hatte,  be- 
raten. Die  Rechtsabänderung,  die  erst  1884  kam,  kehrte  zu  der 
Konzessionspflicht  nicht  zurück,  machte  aber  die  Gründer  in  eini- 
gen Richtungen  haftbar,  verlangte  ausreichende  Einzahlungen, 
während  man  sich  bisher  nicht  selten  mit  10  0/0  begnügt  hatte,  und 
grenzte  die  Tätigkeit  der  Organe  der  Gesellschaft  streng  von- 
einander ab.  Die  Aktionäre  sind  oft  genug  geschäftsunkundig, 
die  Gründer  sind  nur  zu  sehr  geschäftskundig,  so  daß  jenen  gegen 
diese  ein  besonderer  Rechtsschutz  zugebilligt  werden  muß.  Pro- 
spektzwang und  Haftung  nach  dem  Prospekt  der  Gründung  brachte 
erst  das  Börsengesetz  von  1896.  Vollkommene  Sicherheit  für  die 
Aktionäre  der  anonymen  Gesellschaft  zu  bringen  ist  keine  Gesetz- 
gebung imstande.  Die  Inhaber  der  Dividendenpapiere  müssen 
auf  ihrer  eigenen  Hut  sein  und  nie  vergessen,  daß,  wie  hinter  der 
Presse,  so  hinter  dem  Abstraktum  der  Gesellschaft  Menschen 
stehen,  über  die  sie  ihr  Urteil  haben  sollten. 

Die  Ausartung  zur  Gründungsmanie  ist  ohne  die  psycholo- 
gischen Eigenarten  der  damaligen  Geschäftswelt  nicht  zu  ver- 
stehen. Das  Manchestertum,  das  in  der  Bereicherung  des  Ein- 
zelnen ein  Stück  Gesamtwohl  behauptete,  erhob  die  Rücksichts- 
losigkeit zur  Maxime  und  bekannte  jede  wirtschaftliche  Handlung 
als  zulässig,  wenn  nur  der  Zusammenstoß  mit  dem  Staatsanwalt 
vermieden  wurde.  Gar  manchem,  „der  mit  dem  Ärmel  das  Zucht- 
haus gestreift  hatte",  wurde  durch  die  Finger  gesehen.  So  wurde 
die  Hintansetzung  der  Moral  in  Geschäftssachen  ein  soziales  Übel, 
Die  Gewissenlosigkeit  des  einen  steckte  den  anderen  an,  der  sich 
damit  entschuldigte,  daß,  wenn  er  nicht  mitmache,  er  unter  die 
Räder  kommen  müsse.  Die  biologische,  damals  in  weitere  Kreise 
eingedrungene    Daseinskampftheorie,    wurde    als    etwas    Absolutes 

18* 


27  0  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1  — 1890. 


für  die  Menschheit  hingestellt^  als  ob  die  Jahrtausende  alte  Rechts- 
idee gar  nicht  bestände. 

Die  Städte  waren  rasch  angewachsen.  Die  Zuwanderung 
brachte  ihnen  manches  zweifelhafte  Geschäftstalent,  vor  allem 
Berlin,  darunter  zahlreiche  kulturlose  Juden  aus  dem  Osten,  die 
ihre  Wucher-  und  Schieberkniffe  in  die  Wechselstuben,  Winkel- 
banken und  an  die  Börse  verpflanzten.  Das  städtische  Leben 
büßte  seine  erhaltenden  Sitten  und  Überlieferungen  ein,  die  Be- 
wohner kannten  sich  größtenteils  nicht  mehr  untereinander.  Jeder 
dachte  nur  an  sich,  was  kümmerte  ihn  der  andere,  zu  dem  er 
weder  verwandtschaftliche  noch  gesellige  Beziehungen  hatte. 

Dazu  kam  die  politische  Unreife  bei  der  Ordnung  der  staat- 
lichen und  städtischen  Angelegenheiten.  Der  aus  der  Konflikts- 
zeit verärgerte  Liberalismus  hatte  sich  zwar  mit  dem  Reichs- 
kanzler ausgesöhnt,  meinte  aber,  die  Regierungen  hätten  mit  der 
Reichsgründung  genug  getan  und  sollten  sich  in  die  Angelegen- 
heiten der  Bürger  nicht  weiter  einmischen.  Man  wollte  sich  selbst 
modernisieren,  Berlin  sollte  anderen  Weltstädten  es  an  Ausdehnung 
und  Einrichtungen  gleichtun.  War  es  da  nicht  erwünscht,  wenn 
Tausende  sich  der  Bodenspekulation  zuwandten,  die  die  Tempel- 
hofer  Bauern  erfolgreich  zu  verkaufen  animierten,  oder  wenn 
Aktiengesellschaften  Straßen,  Passagen,  Parks,  Galerien,  Bäder 
errichteten  ? 

Die  Tatsache,  daß  die  Hochkonjunktur  international  war, 
mußte  durch  die  Vermittlung  des  Außenhandels  und  den  Kauf 
und  Verkauf  ausländischer  Effekten  anregend  wirken.  Schon  am 
Ende  des  Krieges  von  1871  wurden  die  deutschen  Börsen  mit 
amerikanischen  Eisenbahnpapieren  überschwemmt,  von  denen  viele 
nach  wenigen  Jahren  notleidend  woirden.  Dann  kamen  die  öster- 
reichischen Bahnaktien,  mit  denen  es  nicht  besser  ging.  Die  über- 
tölpelten Besitzer  sollten  offenbar  den  Satz  verstehen  lernen,  daß 
das  Kapital  kein  Vaterland  habe,  und  daß  sich  darum  der  Staat 
um  dessen  Markt  nicht  kümmern  könne  und  nicht  dürfe.  Die 
Vorstellung  von  einer  goldenen,  pflichtlosen  Internationale  sickerte 
bis  in  den  örtlichen  Kleinhandel  oder  die  Sparkasse  durch. 

Nach  dem  Moniteur  des  Interets  industriels  wurde  1872  dem 
Nominalwert  nach,  ohne  das  oft  gezahlte  Aufgeld,  der  Betrag  von 
12,64  Milliarden  Franken  in  Effekten  an  europäische  und  ameri- 
kanische Börsen  gebracht,  davon  für  Kreditinstitute  1,95,  für  Eisen- 
bahnen und  Industrie  5,20.  Für  1871  war  die  Summe  auf  15,6 
berechnet  worden,  von  denen  indessen  11,7  auf  Staatsschulden  ent- 
fielen. Auf  Deutschland  allein  kamen  1872  1372  Millionen.  Man 
hat  berechnet,  daß  in  Preußen  von  1790  bis  Juni  1870  276  Aktien- 


IV.  Hochkonjunktur;  Gründungsschwindel  und  Wirtschaftskrise  187 1 — 1873.        277 


gesellschaften  errichtet  wurden,  in  den  folgenden  21  Monaten  726. 
Nach  Aufstellung  Berliner  Zeitungen  wurden  während  des  ersten 
Semesters  1873  196  Gesellschaften  mit  166  Millionen  Tlr.  No- 
minalkapital neu  geschaffen,  darunter  23  Banken  mit  31,3,  45 
Bergwerksgesellschaften  mit  77,2,  22  Baugesellschaften  mit  16,5 
und  12  Maschinen-  und  Waggonfabriken  mit  8,1.  Für  ganz 
Deutschland  gibt  der  Deutsche  Ökonomist  von  1 871  — 1873  928 
Gesellschaften  mit  2781  Millionen  Mark  Kapital  an.  Wer  über 
einzelne  Gründungen  Bescheid  wissen  will,  findet  viel  Material 
in  O.  Glagau's  Büchern  über  den  „Börsen-  und  Gründungs- 
schwindel in  Berlin  und  Deutschland".  Die  Beurteilung  der  Vor- 
gänge ist  bisweilen  einseitig,  die  Schlußfolgerung  oft  gewagt. 
Doch  hat  man  den  Eindruck,  daß  der  Verfasser  tief  hinter  die 
Kulissen  geblickt  hat,  und  seine  Schilderung  gibt  ein  anschau- 
liches  Bild  jener  Tage. 

Der  Bau  der  Privatbahnen  war  durch  die  ganzen  sechziger 
Jahre  stark  gewesen,  am  Ende  derselben  ging  er  noch  weiter  in 
die  Höhe.  Von  1865— 1869  wurden  durchschnittlich  115  Meilen 
dem  deutschen  Verkehr  neu  hinzugefügt,  von  1869— 1873  222. 
Die  meisten  Privatlinien  stammen  aus  der  sogenannten  Strousberg- 
Periode  von  1862 — 1870  und  spielten  an  der  Börse  eine  große 
Rolle.  Dr.  Strousberg,  den  man  als  Kulturheros,  Wohltäter 
der  Menschheit,  Eisenbahnkönig  und  Wunderdoktor  verherrlichte, 
der  sein  Gefolge  von  Herzögen  und  Grafen  in  Aufsichtsräten  unter- 
brachte, ist  als  Schwindler,  nachdem  es  ihm  schließlich  schlecht 
gegangen  war,  heftig  angegriffen  worden,  am  schärfsten  post 
festum  von  dem  Abgeordneten  Dr.  Lasker  1873.  ^^^^  brauchte 
einen  Sündenbock,  um  die  Gründermasse  rein  zu  waschen.  Wenn 
ein  extravaganter  Mensch  Pech  hat,  wird  er  am  heftigsten  ge- 
schmäht. Daher  verlangt  die  Billigkeit,  daß  man  auch  Strous- 
bergs  Autobiographie  heranzieht,  um  in  seine  Pläne  und  Taten 
eingeweiht  zu  werden.  Auf  jeden  Fall  wird  man  ihn  den  talent- 
vollen Schöpfer  zahlreicher  Bahnen  nennen  dürfen,  dessen  Ver- 
dienste für  dort  anzuerkennen  sind,  wo  der  Bau  rückständig  ge- 
blieben war.  Denn  der  preußische  Staat  ging  in  jenen  Jahren 
unglaublich  langsam  voran,  was  der  damalige  Handelsminister 
Graf  Itzenplitz,  ein  wirtschaftlich  Liberaler  der  konservativen 
Partei,  damit  entschuldigte,  daß  es  nur  darauf  ankomme,  daß 
Bahnen  gebaut  würden,  nicht  darauf,  wer  sie  baue.  Die  erste 
Strousberg-Bahn  war  die  1862  konzessionierte  Tilsit-Insterburger, 
in  der  Heimat  des  Unternehmers,  seit  1863  folgten  andere  im 
Osten  der  Monarchie  gelegene.  Auch  in  ihrem  Westen,  im  König- 
reich Sachsen,  in  Thüringen  entstanden  damals,  auch  durch  andere 


278  V.  Abschnitt.     Die  Volksgeschichte  des  Deutschen  Reichs   187 1  — 1890. 


Gründer,  neue  private  Linien.  Eine  größere  Anzahl  bewährte  sich 
alsbald,  wie  die  Berlin — Dresdner,  die  Harburg-Cuxhavener,  die 
Berlin — Warschauer,  die  Berliner  Nordbahn.  Eine  ökonomische 
Erfindung  Strousbergs  war,  das  Kapital  der  mittleren  und  kleinen 
Sparer  zur  Anlage  in  Bahnaktien  zu  bewegen,  was  durch  die  Ein- 
richtung der  mit  besonderer  Sicherheit  ausgestatteten  Prioritäts- 
aktien glückte,  die  teilweise  an  Stelle  der  in  Nordamerika  üblichen 
Obligationen  traten.  Eine  zweite  Neuerung  ging  darauf  hinaus, 
die  Lieferer  von  Bahnmaterial  zu  bestimmen,  Aktien  in  Zahlung 
zu  nehmen.  Es  wurde  die  „Generalentreprise"  eingeführt,  in  die 
die  Gründer  den  Bau  ausgeben.  Der  Entrepreneur  bekommt  neben 
bar  Aktien  in  die  Hand,  die  er  an  den  Material  liefernden  Fabri- 
kanten weitergibt.  Das  System  hatte  den  Vorzug  der  raschen 
Kapitalaufbringung,  aber  die  Gefahr  für  das  große  Publikum, 
daß  diese  Aktienbesitzer,  um  ihr  Kapital  rasch  frei  zu  bekommen, 
sich  aller  dazu  erdenklichen  Börsenmanöver  bedienten.  Wieviel 
Schuld  auf  Strousberg,  wieviel  auf  die  oft  selbständigen  Vermittler 
entfallen  ist,  kann  nicht  aufgehellt  werden.  Die  geschädigten  Leute 
halten  sich  gern  an  einen  geläufigen  Namen.  Als  sein  Träger 
später  in  Konkurs  kam,  ging  es  ihm  schlecht  genug,  und  das 
historische  Odium  blieb  daher  auf  ihm  haften. 

Das  wenig  saubere  Bahnaktiengeschäft  wurde  so  gemacht 
—  wurde  in  mancher  Hinsicht  ein  Vorbild  für  Gründungen  anderer 
Art  — :  Zuerst  wurde  die  Konzession  erworben,  die  mit  Gewinn 
verkauft  wurde.  Die  Erwerber  gründeten  die  Gesellschaft  und  sie, 
bzw.  die  genannten  „Entrepreneure",  brachten  mit  Aufgeld  die 
Aktien  an  die  Börse.  Dann  setzte  eine  mit  Aktien  bestochene 
Presse  ein  und  lobte  die  künftige  Rentabilität  über  die  Hutschnur. 
War  der  Kurs  hochgetrieben,  so  verkauften  die  Gründer  aus  und 
überließen  den  Dummen  die  Zukunft.  „Während  der  Gründer- 
epoche", bemerkte  v.  Treitschke,  „schien  es  wirklich,  als  ob 
die  Grenzen  der  menschlichen  Dummheit  ins  Unermeßliche  sich 
erweitert  hätten".  Es  herrschte  eine  Epidemie  entfesselter  Geld- 
gier. Ohne  Massensuggestion  sind  die  Jahre  1872 — 1873  nicht 
zu  verstehen.  Nicht  wenige  Bahnen  waren,  wie  gesagt,  an  sich 
gut,  die  meisten  wurden  im  Vergleich  zu  der  möglichen  Dividende 
im  Kurs  überwertet.  Oft  war  die  Herstellung  zu  teuer.  Man  mußte 
mit  hohen  Preisen  die  Materiallieferer  willfährig  machen,  Aktien 
zu  nehmen.  Die  Gründer  bewilligten  daher  die  übertriebenen  For- 
derungen anstandslos,  die  bei  der  steigenden  Konjunktur  überall 
die    allgemeine    Preissteigerung    zum    Vorwand    nahmen. 

Als  nun  später  die  verhießenen  Reinerträge  nicht  einkamen, 
und  die  Dinge  nicht  mehr  durch  Bauzinsen,  d.   h.   Kapitalzurück- 


IV.   Hochkonjunktur,  Gründungsschwindel  und  Wirtschaftskrise   1871  — 1873.        279 


zahlungeil  im  kleinen,  oder  kunstvolle  Bilanzen  zu  verschleiern 
waren,  blieb  der  Börsensturz  nicht  aus,  und  eine  Anzahl  Gesell- 
schaften stellte  die  Zahlung  ein  oder  kam  dem  nahe.  Doch  ging 
das  sachliche  Kapital  nicht  zugrunde.  Einige  Linien  kämpften 
sich  durch  die  schwere  Zeit  hindurch  unter  Aufrechterhaltung  des 
Betriebes,  andere  wurden  vom  Staat  gehalten  oder  von  ihm  er- 
worben, wieder  andere  wurden  von  alten  gesicherten  Gesellschaften 
übernommen    oder  als  Anschlußlinien  ausgebaut  oder  unterstützt. 

Das  Kapital  von  Aktiengesellschaften  und  der  Kommandit- 
gesellschaften auf  Aktien  war  1870  in  Preußen  nach  offizieller 
Aufnahme  1026 172  455  Tlr.  Vom  Juli  dieses  Jahres  bis  Ende 
1874  kamen  1429925925  Tlr.  hinzu,  obwohl  die  Zahl  der  Gesell- 
schaften sich  mehr  als  verdreifacht  hatte.  Daraus  ergab  sich, 
daß  der  Kapitaldurchschnitt  verringert  worden  war,  was  nicht 
gerade   für    die    Zuverlässigkeit   des    Geschäftes    spricht. 

Hinter  den  neuen  Gesellschaften  der  Industrie  waren  auch 
Umwandlungen  privatwirtschaftlicher  Unternehmungen.  Sie  können 
berechtigter  Natur  sein,  weil  sie  den  Fortbestand  des  Betriebes 
unabhängig  von  der  Person  des  Besitzers  machen,  der  nach 
einem  arbeitsreichen  Leben  der  Leitung  nicht  mehr  gewachsen 
ist,  oder  dessen  Söhne  zu  dem  Geschäft  keine  Neigung  oder 
Befähigung  haben.  Die  Aktien  werden  dann  Familienbesitz  und 
zersplittern  sich  in  der  nächsten  Generation.  Auch  hat  die  Ak- 
tiengesellschaft die  leichte  Form  der  Obligationenausgabe,  während 
der  Private  eine  größere  dauernde  Schuld  nur  als  Hypothek  auf- 
nehmen kann,  was  nicht  immer  glückt,  oder,  wenn  er  die  Summe 
von  einer  Bank  erhalten  hat,  von  ihr  in  Abhängigkeit  gerät. 
Allein  in  den  damaligen  Gründerjahren  wurde  die  Umwandlung 
nur  zu  oft  zum  Zwecke  des  Betruges  durchgeführt.  Ein  Geschäft 
wurde  weit  über  den  Ertragswert  den  Gründern  überlassen.  Die 
Käufer  bauten  auf  dem  fingierten  Wert  eine  Gesellschaft  auf, 
wobei  wieder  100 0/0  zugeschlagen  wurden.  Das  verwässerte  Ka- 
pital kam  dann  mit  Agio  an  die  Börse,  an  der  es  zum  Spiel- 
und  Differenzgeschäft  von  den  Kundigen  weiter  ausgenutzt  wurde. 
F.  Stöpel  schreibt:  „Ich  weiß  von  einem  Bergwerk,  das,  ob- 
wohl es  so  gut  wie  nichts  wert  war,  von  einem  Konsortium  für 
100  000  Tlr.  angekauft  wurde,  um  in  Gestalt  einer  Aktiengesell- 
schaft mit  einem  Kapital  von  i  200  000  Tlr.  an  die  Börse  gebracht 
zu    werden." 

Im  Anschluß  an  die  Bahnen  dehnte  sich  die  Industrie  aus, 
soweit  sie  für  sie  eine  Vorbedingung  war.  Zahlreiche  Kohlen- 
und  Eisenbergwerke  wurden  erschlossen,  Eisenhütten  und  Stahl- 
werke, Lokomotiven-,  Waggon-,  Eisenbahnbedarfsfabriken  errichtet 


28o  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871 — 1890. 

oder  erweitert.  Da  die  Privatbahnen  nicht  immer  rationell,  son- 
dern nach  Meinungen  angelegt  wurden,  so  übertrug  sich  das 
sprunghafte  Gründen  auch  auf  die  genannten  Industrien.  Im 
ganzen  entstanden  nach  Engel  von  Sommer  1870 — 1874  93 
Bergwerks-    und    Hütten-A.-G.    mit    395    Millionen    Mark    Kapital. 

Die  Gründungskrankheit  verschonte  andere  Erwerbszweige 
ebensowenig:  die  Papier-,  Glas-,  Pappe-,  Leder-,  Gummi-,  Gutta- 
percha-, Textil-,  die  chemische  Industrie.  Dazu  kamen  neue 
Wasser-,  Gas-,  Heizungs-Gesellschaften.  Die  allgemein  steigende 
Lebenshaltung  führte  zu  einer  starken  Vermehrung  der  Lebens- 
und Genußmittelindustrie,  der  Bierbrauereien,  Salz-  und  Zucker- 
raffinerien, Tabak-  und  Zigarrenfabriken,  Zichorien-,  Schokolade- 
werken, Hotels.  Beinahe  jeder  Monat  im  Jahre  1872  hatte  seine 
Spezialität  im  Gründen:  Farben-,  Maschinen-,  Wagenbau-,  Schiffs- 
utensilienfabriken, Holzkontors.  Die  Suche  nach  Gründungs- 
objekten vollzog  sich  in  atemloser  Hast,  durch  Zeitungsinserate, 
durch  Herumsprechen  an  der  Börse,  durch  Aufkauf  irgendwelcher 
natürlicher  Lager   von   Stein,   Ton,   Zink  und   Braunkohle. 

Banken  wurden  zu  allen  möglichen  Zwecken  ins  Leben  ge- 
rufen. Manche  von  ihnen  entsprachen  dem  volkswirtschaftlichen 
Bedürfnis  und  waren  genügend  mit  Mitteln  und  tüchtigen  Per- 
sonen ausgestattet.  Es  sei  nur  die  Deutsche  Bank  von  1870, 
deren  stolzer  Name  an  das  erstarkte  Nationalgefühl  erinnert,  oder 
die  aus  der  Firma  Michael  Kaskel  hervorgegangene  Dres- 
dener Bank,  eine  große  Kredit-  und  Effektenbank,  die  zunächst 
mit  einem  Kapital  von  9  600  000  Mark  ausg'estattet  war,  genannt. 
Beide  waren  der  allgemeinen  Krise  von  1873  gewachsen  und 
konnten   bald    ihren   Wirkungskreis    erweitern. 

In  der  Hauptsache  erzeugte  die  Berliner  Bankomanie,  die  sich 
bis  auf  die  unbedeutendsten  Städtchen  fortpflanzte,  allerhand  Ein- 
richtungen, die  an  sich  ganz  harmlos  aussahen,  aber,  sobald  sie 
sich  ihrem  statutengemäßen  Zweck  entfremdeten,  eine  gemein- 
gefährliche Natur  annahmen.  Jeder  größere  Platz  mußte  min- 
destens eine  Makler-,  Wechsler-  oder  Diskontobank  und  einen 
Bankverein  haben.  Die  Maklerbanken,  allein  in  Breslau  waren 
vier,  gingen  von  dem  Gedanken  aus,  durch  Haftung  ihres  Kapi- 
tals die  großen  Kommissionshäuser  gegen  die  Insolvenz  der  vielen 
kleinen  Makler  sicher  zu  stellen,  deren  sich  diese  an  der  Börse 
bedienten.  Sie  blieben  bei  dieser  Aufgabe  nicht,  beteiligten  sich 
an  allen  denkbaren  Spekulationen,  wie  sie  gerade  an  der  Tages- 
ordnung waren.  Die  größte  Zahl  ging  zugrunde,  da  sie  nach 
Beendigung  der  Hausseperiode  nichts  mehr  zu  tun  hatte.  Nicht 
anders  ging  es  den  Gesellschaften,  die  sich  Raten-,  Renten-,  Län- 


IV.  Hochkonjunktur,  Gründungsschwindel  und  "Wirtschaftskrise  1871  — 1873. 


2«I 


der-,  Kassen-,  Agentur-,  Gewerbe-,  Report-Kapitalistenbanken 
nannten,  deren  eigentlicher  Zweck  war,  Gründungsmöglich- 
keiten nachzuspüren.  Eine  vielgenannte  Spezialität  waren  die 
Baubanken  mit  der  „philanthropischen"  Aufgabe,  die  Woh- 
nungsnot in  den  rasch  wachsenden  Städten  zu  beseitigen.  Schon 
ihre  Zahl  war  übertrieben.  Der  Berliner  Kurszettel  weist  mehr 
als  40  nach.  In  heftiger  Konkurrenz  untereinander  trieben  sie 
die  Bodenwerte  in  die  Höhe.  Ihre  Teilhaber  waren  oft  die- 
jenigen, die  ihre  Grundstücke  zu  hohem  Preise  loswerden  wollten. 
Denn  es  kam  darauf  an,  den  Boden  zu  zerstückeln,  damit  hö- 
heren Wert  zu  fingieren  und  das  Nominalkapital  durch  Aufschlag 
zu  vergrößern.  Ließ  sich  das  gekaufte  Land  nicht  bald  ab- 
stoßen, so  wurde  eine  neue  Gesellschaft  errichtet,  die  den  Rest 
zu  übernehmen  hatte  und  mit  neuer  Reklame  vor  das  Publi- 
kum trat.  Die  Wohnungsmieten  wurden  durch  diese  Schieberei 
nicht  niedriger,  sondern  in  die  Höhe  geschraubt.  Es  wurde  zwar 
lebhaft  gebaut,  aber  die  protzigen,  unschönen  Kasten  dienten 
nicht  dem  Bedarf  der  ärmeren  Volksklasse.  Der  Handel  mit 
Baumaterial  eröffnete  einen  neuen  Schwindel,  die  Häuser  kamen 
sehr  teuer  zu  stehen,  bald  nach  der  Krise  wurden  viele  un- 
Vermietbar. 

Lebens-,  Genuß-,  Luxusmittel  stiegen  rasch  im  Preise,  Löhne, 
Gewinne,  Zinsen,  städtische  Grundrenten  folgten  nach,  ohne  sich 
in  ihren  Anteilen  zueinander  wesentlich  zu  verändern.  Den  städti- 
schen Finanzen  wurde  die   Preissteigerung  bald  fühlbar: 


Ausgaben 

in  M.  auf  den  Kopf 

Städte 

der  Bevölkerung 

1849 

1869 

1876 

Berlin   .      .      . 

8,16 

I3>98 

20,67 

Cöln 

5>" 

11,96 

20,68 

Breslau       .      . 

5>97 

11,30 

15,19 

Dortmund 

1,82 

7.18 

11,96 

Elberfeld    .     . 

7.79 

10,19 

15,41 

Die  Schuldenlast  Berlins  betrug  1866  4  Millionen  Tlr.,  1876 
27  und  war  hauptsächlich  ein  Ergebnis  der  Neubauten  und  An- 
lagen, bei  denen  es  nicht  immer  geschäftlich  einwandslos  her- 
gegangen war.  Unter  den  Stadtverordneten  und  Magistrats- 
personen zählte  man  zahlreiche  Gründer,  die  sich  zu  Cliquen  zu- 
sammenballten und  ihre  Gewinnziele  bei  ihrer  amtlichen  Tätig- 
keit  nicht   hintan   stellten. 

Die  Korruption  war  in  der  Reichshauptstadt  ungeheuer  ge- 
worden.   Allgemeine  Genußsucht  und  protzenhaftes  Auftreten  der 


282  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1 — 1890. 

neuen  Männer  war  noch  die  harmlose  Seite  des  Tanzes  um  das 
goldene  Kalb.  Viel  ärger  untergrub  die  Moral  der  tägliche  Be- 
trug, die  Erpressung,  die  Unterschlagung,  das  Schwinden  des  ge- 
schäftlichen Verantwortlichkeitsgefühls.  Zeitungen,  Witzblätter, 
Theater  verspotteten  und  kritisierten,  man  hütete  sich  aber  Namen 
zu  nennen  und  wußte  etwaigen  Enthüllungen  rasch  ein  Mäntelchen 
umzuhängen.  Wenige  rühmliche  Ausnahmen,  wie  die  „Garten- 
laube", sind  wertvolle  Quellen  für  die  Kenntnis  jener  sozialpatho- 
logischen Zeit. 

Der  Zentralpunkt  für  Humbug  und  Gewissenlosigkeit  waren 
die  Börsen.  An  den  Produktenbörsen  wurden  einzelne  Artikel 
zeitweise  monopolisiert  und  jäh  im  Preise  in  die  Höhe  getrieben, 
um  nach  dem  Verkauf  plötzlich  geworfen  zu  werden.  Die  Schwan- 
kungen machten  den  reellen  Kaufleuten  ihre  Berechnungen  fast 
unmöglich.  Der  Handel  mit  Rohstoffen  wurde  zum  Spiel,  zu  dem 
sich  auch  Nichtberufsmäßige  herandrängten,  um  dann  den  Ein- 
geweihten ins  Netz  zu  schwimmen.  Die  neuen  Aktiengesellschaften, 
z.  B.  chemischer  Produkte,  erzeugten  Waren  ins  Blaue  hinein  und 
übertrugen,  um  hohe  Dividenden  ausschütten  zu  können,  die 
Jobberei  in  den  Warenhandel.  Die  Effektenbörsen  vergrößerten 
ihren  Kurszettel  alle  paar  Tage.  In  Berlin  bringt  er  1871  allein 
104  neue  Aktien  mit  einem  Kapital  von  241  Millionen  Mark.  Vor 
der  Krise  von  1873  wurden  hier  iioo  Effektenarten  gehandelt, 
bei  deren  Umsatz  iio  vereidigte  Makler  tätig  waren.  Die  herr- 
lichsten Prospekte  wurden  in  der  Presse  verbreitet.  Wer  kein 
Geld  hatte  zu  kaufen,  fand  es  bei  den  Banken,  die,  unter  Sicher- 
heiten für  sich  selbst,  die  Unerfahrenen  mitzumachen  anspornten. 
Beim  ersten  Kursrückgang  gingen  die  angezahlten  Margen  ver- 
loren. 

Damals  wollten  der  hohe  Adel  und  die  Geheimräte  ebenso 
mühelos  verdienen  wie  die  Kutscher  und  die  Dienstmänner,  die 
Bankherren  wie  die  Briefkopisten,  die  Männer  wie  die  Frauen. 
Man  jobberte  an  der  Börse  wie  zu  Hause,  im  Hotel  wie  in  der 
Kneipe,  in  politischen  Versammlungen  wie  im  Gesangverein.  In 
den  Großstädten  gab  man  den  Ton  an,  die  Provinz  ahmte  nach. 
Wie  immer  wurde  dies  Glückspiel  vornehmlich  auf  selten  der 
Dummen  geübt,  „die  nie  alle  werden".  Die  Gegenpartei  kannte 
nur  zu  oft  die  Karten,  machte  „den  großen  Schlag"  rechtzeitig, 
wenn  sie  nicht  auch  in  den  Taumel  hineingezogen  wurde,  dem 
nur  die  ganz  hellen  Köpfe  sich  ganz  zu  entziehen  verstanden. 
Den  Umsatz  in  Berlin  hat  man  für  1872  täglich  auf  30  bis  60 
Millionen  Mark  veranschlagt,  es  gab  große  Tage,  an  denen  man 
ihn   auf   200   schätzte.    Bei   vielen   Käufen   waren   Effektenmassen 


IV.  Hochkonjunktiir,  Gründungsschwindel  und  Wirtschaftskrise  187 1  — 1873.        283 


vorhanden,  die  schon  vor  der  Krise  nicht  an  den  Mann  zu  bringen 
waren.  Das  diente  aber  nicht  zur  Warnung,  vielmehr  bildete  man 
Ramschgeschäfte,  die  der  Kundschaft  in  Bausch  und  Bogen  ganze 
Pakete  aufhalsten,  einschließlich  der  schönen  Dividendenscheine, 
die  niemals  einen  Pfennig  brachten.  Wie  lächerlich  erscheint 
dieser  Spielwut  gegenüber  die  1871  beschlossene  Maßnahme  der 
Gesetzgebung,  das  Lotteriespiel  in  Prämienanleihen  zu  verbieten, 
bei  denen  übrigens  der  Börse  noch  ein  Hinterpförtchen  offen- 
gelassen  war. 

Die  Gründungskrankheit  hatte  in  Berlin  ihren  Ausgang  ge- 
nommen. Bald  wurden  der  Osten  und  Westen  des  Landes  erfaßt, 
die  alten  Provinzen  wetteiferten  mit  den  neu  erworbenen.  West- 
falen und  Rheinland  brachten  es  zu  den  höchsten  Summen  in  der 
Montanindustrie.  In  Braunschweig  rühmte  man  sich,  wenn  auch 
mit  Unrecht,  das  Geschäft  am  besten  verstanden  zu  haben.  In 
Sachsen  waren  Leipzig  und  Chemnitz  führend,  für  Süddeutschland 
Frankfurt  a.  M.  Frankfurt  war  nach  1866  nicht  mehr  der  erste 
Börsenplatz,  sondern  hatte  ihn  Berlin  überlassen  müssen.  Aber 
es  fehlte  darum  nicht  am  Gründungsdrang.  1866  zählte  man  148, 
1873  569  Notierungen  im  Börsenkurszettel.  Doch  waren  die 
schlimmsten  Papiere  nicht  dabei.  Bankaktien  zweifelhafter  Art 
gab  es  zwar  auch.  Die  Industriepapiere  hatten  wenig  Eingang 
gefunden.  Das  wurde  erst  von  1888 — 1890  nachgeholt.  Die  Fir- 
men der  Frankfurter  Judenschaft  waren  vorsichtiger,  weil  älter 
angesessen,  konservativer,  nicht  von  so  vielen  neuen  nichts  zu 
verlieren  habenden  Elementen  aus  dem  Osten  durchsetzt,  von  dem 
die   Stadt  ferner  ablag. 

Vorgreifend  sei  hier  bemerkt,  daß  sich  in  dem  nächsten 
Jahrzehnt  auch  der  Hauptmarkt  der  Staatsschuldverschreibungen 
von  Frankfurt  entfernte,  als  mit  der  Reichswährung  der  Gulden- 
v/echsel  und  die  Guldeneffekten  verschwanden,  und  Berlin  mit 
der  Verstaatlichung  der  Eisenbahnen  den  Handel  mit  preußischen 
Konsols  bei  sich  konzentrierte.  Auch  die  ungünstigen  Erfahrun- 
gen, die  mit  portugiesischen,  ägyptischen,  argentinischen,  griechi- 
schen und  mexikanischen  Werten  von  dem  Publikum  gemacht 
wurden,  waren  Frankfurt  abträglich. 

Stuttgart  und  München  zeigen  in  der  Gründerzeit  ungewöhn- 
liche Ausschreitungen.  Im  ganzen  blieb  jedoch  der  Süden  des 
Reichs  mehr  verschont  als  der  Norden. 

Die  Hochkonjunktur  des  Produzierens  hatte  Deutschland  viel 
umfassender  ergriffen  als  vor  1857.  Die  Preise  aller  Großhandels- 
waren stiegen  überall,  woran  auch  das  Ausland  beteiligt  war. 
Die  erhöhten  Gewinne,  Zinsen,  Grundrenten  und  Löhne  beglichen 


284  ^-  -A-bschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs  187 1  — 1890. 


die  Aufschläge  im  Kleinhandel.  Die  durchschnittliche  Lohnerhö- 
hung hat  man  auf  25 — 300/0  veranschlagt.  Die  Bauhandwerker 
in  den  großen  Städten  hatten  ihren  Lohn  auf  das  Doppelte  bis 
zum  Dreifachen  gebracht.  Von  ihnen  erzählte  man  in  Berlin,  daß 
sie  in  der  Droschke  zur  Baustelle  führen  und  abends  Champagner 
tränken. 

Der  Diskont  stieg  in  dem  Maße,  als  der  Kredit  in  An- 
spruch genommen  wurde.  Die  preußische  Bank  ging  1872  auf 
50/0,  1873  auf  60/0  hinauf.  Der  Privatdiskont  war  i — 2%  höher. 
Diese  Sturmeszeichen  wurden  wenig  beachtet.  Stutziger  wurde 
man  über  den  Umschlag  in  Österreich.  Hier  hatte  der  große 
Aufschwung  schon  1869  begonnen,  und  die  Gründungsmache  war 
für  Berlin  vorbildlich  geworden.  1872  besaß  man  dort  bereits  so 
viele  Banken,  daß  die  Gründer  in  Verlegenheit  waren,  neue  Be- 
nennungen zu  ersinnen.  Die  Vorgänge  vollzogen  sich  in  beiden 
Zentren  gleichmäßig.  Im  ersten  Stadium  werden  nur  nützliche 
Unternehmungen  ins  Leben  gerufen,  bemerkt  Ad.  Wagner  schon 
von  1857,  im  zweiten  auch  noch  nützliche,  aber  mit  Überschätzung 
der  Kräfte,  das  dritte  Stadium  gehört  dem  Schwindel.  Die  Kurse 
der  am  meisten  getriebenen  Effekten  begannen  in  Wien  im  April 
1873  zu  sinken.  Am  9.  Mai  kam  es  hier  zu  dem  „großen  Krach"^ 
dessen  vorausgehende  und  nachfolgende  Ereignisse  von  J.  N  e  u  - 
w  i  r  t  h  eingehend  geschildert  worden  sind.  In  wenigen  Tagen 
waren  300  Insolventen  angemeldet.  Der  Börsenbetrieb  mußte  zeit- 
weise eingestellt  werden.  Selbstmorde  der  unglücklichen  Speku- 
lanten wurden  epidemisch.  Die  Forderung  des  Tages  geht  auf 
Suspendierung  der  Bankakte  und  auf  ein  Moratorium.  Der  Kredit 
hört  auf,  man  kann  nur  mit  Bargeld  bezahlen. 

Berlin  hält  sich  noch  einige  Monate.  Dem  Publikum  wird 
der  Optimismus  suggeriert,  daß  nichts  zu  fürchten  sei.  Die  Ein- 
geweihten machen  inzwischen  vorsichtig  kehrt  und  tauschen  Aktien 
gegen  gute  Obligationen.  Im  August  und  September  wird  noch 
ein  krampfhafter  Versuch  gemacht,  eine  Hausse  zu  inszenieren. 
Im  Oktober  falliert  die  vielgenannte  Quistorpsche  Vereinsbank. 
Ungünstige  Nachrichten  aus  England  und  Amerika  beschleunigen 
den  Zusammenbruch.  Ultimo  Dezember  1872  und  1873  zeigen 
folgende  Kursverschiedenheiten:  Diskonto  Commandit  335  und 
1791/2,  Darmstädter  Bank  216  und  1603/4,  Berliner  Handelsgesell- 
schaft 160  und  119^/g,  Köln-Mindner  Eisenbahn-A.-G.  173  und  1461/2, 
Rheinische  Bahn  170  und  145 1/4,  Berlin-Anhalter  2273/4  und  170I/2, 
Dortmunder  Union  171  und  83 1/2,  Laurahütte  231 1/4  und  1661/4, 
Zentralbank  für  Bauten  239I/2  und  56.  Viele  schlechte  Effekten 
waren  nicht  zu  einigen  Prozenten  des  Nominalkapitals  umzusetzen. 


IV.  Hochkonjunktur,  Gründungsschwindel  und  Wirtschaftskrise  1871 — 1873.        28^ 


Der  Umschlag  hatte  an  der  Börse  begonnen,  und  daher  gab 
es  Leute,  die  so  oberflächlich  waren,  nur  von  einer  Börsenkrise  zu 
reden.  Man  spielte  in  Effekten  weiter,  wenn  jetzt  auch  nur  mit 
bescheidenen  Mitteln,  um  die  Verluste  wieder  einzubringen.  Gele- 
gentlich wurden  kleine  Haussen  aufgeführt,  wie  im  Frühjahr  1875. 
Alles  vergebens.  Die  Kurse  sanken  weiter,  weiter  bis  zum 
Sommer   1879. 

Die  eigentlichen  Produktionskrisen  folgen  denen  an  der  Börse 
nach.  Schon  1874  zeigen  die  Eisenbahnen  große  Ausfälle  von 
Einnahmen,  und  am  Ende  des  Jahres  wird  von  einer  ausge- 
sprochenen Eisenbahnkrisis  gesprochen.  Im  folgenden  Jahre  hat 
das  Montangewerbe  seinen  Zusammenbruch,  Überproduktion,  sin- 
kende Produktenpreise,  Lohnsenkung,  Arbeitslosigkeit  sind  Sym- 
ptome. Gewerbe,  die  mit  jenem  zusammenhängen,  schließen  sich 
an.  Alle  anderen  machen  ihre  Spezial-  und  Lokalkrisen  durch. 
Psychologisch  lassen  sich  bei  den  Produktionsunternehmern  zwei 
Stadien  während  der  allgemeinen  Stockung  unterscheiden.  Bis 
1877  hinein  sind  sie  Optimisten,  hoffen  auf  eine  baldige  Besserung, 
halten  möglichst  ihre  Arbeiter,  bauen  ihre  Fabriken  aus  und  pro- 
duzieren weiter.  Daher  immer  von  neuem  Überproduktion  und 
Preissenkung.  Im  zweiten  Stadium  von  1877  bis  1879  werden  sie, 
auch  in  den  stärkeren  und  soliden  Werken,  Pessimisten,  schränken 
überall  ein,  und  vermehren  den  Absatzmangel.  Richtiger  wäre 
das  gegenteilige  Verfahren  gewesen,  zuerst  die  Einschränkung  und 
dann  der  Versuch  der  Belebung,  das  freilich  eine  durchgreifende 
Änderung  der  Geschäftslage  auch  schwerlich  gebracht  hätte.  Denn 
der  Niedergang  war  international.  Fallissements  in  England 
und  Amerika  zogen  dauernd  ihre  weltwirtschaftlichen  Wellen- 
bewegungen, noch  1879  verursachte  der  Bankerott  der  City  of 
Glascow  Bank  ein  neues  Sinken  der  Eisenpreise.  Eine  Verschär- 
fung der  ungünstigen  Geschäftslage  brachte  der  Rückgang  des 
Silberkurses,  unter  dem  alle  Gläubiger  litten,  die  Silberkupons 
einzulösen  oder  Silbergeld  aus  fälligen  Forderungen  einzuziehen 
hatten.  Die  Silberpanik  1876  in  London  setzte  den  Kurs  auf 
47  pence  herab,  was  damals  für  einen  unerhört  niedrigen  Stand 
galt.  Einen  weiteren  Schlag  erlitten  die  europäischen  Geldgeber 
durch  den  Bankerott  Ägyptens  und  der  Türkei  im  gleichen  Jahre, 
in  welchem  es  auch  zu  dem  russisch-türkischen  Krieg  kam,  der 
das  ganze  osteuropäische  Geschäft  lahmlegte  und  den  russischen 
Wertpapieren  einen  Verlust  bis  200/0  bescherte.  Zu  allen  diesen 
unglücklichen  Ereignissen  trat  noch  die  beginnende  Verschlechte- 
rung der  Lage  der  Landwirtschaft  durch  die  amerikanische  Ge- 
treide-  und    Fleischkonkurrenz    hinzu   und    gleichzeitig    1877    auch 


286  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs  187 1  — 1890. 

eine  partielle  Krise  der  Hypothekenbanken,  von  denen  einige  den 
Versuchungen  der  Gründerzeit  nicht  hatten  widerstehen  können, 
sei  es,  daß  ihre  Direktoren  mit  den  flüssigen  Geldern  spekuliert, 
oder  mehr  Pfandbriefe  ausgegeben  hatten,  als  Hypothekenscheine 
vorhanden  waren.  Namentlich  in  den  Städten  waren  die  Grund- 
stücke überhoch  beliehen  worden,  die  sich  mit  der  Baukrise  viel- 
fach so  entwerteten,  daß  auch  erste  Hypothekengläubiger  Ausfälle 
hatten. 

Die  Verluste  an  Wertpapieren,  Forderungen  und  Grundbesitz 
waren  in  den  6  Jahren  des  Niederganges  ungeheuer.  Das  Aktien- 
kapital der  444  von  Engel  untersuchten  Gesellschaften  mit  einem 
Nominalwert  von  1209  Millionen  Tlr.  hatte  Ende  1872  einen  Kurs- 
wert von  1509,5,  Ende  1874  804,6  ausgemacht,  und  seitdem  waren 
die  meisten  noch  mehr  als  50  0/0  gesunken. 

Die  Einbußen  an  Werten,  so  fühlbar  sie  waren,  waren  für 
die  Volkswirtschaft  noch  nicht  das  ärgste,  was  die  Krise  ihr 
auferlegte.  Schlimmeres  war  dies:  Die  eingerissene  Geschäfts- 
korruption, die  Treu  und  Glauben  untergrub,  machte  sich  in  der 
ganzen  Verkehrswirtschaft  fühlbar;  die  solide  Arbeitslust  war  durch 
die  hohen  und  schwankenden  Löhne  bei  den  Arbeitern,  durch  den 
leichten  Konjunkturgewinn  und  das  Börsenspiel  bei  den  Unter- 
nehmern herabgesetzt  worden.  Nachlässige  und  schwindelhafte 
Arbeit  ist  die  Signatur,  welche  die  deutsche  Industrie  auf  der 
Weltausstellung  von  Philadelphia  1876  sich  erwarb.  „Billig  und 
schlecht"  nannte  der  Generalbevollmächtigte  des  Deutschen  Reiches 
Releaux  in  einem  Brief  an  die  Nationalzeitung  das,  was  Deutsch- 
land  nach   Amerika   hinübergesandt   hatte. 

Man  hat  zur  Entschuldigung  der  Industriellen  den  Über- 
druß an  zu  häufigen  Weltausstellungen  angeführt,  und  daß  die 
Eisen-  und  Textilgewerbe  eigentlich  gar  nicht  vertreten  gewesen 
seien.  Andere  schoben  die  Schuld  der  damaligen  schlechten  deut- 
schen Arbeit  auf  die  zu  plötzliche  Gewerbefreiheit,  auf  die  Auf- 
hetzereien der  Sozialisten,  auf  das  langfristige  Borgsystem  im 
Kleinhandel.  Daran  mochte  etwas  Wahres  sein,  unleugbar  war, 
die  Exporteure  hatten  selbst  oft  genug  gefehlt.  Was  sollten  die 
überseeischen  Käufer  von  den  Deutschen  denken,  wenn  sie  Na- 
deln ohne  Öhr,  Bleistifte  ohne  Einlage,  nur  auf  beiden  Seiten 
mit  einem  schwarzen  Punkt  versehen,  Taschenmesser  ohne  Schar- 
nier in  schönen  Kartons  erhielten?  Dergleichen  konnte  man  nicht 
durch  die  mit  dem  Freihandel  eingeimpfte  Exportwut  und  die 
mangelnde  Konkurrenzfähigkeit  gegenüber  England  und  Frank- - 
reich  beschönigen. 


IV.  Hochkonjunktur,  Gründungsschwindel  und  Wirtschaftskrise  1871 — 1873.        287 

Erst  nach  6  Jahren  des  Niederganges  war  der  volkswirt- 
schaftHche  Tiefpunkt  erreicht,  nachdem  ein  wahrer  Daseinskampf 
unter  den  industriellen,  kaufmännischen  und  bankmäßigen  Unter- 
nehmungen vorausgegangen  war.  Die  endliche  Besserung  war 
einerseits  von  Nordamerika  gekommen,  wo  eine  günstige  Ernte 
die  Kaufkraft  erhöht  hatte,  und  durch  eine  Hochkonjunktur  in 
Frankreich,  das  sich  von  dem  Kriege  unglaublich  schnell  erholt 
hatte  und  spekulationslustig  auf  seiner  Weltausstellung  von  1879 
geworden  war,  andererseits  stimulierte  in  Deutschland  der  Über- 
gang zum  Zollschutz,  die  Eisennachfrage  von  selten  neuer  Neben-, 
Klein-  und  Stadtbahnen  und  das  Aufkommen  der  Elektrizitäts- 
industrie für  Starkstrom.  Die  elektrische  Beleuchtung  beginnt  sich 
ins  Praktische  umzusetzen.  Die  Jablochkoffschen  Kerzen  —  zwei 
parallel  nebeneinander  angebrachte  Kohlenstäbchen  —  werden  in 
den  Gebäuden  der  Reichspostverwaltung  in  Berlin  ausprobiert. 
Neue  Erfindungen  folgen,  bei  denen  sich  Siemens  &  Halske  wie- 
derum auszeichnen,  welche  Firma  durch  ihre  elektro-dynamische 
Maschine  die  Vorbedingung  für  die  Beleuchtungstechnik  gegeben 
hatte. 

Wurden  für  die  nächsten  Jahre  Absatz  und  Produktion  zum 
Besseren  angeregt,  so  kam  es  vor  1888 — 1890  zu  einer  eigent- 
lichen Hochkonjunktur  nicht,  die  damals  sich  auch  mehr  börsen- 
mäßig als  tiefgreifend  volkswirtschaftlich  vollzog.  Der  große  Um- 
schlag von  1873,  der  dem  vorausgehenden  Aufschwung  unter  dem 
Zollverein  und  den  Eisenbahnen  ein  Ziel  setzte,  ist  endgültig  erst 
nach  1895  überwunden,  als  das  neuzeitliche  große,  weltwirtschaft- 
liche Getriebe  Deutschland  als  stark  gebenden  Teil  in  sich  ein- 
bezog. Bis  dahin  ging  es  in  ihm  verhältnismäßig  ruhig  zu,  wenn 
sich  auch  von  Jahr  zu  Jahr  wenigstens  partielle  Besserungen  sta- 
tistisch nachweisen  ließen.  Es  ist  die  Zeit  des  sinkenden  Zins- 
fußes. Sichere  Staatspapiere  gingen  von  5  auf  31/2  %,  Hypotheken  von 
5  auf  33/4  0/0  herunter.  Kapital  wird  wieder  reichlich  erspart,  allein  die 
Nachfrage  zu  produktiver  Anlage  ist  dem  Angebot,  wie  von  1852— 1873 
und  wieder  nach  1895,  nicht  voraus.  Der  dauernde  Friede  schließt 
den  Bedarf  für  große  innere  Staatsanleihen  aus.  Es  wandert  das 
Kapital  gern  ins  Ausland,  wo  höhere  Zinsen  versprochen  werden,^ 
leider  auch  in  die  Hand  unsolider  Schuldner,  der  Portugiesen, 
Türken,  Griechen  und  Serben. 

Auf  dem  Gebiet  der  inneren  Politik  herrscht  in  den  sieb- 
ziger Jahren  viel  Unzufriedenheit.  Der  Kulturkampf  bricht  aus 
und  vergiftet  das  Parteileben.  Dem  Liberalismus  kommt  er  nicht 
ganz  ungelegen,  da  er  in  der  kirchenpolitischen  Erregung  die 
Sünden    der    Gründerzeit,    von    denen    er    sich    nicht    lossprechen 


288  V.  Absclinitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1  — 1890. 

kann,  vergessen  machen  möchte.  Doch  gelingt  ihm  das  nur 
schlecht,  vielmehr  beginnt  er  sich  im  Streit  um  die  Wirtschafts- 
und Sozialpolitik  zu  zersetzen.  Alte  partikularistische  Gegensätze 
tauchen  zudem  wieder  auf,  und  der  rein  negierende  Sozialismus 
erhebt    revolutionär    sein   Haupt. 

Zu  den  Folgen  der  Gründungsexzesse  gehörte  auch  die  a  n  t  i  - 
jüdische  Bewegung,  die  von  Berlin  ihren  Ausgang  nahm 
und  hier  am  lebhaftesten  aufloderte.  Die  Reichshauptstadt  hatte 
1849  9604,  1864  24189,  1871  36015,  1875  50000  Juden.  Die 
meisten  stammten  aus  der  Provinz  Posen  und  gehörten  niederer 
Bildung  an.  Kaum  mochte  sich  unter  ihnen  ein  erwachsener  Mann 
finden,  der  nicht  in  irgendeiner  Art  ein  Händler  gewesen  wäre. 
Ein  Teil  kam  auf  dem  schlüpfrigen  Boden  des  Gründerschwindels 
rasch  zu  Gelde  und  schuf  den  Typus  des  Emporkömmlings  und 
der  börsianischen  Großmannssucht,  an  deren  widerwärtigen  Auf- 
fälligkeit in  übertriebenem  Luxus  an  prunkhaften  Häusern  und 
Equipagen  mit  Gummiradreifen  sich  der  Haß  der  finanziell  Ge- 
prellten ausließ,  und  der  Neid  der  Zurückgebliebenen  nagte.  Die 
meisten  kleinen  und  mittleren  Existenzen  waren  Agenten,  Wechsler, 
Winkeladvokaten,  umherziehende  Aufkäufer,  Trödler,  Plausierer, 
Reporter  und  Zeitungsschreiber,  alle  Läufer  der  großen  Macher. 
Die  alteingesessenen  jüdischen  Familien  mochten  von  diesem  Zu- 
zug ihrer  Glaubensgenossen  wenig  entzückt  sein,  allein  sie  konnten 
bei  dem  Solidaritätsgefühl  der  Rasse  sie  weder  ablehnen,  noch 
wollten    sie    die    Befähigten    unter    den    neuen    Leuten    entbehren. 

Die  antisemitische  Agitation  würde  schwerlich  so  scharf  ge- 
worden sein,  wenn  sich  die  Juden  auf  ihre  Domäne  des  Han- 
dels- und  Geldgeschäftes  beschränkt  hätten.  Statt  dessen  mischten 
sie  sich  in  Berlin  unter  der  Leitung  des  Stadtverordneten-Vor- 
stehers Straßmann  und  des  Stadtrates  Löwe,  „Bürgern  des 
dekomponierten  Berlins  mit  verwegenstem  Selbstgefühl",  unter  der 
Ägide  Laskers  in  die  städtischen  Angelegenheiten  mehr  als 
zulässig  ein.  Eine  Presse  mit  großen  Mitteln  stand  der  herr- 
schenden Clique  zur  Verfügung,  die  mit  dem  ätzenden  Scheide- 
wasser ihrer  Kritik  die  Ideale  der  Nation  aufzulösen  sich  an- 
schickte. Juden  entschieden  damals  über  die  Wahl  von  Pastoreji) 
und  wie  die  Seelsorge  in  den  Hospitälern  gehandhabt  werden 
sollte.  In  den  Volksschulen  kam  es  vor,  daß  Juden  den  christ- 
lichen   Religionsunterricht    erteilten. 

Daß  sich  die  Berliner  dies  gefallen  ließen,  hatte  in  dem  reli- 
giösen Indifferentismus  —  zeitweise  waren  vier  Fünftel  der  Ehen 
nicht  kirchlich  eingesegnet  und  die  Hälfte  der  Kinder  nicht  ge- 
tauft  worden    — ,   in   dem   aus   extremen    Prinzipien   erwachsenden 


IV.  Hochkonjunktur,  Gründungsschwindel  und  Wirtschaftskrise   1871  — 1873.        289 

politischen  Radikalismus  und  in  der  alle  alten  Ideale  verschlingenden 
Genußsucht  seinen  Grund  gehabt.  Der  um  sich  greifende  Individua- 
lismus brachte  die  Juden,  die  das  feste  Band  des  Glaubens  und  des 
Stammes  umschloß,  trotz  ihrer  Minorität  in  der  Bevölkerung  in 
eine  günstige,  gesellschaftliche  Lage.  Eine  Anzahl  Schriftsteller 
fing  an,  die  Gefahren  aufzudecken,  die  dem  Deutschtum  drohten. 
O.  Glagau  (Der  Gründungsschwindel  in  Berlin  1876)  wandte 
sich  gegen  die  jüdischen  Gründer,  von  weiteren  Gesichtspunkten 
behandelten  die  Judenfrage  W.  Marr  (Der  Sieg  des  Judentums 
über  das  Germanentum  1879),  der  Philosoph  E.  v.  Hartmann 
(Das  Judentum  in  Gegenwart  und  Zukunft  1885)  und  E.  Düh- 
ring,  der  Nationalökonom  und  Philosoph  (Die  Judenfrage  1881). 

Den  größten  Erfolg  erzielte  der  Hofprediger  A.  Stöcker, 
ein  Mann  von  unbeugsamer  Energie  im  Vertreten  seiner  Überzeu- 
gung und  größter  Empfänglichkeit  für  alles,  was  das  Leben  da- 
mals bewegte,  kein  Doktrinär,  sondern  ein  moderner  Mensch  der 
Erfahrung,  ein  hinreißender  Redner  ohne  gesuchtes  Pathos  und 
mit  tief  christlichem  Ernst.  Von  ihm  hat  A.  Wagner  gesagt, 
daß  er  ein  Mann  der  Geschichte  sei,  gegen  den  Haß  und  Ver- 
leumdung vergebens  Sturm  gelaufen  seien.  Sein  Ausgang  war  ein 
religiöser.  Das  Christentum  neu  zu  beleben  und  mit  sozialem 
Geist  zu  erfüllen,  wurde  ihm  die  Hauptsache.  Seine  praktischen 
Forderungen  waren  gemäßigt:  Wirtschaftliche  Reformen  gegen 
die  Entartung  des  Händlertums,  Entfernung  der  jüdischen  Lehrer 
aus  der  Volksschule,  Anstellung  jüdischer  Richter  nach  der  Ver- 
hältniszahl der  Bevölkerung,  Wiedereinführung  der  konfessio- 
hälttniszahl  der  Bevölkerung,  Wiedereinführung  der  konfessio- 
nellen Statistik. 

Da  ganz  Berlin  von  der  Jobbermanie  erfüllt  war,  so  sagte 
man,  daß  jedermann  verantwortlich  gemacht  werden  müsse.  Nicht 
mit  voller  Berechtigung.  Die  Führung  hatten  die  Juden,  die  ihr 
uralter  Händlerinstinkt  für  dies  Treiben  besonders  befähigte.  Die 
vornehmen  Herren  des  Adels  waren  meist  nur  Strohmänner,  die 
dem  vorgespiegelten  Gewinn  verfallen  waren,  während  die  alten 
Berliner  Bürger,  denen  es  zwar  an  Mutterwitz  nicht  fehlte,  in 
ihrer  harmlosen  Lebensfreude  doch  nicht  geübt  genug  waren,  um 
den  Schleier  von  Wechseln,  Reports,  Prospekten  und  Kursschwan- 
kungen zu  durchschauen.  In  Preußen  gab  es  1855  513  Bankiers, 
darunter  385  Juden,  1861  642,  darunter  550.  Diese  Relation  än- 
derte sich  nach  1871  nicht.  Von  der  Börse  wurde  ohne  Wider- 
spruch behauptet,  daß  von  8 — 10  Besuchern  nur  einer  ein  deutscher 
Christ  oder  ein  getaufter  Jude  gewesen  sei.  An  jüdischen  Feier- 
tagen pflegte  das  Geschäft  an  ihr  zu  ruhen. 

A.Sartoriusv.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2,  Aufl.         19 


2QO  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1  — 1890. 

Die  erfolgreichen  jüdischen  Geschäftsleute  der  siebziger 
Jahre,  soweit  sie  damals  z.  B.  von  ländlichen  Schankwirten  des 
platten  Landes,  die  das  Darlehengeben  gegen  Wuchergewinn 
nebenbei  betrieben,  oder  von  Kramladenbesitzern  der  Landstädte, 
die  als  Agenten  ihrer  Börsenfreunde  in  der  Hauptstadt  beim 
Effektenumsatz  auf  dem  Lande  tätig  waren,  kurz  vom  Klein- 
händlertum  jeder  Art  in  Berlin  in  die  Höhe  gekommen  waren, 
hatten  20  Jahre  später  manches  von  dem  abgestreift,  was  sie 
an  ihr  erstes  Auftreten  erinnerte.  Dieser  Vorzug  wurde  durch 
Auslese  und  Anpassung  in  der  folgenden  Generation  fortgesetzt. 
Der  händlerische  Geist  in  besonderer  Form  blieb  auch  dieser: 
Rasches  Zugreifen  und  Sichzurückziehen,  Wahl  der  geeigneten 
Mittel,  um  den  Gewinn  zu  sichern,  kritische  Durchdringung  der 
Wünsche  des  Gegenkontrahenten,  der  Konjunkturen,  der  Rechts- 
lage. Solche  Eigenschaften  haben  für  die  deutsche  Volkswirt- 
schaft Wert,  wenn  auch  das  kaufmännische  Geschäft  keineswegs 
darin  aufgeht,  und  niemand  kann  von  ihren  Trägern  verlangen, 
daß  sie  sich  ihrer  angeborenen  Eigenschaften  begeben.  Nur  hat 
sich  diese  Einseitigkeit  der  sozialen  Pflicht  zu  unterwerfen,  wenn 
sie   der   nationalen   Kulturgemeinschaft   dienlich   sein   soll. 

Seit  der  Gründerzeit  ist  in  Deutschland  das  Mißtrauen  gegen 
die  Börsen  und  ihre  Presse  nicht  geschwunden.  Die  Gesetzgebung 
gegen  die  Ausschreitungen  unter  der  Herrschaft  des  laisser  faire 
griff  aber  erst  1896  Platz.  Ausnahmegesetze  gegen  die  Juden  un- 
terblieben mit  Recht  als  unlogisch  bei  der  bestehenden  Rechts- 
gleichheit und  als  undurchführbar.  Nur  eine  Maßregel,  die  sich 
nicht  gegen  die  eigenen  Bürger,  sondern  gegen  Ausländer  richtete, 
mußte  die  Erfahrung  nahelegen,  wenn  man  an  die  städtische 
Zuwanderung  jener  Tage  dachte.  Die  Grenzkontrolle  gegen  kul- 
turell tiefstehende  Juden  aus  Polen,  Rußland,  Galizien,  Ungarn 
war  streng  zu  handhaben,  wenn  man  die  Vorgänge  von  1871  — 1873 
nicht  wieder  erleben  wollte.  Denn  einerseits  durfte  die  Volks- 
gesamtheit durch  solche  Eindringlinge  in  ihrer  quantitativen 
Rassenzusammensetzung  nicht  fortgesetzt  beunruhigt,  andererseits 
den  deutschen  Juden  die  Möglichkeit,  sich  dem  deutschen  Ge- 
meinwesen zu  assimilieren,  nicht  erschwert  werden,  die  durch  den 
Zuzug  von  außen  beeinträchtigt  werden  konnte. 

Die  Manchesterlehre  und  deren  extreme  Anwendung  haben 
manche  jüdische  Schriftsteller,  ebenso  wie  die  gemäßigt  liberale 
Presse,  als  einen  Fremdkörper  im  deutschen  Leben  anerkannt. 
Sie  hatte  zu  auffällige,  häßliche  Blüten  hervorgebracht,  als  daß 
man  an  ihrer  Kritik  hätte  schweigend  vorübergehen  können. 


IV.  Hochkonjunktur,  Gründungsschwindel  und  Wirtschaftskrise  1871 — 1873.        291 


Ein  Kuriosum,  wie  sich  die  Gewerbefreiheit  mit  alther- 
gebrachten andersartigen  Anschauungen  verband,  waren  die 
Dachauerbanken,  die  sprichwörtlich  geworden  sind,  an  deren 
Spitze  sich  eine  ehemalige  Schauspielerin  Namens  Spitzeder  be- 
fand. Die  Einzelheiten  dieser  plumpen  Schwindlerin  in  München 
sind  so  grotesk,  daß  es  nicht  leicht  begreiflich  wird,  wie  die 
ober-  und  niederbayerischen  Bauern,  die  es  an  Mißtrauen  gegen 
städtische  Geldeinrichtungen  nicht  fehlen  lassen,  auf  sie  hinein- 
fallen konnten.  Ein  Bankgeschäft  irgendwelcher  Art  war  nicht 
vorhanden.  Es  wurden  die  höchsten  Zinsen  versprochen  —  bis 
80/0  im  Monat  —  und  so  lange  mit  neuen  Einlagen  gedeckt,  bis 
nichts  mehr  einkam  und  die  Schuldigen  das  Zuchthaus  mit  ihrem 
Bureau  vertauschten,  nachdem  sie  große  Summen  verjubelt  hatten. 
Kleinhändler,  Mägde,  Knechte,  Bauern,  Torfstecher,  Aschen-  und 
Lumpensammler  waren  die  Aktionäre,  die  in  der  Generalversamm- 
lung über  nicht  verstandene,  gefälschte  Bilanzen  abzustimmen 
hatten.  Ein  Defizit  von  einigen  Millionen  übertraf  bei  weitem 
die  Summe,  die  im  Konkurs  Strousberg  1875  angemeldet 
worden    war. 

Da  die  Staatsregierung  nicht  rechtzeitig  eingriff,  glaubten 
die  Geldgeber,  daß  alles  in  Ordnung  sei,  so  sehr  war  man  an 
die  väterliche  Fürsorge  der  Beamten  und  Amtsblätter  gewöhnt. 
Man  muß  zugeben,  daß  sie  schwach  und  unentschlossen  gehandelt 
hatte,  doch  soll  man  nicht  vergessen,  daß  die  Aktiengesetzgebung 
ihr  manche  Handhabe  entzogen  hatte.  Ein  größerer  Vorwurf 
trifft  die  Ortsgeistlichkeit  auf  den  Dörfern  und  die  klerikalen 
Winkelblätter,  wie  „Volksbote"  und  „Vaterland".  Der  Blödsinn 
und  die  Lügen,  die  hier  verzapft  wurden,  nahm  der  Bauer  für 
Erleuchtung,  weil  der  Herr  Pfarrer  ebenfalls  von  der  Richtigkeit 
des  Gedruckten  überzeugt  war  und  am  Geschäft  teilnahm.  Die 
wirtschaftsliberalen  Gaben,  mit  denen  das  deutsche  Volk  beschenkt 
worden  war,  waren  für  Geschäftsmänner  in  Frankfurt  oder  Ham- 
burg weniger  gefährlich,  als  für  die  Bauern  von  Pasing  und 
Dachau,  und  Schufte  verstanden  ihren  Schnitt  um  so  leichter  zu 
machen,  als  die  ungebildeten  Opfer  das  neue  Recht  als  einen 
Ersatz   für   die   bisherige   Bevormundung   annahmen. 

Das  rechtsrheinische  Bayern  war  noch  im  ganzen  weit  mehr 
agrarisch  eingestellt  als  das  Reich  überhaupt,  geschweige  denn 
als  Nordwestdeutschland,  Sachsen  und  Thüringen.  Noch  1882 
waren  in  ihm  fast  50  0/0  der  Bevölkerung  auf  die  Landwirtschaft 
entfallen,  und  man  kann  wohl  sagen,  daß  es  erst  seit  der  Jahr- 
hundertwende das  entschieden  nachholte,  was  nördlich  des  Mains 

etwa    1850 — 'j'}^   erreicht   worden   war.    Neben   der   geographischen 

19* 


2Q2  V,  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs  1871 — 1890, 

Abgeschlossenheit  war  es  der  Mangel  an  eigenen  Stein-  und  Braun- 
kohlen, der  die  Industrie  zurückhielt.  An  beiden  wurden  kaum 
I  0/0  der  Reichsmenge  daheim  hergestellt;  was  man  sonst  bedurfte, 
mußte  mit  der  Bahn  von  Böhmen  und  Sachsen  für  den  Osten, 
von  der  Saar  für  Schwaben,  für  das  ganze  Land  von  der  Ruhr 
teuer  herbeigeschafft  werden.  München  war  um  1875  noch 
eine  stille  Stadt,  wo  wirtschaftlich  nicht  viel  gearbeitet,  aber 
viel  Bier  konsumiert  wurde,  wo  die  behäbige  Mittelstandslage  der 
Privatiers  hoch  angesehen  war,  die  Kunst  aber  weiter  gepflegt 
wurde,  die  Wissenschaft  unter  König  Max  erblüht  war  und  wo 
Ludwig  II.  sich  des  neuen  Musikdramas  angenommen  hatte. 

Der  wirtschaftlichen  Entwicklung  Berlins  bis  gegen  1870 
sind  wir  in  früheren  Kapiteln  nachgegangen,  in  diesem  haben 
vv^ir  auf  die  dortigen  Vorkommnisse  der  Gründerzeit  hingewiesen. 
Die  anthropologische  Zusammensetzung  der  Stadt  hat  sich  ver- 
ändert, zum  Guten  wie  zum  Üblen.  Befähigte  Männer  aus  ganz 
Deutschland  sammeln  sich  hier,  um  ihr  Glück  zu  versuchen,  in 
dem  nach  1871  immer  wichtigeren  Mittelpunkte,  der  unbegrenzte 
Möglichkeiten  des  Erwerbes  und  des  Ruhmes  bietet.  Zugleich 
mehrt  sich  das  Proletariat  und  in  ihm  eine  Masse  bedenklicher 
Existenzen.  Slaventum  und  Judentum  dringen  vom  Osten  her  ein. 
Der  blonde  Typus  tritt  hinter  dem  dunkleren  zurück.  Berlin  wird 
wieder  nach  der  Gründerzeit  in  dem  heftigen  Konkurrenzgetriebe, 
dem  sich  die  rassengemischte  Bevölkerung  gut  anpaßt,  und  mit 
seinem  frischen  Klima  eine  der  fleißigsten  Städte  der  Erde,  woran 
auch  die  zunehmende  Üppigkeit  und  die  Genußsucht  nicht  viel 
ändern.  ^  .    --  %§!  ^^ 

Einige  Ergänzungen  der  wirtschaftlichen  Fortbildung  mögen 
hier  noch  Platz  finden.  Die  Stadt,  die  1861  547571  Einwohner 
hatte,  zählte  1875  deren  i  131  706  und  1885  1558395,  eine  zum 
großen  Teil  auf  Zuwanderung  beruhende  Summe,  die  durch  die 
geltende  Freizügigkeit  und  die  Beseitigung  der  städtischen  Ein- 
zugsgelder begünstigt  wurde.  1890  waren  nur  ^/^  der  Einwohner- 
schaft in  Berlin  geboren,  wo  damals  schon  die  bewußte  Beschrän- 
kung der  Kinderzahl  der  natürlichen  Vermehrung  eine  Schranke 
setzte.  Zu  den  Ansässigen  kam  ein  großer  Fremdenzustrom,  der 
in  den  achtziger  Jahren  jährlich  auf  eine  halbe  Million  ange- 
schwollen war. 

Neue  Bedingungen  für  die  großstädtische  Verdichtung  waren 
durch  die  Zunahme  der  Behörden  für  Reich  und  Staat  gegeben, 
durch  die  Reichsbank,  die  Großbanken,  die  Effekten-  und  Pro- 
duktenbörsen, durch  die  Ausstellungen,  die  Theater-  und  Ver- 
gnügungseinrichtungen,    die    Hochschulen     und     die    Truppenver- 


IV.  Hochkonjunktur,  Gründungsschwindel  und  Wirtschaftskrise   1871  — 1873.        293 


mehrung.  Das  Transportwesen  ist  in  seiner  Art  und  seinem  Um- 
fang ein  Anzeichen  des  gewaltigen,  geschäftlichen  Aufschwunges. 
Der  Eisenbahnpersonenverkehr  belief  sich  1853  auf  das  Vierfache 
der  städtischen  Einwohnerzahl,  1863  das  Fünffache,  1873  das 
Zehnfache  derselben,  die  sich  in  10  Jahren  verdoppelt  hatte. 
Zu  den  Omnibussen  kamen  die  Pferdebahnen  hinzu,  von  denen 
die  nach  Charlottenburg  führende  1880  25  Millionen  Passagiere 
beförderte.  Die  Droschkenzahl  war  von  1860— 1874  verdrei-  bis 
vervierfacht  worden.  Ein  neuer  Schiffskanal  verband  seit  1870 
außerhalb  der  Stadt  die  Ober-  mit  der  Unterspree.  Der  Waren- 
verkehr entsprach  demjenigen  der  Personen.  Die  Eisenbahnen 
übertrafen  das  Schiff.  1895  wurden  mittels  desselben  4,64  Millio- 
nen Tonnen  ein-  und  0,46  ausgeführt,  auf  der  Bahn  5,4  bzw.  0,86. 

Durch  den  Krieg  von  1870— 187 1  hatte  die  Berliner  Industrie 
gewonnen,  als  das  Möbel-  und  Teppichgewerbe,  die  Kleiderkon- 
fektion auf  dem  Weltmarkte  der  französischen  Ware  erfolgreichen 
Wettbewerb  bereiten  konnten.  Durch  die  Gründung  der  techni- 
schen Hochschule  und  staatlicher  chemischer  Laboratorien  wurde 
mancherlei  Gewerbe  glücklich  gefördert.  Das  großstädtische  Volks- 
schulwesen mit  seinen  verbesserten  Einrichtungen  belehrte  die 
kommende  jugendliche  Arbeiterschaft  weit  besser  als  früher. 

Die  Krisis  von  1873  wirft  die  Industrie  für  Jahre  zurück. 
Nach  Überwindung  der  Stockung  nimmt  der  Fabrikbau  unter 
wachsenden  Betriebsgrößen  mit  seinem  Wald  an  Schloten  bald 
wieder  zu,  die  Hausindustrie  dehnt  sich  aus,  das  alte  Vollhandwerk 
verschwindet  mehr  und  mehr.  Der  Handel  dringt  rasch  voran. 
Kommen  noch  1861  auf  41  Einwohner  ein  im  Handel  Selbsttätiger, 
so  1871  nur  auf  20,  1880  auf  19.  1875  kennen  81,1 0/0  der  Haus- 
haltungen den  Luxus  der  festen  Dienstboten  nicht  mehr.  Die 
Lohnerhöhung  in  der  Gründerzeit  hat  Männer  und  Frauen  in  die 
Fabrik  gezogen,  die  ihrem  Selbständigkeitsdrang  entspricht.  In 
den  Vorderhäusern  sind  750/0,  in  den  Hinterhäusern  95 0/0  der  Fa- 
milien ohne  ständige  Bedienung. 

Berlin  gilt  als  eine  Stadt  von  Menschen  bewohnt,  die  höchst 
beweglich  im  Wirtschaftsleben  sind.  Kleinunternehmer  wechseln 
mit  der  Warenherstellung  leicht  gemäß  der  Konjunktur,  Arbeiter 
gehen  von  einer  Beschäftigung  zu  einer  anderen  über.  Neue  Er- 
findungen bürgern  sich  rasch  ein,  um  ebenso  schnell  zu  ver- 
schwinden, wenn  etwas  anderes  praktischer  ist.  Das  Ergebnis  der 
leichten  Anpassungsfähigkeit  ist  die  Vielseitigkeit  der  Berliner  In- 
dustrie. In  dem  oben  erwähnten  Buche  von  O.  Wiedfeld  über 
die  Entwicklungsgeschichte  der  Berliner  Gewerbe  ist  eine  Über- 
sicht  über    13    Gewerbegruppen   mit   vielen   Unterabteilungen  ent- 


204  ^'  •^''schnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871  — 1890. 

halten,  aus  der  sich  ergibt,  daß  fast  alle  deutschen  Industrien, 
soweit  sie  nicht  von  der  Urproduktion  oder  anderen  natürlichen 
Vorbedingungen  abhängen,  in  der  Reichshauptstadt  zwischen  1870 
und  1890  vertreten  gewesen  sind.  Da  die  Berliner  Industrie  alle 
Rohstoffe  und  manche  Halbfabrikate  von  außen  beziehen  muß, 
so  ist  sie  vornehmlich  eine  Fertig-  oder  Veredlungstheorie,  daher 
sehr  von  den  Launen  des  Absatzes,  wie  sie  der  Export  ins  Aus- 
land mi<"   sich  bringt,   abhängig. 

V.  Die  Verstaatlichung  der  Eisenbahnen.  Eine 
Erfahrung,  deren  sich  in  den  siebziger  Jahren  viele  Politiker 
und  Nationalökonomen  voll  bewußt  wurden,  zeitigte  der  Einblick 
in  die  Krise  und  die  Gründungsperiode:  Die  veränderte  Auffassung 
über  das  Wesen  der  Eisenbahn.  Die  Frage,  ob  Staats-  oder 
Privatbahn  das  richtige  sei,  war  in  der  Theorie  des  voraus- 
gehenden Jahrzehnts  mit  dem  Segen  der  freien  Konkurrenz  zu- 
gunsten der  letzteren  entschieden  worden.  Der  Staat,  hieß  es, 
sei  ein  schlechter  Frachtführer,  womit  man  glaubte  genug  bewiesen 
zu  haben.  Daß  er  wichtige  Hoheitsrechte  nicht  preisgeben  dürfe, 
und  daß  die  Eisenbahnen  eine  ganz  neue  monopolistische  Er- 
scheinung der  V^irtschaftsgeschichte  seien,  wollte  das  unhistorische 
Manchestertum  nicht  zugeben  und  glaubte  sie  daher  nach  dem 
Prinzip  der  Gewerbefreiheit  meistern  zu  können,  wenn  es  sich  auch 
in  der  Praxis  von  der  Staatsaufsicht  über  das  Tarifwesen  nicht 
lossagen  konnte. 

Jetzt  nach  der  Katastrophe  in  den  Eisenbahnaktien  gingen 
der  Nation  die  Augen  auf  über  die  Mißstände,  die  herrschten. 
Das  Börsenspiel  in  Bahnwerten,  das  übertriebene,  teuere,  hastige, 
oft  planlose  Bauen,  die  Agiotagegewinne  der  Konzessionierten,  die 
Spezialtarife,  die  einen  Teil  der  Industrie  und  des  Handels  be- 
günstigten, einen  anderen  bewußt  schädigten,  die  Rabattarife  für 
die  großen  Händler  zum  Schaden  der  kleinen,  die  willkürliche 
Herabsetzung  des  Zolltarifes  oder  dessen  Erhöhung  durch  die 
Frachtsätze,  dies  Sündenregister  konnte  der  Liberalismus  nicht  für 
nichts  erklären,  der  sich  nun  in  der  Abwehr  darauf  legte,  die 
Gefahren  für  die  Finanzen  des  Staates  und  der  mit  der  Staatsbahn 
vermehrten  politischen  Zentralisation  in  den  Vordergrund  der 
Streitfrage  zu  schieben. 

Ende  1875  umfaßte  das  deutsche  Eisenbahnnetz  27956  Kilo- 
meter, von  denen  12062  auf  Staatsbahnen,  3253  auf  Privat- 
bahnen im  Staatsbetrieb,  12  641  auf  solche  mit  eigener  Verwaltung 
entfielen.  Fast  ausschließlich  hatte  das  rechtsrheinische  Bayern, 
Württemberg,  Baden,  Oldenburg,  Schaumburg-Lippe,  Bremen  und 
Elsaß-Lothringen  —  Reichseisenbahn  —  das  Staatsbahnsystem.    In 


V.  Die  Verstaatlichung  der  Eisenbahnen.  205 

Preußen  waren  9183  Kilometer  privater  Unternehmung  unter 
eigener  Verwaltung,  2736  unter  staatlicher,  während  4281  dem 
Staat  gehörten  und  von  ihm  bewirtschaftet  wurden.  Es  war  klar, 
daß,  wenn  dieses  Land  verstaatlichte,  die  Frage  in  der  Praxis 
entschieden  war.  Es  würden  dann  8/9  des  Netzes  in  den  Staats- 
besitz  gelangt   sein. 

Die  Unhaltbarkeit  des  bestehenden  Zustandes  erhellt  daraus, 
daß  70  selbständige  Bahnverwaltungen  vorhanden  waren,  ein 
wahrer  Rattenkönig,  wie  sich  Rodbertus  ausdrückte.  Es  ent- 
stand schon  eine  große  Belastung  der  Volkswirtschaft  dadurch, 
daß  eine  Million  Tlr.  allein  auf  die  Gehälter  und  Tantiemen  der 
Direktoren  und  Aufsichtsräte  zu  verrechnen  war.  An  sonstigen 
Kosten  überflüssiger  Zentralverwaltungen  konnten  mehrere  Millio- 
nen gespart  werden.  Dazu  kamen  noch  (F.  Per  rot.  Die  deutschen 
Eisenbahnen,  1870)  der  Schaden  der  Verwaltungszersplitterung  und 
die  heillose  Vielregiererei.  Nirgends,  führt  er  aus,  mache  sich 
die  Wohltat  einer  einheitlichen  zentralen  Behandlung  so  fühlbar 
und  sei  so  dringend  wie  im  Eisenbahnwesen  geboten.  Das  deutsche 
Tarifwesen  habe  einen  Grad  der  Verworrenheit  erreicht,  welche 
es  dem  Kaufmann  absolut  unmöglich  mache,  die  Fracht  im  voraus 
zu  kalkulieren,  und  welche  die  Güterexpeditionen  der  Bahnen  selbst 
in  die  Lage  bringe,  zahllose  Irrtümer  zu  begehen,  teils  in  der 
Frachtberechnung,  teils  in  der  Dirigierung  der  Güter,  worauf  dann 
endlose  Reklamationen  folgten.  Bezüglich  der  Lieferungsfrist  habe 
man  zu  bedenken,  daß  die  Übergabe  von  einer  Bahn  zur  andern 
mit  mindestens  24  Stunden  Verzug  verknüpft  sei,  das  heiße  je 
mehr   Verwaltungen,   um   so    mehr   Aufenthalt. 

Die  Tarife,  die  vom  Gewicht  der  Güter  und  von  der  Trans- 
portentfernung ausgegangen  waren,  hatten  Wertklassifikationen, 
Erfassung  des  Wagenraumes,  Einrichtung  der  Wagen,  Schnellig- 
keit der  Beförderung  als  weitere  Frachtkostenmotive  aufgenommen. 
So  waren  zahlreiche  Kombinationsmöglichkeiten  gegeben,  die  jede 
Verwaltung  nach  Laune  und  Besserwisserei  ausprobierte. 

Nun  ließ  sich  einwenden,  daß  eine  Vereinfachung  der  Verwal- 
tung auch  ohne  Verstaatlichung  herbeigeführt  werden  könne,  wie 
denn  in  England  und  Frankreich  trotz  des  Privatbahnsystems 
die  Dinge  infolge  der  Fusionen  bzw.  staatlicher  Regulative  besser 
lägen.  Allein  die  Schwierigkeit  bestand  darin,  daß,  während  dort 
nur  Privatbahnen,  in  Deutschland  beide  Systeme  bunt  gemischt 
waren,  und  der  Staat  schwerlich  geneigt  war,  von  seinen  Hoheits- 
rechten zugunsten  eines  kommenden  privaten  Imperium  in  imperio 
etwas  preiszugeben.  Ein  solches  besaßen  die  deutschen  Privat- 
bahnen bisher  keineswegs.  Denn  es  waren  ihrer  zu  viele,  und  selbst 


2g6  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871  — 1890. 

die  großen  waren  auf  die  Willfährigkeit  ihrer  Nachbarn  hin- 
gewiesen. Weiter  sprach  gegen  die  private  Zusammenfassung  der 
Sonderverwaltungen,  daß  der  Staat  verschiedene  Bahnen  durch 
Zinsgarantien  und  Zuschüsse  unterstützte,  auf  die  sie  nicht  ver- 
zichten wollten,  und  die  sie  verloren  haben  würden,  wenn  sie 
aus  ihrem  jetzigen  Rechtszustand  hinausgetreten  sein  würden. 
Denkbar  war  auch  die  gemeinsame  einheitliche  Staatsverwaltung 
aller  deutschen  Linien,  ohne  die  Eigentumsfrage  anzuschneiden. 
Hiergegen  würden  sich  die  gute  Dividenden  gebenden  Gesell- 
schaften gewehrt  haben,  und  außerdem  fehlte  dem  Reich  zunächst 
die  rechtliche  Möglichkeit,  sie  durchzusetzen.  In  Preußen  besaß 
laut  §  42  des  Eisenbahngesetzes  von  1838  der  Staat  das  Recht, 
jede  Privatbahn  30  Jahre  nach  deren  Eröffnung  mit  allem  Zu- 
behör gegen  Zahlung  des  2  5fachen  Betrages  der  Durchschnitts- 
dividende der  letzten  fünf  Jahre  zu  erwerben.  Wenn  Preußen 
daher  von  diesem  Rechte  Gebrauch  machte  und  sich  mit  den 
Staaten,  die  Bahnen  besaßen,  verständigte,  so  konnte  ohne  Ver- 
änderung der  Reichsverfassung  eine  Eisenbahngemeinschaft  ge- 
schaffen werden,  dem  sich  der  Rest  der  Gesellschaften  bald  hätte 
anschließen  müssen.  Schon  im  Zollparlament  hatte  Fürst 
Chlodwig  von  Hohenlohe  -  Schillingsfürst  einen 
großen  Eisenbahnverein  in  diesem  Sinne  befürwortet,  der  sich 
an  eine  von  ihm  projektierte  Verbindung  eines  deutschen  Süd- 
bundes mit  dem  norddeutschen  anlehnen  sollte. 

Die  letztere  Idee  wurde  bald  von  den  Zeitereignissen  über- 
holt. Mit  dem  neuen  Reich  wurde  auch  die  allgemeine  Reichs- 
eisenbahn erwogen.  Vom  volkswirtschaftlichen  Standpunkt  mußte 
sie  als  das  System  der  vollendeten  Einheitlichkeit  in  Anlage  und 
Verwaltung  gelten,  kenntlich  an  Kostenersparungen,  Tarifordnung, 
Ausbau  des  Netzes  und  Übereinstimmung  der  Tarif-  mit  der 
äußeren  Handelspolitik.  Außerdem  mußte  man  sich  von  der  So- 
zialpolitik aus  sagen,  daß  ein  so  großer  Betrieb,  wie  der  des 
Reichs,  eine  wirksame  Ordnung  der  Arbeiterverhältnisse  zum 
Schutz  der  Arbeiter  und  zum  gedeihlichen  Aufsteigen  der  Be- 
fähigten zu  höheren  Lohn-  und  Gehaltsstufen  voll  durchführen 
könnte.  Zugleich  würde  die  Eisenbahnrente  der  wirklichen,  staat- 
lich umgrenzten  deutschen  Volksgesamtheit  zufließen  in  der  Form 
einer  Finanzgabe,  die  indirekte  Verbrauchsabgaben  oder  Matriku- 
larbeiträgc  der  Einzelstaaten  herabzusetzen  gestatten  oder  bei  stei- 
gendem Finanzbedarf  des  Reiches  eine  Erhöhung  der  Steuerlast 
verhüten  würde.  Bis  jetzt  kamen  die  guten  und  steigenden  Ein- 
nahmen den  Aktiengesellschaften  und  den  Einzelstaaten  zu,  für 
die    der    Wertzuwachs    des    Eisenbahnkapitals    ein    durchaus    nicht 


V.  Die  Verstaatlichung  der  Eisenbahnen.  207 

allein  verdienter  war.  Auch  das  militärische  Interesse  wurde  in 
der  Reichseisenbahn  am  besten  gewahrt.  Hatten  die  Bahnen  zwar 
1870  nicht  versagt,  so  hatte  die  Vielregiererei  doch  Hemmungen 
gebracht.  Waren  die  Privatbahnen  gewiß  nicht  so  mächtig  wie 
in  Frankreich,  daß  sie  sich  der  staatlichen  Autorität  hätten  wider- 
setzen können,  so  mußte  doch  eine  Totalorganisation  den  mili- 
tärischen Technikern  die  beste  Grundlage  zur  Bearbeitung  ihrer 
Pläne   gewähren. 

Nach  Artikel  4  der  Reichsverfassung  untersteht  das  Eisen-  ' 
bahnwesen  der  Beaufsichtigung  und  Gesetzgebung  des  Reiches. 
Einige  Anordnungen  für  die  Landesverteidigung  und  für  das  Ein- 
greifen in  die  Tarife  bei  Notständen  sind  festgelegt,  im  übrigen 
enthalten  die  zudem  auf  Bayern  nicht  anwendbaren  Artikel  42 
bis  45  nur  ein  allgemeines  Programm  wie:  Die  Bundesregierungen 
verpflichten  sich,  ,,die  deutschen  Eisenbahnen  im  Interesse  des 
allgemeinen  Verkehrs  wie  ein  einheitliches  Netz  zu  verwalten", 
oder  „dem  Reich  steht  die  Kontrolle*'  —  nicht  etwa  die  Fest- 
setzung —  „über  das  Tarifwesen  zu",  oder  „es  sollen  auf  allen 
deutschen  Eisenbahnen  übereinstimmende  Betriebseinrichtungen 
getroffen  werden". 

Zunächst  geschah  nichts,  um  den  Forderungen  der  Ver- 
fassung zu  genügen,  es  sei  denn,  daß  1872  eine  Enquete  über  die 
vielartigen  und  sehr  verschieden  zu  beurteilenden  Differential- 
tarife veranstaltet  wurde.  Erst  1873  ging,  gewiß  nicht  ohne  vor-  ' 
heriges  Einverständnis  mit  dem  Reichskanzler,  aus  einem  Initiativ- 
antrag des  württembergischen  Nationalliberalen  Dr.  Eiben  im 
Reichstag  das  Reichseisenbahnamt  hervor,  das  als  oberste  Auf- 
sichts-  und  Beschwerdeinstanz  gedacht  war.  Es  war  eine  wesent- 
lich beratende  Behörde  und  sollte  die  Gesetzgebung  vorbereiten. 
Seine  Tätigkeit  setzte  unter  der  vortrefflichen  Leitung  M  a  y  - 
b  a  c  h  s  sofort  ein,  aber  es  hatte  schon  während  der  Beratung 
im  Reichstage  die  Zentrumspartei  gegen  sich,  die  jede  Stärkung 
der  Reichsgewalt  bekämpfte.  Es  wurde  allen  seinen  Vorschlägen 
von  Seiten  der  Mittelstaaten,  der  Privatbahnen  und  der  „toten 
Hand"  des  preußischen  „Ressortpatriotismus"  passiver  Wider- 
stand geleistet.  Nur  einige  Reglements  über  Betriebs-  und  Bahn- 
polizei sind  damals  zustande  gekommen. 

Der  Reichskanzler  griff  jetzt  den  weitgehenden  Plan  der 
Reichseisenbahn  auf,  nicht  bloß,  um  den  endlosen  Verschleppun- 
gen der  Vorlagen  zu  begegnen.  Ihn  leiteten  finanzielle  und  mili-  • 
tärische  Gesichtspunkte,  auch  der  Gedanke,  daß  seine  Schöpfung, 
das  Reich,  ein  neues  festes  Bindemittel  in  dem  gemeinsamen  Be- 
sitz  und   der   einheitlichen   Verwaltung   gewinne.    Bismarcks   Vor- 


2q8  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871  — 1890. 

schlag  machte  gewaltiges  Aufsehen,  und  im  Reichstage  sprachen 
V  sich  die  Freikonservativen  wie  Kardorff  und  Stumm,  von 
den  Nationalliberalen  L  a  s  k  e  r  entschieden  dafür  aus.  Der  preu- 
ßischen Volksvertretung  wurde  ein  Gesetzentwurf  vorgelegt,  der 
auch  1876  genehmigt  wurde,  nach  dem  sich  Preußen  bereit  er- 
klärte, seine  Bahnen  an  das  Reich  abzutreten.  Jetzt  aber  machten 
(die  preußischen  Minister  dem  Kanzler  Opposition,  indem  sie  die 
Abschätzung  der  Bahnwerte  über  zwei  Jahre  verzögerten  und  dann 
so  ungemessene  Forderungen  stellten,  daß  schon  hieran  jede  Ver- 
handlung scheitern  mußte,  wenn  sich  nicht  auch  der  Partikularis- 
mus der  süddeutschen  Staaten  schroff  ablehnend  verhalten  hätte, 
dem  die  liberalen  Nationalökonomen  und  die  Volksvertreter 
gleicher  Richtung  sekundierten,  die  ehemals  bei  der  Schaffung 
der  Reichseinheit   mitgeholfen  hatten. 

Die  Beschlüsse  des  „Volkswirtschaftlichen  Kongresses  libe- 
raler Theoretiker  von  1876"  müssen  uns  später  recht  eigentümlich 
anmuten.  Gegen  die  Reichseisenbahn  wurde  vorgebracht,  daß  die 
Finanzen  des  Reiches  gefährdet  würden,  daß  der  Ausbau  des 
Bahnnetzes  durch  Verdrängung  des  Privatkapitals  leiden  müsse, 
und  daß  die  Konjunkturen  des  Weltmarktes  im  Interesse  des 
Verkehrs  keine  Berücksichtigung  finden  könnten.  Genau  das  Ge- 
genteil davon  haben  die  preußischen  Staatsbahnen  der  Folgezeit 
^  erwiesen.  So  scheiterte  der  weittragende  Entwurf,  und  eine  große 
Hoffnung  der  deutschen  Volkswirtschaft  würde  ganz  zu  Grabe 
getragen  worden  sein,  wenn  es  nicht  dem  Reichskanzler  gelungen 
wäre,  wenigstens  für  einen  teilweisen  Ersatz  zu  sorgen.  Die  preu- 
ßischen Privatbahnen  wurden  verstaatlicht,  und  damit  entstand 
eine  einheitliche  Verwaltung  für  den  Norden,  zumal  mehrere 
Kleinstaaten  in  sie  einbezogen  werden  konnten.  Zuerst  ging  man 
nur  langsam  schrittweise  vor,  als  dann  Maybach  (1878 — 1891) 
an  der  Spitze  des  Ministeriums  für  öffentliche  Arbeiten  seine  volle 
Tätigkeit  entfaltete,  schneller.  Von  1880 — 1882  war  der  Staats- 
besitz von  6190  Kilometer  auf  15305  vermehrt  worden.  Die 
Aktionäre  erhielten  Staatsschuldverschreibungen  mit  einer  be- 
stimmten Rente,  die  zwischen  4  und  81/2^/0,  je  nach  den  bisherigen 
Dividenden  der  erworbenen  Gesellschaften,  schwankte.  Die  Bahn- 
obligationen wurden  von  dem  Staat  übernommen,  die  Privat- 
beamten  traten  meist  in  den  öffentlichen  Dienst,  die  begonnenen 
Nebenlinien  wurden  vollendet.  Zuerst  wurden  die  Berlin — Stettiner, 
die  Magdeburg — Halberstädter,  die  Hannover — Altenbekener,  die 
Köln-Mindener  Bahnen  erworben.  Die  dem  Gesetzentwurf  für  den 
Ankauf  beigegebene  Denkschrift  setzt  die  Schäden  des  bisherigen 
Systems    auseinander:    Die   unnütze   Verschwendung   des    Kapitals 


V.  Die  Verstaatlichung  der  Eisenbahnen.  20Q 

durch  die  Konkurrenzlinien,  den  schwierigen  Geschäftsverkehr  der 
vielen  Bahnen  untereinander,  die  Vielheit  der  Tarife,  der  Über- 
gangsstationen, des  Reklamationswesens,  der  Fahrpläne,  die 
mangelhafte  Wagendisposition  und  Wagenausnutzung,  den  Doppel- 
betrieb, den  alternierenden  Betrieb,  die  Umwegstransporte,  die 
Verteuerung  der  Selbstkosten,  die  Erhöhung  der  Transportpreise. 
Dann  folgen  die  positiven  Vorteile  des  einheitlichen  Staatssystems: 
Für  die  Landesverteidigung  der  erleichterte  Aufmarsch  der  Ar- 
meen, die  Konzentration  der  Truppenmassen,  die  sichere  Verpfle- 
gung der  Truppen  und  das  zuverlässigere  Etappenwesen;  für 
die  Volkswirtschaft  die  raschere  und  gleichmäßigere  Verkehrsent- 
wicklung, ihr  Anschluß  an  die  Auslandsbahnen,  an  die  Wasser- 
wege, an  das  Meer,  die  Einheitlichkeit  des  Betriebsplanes,  die 
Stetigkeit  und  Öffentlichkeit  der  einheitlichen  Tarife,  die  gleich- 
mäßige Behandlung  des  Publikums,  die  Anpassung  an  den  Be- 
darf durch  Bau  eines  zweiten  Geleises,  der  Umbau  von  Bahn- 
höfen, die  Anlage  von  Stationen,  der  Bau  von  Zentralbahnhöfen, 
endlich  der  ausreichende  Wagenpark  und  genügend  Lokomotiven. 
In  den  seit  dieser  Verstaatlichung,  die  andauernd  bis  1903 
fortgesetzt  wurde,  vergangenen  35  Jahren  haben  sich  alle  diese 
genannten  Vorzüge  des  einheitlichen  Großbetriebes,  der  unter  den 
gegebenen  Verhältnissen  ein  anderer  schwerlich  sein  konnte  als 
der  staatliche,  bewahrheitet.  Hinzu  ist  noch  die  finanzielle  Be- 
deutung der  Einnahme  für  den  preußischen  Staat  gekommen, 
dessen  Fähigkeit,  Kulturausgaben  im  großen  zu  machen,  damit 
möglich  geworden  ist,  ohne  die  direkten  Steuern,  die  zudem  1890 
im  Sinne  der  Gleichmäßigkeit  reformiert  worden  sind,  zu  sehr 
in  Anspruch  zu  nehmen.  Während  die  süddeutschen  Staaten  mit 
einer  gleich  zu  nennenden  Ausnahme  bei  der  engen  Begrenzung 
ihres  Betriebes  eigensinnig  verharrten,  und  an  sich  schon,  mit 
höheren  Baukosten  wegen  ihres  gebirgigen  Bodens  belastet,  Mühe 
hatten,  ihre  Eisenbahnschuld  zu  verzinsen,  oft  ohne  Zuschuß  aus 
der  Steuerkasse  nicht  auskommen  konnten,  stieg  die  Eisenbahn- 
rente Preußens  mit  dem  wachsenden  Wohlstande,  mit  der  mehr- 
fach verbesserten  Verwaltung  und  der  Amortisation  der  Eisenbahn- 
schuld. 1895  wurde  eine  Neuordnung  der  inneren  Behördenorgani- 
sation durchgeführt,  die  damals  eine  Jahresersparnis  von  etwa 
20  Millionen  Mark  erbrachte.  Nach  dem  Gesetz  über  die  finan- 
ziellen Garantien  von  1882  fand  eine  freiwillige  Tilgung  der 
Schuld  statt,  die  sich  tatsächlich  auf  2  Milliarden  belaufen  hat. 
Das  Anlagekapital  wurde  19 18  auf  143/4  Milliarden  Mark  be- 
rechnet, die  verzinste  Schuld  betrug  9  Milliarden.  Die  Staats- 
eisenbahnen  in    Preußen   gaben    1887/88   eine   Rente   von    6,540/0, 


300  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs  1871 — 1890. 

in  Sachsen  5,  in  Bayern  4,  in  Württemberg  3,16,  in  Baden  3,22. 
In  dem  Jahrzehnt  nach  1900  erzielte  Preußen  aus  dem  vergrö- 
ßerten Kapital  durchschnittlich  rund  60/0.  Sachsen  schwankte 
zwischen  3 1/2  und  4,  Bayern  zwischen  4  und  4I/2,  Württemberg 
zwischen  3  und  3I/2.  Hier  liegt  das  statistische  Anlagekapital 
zugrunde,  rechnet  man  das  effektive,  so  kam  Preußen  sogar  auf 
80/0.  Die  Höhe  der  jährlichen  Einnahme  ist  von  der  volkswirt- 
schaftlichen Konjunktur  abhängig.  Den  sich  daraus  ergebenden 
Nachteilen  aus  dem  Etat  wurde  durch  den  Eisenbahn-Ausgleichs- 
fonds begegnet,  nachdem  Überschüsse  fetter  Jahre  für  die  ma- 
geren zurückgelegt  werden.  Die  enge  Verbindung  mit  dem  Fi- 
nanzwesen hatte  übrigens  das  Bedenken  gegen  sich,  daß  nicht 
immer  für  die  Ausgestaltung  des  Bahnwesens  ausreichend  gesorgt 
wurde,  da  das  Finanzministerium  andere  öffentliche  Ausgaben 
bisweilen    bevorzugte. 

Sicher  ist,  daß  Preußens  tatsächliche  Stellung  im  födera- 
tiven Reichsverband  aus  seiner  Eisenbahnverstaatlichung  gestärkt 
hervorgegangen  ist.  Gerade  deshalb  mußte  vor  der  Revolution 
von  19 18  das  Projekt  der  Reichseisenbahn  als  dauernd  gescheitert 
gelten.  Neben  den  Gründen  finanzieller  Art  waren  für  Preußen, 
um  bei  seinem  System  zu  bleiben,  solche  der  inneren  Politik 
mitbestimmend.  Der  Abgeordnete  von  Zedlitz  und  Neu- 
kirch  äußerte  sich  einmal  darüber  in  dieser  Weise:  „Für  Preu- 
ßen erwächst  aus  seiner  deutschen  Aufgabe,  für  das  unter  seiner 
Führung  geschaffene  Reich  die  erhaltende  Kraft  zu  sein,  die  unab- 
weisbare Pflicht,  sich  seinen  Staatsbahnbesitz  zu  erhalten.  Diese 
seine  Aufgabe  weist  Preußen  jetzt  unzweifelhaft  die  Rolle  des 
festen  Schutzdammes  gegen  die  demokratische  Hochflut  zu.  Daß 
der  Übergang  seiner  Staatsbahnen  auf  das  Reich  ihm  die  Kraft 
zur  erfolgreichen  Durchführung  dieser  Rolle  rauben  werde,  wird 
wenigstens  von  den  demokratischen  Vertretern  des  Reichseisen- 
bahngedankens bestimmt  erwartet.  Ist  doch  als  Zweck  desselben 
von  einepi  der  süddeutschen  Demokraten  im  Reichstage  bezeichnet 
worden,  dem  preußischen  Landtage  und  damit  dem  preußischen 
Staate  in  seiner  Eigenart  das  Rückgrat  zu  brechen." 

Die  Zeit  für  die  Reichseisenbahn  war  von  dem  Reichstage 
also  verpaßt  worden.  Anfang  der  siebziger  Jahre  hätte  man  mit 
einem  Teile  der  französischen  Milliarden  den  schrittweisen  An- 
kauf in  Angriff  nehmen  können,  wodurch  dem  Gründungsfieber 
—  wie  oben  erwähnt  —  einer  seiner  Antriebe  entzogen  worden 
wäre. 

Der  Gedanke  der  Gemeinsamkeit  des  deutschen  Eisenbahn- 
wesens wurde  1877  dadurch  gefördert,  daß  ein  formell  einheitliches 


V.  Die  Verstaatlichung  der  Eisenbahnen.  ßoi 


Gütertarifsystem  durchgesetzt  wurde.  Jetzt  wurden  Beförderung 
von  Eil-  und  Frachtgut,  Normal-  und  Ausnahmetarif,  allgemeiner 
und  Spezialtarif  geregelt.  Ein  weiterer  Fortschritt  ist  1896  damit 
zu  verzeichnen,  daß  Preußen  und  Hessen  die  private  hessische 
Ludwigsbahn  gekauft  und  einer  gemeinsamen  Verwaltung  unter- 
stellt haben.  Daraus  ist  dann  die  preußisch-hessische  Betriebs- 
und Finanzgemeinschaft  hervorgegangen,  in  die  auch  1901  ein 
Stück  badischer  Bahnen  und  die  Main-Neckarbahn,  diese  als 
Teil  einer  reinen  Betriebsgemeinschaft,  hineingezogen  worden  sind. 
Für  Hessen,  das  in  eine  partielle  wirtschaftliche  Abhängigkeit 
durch  die  Umklammerung  der  preußischen  Linien  gekommen  war 
und  keine  guten  finanziellen  Geschäfte  machte,  wurde  der  An- 
schluß wertvoll  sowohl  für  den  Verkehr  als  auch  für  die  Staats- 
einnahmen. Der  Ausbau  von  Nebenbahnen  hat  in  ausreichender 
Weise  stattfinden  können.  Für  Preußen  sind  die  Ergebnisse  des 
vergrößerten  Gesamtbetriebes  ebenfalls  anerkannt  worden,  wenn 
sie  sich  auch  ziffernmäßig  nicht  so  genau  wie  für  Hessen  aus 
der  Gesamtrechnung  ausscheiden  lassen. 

Die  Verwaltung  erfolgt  nach  den  für  Preußen  maßgebenden 
Grundsätzen.  Der  Überschuß  wird  nach  einem  vereinbarten 
Schlüssel  verteilt.  Es  ist  also  ähnlich  wie  ehemals  in  dem  Zoll- 
verein verfahren  worden.  Für  Preußen-Hessen  wird  in  Mainz  eine 
Eisenbahndirektion  errichtet,  deren  Präsident  von  dem  ersteren 
zu  ernennen  ist.  Auf  die  Anstellung  der  übrigen  Beamten  ist  dem 
letzteren    ein    Anteil    zugestanden    worden. 

Es  ist  ein  Irrtum,  zu  glauben,  daß  außer  dem  Genannten 
nicht  noch  vieles  getan  worden  sei,  um  der  Vereinheitlichung 
näher  zu  kommen.  Dahin  gehört  zunächst  der  Staatsbahn- 
wagenverband,  nach  dem  die  Güterwagen  einen  einheitlichen  Wa- 
genpark bilden,  für  dessen  Benutzung  durch  die  einzelnen  Ver- 
waltungen jede  Beschränkung  fortgefallen  ist.  Gegen  die  Erwei- 
terung dieses  Verbandes  auf  Lokomotiven  und  Personenwagen 
sprachen  technische  Gründe. 

Weiterhin  kam  es  zu  einer  Eisenbahnverkehrsordnung,  in 
der  das  Tarifwesen  für  Personen,  Gepäck,  Tiere  und  Güter  eine 
solche  Grundlage  fand,  daß  nicht  bloß  in  formeller,  sondern  auch 
materieller  Art  eine  fast  lückenlose  Einheitlichkeit  gewonnen  ist. 
Eine  ständige  Tarifkommission,  in  der  nicht  bloß  die  Bahnver- 
waltungen, sondern  auch  Industrie,  Landwirtschaft  und  Handel 
vertreten  sind,  sorgte  für  die  Fortbildung  aller  Tarifvorschriften 
gegenüber  den  Bedürfnissen  des  nie  stillstehenden  wirtschaftlichen 
Lebens. 


302  V-  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1  — 1890. 

Weiter  wurden  die  Fahrpläne  in  fortlaufenden  Konferenzen 
gemeinsam  festgestellt,  der  innere  Abfertigungs-  und  der  Beför- 
derungsdienst für  das  ganze  Reich  einheitlich  geregelt;  gleiche 
Vorschriften  wurden  für  den  Betriebs-  und  Sicherungsdienst,  für 
den  Bau  und  die  Ausrüstung  der  Bahnen  auf  Grund  von  Bundes- 
ratsvorschriften erlassen.  Wenn  auch  die  Vielstaaterei  im  Süden 
des  Vaterlandes  noch  mancherlei  für  den  Verkehr  zu  wünschen 
übrig  ließ,  so  ist  doch  festzuhalten,  daß  die  meisten  Klagen, 
die  1870 — 1880  über  die  Eisenbahnen  erhoben  waren,  in  der 
neueren  Zeit  verstummt  sind.  Segensreich  hatte  sich  auch  die 
Einrichtung  von  Eisenbahnbeiräten  erwiesen,  die,  nachdem  der 
erste  1874  für  die  Reichseisenbahn  in  Elsaß-Lothringen  ernannt 
wurde,  seit  Anfang  der  achtziger  Jahre  allgemein  neben  dem 
Staatsbetriebe  standen,  um  den  großen  Wirtschaftszweigen  eine 
Mitwirkung  bei  der  Tarifgestaltung  zu  sichern. 

Das  preußische  Eisenbahnwesen,  an  dessen  Spitze  nach  M  a  y- 
b  a  c  h  der  General  B  u  d  d  e  getreten  war,  glich  in  einiger  Hin- 
sicht einer  militärischen  Organisation  und  leistete  durch  seine 
straffe  Zusammenfassung  Vorzügliches,  was  jeder  zugibt,  der 
die  ausländischen  Bahnverwaltungen  kennen  gelernt  hat.  Dieser 
Geist  war  auch  auf  die  süddeutschen  Bahnen  übergegangen. 

Das  Finanzelend  des  Reiches  nach  dem  großen  Kriege  hat 
das  Problem  der  Reichseisenbahn  wieder  erstehen  lassen,  in  das 
auch  von  neuem  der  politische  Einheitsgedanke,  der  sich  zu  einem 
Berliner  Zentralismus  gewandelt  hatte,  hineingespielt  hat.  Eine 
Vereinheitlichung  mußte  auch  jetzt  noch  einige  wirtschaftliche  Vor- 
teile bringen,  wenn  z.  B.  der  Einheitstypus  für  Schienen,  Schwellen, 
Lokomotiven,  Wagen  durchgeführt,  und  das  Behördenwesen  groß- 
betrieblich vereinfacht  wurde.  Die  Schäden  für  das  Publikum,  die 
sich  aus  der  durch  boshaften  Bureaukratismus  gesteigerten  Kon- 
kurrenz der  Staatsverwaltungen,  z.  B.  durch  die  sogenannte  Um- 
leitung des  Verkehrs,  Verhinderung  von  Anschlüssen  und  Sonder- 
bestrebungen auf  gemeinsamen  Bahnhöfen  ergaben,  mußten  eben- 
falls   wegfallen. 

Die  Reichsbahn  kann  volkswirtschaftlich  und  finanziell  nur 
befriedigend  unter  vollkommener  unparteiischer  Autorität  von  oben 
regiert  werden.  Ob  in  einem  parlamentarisch  regierten,  der  herr- 
schenden Partei  auch  pekuniär  willfährigen  und  extrem  demo- 
kratischen Staatswesen  das  Gesamtinteresse  gewahrt  werden  kann, 
wird  man  dahingestellt  sein  lassen.  Vestigia  terrent.  Die  Inter- 
essenwirtschaft des  parlamentarischen  Frankreichs,  Italiens,  der 
nordamerikanischen  Union  sind  bekannt.  Wird  nun  sogar  die 
staatssozialistische    Idee    in    das    Eisenbahnwesen    hineingetragen, 


VI.  Die  Handels-  und  Finanzpolitik  des  Fürsten  von  Bismarck.  703 


d.  h.  wird  es  zu  einem  Versorgungsinstitut  für  gefügige  Wähler 
gemacht  und  wird  die  Zahl  der  Beamten  und  Arbeiter  nicht 
allein  von  wirtschaftlichen,  sondern  auch  von  politischen  Motiven 
bestimmt,  so  droht  sofort  die  Gefahr,  daß  an  die  Stelle  der  Ren- 
tabilität   die    der    Zubußewirtschaft    tritt. 

Die  Reichsverfassung  von  19 19  hat  das  System  der  Reichs- 
eisenbahnen verwirklicht  und  glaubte  damit  den  alten  Wunsch 
vieler  Patrioten  erfüllt  zu  haben.  Allein,  wenn  zwei  dasselbe  tun, 
so  ist  es  nicht  dasselbe.  Die  Gründe,  die  ehemals  gegen  die  de- 
zentralisierten Bahnen  sprachen,  mögen  heute  noch  fortbestehen, 
diejenigen,  die  für  den  Staatsbetrieb  geltend  gemacht  wurden, 
setzten  den  ehemaligen  Staat  mit  seinem  zuverläßlichen  Beamten- 
tum, arbeitswilligen  Arbeitern  und  strenger  Disziplin  in  der  ge- 
samten  Verwaltung   voraus. 

VI.  Die  Handels-  und  Finanzpolitik  des  Fürsten 
von  Bismarck.  Das  am  11.  März  1867  von  Bismarck  im 
Reichstage  des  Norddeutschen  Bundes  geprägte  Wort:  „Setzen 
wir  Deutschland  in  den  Sattel!  Reiten  wird  es  schon  können", 
hatte  sich  in  seiner  Schlußfolgerung  auf  dem  Gebiete  der  Volks- 
wirtschaftspolitik zunächst  nicht  bewährt.  Der  Kanzler  mußte  von 
neuem   das   Roß   halten  und   die   Germania   in   den   Sattel   heben. 

Die  nationalpolitische  Einheit  war  erreicht  worden.  Das 
Reich  stand  nach  außen  so  gefestigt  da,  daß  es  der  diplomatischen 
Kunst  seines  Begründers  nicht  zu  schwer  war,  das  Gewonnene 
zu  behaupten.  Diese  bloß  erhaltende  Tätigkeit  konnte  dem  ge- 
nialen Schaffensbedürfnis  des  rüstigen  Sechzigjährigen  nicht  ge- 
nügen. Daß  er  sich  der  inneren  Politik  zuwandte,  war  eine  Not- 
wendigkeit seiner  Natur.  „Ausgebaut  mußte  werden",  heißt  es 
im  zweiten  Bande  der  , Gedanken  und  Erinnerungen'  des  Fürsten, 
„wenn  die  politischen  und  militärischen  Errungenschaften  vor  Zer- 
bröckelung  und  zentrifugaler  Rückbildung  geschützt  werden 
sollten".  Da  er  noch  bis  1890  im  Amte  blieb,  benutzte  er  die 
ihm  gegebene  Zeitspanne,  wichtigen  Teilen  der  bisher  vernach- 
lässigten Staatsordnung  den  Stempel  seines  Geistes  aufzuprägen. 
Die  Handels-,  Finanz-,  Sozial-  und  die  schon  besprochene  Eisen- 
bahnpolitik sind  die  Großtaten  dieser  Epoche.  Sie  tragen  mit 
Recht  seinen  Namen,  nicht  bloß,  weil  sie  von  ihm  entworfen  und 
durchgeführt  worden  sind,  sondern  auch,  weil  sie  seinem  tiefen 
Wissen  vom  Wesen  des  deutschen  Staates  vollkommen  entsprachen. 
Daß  während  dieser  ungeheueren  Arbeit,  bei  der  es  ein  stür- 
misches Meer  von  Schwierigkeiten  und  Widerwärtigkeiten  zu 
durchschiffen  galt,  der  Friede  mit  dem  Auslande  gesichert  blieb, 
war  eine  wichtige   Voraussetzung  für   sie.    Die  auswärtige    Politik 


304  ^-  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871 — 1890. 

ging  dann  im  Positiven  noch  über  den  Friedensschutz  mit  dem 
Erwerb  der  australischen  und  afrikanischen  Kolonien  hinaus. 

Die  Bismarcksche  äußere  Handelspolitik  datiert  offiziell  aus 
dem  Jahre  1879,  die  Schwenkung  des  Urhebers  hatte  sich  schon 
einige  Jahre  vorher  vollzogen.  Sie  bedurfte  einer  geschäftigen 
Vorbereitung  in  diesem  Riesengeiste,  um  dann  als  ein  vollendetes 
Ganzes,  dem  kein  Baustein  mangelte,  aus  ihm  hervorspringen  zu 
können.  Während  des  gewaltigen  europäischen  wirtschaftlichen 
Aufschwunges  waren  die  Fehler  des  passiven  Freihandels  für 
Deutschland  verdeckt  geblieben,  und  die  Wortführer  des  Libe- 
ralismus wurden  nicht  müde,  den  Segen  des  Tages  aus  der 
eigenen  Weisheit  abzuleiten.  Nur  so  ist  es  begreiflich,  daß  im 
Mai  1873,  kurz  nach  dem  „Wiener  Krach",  ein  Initiativantrag 
im  Reichstage  die  Aufhebung  der  Eisen-  und  Maschinenzölle 
brachte,  unterstützt  von  den  liberalen  Volkswirten  und  den  Agra- 
riern des  Ostens,  als  deren  Sprecher  der  Abgeordnete  von  B  e  h  r 
erklärte:  „Nächst  dem  Brot  und  Fleisch  ist  nichts  wichtiger 
als  freies  Eisen.  Solange  ein  deutsches  Schiff  unsere  Ostsee 
befährt,  solange  wir  in  den  Provinzen  der  Ostsee,  wo  wir  kein 
Eisen  herausgraben,  sondern  sehr  viel  Eisen  hineingraben  müssen, 
um  eine  Ernte  zu  haben,  solange  dort  der  Landmann  seinen 
Boden  zu  bestellen  haben  wird,  solange  werden  wir  freies  Eisen 
verlangen."  Die  blühende  Lage  der  Industrie  gestatte  die  Zoll- 
reform  und    die    Finanzlage    des    Reiches    nicht    minder. 

Man  wollte  also  auch  aus  den  Milliarden  der  Kriegsent- 
schädigung den  Steuerzahlern  etwas  zukommen  lassen,  denn  einen 
Steuerersatz  für  den  Zollausfall  war  man  nicht  geneigt  vorzu- 
schlagen. 

Die  Aufhebung  der  Eisenzölle,  meinte  der  Redner,  sei  ein 
Axiom,  und  Axiome  beweise  man  nicht.  So  sehr  hatte  die  allein 
seligmachende  Doktrin  des  Freihandels  den  Sinn  umnebelt,  daß 
ihre  Anhänger  nicht  sahen,  was  in  nächster  Nähe  um  sie  herum 
vorging.  Die  Majorität  des  Reichstages  war  von  dem  Antrag 
enthusiasmiert,  obwohl  der  Abgeordnete  und  Großindustrielle 
Stumm  in  sachverständiger  Weise  darlegte,  daß  die  glänzende 
Nachfrage  nach  Eisen  das  Ergebnis  der  Hochkonjunktur  gewesen 
sei,    die    im    Begriff    stände,    zu    schwinden. 

Wenige  Tage  später  ging  dem  Hause  eine  Tarifvorlage  der 
Regierung  zu,  in  der  ebenfalls  Zollerleichterungen,  besonders  für 
Eisenwaren,  enthalten  waren.  Sie  genügte  dem  Radikalismus  nicht. 
Eine  vermittelnde  Stellung  nahmen  die  Abgeordneten  M  i  q  u  e  1 , 
Varnbüler  und  Hammacher  ein,  deren  Antrag  angenommen 
wurde.    Der   Zoll   auf   Roheisen   fiel   damit   am    i.   Oktober    1873, 


VI.    Die  Handels-  und  Finanzpolitik  des  Fürsten  von  Bisnaarck.  '^0'\ 

der  für  eine  Reihe  von  Fabrikaten,  wie  für  geschmiedetes,  ge- 
walztes, fassoniertes  Eisen,  Eisenblech,  grobe  Gußwaren,  Loko- 
motiven und  andere  Maschinen  wurde  ermäßigt  und  sollte  am 
I.  Januar  1877  ebenfalls  verschwinden.  Der  Ausfuhrzoll  für 
Lumpen  wurde  sofort  beseitigt,  Seeschiffe  und  Materialien  für 
ihren  Bau  und  Dampfmaschinen  für  sie  wurden  zollfrei  ein- 
gelassen. 

Die  Handelsvertragspolitik  des  Reiches  war  in  den  ersten 
Jahren  seines  Bestehens  nicht  erheblich.  Es  wurden  zwar  einige 
unbedeutende  Verträge  abgeschlossen,  wie  1872  mit  Portugal,  1873 
mit  Persien,  auch  mit  Hawaii,  Salvador,  Costarica,  Tonga,  für 
deren  Entstehen  mehr  zufällige  Veranlassungen  vorlagen,  an  sich 
herrschte  der  Grundsatz,  die  Zölle  preiszugeben,  ohne  vom  Aus- 
lande eine  Gegengabe  zu  beanspruchen.  Dabei  litten  die  Reichs- 
finanzkraft durch  Ausfälle,  die  Industrie  nach  Eintritt  der  Ge- 
schäftsstockung durch  Überfüllung  des  Marktes  mit  fremden  Fa- 
brikaten und  die  Landwirtschaft  alsbald  durch  die  Einfuhr  billiger 
Lebensmittel. 

Das  allgemeine  wirtschaftliche  Mißbehagen  in  der  Mitte  der 
siebziger  Jahre  konnte  dem  Reichskanzler  nicht  verborgen  bleiben. 
Die  europäische  Krise  mit  ihrer  verschärften  Konkurrenz  wies 
ihn  darauf  hin,  daß  Deutschland  noch  nicht  auf  der  hohen  Stufe 
stand,  wie  man  behauptet  hatte,  da  man  vielfach  dem  Auslande 
nicht  gewachsen  war.  In  volkswirtschaftlichen  Fragen  hatte  er 
sich  bisher  auf  den  freihändlerischen  Präsidenten  des  Reichs- 
kanzleramtes R.  von  Delbrück,  weiter  auf  den  Finanzminister 
von  Camphausen  und  Männer  wie  Michaelis  und  Schele 
verlassen,  ohne  Zeit  zu  finden,  sich  in  deren  Werk  einzuarbeiten. 
1869  hatte  er  ein  reines  Finanzzollsystem,  ähnlich  dem  englischen, 
empfohlen,  1872  in  einer  Note  an  Österreich,  die  eine  drohende 
Benachteiligung  der  deutschen  Schiffahrt  von  französischer  Seite 
verhindern  sollte,  noch  erklärt,  daß  der  Kaiserstaat  durch  Fest- 
haltung früherer  Zugeständnisse  die  Möglichkeit  und  den  Beruf 
habe,  Frankreich  vom  protektionistischen  Rückschritt  fern  und 
den  erwünschten  freiheitlichen  Verkehr  in  Europa  aufrecht  zu 
erhalten. 

Allein  der  realpolitische  Sinn  und  die  intensive  Beschäftigung 
mit  der  inneren  Verwaltung  erregten  dem  Fürsten  schon  1874 
Zweifel  an  der  Zulässigkeit  der  bestehenden  Richtung,  und  in 
den  folgenden  Jahren  beginnt  von  seiner  Seite  die  Erforschung 
der  finanziellen  und  wirtschaftlichen  Aufgaben  und  der  Mittel, 
ihnen  zu  entsprechen.  1876  war  Delbrück  infolge  des  Reichs- 
eisenbahnprojektes  zurückgetreten,   dem  er   als  unbeugsamer   Ver- 

A.Sartoriusv.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        20 


306  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1 — 1890. 

treter  der  freien  Konkurrenz  nicht  zustimmen  wollte.  Er  sah 
mit  Sicherheit  den  Tag  herannahen,  an  dem  er  mit  dem  Kanzler 
in  unüberbrückbare  Meinungsverschiedenheiten  gelangen  mußte 
und  zog  es  vor,  in  Frieden  und  in  vollen  Ehren  das  Amt  nieder- 
zulegen. Er  vermochte  nicht,  sich  auf  die  höhere  Warte  der 
notwendigen    historischen    Wandlung    zu    stellen    und    umzulernen. 

B  i  s  m  a  r  c  k  dachte  nicht  so,  daß  man  an  politischen  Mitteln 
festhalten  müsse,  wenn  man  sie  als  nicht  mehr  zeitgemäß  erkannt 
habe.  Und  somit  hat  er  später  erklärt:  „Wenn  ich  in  Widerspruch 
mit  mir  selber  zu  treten  hätte,  so  würde  ich  es  für  mein  eigenes 
Ansehen  außerordentlich  beklagen,  wenn  ich  aber  sehe,  daß  es 
im  Dienste  des  Landes  notwendig  ist,  so  würde  ich  keinen  Au- 
genblick anstehen,  den  Weg,  den  ich  als  irrtümlich  erkenne, 
zurückzugehen,  meinen  Irrtum  offen  eingestehen  und  entweder 
anderen,  die  es  besser  verstehen,  Platz  machen,  oder,  wenn  es 
von  mir  verlangt  würde,  selbst  die  Sache  besser  machen  als 
früher." 

Für  ihn  war  der  Rücktritt  Delbrücks  eine  Veranlassung, 
sich  eingehender  mit  der  Finanz-  und  Wirtschaftspolitik  zu  be- 
fassen, zumal  ein  ausreichender  Ersatz  des  scheidenden  Ministers 
nicht  gefunden  wurde.  Nach  wenigen  Jahren  schon  wußte  er 
zu  zeigen,  daß  von  einem  Dilettantismus,  den  ihm  seine  Gegner 
andichteten,  nicht  das  geringste  auf  Wahrheit  beruhte.  Nach 
kurzen  Lehrjahren  war  er  auch  hier  der  Meister  geworden,  dessen 
Werke  den  früheren  auf  dem  Gebiete  der  auswärtigen  Politik 
und  des  Verfassungslebens  ebenbürtig  geworden  sind.  Er  hatte 
den  Mut,  mit  der  liberalen  Handelspolitik  zu  brechen  und  be- 
gründete ihn  auf  seiner  vollsten  Überzeugung.  Gewiß  war  er  in 
den  sechziger  Jahren  dem  Freihandel  nicht  abgeneigt  gewesen, 
zumal  er  das  Wohl  der  damals  daraus  Nutzen  ziehenden  Land- 
wirtschaft für  die  sicherste  Grundlage  des  volkswirtschaftlichen 
Gedeihens  erachtete.  So  war  es  nur  folgerichtig,  daß  er  jetzt 
dem  in  eine  Notlage  geratenden  Körnerbau  seine  Beihilfe  nicht 
versagte.  Ob  mit  dem  Zoll  oder  anderswie,  kam  ihm  erst  an 
zweiter  Stelle.  Sagte  er  doch  einem  Agrarpolitiker  einmal:  Zeigen 
Sie  mir  ein  besseres  Mittel  als  den  Schutzzoll,  ich  will  es  gern 
annehmen.    Aber   dieser  wußte   kein   besseres   zu   empfehlen. 

B  i  s  m  a  r  c  k  war  nicht  an  sich  für  hohe  oder  niedrige  Zölle, 
für  Handelsverträge  oder  autonome  Regelung  der  Zollpolitik.  „Ich 
will  dem  System  der  Handelsverträge  nicht  entgegentreten",  be- 
merkte er  einmal,  „nur  ein  Handelsvertrag  an  sich  ist  nichts, 
vas  ich  anstrebe,  es  kommt  auf  den  Inhalt  an."  Kenntnis  der 
Gegenwart,  die  geschichtliche  Erfahrung  haben  nach  ihm  zu  ent- 


VI.    Die  Handels-  und  Finanzpolitik  des  Fürsten  von  Bismarck.  tq? 

scheiden.  Er  dachte  nicht  anders  als  Friedrich  der  Große, 
der  bei  seiner  Verwaltungspolitik  sich  durch  die  physiokratischen 
Sätze  nicht  beirren  ließ,  so  sehr  er  auch  die  französischen  Denker 
seiner  Zeit  als  solche  schätzte:  „Die  Herren  Enzyklopädisten"', 
schrieb  er  1777,  „werden  vielleicht  nicht  immer  meiner  Meinung 
sein;  ein  jeder  kann  die  seine  haben.  Allemal,  wenn  die  Erfah- 
rung von  allen  Führern  die  sicherste  ist,  so  wage  ich  zu  sagen, 
daß  meine  Sätze  einzig  allein  auf  das  sich  gründen,  was  ich  ge- 
sehen   und    überlegt    habe." 

Zunächst  trat  der  Kanzler  mit  seinen  Plänen  noch  nicht 
in  der  Öffentlichkeit  hervor,  wenn  auch  aus  seinen  gelegentlichen 
Äußerungen  schärfer  Blickende  den  Umschlag  voraussagten.  Er 
verstand  zu  warten,  da  er  wußte,  daß  die  Zeit  für  ihn  arbeitete. 
Die  Eisenfabrikzölle  standen  vor  ihrer  Beseitigung  noch  einige- 
mal zur  Beratung.  So  1876,  als  eine  Massenpetition  mit  60000 
Unterschriften  für  ihre  Aufrechterhaltung  eintrat.  Bismarck 
war  nicht  abgeneigt,  ihr  nachzugeben,  ließ  es  aber  beim  Alten, 
da  er  eine  Ministerkrise  damals  vermeiden  wollte.  Ein  zweites 
Symptom  für  seine  neue  Stimmung  war  die  Beantwortung  der 
Interpellation  E.  Richters,  „was  die  Regierung  gegen  Rußland 
zu  tun  gedenke",  welches  Land  angeordnet  hatte,  daß  die  an 
sich  schon  hohen  Zölle  in  Gold  erhoben  werden  sollten.  Die  Ant- 
wort ging  dahin,  daß  die  Auflegung  von  Retorsionszöllen  auf 
Getreide,  Holz  und  Spinnstoffe  der  einzige  Weg  sei,  um  der 
deutschen  Ausfuhr  den  Zugang  nach  Rußland  zu  verschaffen. 
Ein  rein  politisches  Mittel  zu  gebrauchen,  könne  nicht  empfohlen 
werden,  man  solle  Wirtschaftliches  mit  Politischem  nicht  ver- 
quicken, die  Notlage  Rußlands  bei  dem  Türkenkriege  auszu- 
nutzen sei  mißlich,  da  es  bei  der  nächsten  Gelegenheit  Vergel- 
tung   üben    werde. 

Von  wirtschaftlicher  Retorsion  wollte  die  Majorität  des 
Reichstages  nichts  wissen,  da  sie  dem  Kodex  der  Freihandels- 
lehre nicht  entsprach.  Sie  hielt  sich  an  den  Ausspruch  des  fran- 
zösischen Revolutionsmannes  Saint  Just,  daß  das  Prinzip  fort- 
bestehen  müsse,   wenn   auch   die   Welt   zugrunde   gehe. 

Auch  bei  den  Debatten,  die  anläßlich  der  französischen  Aus- 
fuhrprämien auf  Eisenwaren  im  Reichstag^  stattfanden,  vertei- 
digte der  Reichskanzler  eine  Ausgleichsabgabe,  die  die  Regie- 
rung in  einer  Vorlage  begründet  hatte.  Seine  Worte,  daß  die 
Zustimmung  des  Reichstages  für  seine  Zwecke  nur  eine  Abschlags- 
zahlung sein  könne,  machten  tiefen  Eindruck.  Im  April  1877 
wurde  die  Abwehr  gegen  Frankreich  abgelehnt.    Es  war  dies  der 

letzte    parlamentarische    Sieg   der    extremen    Freihändler,    den    der 

00* 


308  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs    1871  — 1890. 

Abgeordnete  von  Schorlemer  mit  Recht  einen  Pyrrhussieg 
nannte.  Die  allgemeine  Meinung  fing  bei  der  langen  Dauer  des 
Geschäftsniederganges  an  umzuschlagen,  zumal  der  Versuch,  die 
Aufhebung  der  Eisenfabrikatzölle  hinauszuschieben,  im  Reichstage 
gescheitert  war.  Auch  während  des  Jahres  1877  hielt  Bis- 
marck  noch  mit  Vorschlägen  zurück.  Er  hob  allerdings  hervor, 
daß  die  Finanzen  des  Reiches  auf  neuer  Grundlage  gekräftigt 
werden  müßten  und  betonte  seine  Vorliebe  für  indirekte  Ver- 
brauchssteuern, um  die  drückenden  Matrikularumlagen  zu  besei- 
tigen, hielt  es  aber  für  geboten,  da  er  kein  Stückwerk  haben 
wollte,  eine  bessere  parlamentarische  Konstellation  abzuwarten. 
Daß  sie  kommen  werde,  lehrte  ihm  ein  Antrag  des  Frhr.  von 
Varnbühler,  Dr.  Buhl,  Frhr.  von  Schorlemer,  Acker- 
mann und  Bergmann:  „Es  wolle  die  Reichsregierung,  in 
Erwägung,  daß  die  Zollgesetzgebung  des  Deutschen  Reiches 
den  Grundsätzen  gerechter  und  zweckmäßiger  Besteuerung  viel- 
fach nicht  entspricht,  und  Industrie  und  Landwirtschaft  darunter 
leiden,  ersucht  werden,  kommissarisch  die  Produktionsverhältnisse 
der  deutschen  Industrie  und  Landwirtschaft  untersuchen  zu  lassen, 
und  vor  der  Beendigung  dieser  Untersuchung  und  Feststellung 
der  sich  hieraus  ergebenden  Resultate  Handelsverträge  nicht  ab- 
schließen." Denn  im  Jahre  1877  lief  der  Vertrag  mit  Österreich- 
Ungarn  ab,  und  es  stand  nicht  zu  erwarten,  daß  von  diesem 
jetzt  schutzzöllnerisch  gesinnten  Lande  etwas  Wesentliches  zu  er- 
reichen war,  da  man  deutscherseits  bei  den  niedrigen  Industrie- 
zöllen und  dem  Fehlen  der  agraren  keine  Zugeständnisse  von 
Wert  machen  konnte.  So  wurden  denn  die  Verhandlungen  abge- 
brochen. Eine  Enquete  über  die  gesamten  Produktionsverhält- 
nisse zu  veranstalten,  hielt  die  Regierung  mit  Recht  für  zu 
weitgehend,  sie  auf  die  Eisen-,  Baumwoll-  und  Leinenindustrie 
zu    beschränken,    wurde    zugestimmt. 

Von  den  Antragstellern  wies  Varnbüler  zudem  nach,  daß 
in  dem  bestehenden  Tarif  kein  einheitlicher  Gedanke  mehr  zu 
finden  sei,  da  er  nach  und  nach  aus  zahlreichen  inneren  Kom- 
promissen und  aus  Handelsverträgen  entstanden  sei.  Überall 
herrschten  Widersprüche,  feine  Waren  wurden  geringer  als 
gröbere  bezollt,  Halbfabrikate  und  Fertigfabrikate  niedriger  als 
manche  Roh-  und  Hilfsstoffe.  In  verschiedenen  Positionen  war 
noch  der  preußische  Tarif  von  18 18  maßgebend,  der  für  die 
Anfänge  der  Industrie  passend  gewesen  sein  mochte,  gegenwärtig 
für    eine    entwickelte    nicht    genügen    konnte. 

Es  war  der  Antrag  eine  deutliche  Stimme  gegen  die  Ma- 
jorität des  Reichstages,  und,  indem  die  Regierung  diese  Berechti- 


VI.   Die  Handels-  und  Finanzpolitik  des  Fürsten  von  Bismarck.  ■JOQ 

gung  anerkannte,   wurde  ein  entschiedener  Schritt  zu  einer   Neu- 
ordnung  getan. 

Eine  erste  Orientierung  brachte  die  halbamtliche  Provinzial- 
korrespondenz  vom  lo.  April  1878:  „Wie  auf  dem  Gebiete  der 
Steuerpolitik,  so  ist  des  Kanzlers  Streben  auch  in  der  Zollpolitik 
des  Reiches  darauf  gerichtet,  die  Behandlung  der  Zollfragen  nicht 
nach  den  Auffassungen  und  Geboten  bloßer  Lehrmeinungen,  son- 
dern vor  allem  nach  den  Anforderungen  der  tatsächlichen  Lage 
der  Dinge  und  nach  den  wirklichen  Bedürfnissen  des  Volkes 
zu  gestalten.  Unsere  Handelspolitik  huldigt  im  weitesten  Maße 
dem  System  des  Freihandels,  und  die  Vorzüge  desselben  an  und 
für  sich  sollen  nicht  bestritten  werden,  insofern  dabei  die  Ge- 
genseitigkeit unter  den  Völkern  gewahrt  ist,  —  ohne  Gegenseitig- 
keit schädigt  der  Freihandel  denjenigen,  der  sich  ,eder  dem  Prin- 
zip  zu   opfern  bereit   ist." 

Zur  Erläuterung  mag  dienen,  daß  Frankreich  weit  höhere 
Zölle  als  Deutschland  hatte  und  seine  Eisenindustrie  durch  Aus- 
fuhrprämien begünstigte,  daß  man  in  Österreich  im  Begriffe  war, 
zu  höheren  Zöllen  überzugehen,  wo  man  zudem  den  passiven  Frei- 
handel nicht  mitgemacht  hatte,  daß  in  Rußland  der  an  sich  hohe 
Tarif  durch  die  erwähnte  Zollentrichtung  in  Gold  und  durch 
andere  Maßregeln  erhöht,  in  den  Vereinigten  Staaten  1875  der 
Schutz   der   heimischen   Waren   verstärkt   worden   war. 

Im  August  1878  kamen  die  deutschen  Finanzminister  in 
Heidelberg  zusammen,  um  die  künftige  Reichsfinanzpolitik  zu  be- 
sprechen. Hier  wurde  eine  volle  Übereinstimmung  insofern  erzielt, 
als  der  Ausbau  der  Verbrauchsabgaben  als  notwendig  anerkannt 
wurde,  was  auf  das  künftige  Zollwesen  zurückwirken  mußte.  Die 
politische  Lage  hatte  sich  inzwischen  für  den  Reichskanzler  seinen 
Wünschen  gemäß  geändert.  An  die  Stelle  der  liberalen  Minister 
V.  Camphausen  und  Achenbach  waren  Hobrecht  und 
M  a  y  b  a  c  h  getreten,  und  in  dem  neuen  Reichstage,  der  das  So- 
zialistengesetz bewilligt  hatte,  war  die  liberale  Mehrheit  nicht 
mehr  vorhanden.  Die  große  liberale  Partei  hatte  einen  linken 
Flügel,  „die  Sezession",  abgegeben,  wobei  die  Wirtschaftsfrage 
mitspielte,  wenn  auch  die  Furcht  „vor  einer  politischen  Reaktion" 
das  Entscheidende  gewesen  sein  mag.  Die  rechte  nationalliberale 
Seite  hielt  zur  Regierung.  Eine  im  Oktober  mit  204  Unter- 
schriften versehene,  von  der  freien  volkswirtschaftlichen  Vereini- 
gung des  Reichstages  ausgehende  Erklärung,  nach  der  die  Re- 
form des  ZoUtarifes  gefordert  wurde,  erbrachte  den  Beweis  des 
schwindenden    Liberalismus.     Seine    persönliche    Zustimmung    ver- 


3IO  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871  — 1890. 

öffentlichte  Bismarck  in  einem  Schreiben  an  Varnbüler  und  stellte 
baldige  Anträge  an  den  Bundesrat  in  Aussicht.  Sie  erfolgten  im 
November,  und  eine  Kommission  zur  Prüfung  des  Zolltarifes 
wurde  empfohlen.  Vier  Wochen  später  werden  in  einem  Schreiben 
an  den  zustimmenden  Bundesrat  die  Ziele  des  näheren  auseinander- 
gesetzt. In  erster  Linie  wird  die  finanzielle  Neuordnung  betont, 
Verminderung  der  drückenden,  direkten  Steuerlast  unter  Vermeh- 
rung der  auf  indirekten  Abgaben  beruhenden  Einnahmen  des 
Reiches.  Dann  folgt  die  handelspolitische.  Erörterung:  Nicht  ein- 
zelne Artikel  sollen  mit  höheren  Zöllen  belegt  werden,  sondern 
das  Richtige  sei  die  Rückkehr  zu  dem  Prinzip  der  Zollpflichtig- 
keit aller  über  die  Grenze  eingehenden  Gegenstände,  wie  das 
im  preußischen  Tarif  von  1818  so  gewesen  sei.  Ausgenommen 
sollen  sein  die  für  die  Industrie  unentbehrlichen  Rohstoffe,  die 
in  Deutschland  gar  nicht,  wie  z.  B.  Baumwolle,  und  nach  Be- 
finden auch  die,  welche  nur  in  einer  ungenügenden  Quantität  oder 
Qualität  erzeugt  werden  können.  Von  der  prinzipiellen,  ab- 
strakt gedachten  Angemessenheit  des  international  gegenseitigen 
Freihandels  scheint  der  Kanzler  abgekommen  zu  sein:  „Ich  lasse 
es  dahingestellt,  ob  ein  Zustand  vollkommener  gegenseitiger  Frei- 
heit des  internationalen  Verkehrs,  wie  ihn  die  Theorie  des  Frei- 
handels als  Ziel  vor  Augen  hat,  den  Interessen  Deutschlands  ent- 
sprechen würde."  Die  Idee  ist  auch  schwerlich  mit  einer  Wirt- 
schaftspolitik in  Einklang  zu  bringen,  die  die  Aufgabe  hat,  die 
„gesamte  nationale  Produktion  zu  heben".  Dieser  Zweck  erscheint 
als  höchster  und  kann  daher  einem  auf  internationaler  Produk- 
tionsverteilung aufgebauten  gemeinsamen  Wohle  vieler  Völker 
nicht   untergeordnet    werden. 

Es  ist  nicht  daran  gedacht,  einigen  Erwerbszweigen  ein 
Privilegium  einzuräumen,  sondern  der  gesamten  inländischen  Pro- 
duktion soll  ein  Vorzug  vor  der  ausländischen  auf  dem  einheimi- 
schen Markt  gewährt  werden.  Indem  sich  somit  durch  eine  all- 
gemeine, allen  Produzenten  nützliche  Preissteigerung  die  deutsche 
Volkswirtschaft  vom  Weltmarkt  abhebt,  können  nachteilig  die- 
jenigen betroffen  werden,  die  wirtschaftlich  nicht  produzieren. 
Demgegenüber  wird  nachgewiesen,  daß  der  allgemein  steigende 
Wohlstand,  der  durch  die  Vermehrung  der  Arbeitsgelegenheit  ent- 
steht, auch  jenen  zugute  kommen  werde,  und  daß  reichere  Fi- 
nanzmittel  eine   Erhöhung   der   Beamtengehälter   zulässig  machen. 

Schließlich  wird  die  Rechtslage  mit  dem  Auslande  unter- 
sucht und  die  autonome  Zollpolitik  empfohlen,  ohne  den  Handels- 
verträgen  zur   Erleichterung   der    Ausfuhr   zu    präjudizieren.     Für 


VI.    Die  Handels-  und  Finanzpolitik  des  Fürsten  von  Bismarck.  -tu 

etwaige  Verhandlungen   sei  ein   neuer,   genügend  hoher  Tarif  die 
Voraussetzung. 

Die  Landwirtschaft  wird  in  dem  Schreiben  nicht  besonders 
erwähnt,  ihr  geplanter  Schutz  ergibt  sich  aus  der  allgemeinen 
Erörterung.  In  mehreren  Zuschriften  des  Kanzlers  an  Vertre- 
tungen der  Landwirtschaft  im  Januar  1879  wird  er  ausdrücklich 
bestätigt. 

Wenn  sich  auch  die  neue  Politik  nicht  zu  sehr  in  der  Höhe 
der  Sätze  von  der  des  späteren  Zollvereins  unterschied,  so  war 
doch  unter  den  jetzigen  Verhältnissen  des  Auslandsgeschäftes  eine 
Abweichung  gegeben,  die  auch  auf  die  Begründung  zurück- 
wirkte. Die  deutsche  Industrie  war  in  den  letzten  25  Jahren  so 
erstarkt,  daß  der  Abstand  von  einer  überlegenen,  andersstaat- 
lichen kleiner  geworden  war,  derselbe  Zoll  also  mehr  bedeutete 
als  ehedem.  —  War  der  Gedanke  der  allgemeinen  Zollpflicht  im 
Zollverein  wohl  anerkannt,  so  hatte  doch  dem  Agrarschutz  kein 
dauernder  Wert  beigemessen  werden  können.  Denn  damals  ver- 
sorgte sich  das  deutsche  Wirtschaftsgebiet  ausreichend  mit  Le- 
bensmitteln, und  die  Zölle  verteuerten  sie  in  der  Regel  nicht  ge- 
genüber den  Weltmarktpreisen.  Die  deutsche  Ausfuhr  beeinflußte 
vielmehr  die  Gestaltung  der  europäischen  Getreidepreise  nachweis- 
bar. 1879  wurde  das  amerikanische  und  osteuropäische  Getreide 
auf  dem  Weltmarkte  führend.  Der  industrielle  Schutz  des  Zoll- 
vereins war  eine  Bevorzugung  gewesen,  die  die  Landwirte  nicht 
anfochten,  weil  sie  durch  die  hohen  Transportkosten  —  die  heute 
noch  die  voluminöse  Kartoffel  schützen  — ,  tatsächlich  gesichert 
waren.  Das  war  anders  geworden,  seitdem  die  Eisenbahnen  und 
Dampfschiffe  die  Märkte  versorgten.  Der  Schutz  war  auch  nicht 
allein  gegen  die  technische  Überlegenheit  der  ausländischen  In- 
dustrie geboten,  sondern  sollte  die  heimische  erhalten  gegenüber 
der    abgestoßenen    Menge    der    fremden    Überproduktion. 

Die  deutsche  Volkswirtschaft  soll  als  ein  selbständiger  Or- 
ganismus aus  eigenen  Kräften  zur  Blüte  gelangen.  Es  ist  der  Ge- 
danke der  volkswirtschaftlichen,  in  der  Gegenwart  zu  verwirk- 
lichenden Wechselwirkung,  auf  die  hingezielt  wird,  wonach  sich 
Landwirtschaft,  Industrie,  Handel,  Transportwesen,  Banken,  Schiff - 
fahrt  unter  gegenseitiger  Nachfrage  einem  Angebot  gegenüber, 
das  von  außen  nicht  gestört  wird,  heben  sollen,  während  mit 
diesem  Gedeihen  die  Unternehmer  in  der  Lage  sind,  steigende 
Löhne  zu  zahlen  und  den  Arbeitern  ohne  Unterbrechung  Arbeit 
zu  geben  und  auch  sonstige  Mittel  zur  Besserung  der  handarbei- 
tenden Klasse  aufzubringen,  was  später  bei  der  Begründung  der 
Zuschüsse  zu  der  Arbeiterversicherung  wieder  betont  wurde. 


XI  2  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1  — 1890. 

Bismarck  hat  kein  theoretisches  System  einer  solchen  na- 
tionalen Handelspolitik  nach  allen  Richtungen  hin  entwickelt,  und 
doch  war  es  ein  System,  kein  solches,  das  auf  einem  als  ewig 
richtig  gedachten,  abstrakten  Prinzip  aufgebaut  war,  sondern  nur 
ein  historisch-relatives.  Er  erklärte,  daß  ihn  die  abstrakten  Lehren 
der  Wissenschaft  ganz  kalt  ließen.  Die  Geschichtie  war  ihm 
immer  nur  Beweismittel  zu  seinen  Ausführungen,  niemals  ein  Ob- 
jekt für  eine  dialektische  Methode.  Allein  das  staatsmännische 
Genie  erfaßt  die  Dinge  intuitiv  am  richtigen  Zipfel.  Die  nach- 
folgenden gegebenen  Begründungen  sind  analytische  Urteile  einer 
inneren   Überzeugung. 

Man  hat  Bismarcks  Gedankengänge  mit  denen  des  ameri- 
kanischen Soziologen  und  Schutzzöllners  H.  Ch.  Carey  ver- 
glichen. Das  ist  insofern  zulässig,  als  dieser,  der  zwischen  1840 
und  1860  die  Vereinigten  Staaten  von  der  englischen  Industrie- 
und  Handelssuprematie  befreit  haben  wollte,  alles  von  der  gegen- 
seitigen Befruchtung  der  produktiven  Kräfte  im  Innern  des  Landes  er- 
wartete: der  zunehmenden  Bevölkerung,  des  vermehrten  Reichtums, 
der  intensiveren  Landwirtschaft,  der  neuen  Technik  und  der  Großbe- 
triebe in  der  Industrie,  des  Wohles  der  Arbeiter,  der  Vertiefung  der 
Arbeitsteilung,  was  alles  selbst  wieder  solche  Kräfte  für  andere 
Ziele  sind.  Das  soziologische  Prinzip  der  freien  Assoziation,  durch 
das  das  Individuum  aus  seiner  ökonomisch  unzulänglichen  Ver- 
einzelung herausgehoben  wird,  ist  ihm  das  Entscheidende.  Es 
ist  ein  optimistisch-ethischer  Grundgedanke,  den  er  in  der  Welt- 
geschichte tätig  vorfindet,  dessen  sich  die  Menschheit  bewußt 
zu  werden  habe,  um  das  ihm  feindliche  Gegenprinzip  des  auf- 
saugenden Zentralismus  zu  bekämpfen.  Von  einer  solchen,  zu- 
dem religiös  gefärbten  Philosophie  stand  die  nationale  Realpolitik 
Bismarcks  fernab.  Sein  ganzes  Werk  ist  in  allen  Einzelheiten 
auf  die  praktische  Anforderung  seiner  Zeit  und  seines  Landes 
gerichtet,  wenn  er  auch  die  absehbare  Zukunft  seines  Volkes 
damit  wohl  zu  vereinen  verstand.  Er  nimmt  von  dem  historisch 
gegebenen  Staat  mit  seinen  Machtmitteln  den  Ausgang,  in  die 
der  Schutzzoll  ohne  Widerspruch  hineinpaßt.  Der  Amerikaner 
geht,  wie  einst  das  Smith  sehe  Industriesystem,  von  dem  freien 
Individuum  aus,  das  die  Bürgschaften  für  das  Gedeihen  des 
Ganzen  in  sich  trägt,  so  daß  die  Staatshilfe  zu  einer  schwer 
beweisbaren  Ausnahme  gemacht  werden  muß. 

Nun  geht  die  Angelegenheit  rasch  vorwärts.  Anfang  April 
ist  der  Entwurf  des  Tarifes  fertiggestellt,  die  Enqueten  haben 
ihre    Arbeiten    beendet,    deren    Ergebnisse    benutzt    werden.     Der 


VI.    Die  Handels-  und  Finanzpolitik  des  Fürsten  von  Bismarck.  i  j  7 

Bundesrat   stimmt   zu,   und   dem   Reichstage   wird   das   Gesetz   mit 
eingehender    Begründung    sofort    vorgelegt. 

Der  neue  Tarif  brachte  einen  Industrieschutz  ungefähr  so, 
wie  er  1865  bestanden  hatte.  Hauptsächlich  waren  die  autonomen 
Herabsetzungen  nach  dieser  Zeit  rückgängig  gemacht  worden. 
Er  war  systematischer  durchdacht.  Roheisen  kam  wieder  auf 
I  Mark  für  100  Kilogramm,  die  auch  bis  1873  erhoben  worden 
war.  Während  der  Verhandlungen  wurden  nach  den  Anträgen 
aus  dem  Reichstage  einige  Finanz-  und  Halbfabrikatzölle  erhöht, 
die  Zölle  auf  Baumwollgarn  nach  der  Feinheit  weiter  abgestuft. 
Die  niedrigen  Getreidezölle,  i  Mark  für  100  Kilogramm  Weizen, 
Roggen,  Hafer  und  Hülsenfrüchte  —  die  Regierung  hatte  für 
Roggen  nur  50  Pfennige  vorgeschlagen  —  wurden  vornehmlich 
als  Finanzzölle  und  Belastung  der  Spekulation  begründet,  waren 
aber  doch  als  Anfang  eines  Schutzes  gedacht,  um  nach  Bedarf 
heraufgesetzt  zu  werden.  Sie  galten  auch,  wie  es  bei  den  Holz- 
zöllen ausgesprochen  worden  war,  als  Kompensationsobjekt,  falls 
es  mit  Österreich-Ungarn  und  Rußland  zu  einem  Handelsvertrage 
kommen  sollte.  Höher  waren  die  Fleisch-  und  Viehzölle  gesetzt, 
die    der    auswärtigen    Konkurrenz    begegnen    sollten. 

Von  Wichtigkeit  war  der  Retorsionsartikel  des  Zollgesetzes, 
nach  dem  die  Regierung  das  Recht  hat,  Waren,  die  aus  Staaten 
kommen,  die  deutsche  Waren  oder  Schiffe  deutscher  Herkunft 
ungünstiger  behandeln  als  diejenigen  anderer  Staaten,  mit  einem 
Zuschlage  bis  zu  50  0/0  des  Betrages  der  tarifmäßigen  Eingangs- 
gabe zu  belegen. 

Es  waren  die  künftigen  Beziehungen  zu  fremden  Staaten, 
wie  man  sieht,  nicht  vernachlässigt  worden,  wenn  es  sich  auch 
zunächst   nur   um   eine   autonome   Zollpolitik   handelte. 

Die  parteipolitische  Lage  war  im  Reichstage  die,  daß  sich 
die  Regierung  auf  das  Zentrum  zu  stützen  hatte,  das  unter  stren- 
ger Betonung  der  konstitutionellen  Grundsätze  bei  allen  Steuer- 
bewilligungen die  Vorlage  guthieß  und  dabei  auf  eine  kirchen- 
politische Gegengabe  rechnete.  Der  Führer  Windhorst  ver- 
stand es,  die  demokratisch-dissentierenden  Mitglieder  der  Partei 
im  Zaume  zu  halten.  Die  Nationalliberalen  unter  R.  v.  Bennig- 
s  e  n  waren  für  den  industriellen  Schutz  und  für  die  Finanzreform, 
ihre  freihändlerischen  Mitglieder  unter  Laskers  Leitung  bil- 
deten die  Reichstagsfraktion  der  Sezessionisten.  Von  den  Konser- 
vativen war  die  große  Mehrzahl  für  die  Vorschläge  der  Regie- 
rung, die  Linksliberalen  und  die  Sozialdemokraten  machten  hef- 
tige Opposition.    Der  Erfolg  der  Regierung  war  von  vornherein 


■IIA  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1  — 1890. 

nicht  zweifelhaft,  die  Majorität,  die  gewonnen  wurde,  übertraf 
ihre    Erwartungen. 

Der  Gedanke,  die  produktiven  Stände  zu  einem  gemeinsamen 
Handeln  zusammenzuschweißen,  war  gelungen,  und  damit  war 
eine  Stetigkeit  auch  der  kommenden  gesamten  deutschen  Wirt- 
schaftspolitik angebahnt.  Solange  Bismarck  das  Steuer  führte, 
hat  die  gewonnene  Solidarität  der  Interessen  auch  eine  Einmütig- 
keit   ihrer    parlamentarischen    Vertreter    gebracht. 

Die  neue  Politik  ist  für  Deutschland  die  richtige  gewesen, 
wie  dies  die  spätere  Zeit  bewiesen  hat.  Das  Sichstützen  auf  den 
inneren  Markt  setzt  voraus,  daß  dieser  hinlänglich  entwicklungs- 
fähig ist.  Er  ist  es  bei  einem  großen  Wirtschaftsgebiete,  einer 
steigenden  Bevölkerung,  er  ist  es,  wenn  die  Kräfte  des  Bodens, 
des  Bergbaues  reich  sind  und  steigenden  Anbau  oder  Abbau  ver- 
tragen, wenn  Talente  in  der  Nation  vorhanden  sind,  technische 
und  ökonomische  Neuorganisationen  zu  schaffen,  und  hinlänglich 
menschliche  Energie  sie  ausnutzen,  wenn  die  sozialen  Gegensätze 
sich  in  zeitgemäße  Formen  eingliedern  und  eindämmen  lassen. 
Daß  das  Auslandsgeschäft  neben  der  Entfaltung  des  inneren 
Marktes  nicht  vernachlässigt  zu  werden  braucht,  wurde  bald  er- 
wiesen. Es  hat  in  ihr  die  beste  Voraussetzung  gehabt.  Der  Pflege 
der  Ausfuhr  hat  der  Reichskanzler  in  seiner  Kolonialpolitik,  in 
der  Unterstützung  der  Hamburger  Hafenbauten,  in  dem  Schaffen 
günstiger  Vorbedingungen  zu  Handelsverträgen  die  Anerkennung 
auch   nicht    versagt. 

Wir  dürfen  mit  Recht  aussprechen,  daß  die  Politik  von  1879 
wie  vom  wirtschaftlichen  Standpunkt  der  Berufszweige,  so  von 
dem  des  Parteiwesens  national  gehalten  ist.  Sie  ist  zugleich 
auch  deutsch  empfunden.  Die  englische  Theorie  des  Freihandels 
erhebt  sich  auf  der  dürren,  nur  das  Individuum  beachtenden 
Utilitätslehre.  Die  Bismarcksche  Anschauung  stellt  als  höchstes 
Ziel  das  Wohl  des  geschichtlich  gewordenen  Volksganzen.  Das 
Wort  „organisch"  wird  dafür  gern  gebraucht.  So  sagte  der 
Kanzler  in  der  Rede  vom  2.  Mai  1879:  „In  allen  diesen  Fragen 
halte  ich  von  der  Wissenschaft  (des  Staatslebens)  gerade  so 
wenig  wie  in  irgendeiner  anderen  Beurteilung  organischer  Bil- 
dungen. —  Wir  wollen  sehen,  wie  wir  dem  deutschen  Körper 
wieder  Blut,  wie  wir  ihm  die  Kraft  der  regelmäßigen  Zirkulation 
des    Blutes    wieder    zuführen    können." 

Der  preußische  Staat  mit  seiner  monarchischen  Spitze,  mit 
seinem  nach  oben  verantwortlichen  Beamtentum,  mit  seinem  all- 
gemeinen Wehrdienst,  mit  den  Pflichten  der  Untertanen  gegen 
die   Krone   und   den    Pflichten   der   Krone   gegen   die   Bürger  ent- 


VI.    Die  Handels-  und  Finanzpolitik  des  Fürsten  von  Bismarck.  2  I  c 

spricht  dem  Kant  sehen  Geist.  Kant  lebte  unter  Friedrich  dem 
Großen,  der  sich  als  den  ersten  Diener  seines  Staates  bezeichnet 
hatte,  „verpflichtet,  mit  Rechtschaffenheit,  mit  Weisheit  und  mit 
völliger  Uneigennützigkeit  zu  handeln,  wie  wenn  er  in  jedem 
Augenblicke  seinen  Mitbürgern  Rechenschaft  über  seine  Ver- 
waltung ablegen  müßte".  Der  große  König  wurde  nach  solchen 
Worten  nicht  müde,  sich  und  dem  Thronfolger  die  hehren 
Pflichten  des  Fürstenamtes  vorzuhalten:  „Alle  Zweige  der  Staats- 
leitung", sagte  er  nach  dem  zweiten  schlesischen  Kriege,  als 
er  sich  dem  Wirken  der  inneren  Verwaltung  zuwandte,  ,, stehen 
miteinander  in  innigem  Zusammenhange,  Finanzen,  Politik  und 
Kriegswesen  sind  untrennbar;  es  genügt  nicht,  daß  eines  der 
Glieder  wohl  besorgt  wird,  sie  wollen  es  alle  gleich  sein;  sie 
müssen  gelenkt  werden  in  geradgestreckter  Flucht,  Stirn  bei  Stirn 
wie  das  Viergespann  im  "olympischen  Wagenkampf,  der  mit 
gleicher  Wucht  und  gleicher  Schnellkraft  die  vorgezeichnete  Bahn 
durchmaß,  den  Wagen  zum  Ziele  trug  und  seinem  Lenker  den 
Sieg    sicherte." 

Hierzu  macht  R.  Koser  in  seinem  Buche  über  Friedrich 
den  Großen,  dem  wir  die  Zitate  entnehmen,  den  Zusatz:  „Seiner 
Siege  sicher,  auch  auf  dem  Felde  unblutigen  Wettbewerbes,  in- 
mitten der  neuen  großen  Aufgaben,  die  der  schwer  erstrittene 
Friede  ihm  stellte,  meinte  er,  jetzt  erst  seine  Regierung  wahrhaft 
begonnen  zu  haben,  in  dem  Sinne,  daß  wahrhaft  regieren  das 
Glück  des  Volkes  fördern  hieße,  daß  wahrhaft  sich  nur  im 
Frieden    regieren    lasse." 

Genau  so  hat  auch  Bismarck  gedacht,  als  er  nach  der  Reichs- 
gründung mit  Blut  und  Eisen  sich  der  Wirtschafts-  und  So- 
zialreform zuwandte.  Das  Wesen  des  preußischen  Staatslebens 
galt  es  auf  das  Wirtschaftsleben  und  die  Gesellschaft  des  deut- 
schen Volkes  zu  übertragen.  Darum  trägt  das  Werk  von  1879 
einen  deutschen  Charakter.  Diese  Lebensanschauung,  mögen  sie 
sie  verstehen  oder  nicht  verstehen,  nennen  unsere  Feinde  Mili- 
tarismus oder  Unfreiheit,  weil  sie  ihnen  gefährlich  dünkt.  Die 
ethische  Überlegenheit  wird  einem  Volke  von  einem  anderen  miß- 
günstigen noch  schwerer  verziehen  als  sein  technisches  Können 
und    seine    Fortschritte    der    Wissenschaft. 

Als  der  Freihandel  in  Deutschland  noch  Ansehen  genoß, 
gleichzeitig  nach  der  Krise  von  1873  die  Welthandelsgüter  der 
Industrie  in  den  dauernden  Zustand  der  internationalen  Über- 
produktion eingetreten  waren,  schlössen  sich  die  rheinisch-west- 
fälischen Eisenproduzenten  zu  einem  Schutzverbande  mit  poli- 
tischen   Mitteln    und    weiterhin    1876    zahlreiche    verschiedene    In- 


ßl6  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1 — 1890. 

dustrien  mit  ihnen  zu  dem  „Zentralverband  deutscher 
Industrieller"  unter  derselben  wirtschaftspolitischen  Tendenz 
zusammen.  Vertreten  waren  die  Eisen-  und  Stahlfabrikation  im 
Osten  und  Westen,  die  süddeutschen  und  elsässischen  BaumwoU- 
äpinner,  die  Soda-,  Zucker-,  Hut-,  Leder-,  Papierfabrikanten  und 
Zweige  der  Woll-  und  Leinenindustrie.  Der  Verband  hat  bis 
zur  Gegenwart  fortbestanden  und  sich  kräftig  entwickelt.  1910 
zählte  er  560  Einzelmitglieder  und  190  Vereine  und  Körper- 
schaften. Es  waren  vornehmlich  Großfabrikanten,  die  vermöge 
ihrer  Bildung  und  Geldmittel  berufen  waren,  die  Führung  zu 
übernehmen.  Mittlere  und  kleine  bildeten  die  Gefolgschaft.  Mehr 
oder  minder,  direkt  oder  indirekt  waren  alle  durch  die  liberale 
Wirtschaftspolitik  ungünstig  betroffen,  die  Papierfabrikanten  durch 
die  Aufhebung  des  Lumpenausfuhrverbotes,  die  Eisen-  und  Stahl- 
erzeuger durch  die  Beseitigung  der  Einfuhrzölle,  die  übrigen  durch 
deren  Herabsetzung.  Wenn  ihnen  auf  ihre  Klagen  erwidert  wurde, 
daß  der  allgemeine  Niedergang  der  Konjunktur,  der  mit  dem 
Schutzzoll  nichts  zu  tun  habe,  die  Ursache  ihrer  Bedrängung  sei, 
so  erklärten  sie,  daß  dieser  gegenwärtige  Zustand  der  Dinge 
erst  den  Beweis  liefere,  daß  sie  der  auswärtigen  Konkurrenz 
in  der  Krise  nicht  gewachsen  seien.  Wurden  sie  auf  die  keines- 
wegs ganz  eingestellte  Ausfuhr  aufmerksam  gemacht,  so  wiesen 
sie  nach,  daß  sie  dabei  die  Kosten  der  Herstellung  kaum  deckten 
und  den  Außenmarkt  nur  aufsuchten,  um  die  Arbeiter  nicht  fort- 
schicken zu  müssen,  und  um  die  in  dem  Betrieb  angelegten  Kapi- 
talien nicht  ganz  entwerten  zu  lassen.  Die  Stahl-  und  Eisen- 
industrie befand  sich  zudem  in  dem  Zustande  der  technischen 
Umgestaltung,  wenn  er  auch  schon  einige  Jahre  früher  begonnen 
hatte.  Die  verarbeitende  Massenproduktion  war  bisher  auf  die 
Verwendung  von  Schmiedeeisen  angewiesen  gewesen,  jetzt  wurde 
die  von  Stahl  allgemein.  Ende  der  fünfziger  Jahre  war  Eng- 
land mit  dem  Bessemerverfahren  vorangegangen,  nach  dem 
geschmolzenes  Roheisen  in  einem  birnenförmigen  Gefäß,  dem  Kon- 
verter, unter  Zuführung  eines  starken,  durch  die  glühende  Masse 
gehenden,  alle  Verunreinigungen  oxydierenden,  entkohlenden  Luft- 
stromes gefrischt  wird.  Unter  Zusetzung  von  stark  kohlenstoff- 
und  manganhaltigem  Roheisen  wird  das  in  der  Birne  gewonnene 
Produkt  zum  Vergießen  oder  Verarbeiten  endgültig  brauchbar 
gemacht. 

Die  aufzuwendenden  Kosten  waren  bedeutend,  da  eine  Anlage 
mit  zwei  Birnen  auf  i  Million  Mark  berechnet  wurde,  die  da- 
mals bei  den  schlechten  Absatzverhältnissen  nicht  leicht  zu  be- 
schaffen war.    Der  Verbrauch  an  Eisen,  der   1873  in  Deutschland 


VI.    Die  Handels-  und  Finanzpolitik  des  Fürsten  von  Bismarck,  ßjy 


142  Pfennige  auf  den  Kopf  geschätzt  wurde,  betrug  2  Jahre 
später  97,5  und  1878  sogar  nur  73,4.  Die  kapitalkräftigen  Eng- 
länder hatten  bereits  ihre  Stahlfabrikation  ganz  verneuzeitlicht, 
als  die  Krise  einsetzte.  Sie  konnten  sie  daher  besser  aushalten, 
wenn  sie  auch  ihrerseits  zu  Einschränkungen  der  Produktion  ge- 
zwungen   waren. 

Andere  Neuerungen  der  Technik,  wie  das  Martin-Ver- 
fahren, in  dem  mit  Hilfe  der  Siemens  sehen  Wärmespeicher 
Roh-  und  Alteisen  in  einem  Flammenofen  zur  Stahlgewinnung 
verschmolzen  werden  können,  kamen  hinzu,  wenn  auch  der  Auf- 
bau im  großen  erst  einer  späteren  Periode  angehört.  Vertrauen 
in  die  Zukunft  mußte  man  haben,  um  die  Umgestaltungen  zu 
wagen.  Denn  von  1873  bis  Ende  1877  wurde  folgende  Preis- 
minderung erlebt :  In  Tonne  und  Mark  ging  ordinäres  westfälisches 
Eisen  von  120  auf  42  herunter,  Spiegeleisen  von  234  auf  66,  deut- 
sches Gießerei-Roheisen  von  156  auf  60,  westfähsches  Stabeisen  von 
270  auf   122,  Schienen  und  Bessemerstahl  von  366  auf   128. 

Da  der  Abschluß  des  geschäftlichen  Niederganges  nicht  kam, 
war  es  kein  Wunder,  daß  die  Fabrikanten  immer  mehr  auf  die 
Sicherung   des   inneren   Marktes   drängten. 

Es  muß  zugleich  bemerkt  werden,  daß  nicht  alle  Industrien 
in  dem  Zentralverband  vertreten  waren.  Ein  Teil  der  Baumwoll- 
weber und  Drucker,  die  Messerschmiede  in  Solingen,  die  Klein- 
eisen-Industriellen in  Remscheid,  einige  chemische  Gewerbe,  die 
Spitzen-  und  Weißwarenfabrikanten  in  Sachsen  hatten  sich  auf 
das  Auslandsgeschäft  eingerichtet  und  waren  konkurrenzfähig  ge- 
blieben, besonders,  soweit  sie  mit  niederen  hausindustriellen 
Löhnen  rechneten.  Sie  wollten  nicht,  daß  sich  Deutschland 
mit  ihren  Absatzländern  handelspolitisch  veruneinige  und  diese 
zu  Gegenmaßregeln  veranlasse.  Ihr  Ideal  waren  ihnen  günstige, 
dauernde  Handelsverträge.  Allein  ihr  Wunsch  konnte  nicht  er- 
füllt werden,  solange  das  Reich  keinen  Tarif  besaß,  unter  dem 
ein    Abschluß    möglich    war. 

In  dem  deutschen  Zollverein  hatte  die  steigende  und  kauf- 
kräftiger werdende  Bevölkerung  der  Städte  und  Industriegegenden 
die  Preise  landwirtschaftlicher  Produkte  gehoben.  Als  die  Land- 
renten zunahmen,  erhob  sich  gegen  die  Beseitigung  der  Getreide- 
zölle keine  agrarische  Gegnerschaft.  Im  Gegenteil,  die  ausführen- 
den Landwirte  fanden  in  dem  Freihandel  ihre  Rechnung.  Das 
soziale  System  des  Liberalismus  mit  der  freien  Bewegung  der 
Menschen  und  des  Eigentums,  dem  Industrie  und  Handel  sich 
unschwer  anpassen  konnten,  war  der  Landwirtschaft  zwar  zuwider, 
solange  indessen  die  Rente  noch  stieg,  kam  man  über  die  durch 


^l8  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871 — 1890. 

Erbteilungen  und  Kaufrestschilling  zunehmende  Verschuldung 
noch  leidlich  hinweg.  In  der  Nähe  der  Städte  ließen  sich  Land- 
stücke vorteilhaft  verkaufen,  wenn  man  Kapital  brauchte,  andere 
Besitzer   vermochten   aus    den    guten   Einnahmen    zu    sparen. 

Nun  trat  um  die  Mitte  der  siebziger  Jahre  ein  unerwarteter 
Niedergang  der  Getreidepreise  ein.  Er  war  weltwirtschaftlicher 
Art  und  nahm  seinen  Ausgang  von  der  Weizenproduktion  der 
Vereinigten  Staaten.  Nach  der  Beendigung  des  Sezessionskrieges 
war  der  Norden  industriell  rasch  vorangekommen.  Viele  Eisen- 
bahnen wurden  mit  eigenem  Material  gebaut  und  betrieben,  er- 
schlossen den  Westen  und  erreichten  die  weiten  Ebenen  der  Prärie- 
staaten mit  dem  vortrefflichen,  üppigen  Boden,  den  der  Redriver, 
der  Missouri,  der  Arkansas  und  der  obere  Mississippi  durch- 
strömen. Die  Wirtschaftsstockung  nach  1873  wütete  mit  beson- 
derer Härte  in  den  Oststaaten.  Eine  Folge  war  die  Massenaus- 
wanderung nach  dem  Westen,  die  unter  Ausnutzung  eines  zweck- 
mäßigen Aufteilungssystems  des  öffentlichen  Landes  auf  neuen 
Heimstätten  eine  verbreitete  Farmeransiedelung  schuf.  Große 
Weizenmassen  strömten  von  hier  aus  in  Chicago  und  New  York 
zusammen  und  nahmen  den  Weg  nach  Europa.  Der  amerikanische 
Körnerbau  wurde  äußerst  extensiv  betrieben  und  brachte  bei  der 
rücksichtslosen  Ausschöpfung  des  an  Kalk  und  Lehm  reichen, 
jungfräulichen  Landes  glänzende  Erträge.  Die  Bahnverwaltungen 
kamen  durch  Anlage  von  geeigneten  Stationen  den  Farmern  bei 
der  Abnahme  der  Ernte  entgegen,  die  Schiffahrt  auf  den  großen 
Seen  wurde  rasch  entwickelt,  und  Kanäle  vermittelten  den  An- 
schluß weiter  nach  dem  Osten,  die  soziale  Grangerbewegung 
drückte  die  Eisenbahntarife,  die  Getreideelevatoren  sortierten  die 
Ware  nach  Qualität  und  lagerten  sie  bequem  für  den  Markt,  die 
Getreidebörse  gab  dem  Verkäufer  die  leichte  Verfügbarkeit  über 
die  dort  vorhandenen  Mengen  durch  börsengängige  Zertifikate. 
Die  amerikanische  Weizenausfuhr  hatte  1872  rund  7376000  Dop- 
pelzentner betragen,  1875  hatte  sie  sich  mehr  als  verdoppelt, 
und    1880   fast   versechsfacht. 

Die  Rückwirkung  auf  Deutschland  war  zuerst  eine  mittel- 
bare. Die  Landwirte  verloren  den  französischen  und  englischen 
Getreidemarkt.  Auch  die  Viehausfuhr  nach  westlichen  Ländern 
ging  zurück,  als  Schinken,  Speck,  Konserven  für  die  Amerikaner 
in  großen  Mengen  auszuführen  leicht  wurde.  Die  steigende  Be- 
völkerung des  Reiches  hätte  einen  Ersatz  des  verlorenen  Absatzes 
in  der  heimischen  Nachfrage  bringen  können,  allein  es  dauerte 
nicht  lange,  so  erschien  auch  die  amerikanische  Ware  im  deut- 
schen   agraren    Freihandelsgebiet.     1870    hatte    dieses    erst    0,085 


VI.    Die  Handels-  und  Finanzpolitik  des  Fürsten  von  Bismarck.  -j  i  g 


Millionen   Doppelzentner   Weizen   und   0,009    Mais    davon   empfan- 
gen,   1879/80   sind   die    entsprechenden    Zahlen    3,24   und    1,6. 

Neben  der  Einfuhr  aus  Amerika  wurde  bald  auch  die  von 
Ungarn  und  Rußland  lästig  gefühlt,  je  mehr  diese  Länder  sich 
mit  Getreidebahnen  ausstatteten.  Für  1880  gibt  Jannasch  fol- 
gende Einfuhrziffer  über  die  Prozente  der  Erzeugungsländer: 

Weizen  Roggen  Gerste  Hafer  Mais 

Österreich-Ungarn      -37             9  68  35  5Y2 

Rußland 24           62  10  56  1V2 

Nordamerika      ...         39           29  22              9  92 

Obw^ohl  je  nach  der  heimischen  Ernte  und  der  Preisschwan- 
kung auf  dem  Weltmarkt  die  Ausfuhr  agrarischer  Produkte  aus 
Deutschland  nicht  ganz  eingestellt  wurde,  so  war  doch  die  Ein- 
fuhr zu  einer  Mehreinfuhr  geworden,  und  die  sinkenden  Preise 
fingen  an,  die  Landwirtschaft  ernstlich  zu  beunruhigen.  Für 
Preußen  alten  Bestandes  betrug  der  von  J.  Conrad  mitgeteilte 
Weizenpreis  die  Tonne  von  1871  — 1876  235,6,  1876 — 1880  211,2. 
Gleichzeitig  sinkt  der  Roggenpreis  zum  Teil  unter  dem  Mehr- 
verbrauch von  Weizen  von  179,2  auf  166,4,  der  der  Gerste  von 
170,8  auf  162,  des  Hafers  von  163,2  auf  152,6.  Eine  verstärkte 
Mehlausfuhr  ist  nicht  die  Ursache  der  zunehmenden  Getreide- 
einfuhr, da  sie  mit  der  Mehleinfuhr  sich  bilanziert.  Die  größere 
Gersteeinfuhr  hatte  jedoch  eine  verstärkte  Ausfuhr  von  Bier  zur 
Seite.  1870  waren  108852  Faß  ins  Ausland  gegangen,  1877 
I  682356. 

Es  war  nur  folgerichtig,  daß  sich  die  politisch  führenden 
Landwirte  jetzt  vom  Freihandel  abwandten  und  der  Bismarckschen 
Handelspolitik  zustimmten.  Der  deutsche  Landwirtschaftsrat  war 
1876  zwar  noch  für  den  Freihandel  landwirtschaftlicher  Produkte 
eingetreten,  1878  verlangte  er  Zoll  auf  Öl,  Spiritus,  Zucker  und 
Mehl.  .  .-S:.^- 

Der  Wandel  der  Landwirte  zum  Schutzzoll  wurde  vor  allem 
durch  die  Steuer-  und  Wirtschaftsreformer  vermittelt, 
eine  politisch  konservative  gegen  Liberalismus  und  Kapitalismus 
gerichtete  Vereinigung,  die  Unterstützung  des  Handwerks,  Feind- 
schaft gegen  „die  Goldene  Internationale"  und  gegen  die  Börse, 
praktisches  Christentum,  d.  h.  Schutz  der  wirtschaftlich-sozialen 
Schwachen,  Gegnerschaft  gegen  hohe  direkte  Steuern,  als  ein 
etwas  buntes  Durcheinander  proklamiert  hatte.  Indem  sie  die 
Erhöhung  der  Verbrauchssteuern  und  Zölle  forderte,  nannte  sie 
auch  die  Getreidezölle  als  Finanzabgabe,  bald  aber  auch  zum 
Schutze   der   Landwirtschaft. 


720  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871  — 1890. 

Der  Zentralverband  der  Industriellen  und  die  Wirtschafts- 
reformer  standen  ursprünglich  auf  sehr  verschiedenem  Boden. 
Nach  und  nach  paßten  sie  ihre  Programme  aneinander  an  und 
beschickten  gegenseitig  ihre  Kongresse.  Der  Reichskanzler  er- 
mutigte das  Vorgehen  beider  und  wußte  die  Einigung  zu  fördern, 
so    daß    er    eine    geschlossene    Macht    in    ihnen    zur    Seite    hatte. 

In  der  Opposition  standen  die  exportierenden  Kaufleute,  die- 
jenigen Hamburgs  und  Bremens  an  der  Spitze.  Ihre  gegen  jede 
Bedrückung  des  Außengeschäftes  gerichteten  Beschlüsse  erman- 
gelten der  einheitlichen  Beweisführung,  in  den  Hansestädten  auch 
des  Nachdruckes,  da  beide  schon  durch  die  Frage  des  Zoll- 
vereinsanschlusses stark  in  Anspruch  genommen  waren.  Gegen 
die  Zollreform  machten  auch  die  in  Gewerkschaften  und  die  in 
der  Sozialdemokratie  zusammengefaßten  Lohnarbeiter  Front,  ohne 
in  einem  Reichstage  ernstlich  gehört  zu  werden,  der  das  So- 
zialistengesetz bewilligt  hatte.  Eine  zielbewußte  Gegnerschaft  fand 
der  Kanzler  in  dem  linken  Flügel  des  preußischen  Liberalismus, 
in  dem  die  Feindschaft  der  ehemaligen  Fortschrittspartei  gegen 
den  führenden  Mann  der  deutschen  Einheit  wieder  aufgelebt  war. 
Diese  Richtung  gab  sich,  wie  ehedem,  als  Paladin  für  die  Ver- 
braucher aus  und  setzte  sich  wiederum  aus  Advokaten,  Richtern, 
Stadträten,  Ärzten  und  Angehörigen  anderer  freier  Berufe  zum 
guten  Teil  zusammen,  und  Bismarck  hatte  ihnen  zugerufen:  „Sie 
säen  nicht,  sie  ernten  nicht,  sie  spinnen  nicht."  In  die  Gruppe 
dieser  Leute  mit  ihrer  Besserwisserei  und  der  Arroganz  ihrer 
Zungengeläufigkeit  schien  der  negierende  Geist  des  ehemaligen 
I^artikularismus    gefahren    zu    sein. 

Auf  handelspolitischem  Felde  unterlag  diese  Gegnerschaft 
vollständig,  einiger  Erfolg  war  ihr  auf  dem  finanzpolitischen  be- 
schieden, da  sich  hier  das  Zentrum  mit  ihr  mehrfach  vereinigte. 
Das  Tabakmonopel  vermochte  der  Kanzler  nicht  durchzusetzen, 
und  die  übrige  an  sich  wertvolle  Finanzreform  wurde  durch  die 
Frankensteinsche  Klausel  verzerrt,  nach  der  alle  Erträge, 
die  die  Zölle  und  die  neue  Tabaksgewichtssteuer  über  130  Millio- 
nen Mark  erbrächten,  an  die  Einzelstaaten  nach  Maßgabe  ihrer 
Bevölkerung  überwiesen  werden.  Diese  „konstitutionelle  Garantie" 
des  Einnahmebewilligungsrechtes  —  denn  reichten  die  130  Mil- 
lionen dem  Reiche  nicht,  so  mußte  der  Überschuß  von  den  Ein- 
zelstaaten als  Matrikularumlage  zurückbewilligt  werden  —  sah 
ganz  harmlos  aus,  aber  die  Praxis  hat  dann  zu  einer  heillosen 
Verwirrung  des  Reichs-  und  der  bundesstaatlichen  Etats  geführt. 
In  guten  Jahren  wurden  die  Gliedstaaten  vom  Reiche  gespeist, 
die  ihre  Ausgaben  dauernd  auf  diese  Einnahme  einrichteten.    Nun 


VI.  Die  Handels-  und  Finanzpolitik  des  Fürsten  von  Bismarck.  -221 

kamen  schlechte  Zeiten,  in  denen  man  den  festgelegten  Finanz- 
bedarf nicht  abändern  konnte.  Die  Folge  der  deshalb  möglichst 
festgehaltenen  Überweisungen  war  die  Geldnot  des  Reiches,  und 
da  die  neuen  Steuern  auf  Branntwein  und  Zucker  und  die  Stem- 
pelabgaben nicht  genügten,  wurden  fortgesetzt  Ausgaben,  die  in 
das  Ordinarium  gehörten,  auf  das  Extraordinarium  gebucht,  mit 
anderen  Worten,  das  Reich  machte  Schulden,  die  in  den  neun- 
ziger Jahren  auf  einige  Milliarden  anwuchsen.  Eine  neue  Fi- 
nanzreform wurde  notwendig  und  ist,  als  sie  nicht  mehr  abzu- 
lehnen war,  in  dem  ersten  Jahrzehnt  des  neuen  Jahrhunderts, 
nur    unvollkommen    gelungen. 


Wir  wenden  uns  jetzt  zu  den  ersten  Ergebnissen  der  Zoll- 
reform und  zu  der  Weiterbildung  der  handelspolitischen  Gesetz- 
gebung. Der  Zollertrag,  der  1878  nur  2,62  Mark  auf  den  Kopf 
der  Bevölkerung  ergab,  stieg  nach  der  Tarif  reform  1880  auf  4,08, 
1884  auf  5,04  und  1890  auf  7,86,  als  ein  gutes  Zeugnis  für  die 
wachsende  Kaufkraft  des  deutschen  Volkes  dem  Auslande  gegen- 
über. Die  Befürchtung  der  Gegner  der  neuen  Wirtschaftspolitik, 
der  Rückgang  des  Außenhandels,  war  nicht  eingetroffen,  im  Ge- 
genteil, die  Entfaltung  der  inneren  Produktivkraft  veranlaßte  ver- 
stärkten Außenhandel.  Die  Einfuhr  im  Spezialhandel,  die  1880 
auf  2,8  Milliarden  Mark  berechnet  wurde,  hob  sich  1884  auf  3,2, 
1890  auf  4,2.  Die  entsprechenden  Ausfuhrziffern  sind  3,09,  3,2,  3,4. 
Um  beide  Werte  zu  verstehen,  müssen  wir  die  Tatsache  der 
gesunkenen  Weltmarktpreise  heranziehen.  Von  1880 — 1886  steigt 
z.  B.  die  Einfuhr-Tonnenzahl  bei  Nahrungs-  und  Genußmitteln 
und  Rohstoffen,  wie  bei  Fetten  und  Ölen  und  bei  denen  für  die 
Papierfabrikation,  aber  der  Wertbetrag  sinkt,  in  anderen  Fällen, 
wie  bei  dem  Rohmaterial  für  die  chemische,  die  Metall-  und 
Textilindustrie,  gehen  die  Mengen  der  Einfuhr  rascher  als  die 
Werte  in  die  Höhe.  Daß  sich  die  Einfuhr  schneller  hebt  als  die 
Ausfuhr,  ist  dem  Zollschutz  gemäß,  wenn  man  erfährt,  daß  nicht 
die  Einfuhr  von  Fabrikaten,  sondern  die  von  Verarbeitungsstoffen 
die  Zunahme  erklärt.  Die  Einfuhr  von  Erz  stieg  von  1880 — 1885 
von  659250  Tonnen  auf  i  041  647,  die  für  die  Textilindustrie  von 
342521  auf  461  172,  für  die  chemische  von  421779  auf  622664, 
für  das  Ton-  und  Glasgewerbe  von  645536  auf  776278  Tonnen. 
Eine  starke  Ausfuhrzunahme  kam  erst,  als  der  innere  Markt  ge- 
sättigt war. 

Der  innere  Fortschritt  der  Gütererzeugung,  des  Verkehrs 
und  des  Verbrauchs  läßt  sich  an  Einzelheiten  nachweisen.  Der 
Stein-  und  Braunkohlenverbrauch,  der  im  Durchschnitt  der  Jahre 

A.Sartorius  v.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.         21 


322  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs  1871 — 1890. 

1876 — 1880  50,9  Millionen  Tonnen  gewesen  war,  stand  1881 — 86 
auf  65,7,  1886 — 1890  auf  80,8.  Der  Roheisenverbrauch  ging  in 
den  gleichen  Perioden  von  2,2  auf  2,3  und  4,2  in  die  Höhe, 
der  von  Rohbaumwolle  von  124549  Tonnen  auf  152329  und 
201  046. 

Von  1881  — 1890  stieg  die  Arbeiterschaft  im  deutschen  Stein- 
kohlenbergbau von  186335  Köpfen  auf  262475  oder  44,30/0,  Seit 
1888  hebt  sich  der  Kohlenpreis,  und  die  Arbeitslöhne  folgen,  wenn 
auch  zunächst  in  einem  langsameren  Zeitmaß.  Deutschland  hatte 
1880  33838  Kilometer  Eisenbahnen,  1890  42869,  Preußen  1879 
32  411  feststehende  und  5536  bewegliche  und  720  Schiffsdampf- 
kessel, 1890  4853  bzw.  12822  und  2046.  Die  Übersicht  über  die 
Ergebnisse  der  Reichsbank  gibt  die  Umsätze  1879  ^^f  47,4,  1889 
auf  99,7  Milliarden  an,  den  Giroverkehr  auf  30,4  und  75,6,  die 
ihr  zur  Verwahrung  übergebenen  Wertpapiere  auf  785,9  und  zwei 
Milliarden  Nominalbetrag.  Die  preußische  Einkommensteuer-Ver- 
anlagung, 1876  mit  1890  verglichen,  bringt  Einkommen  bis  2000 
Mark  bei  8016809  bzw.  9612256  Zensiten,  von  2000  Mark  bis 
6000  384248  bzw.  490541,  über  6000  66319  bzw.  105095.  Im 
Königreich  Sachsen  lebten  1878  969289  Personen  mit  einem  Ein- 
kommen bis  2800  Mark,  1888  i  269  170;  mit  einem  solchen  von  da 
an  bis  36000  37795  bzw.  52462,  während  ein  Einkommen  da- 
rüber hinaus  436  bzw.  1018  hatten.  In  Hessen  vermehrten  sich 
von  1878 — 1888  die  steuerpflichtigen  Personen  bis  zu  einem  Ein- 
kommen von  2900  Mark  um  79,830/0,  und  darüber  hinaus  um 
130,010/0.  Weitere  ähnliche  Ergebnisse  liegen  für  die  Hansestädte, 
für  Oldenburg  und  Altenburg  vor.  (Näheres  Annal.  d.  D.  R.  1893). 
Der  wachsende  Wohlstand  in  der  Bevölkerung  mit  44,6  Millio- 
nen 1879  und  1890  mit  49,2  läßt  sich  auch  aus  den  Mengen 
der  verbrauchten  Genußmittel  ersehen.  Der  Kaffeeverbrauch  mit 
2,33  Kilogramm  erhöhte  sich  auf  den  Kopf  von  1876 — 1880  bis 
1880 — 1885  auf  2,44,  der  von  Kakaobohnen  verdoppelte  sich  in 
10  Jahren.  Der  Bierkonsum  stieg  von  1879 — 1890  von  82,8  auf 
105,8   Liter,   der  von   Südfrüchten   von  0,61    auf   1,04  Kilogramm. 

Die  Geschäftsstockung  war  1879  zu  einem  vorübergehenden 
Abschluß  gelangt.  Zu  einer  allgemeinen  Hochkonjunktur  kam 
es  in  den  folgenden  Jahren  nicht.  Schon  1882  hatten  Nord- 
amerika wieder  einen  Preisrückgang  und  Frankreich  eine  Krise. 
Beides  berührte  die  deutsche  Ausfuhr  und  den  Börsenstand.  Am 
ungünstigsten  waren  die  Zustände  in  England,  wo  man  von  einem 
Chronischwerden  der  Überproduktion  sprach.  Die  Tage  der  großen 
Geschäftsprofite,  meinte  Fr.  Engels,  seien  für  immer  vorüber, 
was    freilich    nicht    eintraf.     Deutschland    hielt    sich    dank    der 


VI.  Die  Handels-  und  Finanzpolitik  des  Fürsten  von  Bismarck.  'XZX 

Pflege  der  eigenen  Volkswirtschaft  vom  weltwirtschaftlichen  Ge- 
triebe verhältnismäßig  fern.  Zwischen  1888  und  1890  erlebte  es 
eine  kurze  Hochkonjunktur,  die  in  anderen  Ländern  wenig  in- 
tensiv oder  gar  nicht  zur  Erscheinung  gelangte.  Der  große  sä- 
kulare Umschwung,  der  1873  die  Weltwirtschaft  betroffen  hatte, 
war  in  Deutschland  aus  eigener  Kraft  zuerst  national  überwunden 
worden,  so  daß  es  nach  einigen  Jahren  wohl  vorbereitet  für  eine 
internationale  Aufwärtsbewegung  bereitstand.  Die  Periode  von 
1880 — 1890  ist  ihm  eine  solche  der  inneren  Ordnung,  der  Samm- 
lung an  Kraft  gewesen.  Die  Früchte  seiner  Politik  sah  der 
Reichskanzler  reifen,  ihre  reiche  Ernte  erlebte  er  nicht  mehr. 
Große  volkswirtschaftliche  Aufgangszeiten  sind  noch  niemals  vom 
Himmel  gefallen. 

Nur  die  deutschen  Landwirte  sagten  vom  neuen  Zollschutz 
unter  dem  Drucke  der  auswärtigen  Konkurrenz:  Was  sind  Hoff- 
nungen, was  Entwürfe?  Im  preußischen  Staat  betrugen  die  acht- 
jährigen   Durchschnittspreise    in    Mark    und    Tonnen: 


Erntejahr 

Weizen 

Roggen 

Gerste 

Hafer 

1868/69—1875/76 

225 

173 

165 

160 

1877/78—1883/84 

207 

166 

158 

148 

1884/85— 1891/92 

181 

156 

148 

142 

Diejenigen  Landwirte,  die  in  der  verschärften  Agrarkrise 
Fleisch  und  Milchprodukte  neben  Getreide  auf  den  Markt  brach- 
ten, konnten  darin  keinen  Ersatz  finden,  da  sie  bis  in  die 
neunziger  Jahre  einer  sinkenden  Preistendenz  auch  hier  gegen- 
überstanden. So  wird  es  verständlich,  daß  die  Reichsregierung 
jetzt  mit  stärkeren  Schutzmaßregeln  hervortrat.  1883  hatte  sich 
das  preußische  LandesökonomiekoUegium  für  erhöhten  Zoll  aus- 
gesprochen, und  der  15.  und  16.  Kongreß  deutscher  Landwirte 
und  der  deutsche  Landwirtschaftsrat  hatten  im  gleichen  Sinne 
erklärt,  daß  eine  erweiterte  Viehzucht  und  der  Mehranbau  von 
Handelsgewächsen  nichts  helfen  könnten.  1885  stimmte  die  Reichs- 
tagsmajorität der  Erhöhung  des  Roggen-  und  Weizenzolles  auf 
30  Mark  die  Tonne  zu,  Hafer,  Hülsenfrüchte,  Gerste,  Buchweizen 
kamen  auf  20  Mark,  Malz  auf  30,  Mühlenfabrikate,  die  schon 
seit  1881  eine  Erhöhung  genossen,  auf  50.  Es  war  dies  nur 
eine  Etappe  auf  dem  Wege  nach  vorwärts:  1887  erhalten  Weizen 
und   Roggen    50    Mark,    Hafer   40,    Gerste    22,50    Schutzzoll. 

Diese  Steigerungen,  an  die  sich  auch  solche  für  Holz,  Vieh, 
Fleisch,  Branntwein,  Wild  und  Honig  anschlössen,  waren  zugleich 
als  handelspolitische  Abwehrmaßregeln  gegen  Ungarn  und  Rußland 

21* 


-2  24  ^'  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1  — 1890. 

gedacht.  1881  war  nach  langem  Verhandehi  mit  Österreich-Ungarn 
ein  reiner  Meistbegünstigungsvertrag  abgeschlossen  worden,  allein 
reiner  Meistbegünstigungsvertrag  abgeschlossen  worden,  allein 
schon  im  folgenden  Jahre  hatten  die  österreichischen  Industriellen 
Gnade  vor  den  Augen  ihrer  Regierung  in  einer  Zollerhöhung 
gefunden.  Die  Antwort  deutscherseits  war  der  agrare  Tarif  von 
1885,  und  als  2  Jahre  darauf  die  Donaumonarchie  noch  ein- 
mal nach  oben  ging,  man  auch  Getreide-,  Mehl-  und  Viehzölle 
gegen  Rußland  und  die  Vereinigten  Staaten  für  notwendig  hielt, 
wurde   das   Gesetz   von    1887    erlassen. 

In  Rußland  war  man  schon  über  die  geringen  AgrarzöUe 
von  1879  empört  gewesen  und  hatte  nicht  geglaubt,  daß  das 
Reich  eine  solche  handelspolitische  Selbständigkeit  zeigen  werde. 
Viermal  bis  1890  wurde  der  Zollsatz  erhöht,  und  Zuschläge  für 
verschiedene  Waren,  die  aus  Deutschland  kamen,  zeigten  deut- 
lich das  Motiv  dieser  Maßregeln.  Daneben  wurden  große  An- 
strengungen gemacht,  den  russischen  Handel  von  der  Vermitt- 
lung der  deutschen  Ostseehäfen  frei  zu  machen.  Die  russischen 
Hafenplätze  wurden  ausgebaut  und  die  Ausfuhr  möglichst  über 
das  Schwarze  Meer,  Schweden  und  Norwegen  geleitet.  Außer 
den  Zollgesetzen  von  1885  und  1887  bediente  sich  das  Reich 
hiergegen  einer  Erschwerung  der  Spirituszufuhr  und  der  Seuchen- 
gesetze gegen  verdächtiges  russisches  Vieh.  Das  Verbot  der  Be- 
leihung russischer  Staatspapiere  durch  die  deutsche  Reichsbank 
kann  ebenfalls  zu  den  handelspolitischen  Retorsionen  mittelbar 
gerechnet  werden,  obwohl  mit  der  dadurch  erzielten  Schädigung 
des  russischen  Staatskredites  zunächst  ein  Druck  auf  die  Werbe- 
tätigkeit einflußreicher  panslawistischer  Kriegshetzer  ausgeübt 
werden   sollte. 

Auch  die  deutschen  industriellen  Schutzwehren  wurden,  be- 
sonders in  der  Novelle  von  1885,  verschiedentlich  umgebildet. 
Die  Eisen-  und  Stahlerzeugung  wurde  nicht  berührt.  Die  Textile 
erhielten  Zuschläge,  die  Garnzölle  wurden  feiner  abgestuft.  Lichte, 
Steinmetzarbeiten,  Schieferplatten,  Strohwaren,  Phosphorzünd- 
hölzchen, diese  auch,  um  den  Fabrikanten  die  Ausführung  gesund- 
heitspolizeilicher Vorschriften  zu  ermöglichen,  wurden  günstig 
bedacht. 

Die  deutsche  Handelspolitik  war  bis  zu  Bismarcks  Ent- 
lassung in  der  Hauptsache  autonom,  das  heißt,  gegen  alle  Län- 
der gleichmäßig  gerichtet.  Die  zahlreichen  bestehenden  Handels- 
verträge oder  auch  die  neuen,  z.  B.  1880  mit  China,  mit  Belgien 
1881  und  wiederum  mit  Mexiko,  dessen  Abneigung  gegen  Europa 
seit  der  Intervention  Napoleons  nur  mit  großer  Schwierigkeit 
durch    den    damaligen    Gesandten    von    Schlözer    zuerst    1870 


VI.  Die  Handels-  und  Finanzpolitik  des  Fürsten  von  Bismarck,  ^25 

Überwunden  worden  war,  kannten  nur  die  Meistbegünstigung,  wie 
sie  auch  in  England,  Frankreich  und  Österreich  Rechtens  war. 
In  dem  Vertrage  mit  Italien  von  1883  waren  einige  Sätze  unter 
Ermäßigungen  gebunden  worden,  ebenso  in  dem  mit  Spanien  und 
Griechenland.  Am  weitesten  war  das  System  gegenseitiger  Zu- 
geständnisse in  dem  Abkommen  mit  der  Schweiz  1888  getrieben 
worden.  Deutschland  gewährte  12  Milderungen  und  band  sich 
mit  19  der  bestehenden  Zölle,  während  der  Gegenkontrahent  15 
Sätze  erleichterte  und  2  band.  Rechtlich  hatten  hiervon  alle 
Meistbegünstigten  den  Mitgenuß,  doch  war  die  spezielle  Aus- 
wahl von  deutscher  Seite  so  vorsichtig  getroffen  worden,  daß  sie 
vorwiegend   den   Schweizern   von    Nutzen   wurde. 

Von  nicht  zu  unterschätzender  Wichtigkeit  für  Deutschlands 
Außenhandel   und    sonstiger    Stellung    in    der    Weltwirtschaft    war 
es,    daß    es    nach    langen    Verhandlungen    dem    Reichskanzler    ge- 
lang, Hamburg  und  Bremen  in  die  deutsche  Zollinie  einzu- 
beziehen    und    damit    ein    unerträgliches    Überbleibsel    staatsrecht- 
lichen, egoistischen  Partikularismus  zu  beseitigen.    Die  Reichsver- 
fassung bestimmte  in  Artikel  34:  „Die  Hansestädte,  Bremen  und 
Hamburg,    mit    einem    dem    Zweck    entsprechenden    Bezirke    ihres 
und    des    umliegenden    Gebietes    bleiben    als    Freihäfen    außerhalb 
der  gemeinschaftlichen  Zollgrenze,  bis  sie  ihren  Einschluß  in  die- 
selbe  beantragen".    Die   Auslegung   des   Artikels   war   zweifelhaft. 
Von  der  einen  Seite  wurde  in  ihm  nur  ein  vorübergehendes  Ein- 
lenken   auf    den    Wunsch    der    Städte,    Freihäfen    zu    bleiben,    ge- 
sehen, von  der  anderen  ihr  ewiges  Belieben,  außerhalb  der  Zoll- 
linie   zu    verharren.     Bestritten    war    ferner,    wie    groß    das    Frei- 
hafengebiet zu  sein  habe.    Es  wurden  zu  dem  Hamburger  Altona 
und   einige  kleine   Gemeinden  gerechnet,  welche   Orte   seitens   des 
Reiches  de  jure  jeden  Tag  ausgeschieden  werden  konnten.  Außer- 
dem   hielt    sich    das   Reich   für   berechtigt,    die    Zollerhebung    von 
Hamburg  an  die  Eibmündung  verlegen  zu  dürfen,  um  den  freien 
Verkehr    vom    hannoverschen    zum    holsteinischen    Eibufer    zu    be- 
sitzen.   Damit  würde   die  Hansestadt  vom  Meere  unmittelbar   ab- 
geschnitten    gewesen     sein.      So     hatte     der     Kanzler     Pressions- 
mittel in  der  Hand,  um  die  widerspenstigen  Freihändler  der  wirt-, 
schaftenden  Reichseinheit  zu  unterwerfen.    Doch  hat  er  den   Ver- 
fassungskonflikt   im    Geiste    der    deutschen    Sache   vermieden    und 
unter   entschlossener  Verhandlung  den   Gegnern  des  Werkes   eine 
goldene    Brücke    gebaut.     1881    wurde    der    Vertrag   unterzeichnet, 
nach  dem  Hamburg  1888  in  die  ReichszoUinie  eingegliedert  wurde. 
Für   den   Zwischenhandel  und   die  Anlage  bestimmter   Industrien, 
namentlich   des   Schiffsbaues,   erhielt   es   einen   Freihafen   mit   ent- 


"^20  V.  Abschnitt,     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs  187 1  — 1890. 

sprechenden  Speichern  und  Kais,  zu  deren  Aufführung  das  Reich 
40  Millionen  Mark  beisteuerte.  1885  wurde  auch  Bremen  ökonomisch 
einverleibt  und  für  Bremerhafen  eine  Freizone  nebst  freien  Petro- 
leum-Lagerplätzen  zugestanden. 

Die  geschäftliche  Entwicklung  beider  Städte  war  nach  In- 
krafttreten der  Verträge  eine  glänzende,  die  Hafeneinrichtungen 
waren  mustergültig  und  mußten  später  bei  der  Verkehrszunahme 
erweitert  werden.  In  Hamburg  schlug  bald  die  Abneigung  gegen 
den  Reichskanzler  in  heiße  Bewunderung  um,  und  ihm,  der  in 
der  Nähe  der  Stadt  in  der  Friedrichsruher  Grabstätte  ruht,  wurde 
dem  Freihafen  gegenüber  ein  herrliches  Denkmal,  das  den  größten 
deutschen  Staatsmann  des  Jahrhunderts  in  seiner  Charakterfestig- 
keit und   seelischen   Kraft  versinnbildlicht,   gesetzt. 

Der  Hamburger  Bürgermeister  O'Swald,  der  191 2  von 
seinen  Ämtern  zurücktrat  —  so  schreibt  Th.  Hansen  — ,  nach- 
dem er  43  Jahre  dem  Senat  angehört  hatte,  und  der,  wie  kein 
anderer,  berufen  war,  ein  Urteil  über  den  Zollanschluß  abzugeben, 
erklärte:  „Von  allen  Einrichtungen,  die  geschaffen  worden  sind, 
ist  und  bleibt  der  Zollanschluß  doch  immer  das  für  die  Hamburger 
Entwicklung  bedeutungsvollste  Werk.  Ohne  den  Anschluß  würde 
Hamburg  nie  die  Bedeutung  gewonnen  haben,  nie  den  Aufschwung 
genommen  haben,  auf  den  wir  heute  mit  Stolz  und  Genugtuung 
zurückblicken". 

Das  Fernbleiben  der  Hansestaaten  vom  Zollverein  war  eine 
Anomalie  gewesen,  die  in  das  Leben  und  Weben  auf  dem  deutschen 
Staats-  und  Wirtschaftsgebiete  eine  mißverstandene  Sonderberück- 
sichtigung eingekeilt  hatte.  Die  Städte  gehörten  zum  Reich  und 
wollten  handelspolitisch  so  stehen  wie  einst  im  Deutschen  Bunde, 
in  dem  jeder  nur  für  sich  zu  sorgen  gewohnt  war.  Der  Bevölke- 
rung behagte  es,  ihr  billiges  Leben  unter  dem  Freihandel  fortzu- 
setzen, zumal  sie  das  Aversum  als  Abgabe  an  das  Reich  nicht 
drückte,  solange  dessen  Finanzpolitik  so  wenig  ausgebildet  war. 
Das  wurde  seit  1879  anders.  Die  Abfindungssumme  stieg  und 
mußte  mit  direkter  Steuer  daheim  aufgebracht  werden.  Die  Zoll- 
reform mit  ihrem  erhöhten  Tarif  machte  eine  strengere  Aufsicht 
der  Einfuhr  nötig,  wodurch  dem  Verkehr  der  Städte  mit  dem 
Binnenlande  ein  Hemmschuh  angelegt  wurde.  Die  Kaufleute  oppo- 
nierten gegen  den  Anschluß  trotzdem,  weil  sie  fürchteten,  ihren 
Zwischenhandel  mit  dem  Auslande  zu  verlieren,  den  sie  irrtümlicher- 
weise höher  einschätzten  als  den  direkten  überseeischen  mit  den 
Waren  des  großen  Hinterlandes.  Die  Wünsche  der  Industriellen 
wurden  vom  Handelsstand  gering  geachtet,  während  gerade  die  An- 
lage gewerblicher  Unternehmungen  nahe  dem  Verschiffungsort  der 


VH.  Die  Reicbssozialpolitik.  ■227 


Waren  gewinnbringend  werden  mußte.  Sie  waren  auf  Zollschutz  ge- 
richtet, wenn  sie  auch  auf  dem  inländischen  Markte  verwirklicht  wer- 
den sollten.  Für  die  sonstige  deutsche  Industdie  und  für  die  Landwirt- 
schaft war  es  unverständlich,  daß  eine  Bevölkerung  von  mehr  als 
600000  Seelen  keine  Käufer  ihrer  Produkte  zu  sein  brauchten  und 
nach  Belieben  im  Auslande  Ersatz  suchen  konnten.  Der  Übersee- 
Ausfuhrhandel  mußte  ein  organischer  Teil  der  deutschen  Volks- 
wirtschaft werden,  wenn  er  seine  nationale  Aufgabe  erfüllen  sollte. 
Der  merkantile  Einfluß  Englands  auf  die  Städte  war  endlich  zu 
beseitigen,  wenn  Deutschland  seine  internationale  Stellung  zu  einer 
bedeutsamen  gestalten  wollte.  Mancherlei  ausländische  Geschäfts-, 
Rechts-  und  Zahlungsgebräuche,  sogar  Sitten  und  Anschauungen 
blieben  trotzdem  fortbestehen.  Erst  mit  dem  Weltkrieg  wurden 
die  Bürger,  die  mit  niedersächsischer  Zähigkeit  am  Alten  festge- 
halten hatten,  dessen  sich  voll  bewußt,  welcher  Feind  der  Brite 
ihnen  gewesen  war  und  noch  ist,  und  wenn  sie  sich  auch  schon  zu 
Bismarcks  Zeiten  darauf  besonnen  hatten,  daß  der  Geist  der  alten 
Hansa  nur  als  ein  rein  deutscher  wieder  belebt  werden  könne, 
bedurfte  es  erst  noch  der  schlimmen  Erfahrung,  um  diese  Über- 
zeugung zum  Gemeingut  aller  zu  machen. 

VII.  Die  Reichssozialpolitik.  Die  sozialistische  Ar- 
beiterpartei stand  nach  dem  Einigungskongreß  zu  Gotha  gestärkt 
im  Zeichen  des  hoffnungsfrohen  Radikalismus.  Ihre  Presse,  die 
Führer  und  Versammlungsredner  begnügten  sich  mit  der  Anprei- 
sung und  Begründung  des  weitgehenden  Programmes  nicht.  Sie 
wetteiferten  darin,  alle  Einrichtungen  der  bestehenden  Gesellschaft 
und  des  Staates  in  der  schamlosesten  Weise  herunterzureißen  und 
den  gewaltsamen  Umsturz  zu  predigen.  Mit  immer  nagendem  Neid 
und  grimmigem  Haß  sollten  die  Arbeitermassen  gegen  die  Be- 
sitzenden und  Regierenden  erfüllt  werden.  Alle  Beamten  sind  nach 
diesem  System  servile  Hoflakaien,  die  Ärzte  leugnen  die  Arbeiter- 
berufskrankheiten und  den  Hungertyphus  in  Schlesien  in  bewußter 
Lüge,  Lehrer  und  Universitätsprofessoren  sind  devote  Stellenjäger, 
die  Geistlichen  und  die  bürgerlichen  Politiker  Betrüger,  die  Unter- 
nehmer Blutsauger,  die  schwache  Kinder  und  schwangere  Frauen 
zur  Arbeit  treiben,  um  ihre  Orgien  der  Genußsucht  zu  befriedigen, 
der  Handel  schachert  mit  Blut  und  Gut  des  in  bescheidener  De- 
mütigkeit gehaltenen  Volkes. 

Der  ungebildete  Arbeiter  nahm  alles  für  reine  Wahrheit,  da 
er  nichts  anderes  lesen  oder  hören  durfte  als  das,  was  die  ge- 
wissenlosen Hetzer  ihm  zu  bieten  für  gut  befanden.  Der  mehr  Ver- 
ständige belachte  vielleicht  nur  die   Paradoxe  oder   die   Übertrei- 


ß28  V.  Abschnitt,     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1  — 1890. 

bungen,  wenn  der  Artikel  geschickt  abgefaßt  war,  aber  —  „semper 
^liquid  haeret". 

So  entstanden  Erbitterung  und  Verrohung  in  einer  großen 
Menschenklasse.  Vorbedingungen  dazu  waren  in  einer  haltlosen 
Lebensführung  gegeben.  Daß  eine  gewerbliche  Lohnarbeiterschicht 
losgelöst  von  allen  Idealen  der  Vergangenheit,  „die  der  Proletarier", 
in  wenigen  Jahrzehnten,  also  außerordentlich  rasch,  geschaffen 
wurde,  ist  in  einem  früheren  Kapitel  berichtet  worden.  Sie  genoß 
jetzt  die  soziale  Freiheit,  wie  sie  die  Gewerbeordnung  ausge- 
sprochen hatte,  und  noch  mehr,  es  war  ihr  in  dem  Reichstags- 
wahlrecht eine  weitgehende  politische  Betätigung  zuerkannt  wor- 
den. Beides  war  so  schnell  gekommen,  daß  der  rechtlichen  Be- 
seitigung alter  Abhängigkeit  und  Gebundenheit  eine  individuell 
moralische  Selbstdisziplinierung  nicht  zur  Seite  stand.  Die 
meisten  wußten  nicht,  was  sie  mit  der  geschenkten  Freiheit  machen 
sollten  und  folgten  blind  den  Demagogen.  Das  allgemeine  Stimm- 
recht habe,  so  schrieb  1878  Ludwig  Bamberger,  genau  wie 
eine  Ermunterungsprämie  zur  Ausbreitung  sozialistischer  Lehren 
gewirkt.  Durch  die  Einteilung  des  Reiches  in  Wahlbezirke  habe 
der  Staat  ebensoviele  Standquartiere  der  Sozialdemokratie  formiert 
und  durch  regelmäßig  wiederkehrende  Wahlen  dafür  gesorgt,  daß 
die  Mannschaften  unausgesetzt  in  Übung  blieben.  Seit  mehr  als 
40  Jahren  hatte  der  extreme  Liberalismus,  dem  Bamberger  ange- 
hörte, sein  Wesen  in  deutschen  Landen  getrieben.  Elemente,  die 
in  seinem  Parteigetriebe  nicht  hochkommen  konnten,  fielen  dem 
vierten  Stande  anheim  und  machten  damit  das  Wort  ebenso  wahr, 
daß  die  bürgerliche  Demokratie  die  soziale  erzeugt,  wie  daß  der 
in  jener  steckende  Individualismus  logischerweise  seine  Forderung 
von  einer  früher  revolutionären  Klasse  zu  einer  späteren  über- 
tragen habe. 

Ein  neues,  ungebildetes,  auftrumpfendes  Bürgertum,  das  un- 
erwartet schnell  reich  geworden  war,  hob  sich  von  dem  alten  so- 
liden unangenehm  ab.  Häßliche  Großstädte  mit  Mietskasernen  und 
Hinterhäusern  waren  gebaut  worden,  rohes  Genußleben  in  Ver- 
bindung mit  allen  Arten  von  Lastern  machte  sich  seit  der  Gründer- 
zeit besonders  in  Berlin  breit. 

Die  allgemeine  internationale  Verkehrsstockung  brachte  ein 
rasches  Sinken  der  Löhne  nach  hohem  Aufsteigen.  Arbeitslosig- 
keit, verlorene  Ausstände  waren  ein  günstiges  Milieu  für  den  Ar- 
beiterführer, sich  Ansehen  zu  verschaffen.  Es  kam  jetzt  darauf  an, 
die  Marxsche  sozialökonomische  Betrachtungsweise  möglichst  in 
alle  Gebiete  der  menschlichen  Lebensbestimmung  hineinzutragen, 
alle  Schäden  der  Gesellschaft  dem  Kapitalismus  aufzubürden,  eine 


VII.  Die  Reichssozialpolitik.  220 


allgemeine  Welt-  und  Lebensanschauung  für  den  Lohnarbeiter  zu 
konstruieren,  die  ihm  bei  dem  Klassenkampf  nützen  sollte.  Es 
wurde  eine  „materialistische"  Geschichtsauffassung  für  die  Massen 
zusammengeklittert,  die  den  Atheismus  schon  aus  Haß  gegen  die 
Kirchengewalten  proklamierte.  Wirkungsvoller  war  es,  alle  be- 
stehenden Zustände,  den  Staat,  die  Ehe,  die  Moral,  die  Kunst,  die 
Wissenschaft,  als  bourgeoismäßig  zu  denunzieren.  Der  Sozialist  be- 
kämpft das  Kapital,  also  auch  alles,  was  angeblich  ihm  gehorsam 
dient,  die  Geistlichkeit  jeder  Konfession  und  die  Philosophie  der 
Universitäten,  den  historisch  gewordenen  Staat,  der  nichts  als  ein 
Ausschuß  der  herrschenden  Klasse  zur  Verwaltung  ihrer  Ange- 
legenheiten sein  soll,  die  Ehe,  in  der  das  Weib  geknechtet  ist, 
nachdem  sich  die  Männer  in  den  ausschließlichen  Besitz  der  Wirt- 
schaftsmittel gesetzt  haben.  Die  ganze  Weltgeschichte  mußte  öko- 
nomisch erklärt  werden;  die  solonische  Verfassung  wie  die  Kreuz- 
züge, der  Untergang  des  Römerreiches  wie  die  französische  Revo- 
lution, die  Neugründung  des  Deutschen  Reiches  wie  die  italienische 
Renaissance. 

Für  den  Arbeiter  hatte  die  sozialistische  Literatur  jener  Tage 
etwas  Imponierendes  an  sich.  Sie  war  nicht  ungeschickt  dem  speku- 
lativen Denken  des  deutschen  Geistes  angepaßt,  dem  es  eigen  ist, 
alles  geschlossen  auf  eine  Einheit  zurückzuführen.  Der  Kommu- 
nismus, heißt  es,  entwickelt  sich  vor  unseren  Augen  mit  Notwendig- 
keit aus  den  sich  wandelnden  ökonomischen  Verhältnissen.  Den 
Übergang  habe  der  Arbeiter  bewußt  zu  erleben,  aber  auch  ihn  zu 
beschleunigen.  Daher  sind  alle  geistigen  und  sittlichen  Kräfte  der 
Nation,  soweit  sie  nicht  in  dem  Proletariat  und  in  den  Arbeiter- 
führern verkörpert  sind,  herabzuwürdigen,  zu  untergraben.  Was 
ist  denn  die  Nation,  wurde  gefragt.  Antwort:  Alle  Reichtümer  ge- 
hören einigen  10  000  Kapitalisten,  die  die  ganze  Erde  zwangsweise 
in  Abteilungen  zerlegt  haben,  um  das  Volk  mittels  der  erfundenen 
Staatsmaschine  besser  unterdrücken  zu  können.  Diese  Abteilung 
ist  die  Nation.  Ist  der  Kapitalismus  vernichtet,  so  auch  der  Staat 
und  die  Nation.  Der  ewige  Friede  in  der  Internationalität  der 
Arbeiter  wird  der  Zertrümmerung  folgen.  Merkwürdigerweise 
wollte  man  zugleich  den  Darwinismus  nicht  preisgeben,  weil  man 
mit  ihm  die  Dogmen  des  Christentums  und  der  Kirche  zu  zerstören 
hoffte.  Nun  schrieb  man  schöne  Broschüren,  um  Sozialismus  und 
Daseinskampftheorie  zu  vereinigen.  Eine  harte  unfruchtbare  Nuß, 
aber  was  vermag  man  nicht  alles  zu  knacken,  wenn  es  darauf  an- 
kommt, zur  Macht  zu  gelangen. 

Solange  Marx  und  Engels  in  London  dirigierten,  wurde 
dem  Arbeiterevangelium  immer  neue  Nahrung  zugeführt.   Es  blieb 


770  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs  1871 — 1890. 

leidlich  frisch,  und  die  Nachbeter  in  Deutschland  hatten  immer 
genug  zu  tun,  aus  der  Wissenschaft  jener  Männer  eine  Religion 
und  aus  dem  eigenen  Glauben  eine  Wissenschaft  zu  machen. 
Wollten  die  deutschen  Regierungen  dieser  Staats-  und  vgesell- 
schaftsfeindlichen  Macht  entgegentreten,  so  mußten  sie  die  Agi- 
tation in  den  großen  Städten  unterbinden,  wo  sie  ihren  Schwer- 
punkt hatte.  Die  geistige  Quelle  im  Auslande  konnten  sie  nicht 
verstopfen,  wo  sie  von  den  Engländern  mit  der  nicht  ganz  auf- 
richtigen Phrase  des  Schutzes  politischer  Flüchtlinge  gedeckt  war. 
Hier  auf  der  Insel  hatte  der  Marxismus  nur  wenig  Boden  fassen 
können,  man  ließ  ihn  gewähren,  da  er  ein  ganz  gutes  Mittel  schien, 
den  nationalen  Gedanken  in  Deutschland  zu  schädigen.  Hier  er- 
klärte man  in  gebildeten  Kreisen,  daß  man  den  theoretischen  In- 
halt des  Sozialismus  mit  geistigen  Waffen  zu  bekämpfen  habe. 
Das  war  an  sich  richtig,  und  es  hat  daran  auch  nicht  gefehlt^ 
Die  Kritik  erreichte  indessen  den  Arbeiter  vorläufig  nicht,  bis  sie 
die  sogenannten  Revisionisten  der  sozialistischen  Partei  aufgriffen 
und  einiges  weitergaben.  Wenn  jemand  hätte  glauben  wollen,  daß 
damit  der  Weg  zur  Arbeiterreformpartei  angebahnt  worden  wäre, 
würde  bitter  enttäuscht  gewesen  sein.  Es  erschien  im  Verlaufe  der 
Zeit  nur  zweckentsprechend,  den  agitatorisch  aufgebrauchten  Kom- 
munismus etwas  weniger  und  die  radikale  Demokratie  mehr  zu  be- 
tonen. Dazu  mußte  man  aus  den  nebelhaften  Höhen  der  Marx- 
schen  Dialektik  in  die  Arena  des  wirklichen  politischen  Lebens 
hinabsteigen,  wo  man  den  Massen  greifbare  Vorteile  zu  versprechen 
hatte. 

Die  Streitigkeiten  in  der  sozialdemokratischen  Partei  wurden 
von  ihren  Gegnern  damals  viel  zu  ernst  genommen.  Oft  waren  es 
nur  Angelegenheiten  der  persönlichen  Führerschaft  und  des  Ehr- 
geizes neuer  Männer,  welche  die  Wortstürme  hervorriefen.  Denn 
das  ist  ja  die  geschichtlich  längst  erwiesene  Eigenschaft  aller 
demokratischen  Bewegungen,  daß  die  launenhafte  Volksgunst  ihre 
Liebhaber  wechselt,  an  denen  daher  nie  ein  Mangel  zu  sein  pflegt, 
und  die  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  zu  ziehen  immer  findig  sein 
müssen. 

Die  staatliche  Bekämpfung  der  sozialdemokratischen  Auf- 
wiegler und  Verleumder  begann  mit  einer  Strafgesetznovelle,  die 
in  der  Reichstagssession  1875/76  von  der  Regierung  vorgelegt 
wurde  und  ganz  allgemein  jeden  mit  Gefängnis  bedrohte,  der  /die 
Klassen  der  Gesellschaft  öffentlich  gegeneinander  aufwiegelt  und 
ebenso  die  Einrichtungen  der  Ehe,  der  Familie  und  des  Eigen- 
tums durch  Rede  und  Schrift  angreift.  Der  Reichstag  stimmte 
diesem  etwas  vagen  Entwurf  nicht  zu.    Ende  März  wurde  die  Ar- 


VII.  Die  Reicbssozialpolitik.  21  j 


beiterpartei  wegen  Zweigvereinsbildung  in  Preußen  aufgehoben. 
Sie  hielt  daraufhin  ihren  Kongreß,  um  die  Reichstagswahl  von 
1877  vorzubereiten,  die  ihr  493258  Stimmen,  d.  h.  9,130/0  von  allen 
abgegebenen  brachte,  in  Gotha  ab.  Zwei  Mandate  wurden  der 
Fortschrittspartei  in  Berlin  entrissen.  Am  11.  Mai  1878  ereignete 
sich  das  gegen  Kaiser  Wilhelm  gerichtete  erfolglose  Attentat  des 
Klempnergesellen  Hödel,  für  dessen  Tat  überall  im  Reich  die  maß- 
lose sozialistische  Auf  reizung  verantwortlich  gemacht  wurde.  Durch- 
aus mit  Recht,  da  der  Verbrecher  alle  seine  Anschauungen  aus 
dem  Umkreis  der  sozialistischen  Gehässigkeit  empfangen  hatte, 
als  wenig  urteilsfähige  Persönlichkeit  der  radikalen  Suggestion 
verfallen  war.  Die  Partei,  welche  täglich  die  Theorie  predigte, 
daß  die  Klasse  alles  sei  und  der  Einzelne  nur  den  Klassengeist 
atme,  vermochte  diesen  Mann,  wenn  sie  ihn  auch  einen  Anarchisten 
nannte,  nicht  von  sich  abzuschütteln.  Der  Sturm  der  Entrüstung 
war  so  groß,  daß  die  Reichsregierung  alsbald  zur  Abwehr  sozial- 
demokratischer Aufreizung  dem  Reichstag  einen  Gesetzentwurf  vor- 
legte, nach  dem  Vereine,  die  die  Ziele  der  Sozialdemokratie  ver- 
folgen, vom  Bundesrat  für  das  Reichsgebiet  verboten  werden  kön- 
nen, doch  sollte  jedes  Verbot  außer  Kraft  gesetzt  werden,  wenn 
nachträglich  die  Volksvertretung  nicht  einverstanden  wäre.  Dieses 
erste  Sozialistengesetz,  das  auch  der  Polizeibehörde  größere  Be- 
fugnisse zur  Auflösung  sozialistischer  Versammlungen  gewährte, 
wurde,  obwohl  es  nicht  besonders  scharf  war,  nicht  angenommen. 
Da  erfolgte  das  Attentat  Nobilings  am  2,  Juni  mit  schwerer  Ver- 
wundung des  Kaisers.  Die  neue  Erregung  in  ganz  Deutschland 
war  ungeheuer,  der  Reichstag  wurde  aufgelöst,  und  das  zweite, 
weit  schärfere  Gesetz  gegen  die  gemeingefährlichen  Bestrebungen 
der  Sozialdemokratie  bewilligte  der  neugewählte  Reichstag  mit 
großer  Majorität.  Vereine,  Druckschriften  und  Versammlungen, 
die  sozialdemokratische,  sozialistische  und  kommunistische,  auf  der 
Untergrabung  der  bestehenden  Staats-  und  Gesellschaftsordnung 
gerichtete  Bestrebungen  verfolgen,  sollen  durch  die  Landes- 
polizeibehörden verboten  werden.  Daneben  kann  über  bestimmte 
Orte  der  sogenannte  kleine  Belagerungszustand  verhängt  wer- 
den, nach  dem  Versammlungen  nur  mit  Genehmigung  der  Polizei 
stattfinden  dürfen  und  Ausweisungen  zulässig  werden. 

Das  Gesetz  war  ein  Ausnahmegesetz  und  wurde  als  ein  sol- 
ches begründet.  Denn  die  Sozialdemokratie  habe  dem  Staat  und 
der  Gesellschaft  offen  den  Krieg  erklärt  und  deren  Zerstörung  als 
ihr  Endziel  hingestellt,  sie  habe  damit  selbst  den  Boden  des  für 
alle  gleichen  Rechtes  verlassen  und  könne  sich  deshalb  nicht  be- 
schweren, wenn  ihr  derselbe  nur  insoweit  zugestanden  werde,   als 


222  ^*  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs  187 1  — 1890. 

es  mit  der  Sicherheit  und  Ordnung  im  bestehenden  Staate  verein- 
bar sei. 

Es  ist  demnach  die  Pflicht  des  Staates,  die  sozialistische  Agi- 
tation zu  unterdrücken.  Gleichzeitig  betonen  jedoch  die  Motive, 
daß  die  staatliche  Gewalt  nicht  völlig  ausreichend  dazu  sei.  Sie 
bedürfe  vielmehr  als  Ergänzung  der  tätigen  Mitwirkung  aller  er- 
haltenden Elemente  der  bürgerlichen  Gesellschaft,  um  durch  Be- 
lebung der  Religiosität,  durch  Aufklärung  und  Belehrung,  durch 
Stärkung  des  Sinnes  für  Recht  und  Sitte,  durch  zozialwirtschaft- 
liche  Reformen  die  Wurzeln  des  Übels  zu  beseitigen. 

Bis  1886  wurde  das  Verbot  des  ferneren  Erscheinens  und 
Vertreibens  von  83  inländischen  und  19  ausländischen  periodischen 
Druckschriften  ausgesprochen.  Dazu  kam  dasjenige  zahlreicher 
Broschüren,  Bücher,  Flugblätter.  Bis  1888  waren  im  ganzen  1299 
Bekanntmachungen  gegen  Drucksachen  erlassen  worden.  246  Ver- 
eine, darunter  17  gewerkschaftliche  Zentralverbände,  wurden  auf- 
gelöst. Die  Gesamtzahl  der  Ausweisungen  in  10  Jahren  war  893, 
die  Freiheitsstrafen  sind  auf  611  Jahre,  6  Monate  und  23  Tage 
Straf haft  pnd  119  Jahre,  5  Monate  und  13  Tage  Untersuchungshaft 
berechnet  worden. 

Eine  erhebliche  gewerkschaftliche  Organisation 
ist  dem  Sozialistengesetz  nicht  zum  Opfer  gefallen.  Die  Hirsch- 
Dunckerschen  Vereine  wurden  nicht  berührt.  Die  sozialistischen, 
die  wiederholt  als  gewaltige  Macht  ausposaunt  worden  waren^ 
hatten  1877  nach  einer  privaten  Statistik  49055  Mitglieder,  die 
geringe  Beiträge  leisteten  und  nur  über  ein  unvollkommenes 
Kassenwesen  verfügten.  Der  starke  Verband  der  Buchdrucker  hielt 
es  für  angezeigt,  sich  selbst  aufzulösen,  um  sein  Vermögen  sicher- 
zustellen, obwohl  er  der  Sozialdemokratie  nicht  direkt  angehörte. 
Vier  Verbände  der  älteren  zentralisierten  Gewerkschaften  bestanden 
fort,  ebenso  eine  Anzahl  lokaler  Fachvereine,  die  als  politisch  un- 
verdächtig galten. 

Der  Koalitionsgedanke  war  bei  denen,  welche  seine  Macht  in 
Streiks  und  Lohnforderungen  erprobt  hatten,  keineswegs  >  ver- 
nichtet worden.  Durch  die  Gewerbeordnung  war  er  für  die  ge- 
werblichen Arbeiter  zudem  sanktioniert.  Ihn  wollte  das  Sozia- 
listengesetz nicht  treffen. 

Die  bestehende  öffentliche  Organisation  der  Sozialdemokraten 
war  gebrochen,  an  die  Stelle  trat  bald  eine  geheime,  die  rasch  er- 
starkte. Denn  während  bei  der  Reichstagswahl  von  1881  311  961 
sozialistische  Stimmen  abgegeben  worden  waren,  brachte  das  Jahr 
1884  549990  und  1887  763128.  Die  Zahl  der  Mandate  war  dem 
nicht  entsprechend,  darauf  kam  es  auch  der  Agitation  jetzt  nicht 


VII.  Die  Reichssozialpolitik.  33 i 


an,  da  sie  auf  einen  politischen  Einfluß  nicht  zu  hoffen  wagte. 
Vielmehr  sollten  die  gestatteten  Wählerversammlungen  an  erster 
Stelle  zur  Verbreitung  der  sozialistischen  Lehre  dienen  und  durch 
das  Anschwellen  der  Zahl  der  Wahlstimmen  ängstliche  Gemüter 
geschreckt  werden. 

Nach  der  Auflösung  der  Gewerkschaften  entstanden  auf  Grund 
des  Koalitionsrechts  zahlreiche  Fachvereine,  lokale  Interessenver- 
bände ohne  feste  Organisation,  z.  B.  der  Metallarbeiter,  Tischler, 
Bauhandwerker.  Offiziell  wurden  in  ihnen  nur  gewerbliche  Fragen 
behandelt,  überall  waren  Sozialdemokraten  dabei,  es  erschienen 
hier  bekannte  Führer  der  Partei  auf  ihren  Rundreisen  durch 
Deutschland,  so  daß  diese  Zusammenkünfte  bald  Tummelplätze  der 
Propaganda  wurden.  Die  Mitgliederzahl  der  Fachvereine  schwoll 
vor  den  politischen  Wahlen  plötzlich  an,  und  etwaige  Ausstände 
dieser  Vereine  boten  die  beste  Gelegenheit,  den  erhitzten  Ge- 
mütern die  Notwendigkeit  zu  beweisen,  sich  der  sozialdemokra- 
tischen Partei  anzuschließen. 

Auch  die  Gewerkschaften  traten  bald  wieder  hervor.  Zuerst 
gelang  es  den  Buchdruckern,  geduldet  zu  werden,  dann  folgten  die 
Hutmacher,  Bildhauer,  Zimmerleute,  Tischler.  Dazu  kam  die  Aus- 
breitung der  freien  Hilfskassen,  die  den  berufsgenossenschaftlichen 
Geist  pflegten  und  somit  Vorstufen  zu  neuen  Gewerkschaften  wur- 
den. In  der  zweiten  Hälfte  der  achtziger  Jahre  ist  die  Mitglieder-» 
zahl  rasch  gewachsen,  denn  auf  dem  ersten  Gewerkschaftskongreß 
in  Halberstadt,  nach  der  Beseitigung  des  Sozialistengesetzes  im 
Jahre  1892,  vertraten  208  Abgeordnete  305519  zahlende  Genossen. 

Woher  kam  nun  die  Duldung  der  neuen  Bewegung,  obwohl 
der  Kampf  gegen  die  Sozialdemokratie  mittels  der  Polizei  heftig 
weitergeführt  wurde?  Die  Anschauung  hatte  sich  immer  mehr 
Bahn  gebrochen,  daß  die  Sozialpolitik,  wie  sie  die  Reichs regierung 
mit  der  Arbeiterversicherung  anstrebte,  nur  fruchtbar  sein  werde, 
wenn  die  Arbeiter  ihr  nicht  gleichgültig  gegenüberständen,  son- 
dern den  guten  Willen  hätten,  ihrerseits  zum  eigenen  Wohle  mit- 
zuwirken. Es  kam  also  darauf  an,  den  Geist  der  Gemeinsamkeit 
im  Praktischen  zu  pflegen,  und  wo  hätte  das  besser  als  in  berufsi 
genossenschaftlichen  Verbänden  geschehen  können?  Die  christ- 
lich-soziale Partei  war  sogar  mit  dem  Wunsche  nach  obligato- 
rischen  Fachgenossenschaften  hervorgetreten. 

Zudem  mußte  die  Regierung  logischerweise  der  Verbindung 
von  Arbeitern  zur  Erreichung  wirtschaftlicher  Vorteile  zustimmen, 
da  sie  die  Hebung  der  Arbeiterklasse  selbst  in  die  Hand  zu 
nehmen  gedachte.  Endlich  glaubte  man  in  den  Gewerkschaften, 
die  Vermögen  ansammelten,  Führer  für  den  wirtschaftlichen  Kampf 


^^A  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs  187 1 — 1890. 


ausbildeten,  ihr  Denken  der  gegenwärtigen  und  nicht  einer  uto- 
pischen Besserung  der  Lage  der  Arbeiterklasse  zuwandten,  ein 
Mittel,  der  Sozialdemokratie  den  Wind  aus  den  Segeln  zu  nehmen, 
zu  besitzen. 

Gleichzeitig  sollte  jeder  politischen  Agitation  in  den  neuen 
Verbänden  mit  aller  Strenge  begegnet  werden.  So  geschah  es, 
daß  man  die  Gewerkschaften  mit  ihrer  Ausbreitung  gut  hieß,  sie 
aber  ohne  Unterschied  in  ihren  eigenen  Handlungen  polizeilich 
drangsalierte.  Das  führte  zur  Erbitterung,  und  wie  hätte  man 
dieser  arbeiterseits  einen  besseren  Ausdruck  verleihen  können,  als 
daß  man  sich  erst  recht  der  Sozialdemokratie  anschloß. 

Dazu  kam,  daß  die  berufsmäßigen  Politiker  der  Partei  ebenso 
wie  in  den  Fachvereinen  auch  hier  ihre  Hand  im  Spiele  hatten!, 
Nach  außen  hin  sahen  die  neuen  Verbände  harmlos  aus  oder  fuhren 
gar  unter  falscher  Flagge,  aber  bei  jedem  Streik  wurde  die  Un- 
zufriedenheit geschürt,  was  um  so  besser  gelang,  als  die  Aus- 
stände meist  erfolglos  waren.  Dann  wurde  der  Regierung  die 
Schuld  des  Mißlingens  beigemessen,  die  um  so  leichter  geglaubt 
wurde,  als  der  unklare  und  daher  wirkungslose  Puttkamer- 
sche  Streikerlaß  von  1886  zwischen  der  erlaubten  und  nicht  er- 
laubten Ausübung  des  Koalitionsrechtes  eine  Unterscheidung  zu 
machen  suchte. 

Die  Fach-  und  Gewerkvereine  waren,  obwohl  der  sozialdemo- 
kratische Gedanke  hier  reichliche  Nahrung  fand,  formell  nur  ein 
loser,  durch  einzelne  Personen  vermittelter  Anhang  der  Partei.  In 
allen  großen  Industriestädten,  z.  B.  in  Frankfurt  a.  M.,  Darmstadt, 
Hanau,  Offenbach,  Mainz,  bestanden  für  diese  selbst  geheime  Ver- 
eine mit  Unterabteilungen,  die  bestimmte  städtische  Bezirke  um- 
faßten. Sie  wurden  von  einer  Geschäftskommission  geleitet  und 
durch  eine  Zentrale,  die  vermutlich  in  Berlin  war,  zusammen- 
gehalten. Die  Aufgaben  der  Geheimorganisation  waren  Wahl- 
agitation, Verbreitung  des  sozialistischen  Gedankens  auch  auf  das 
Land  und  in  der  Armee,  Verstärkung  der  Organisation  durch  Bil- 
dung neuer  Geheimvereine,  Fachvereine,  Gewerkschaften.  Alle  Ver- 
handlungen wurden  mündlich  erledigt,  es  gab  keine  Statuten,  keine 
Mitgliederlisten,  keine  Abrechnung.  Briefe  und  Quittungen  wurden 
verbrannt,  nachdem  von  ihnen  die  verantwortlichen  Leiter  Ein- 
sicht genommen  hattten.  Man  benutzte  ein  Geldbeitragssystem  mit 
Marken,  welches  der  Polizei  die  Namen  der  Mitglieder  verdeckte 
imd  jedem  die  Gewähr  gab,  daß,  wenn  er  für  die  erhaltene  Marke 
Geld  gegeben  hatte,  dieses  auch  der  Parteiführung  zufloß. 

Die  Presse  hatte  zwei  Formen,  erstens  die  gemäßigten  kleinen 
Arbeiterblätter,   die   sich   der   Angriffe   gegen   die   Regierung   ent- 


VII.  Die  Reichssozialpolitik.  77c 


hielten,  aber  doch  Nachrichten  aus  dem  eigenen  Lager  zur  Orien- 
tierung der  Genossen  brachten  und  in  ihrer  „politischen  Über- 
sicht" der  Propaganda  Raum  gaben;  zweitens  die  verbotene,  ■  meist 
im  Auslande,  erst  in  Zürich,  dann  in  London  erscheinende,  die 
teilweise  in  geschlossenen  Kuverts  an  sogenannte  Deckadressen 
ging,  teilweise  in  Paketen  imd  Ballen  als  Ware,  z.  B.  als  Kinder- 
mehl aus  der  Schweiz,  importiert  wurde.  Der  „rote  Postmeister" 
hatte  die  Aufgabe,  etwa  von  Zürich  über  Genua  nach  Hamburg  die 
Kisten  zu  verfrachten.  Die  Empfänger  verbreiteten  dann  von  Hand 
zu  Hand  die  einzelnen  Broschüren  oder  den  „Sozialdemokraten" 
weiter. 

Man  kann  nicht  behaupten,  daß  das  Sozialistengesetz  wir- 
kungslos gewesen  ist.  Die  Agitation  wurde  eingeschränkt,  aber 
nicht  vernichtet.  Die  polizeiliche  Überwachung  war  unter  den  Ver- 
hältnissen des  modernen  Lebens  nicht  ausreichend  durchzuführen. 
Die  Großstädte  bieten  überall  Schlupfwinkel  für  Versammlungen, 
die  Arbeiter  sind  in  Massen  zusammen  beschäftigt  und  tauschen 
in  den  Arbeitspausen  oder  auf  dem  Wege  zur  Fabrik  regelmäßig 
ihre  Anschauungen  oder  die  verbotenen  Zeitungen  untereinander 
aus.  Da  jeder  Arbeiter  lesen  und  schreiben  kann,  braucht  die 
Werbetätigkeit  nicht  immer  mündlich  zu  sein.  Durch  rasches  Hin- 
und  Herreisen  kann  sich  der  Aufwiegler  der  Polizei  entziehen. 
Der  Großbetrieb  der  Post  mit  ihren  Millionen  Briefen  täglich 
schließt  eine  genaue  Überwachung  ganz  Deutschlands  aus,  selbst 
wenn  das  Briefgeheimnis  nicht  gewahrt  bleibt.  Endlich  steht 
Hunderttausenden  von  Sozialdemokraten  nur  eine  sehr  beschränkte 
Zahl  von  Polizisten  entgegen,  die  der  Aufgabe  nicht  gewachsen 
sein    können,    jeder    kleinen    politischen    Verfehlung    nachzulaufen. 

Das  Sozialistengesetz  hatte  andererseits  nachteilige  Folgen. 
Die  Bedrohten  wurden  ungemein  verbittert,  und  viele,  die  bis  da- 
hin gemäßigte  Sozialdemokraten  gewesen  waren,  wurden  zu  Sozial- 
revolutionären. Märtyrer  wurden  geschaffen,  die  inneren  Streitig- 
keiten in  der  Partei  hörten  auf,  die  Disziplin  wurde  strenger,  der 
Einzelne  ordnete  sich  unbedingt  unter.  Die  Geheimverbände  waren 
in  stetem  Kleinkampf  gegen  die  bestehende  Gesellschaft,  Spionen- 
riecherei.  Verräterei,  Lockspitzeltum  untergruben  die  politische  Mo- 
ral. Der  Haß  der  Arbeiter  gegen  die  Regierung  mußte  auch  auf 
das  Wirtschaftsleben  zurückgreifen,  er  wurde  auf  die  Unternehmer 
ausgedehnt. 

Das  Gesetz  gehörte  zu  denjenigen  Handlungen  der  Bismarck- 
schen  Politik,  die  mißlungen  sind.  Der  Reichskanzler  erkannte  die 
ungeheuere  Gefahr,  die  seinem  Lebenswerke  durch  die  Internatio- 
nalität  des  Sozialismus  und  die  Zersetzung  des  Volkes  durch  dessen 


ßßö  ^-  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871  — 1890. 

Staatsfeindschaft  drohte.  Die  Revolution  von  191 8,  die  die  Zer- 
trümmerung des  alten  Deutschland  brachte  und  es  den  Feinden 
auslieferte,  hat  ihm  Recht  gegeben.  So  wie  das  Sozialistengesetz 
war,  blieb  es  eine  halbe  Maßregel,  solange  die  Arbeiterkoalitiön 
zu  wirtschaftlichen  Zwecken  und  das  allgemeine  Wahlrecht  aner- 
kannt waren.  Wollte  man  diese  Rechte  beibehalten,  so  wäre  es 
richtiger  gewesen,  es  gar  nicht  zu  erlassen  und  auf  dem  Boden 
allgemeiner  Normen  zu  bleiben,  dann  aber  sofort  auf  jene  Mittel 
der  Versöhnung  hinzusteuern,  die  von  der  Regierung,  wie  vorher 
gesagt,  nicht  übersehen  waren.  Das  zunächst  praktisch  Erfaß- 
bare war  die  Sozialreform  zugunsten  der  Lohnarbeiter,  die  jedoch 
auch  unabhängig  von  der  Sozialdemokratie  und  deren  Wühlerei  zu 
verstehen  ist.  Sie  war  eine  wirtschaftliche  und  soziale  Notwendig- 
keit zum  allgemeinen  Wohle.  Inwiefern  sie  geeignet  war,  den 
sozialistischen  Aufrührern  das  Handwerk  zu  legen,  werden  wir 
weiter  unten  zu  erörtern  haben,  zunächst  wenden  wir  uns  dem 
großen  Gesetzeswerk  des  Arbeiterschutzes  und  der  Arbeiterver- 
sicherung zu.  

Die  sozialdemokratische  Bewegung  hatte  die  kritischen 
Schriften  von  Lassalle  und  Marx  in  den  Vordergrund  der 
nationalökonomischen  Diskussion  geschoben  und  blieb  auf  die 
Wissenschaft  nicht  ohne  nachhaltigen  Eindruck.  Soweit  die  Wirt- 
schaftspolitik in  Frage  stand,  hatten  die  wissenschaftlichen  .Natio- 
nalökonomen der  Universitäten  und  die  Publizistik  Stellung  zu 
den  einzelnen  Programmpunkten  und  deren  Begründung  zu  nehmen, 
wobei  sie  durchweg  alles  Utopische  ablehnten,  teilweise  sich  mit 
weitgehenden  Reform  vorschlagen  einverstanden  erklärten,  teil- 
weise, wie  die  Schule  der  manchesterlichen  „Volkswirte",  von  dem 
Eingreifen  des  Staates  in  die  Arbeiterfrage  nichts  wissen  wollten, 
vielmehr  meinten,  durch  freie  Hilfskassen,  Genossenschaften  und 
Gewerkvereine  alle  Klagen  der  Lohnarbeiter  beseitigen  zu  können, 
soweit  solche  überhaupt  als  berechtigt  zugegeben  wurden. 

Die  Theorie  und  die  Methode  der  Forschung  blieben  ebenfalls 
nicht  unberührt. 

Die  beiden  Begründer  der  deutschen  Sozialdemokratie  waren 
Heglianer  gewesen  und  wollten  das  Recht  und  das  soziale  Leben 
in  ihrem  Werden  verstehen.  Für  die  deutsche  Nationalökonomie 
in  ihrem  Werden  verstehen.  Für  die  deutsche  Nationalökonomie  galt 
es  daher,  auch  hier  einen  prinzipiellen  Standpunkt  einzunehmen. 

Es  zeigte  sich  bald,  daß  er  bei  vielen  Gelehrten  kein  wesent- 
lich vom  modernen  Sozialismus  abweichender  war,  wenn  sie  sich 
auch  den  historischen  Gang  der  wirtschaftlich-sozialen  Dinge  in 
einer  anderen  Verknüpfung  als  er  dachten.    Die  englische  Theorie 


VII.  Die  Reichssozialpolitik.  7-2^ 


von  Smith,  Ricardo  und  M  a  1 1  h  u  s  und  ihre  deutsche  Ver- 
arbeitung waren  bis  1870  vorherrschend  geblieben.  Sie  hatten 
den  Angriffen,  denen  sie  ausgesetzt  worden  war,  im  ganzen  sieg- 
reich widerstanden,  weil  sie  eine  große  Anzahl  von  Grundbegriffen 
und  Gesetzmäßigkeiten  festgelegt  hatten,  die  jeder  Nationalökonom 
zu  dem  Werkzeug  seines  Denkens  gemacht  hatte.  Im  Widerspruch 
dazu  stand  die  praktische  Nationalökonomie.  Sie  klammerte  sich 
zwar  an  die  Theoreme  der  Freiheit  und  der  Nicht-Staatsintervention 
in  wirtschaftlichen  Dingen,  ließ  aber  so  viele  Ausnahmen  zu,  daß 
von  den  obersten  Grundsätzen  nicht  viel  übrig  blieb. 

Die  List  sehe  Kritik  vom  national-staatlichen  Standpunkt 
hatte  keinen  allgemeinen  Eindruck  gemacht,  sie  war  über  die 
Handelspolitik  hinaus  eigentlich  nicht  gewürdigt  worden.  Immer- 
hin blieb  ihre  historische  Grundlage  nicht  unvergessen.  1843  trat 
Wilhelm  Röscher  mit  seinem  „Grundriß  zu  Vorlesungen  über 
die  Staats  Wirtschaft  nach  geschichtlicher  Methode"  hervor  mit  An- 
schauungen, die  späterhin  in  einem  großen  Lehrbuch,  dem  „System 
der  Volkswirtschaft",  wie  auch  in  bedeutenden  Monographien,  z.B. 
der  „Geschichte  der  Nationalökonomie  in  Deutschland"  und  „An- 
sichten der  Volkswirtschaft  aus  dem  geschichtlichen  Standpunkte 
1861"  zur  Ausführung  gelangten  und  dem  Verfasser  den  Namen 
des  Begründers  der  historischen  Schule  auf  den  deutschen  Uni- 
versitäten einbrachten.  Der  Historismus  für  die  Nationalökonomie 
lag  in  der  Luft.  Es  gab  eine  historische  Rechtswissenschaft,  eine 
historische  Sprachvergleichung,  die  Naturwissenschaft  war  von  dem 
Entwicklungsgedanken  befruchtet  worden,  und  vor  allem  wurde 
die  Geschichtsphilosophie  der  Wegweiser  von  der  Staatslehre  zur 
Wirtschaftswissenschaft.  Rodbertus  war  durch  Schellin g, 
Marx  durch  Hegel  beeinflußt  worden.  Wie  beide  die  öko- 
nomische Welt  historisch  auffaßten,  ist  bereits  mitgeteilt  worden. 

Der  Werdegang  des  Wirtschaftslebens,  der  bei  Röscher 
durch  gewagte  Generalisationen,  Jugend-,  Mannes-,  Greisenalter, 
der  Volkswirtschaft  und  Analogien  verflacht  worden  war,  worüber 
auch  seine  ungeheuere  Anmerkungen-Gelehrsamkeit  nicht  hinweg- 
täuschen kann,  wurde  schärfer  von  Karl  Knies  in  der  „Po- 
litischen Ökonomie  vom  Standpunkt  der  geschichtlichen  Methode 
1853"  und,  wenn  auch  nicht  in  gleicher  Wissenschaftlichkeit,  von 
Bruno  Hildebrand  in  seinem  Buche  „Die  Nationalökonomie 
der  Gegenwart  und  Zukunft  1848"  erfaßt.  Nach  Knies  ist  das 
geschichtliche,  das  staatlich  geeinigte  Volk  der  Wirklichkeit  nach 
der  Erfahrung  des  Lebens  das  Objekt  der  Volkswirtschaftslehre. 
Daher  kann  eine  ökonomische  Entwicklungslehre  erst  aus  der 
Vergleichung   der  einzelnen   Völker   gewonnen   werden,   womit   die 

A.Sartorius  v.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        22 


238  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1  — 1890. 

Gefahr,  ein  willkürliches,  abstraktes  Prinzip  in  die  Wirtschafts- 
geschichte hineinzutragen,  beseitigt  wird.  Hildebrand  bezeich- 
net die  Nationalökonomie  als  eine  Wissenschaft  von  den  öko- 
nomischen Entwicklungsgesetzen  der  Völker,  sie  ist  ihm  eine  sitt- 
lich-politische Disziplin,  die  mit  vergleichender  Methode,  etwa  wie 
in  der  Sprachwissenschaft,  weiterzuführen  ist.  Er  hatte  sich  auch 
mit  dem  älteren  Sozialismus  beschäftigt  und  dessen  Bedeutung  ge- 
genüber dem  Smithianismus  betont.  Eine  objektive  Kenntnis  des 
französischen  Sozialismus  hatte  Lorenz  von  Stein,  der  als 
Anhänger  Hegels  formal  historisch  dachte,  1842  und  1848  der 
deutschen  Wissenschaft  bereits  vermittelt.  Wertvolle  Spezialunter- 
suchungen hatten  die  geschichtliche  Denkweise  glücklich  ver- 
tieft. G.  Hanssen  wurde  der  Begründer  der  deutschen  Agrar- 
geschichte,  G.  F.  von  Schönberg  erwarb  sich  dauernde  Ver- 
dienste um  die  Erforschung  des  mittelalterlichen  Zunftwesens  und 
der  mittelalterlichen  Stadtwirtschaft,  Rodbertus  durch  seine  Un- 
tersuchungen auf  dem  Gebiete  der  Nationalökonomie  des  klassi- 
schen Altertums. 

Diese  neue  Richtung  in  Deutschland  konnte  die  Manchester- 
lehren der  sechziger  Jahre  unmöglich  gut  heißen,  die  mit  ihren 
Abstraktionen  und  absoluten  Wahrheiten  der  sozial-historischen 
Grundlage  durchaus  widersprachen.  Während  der  Gründerperiode 
erschienen  kritische  Schriften  von  A.  Wagner,  G.  Schmoller 
und  H.  Rösler.  Sätze  und  Behauptungen  des  Sozialismus  blieben 
im  Eifer  des  Gefechtes  als  Beweisgründe  nicht  fern  und  mußten 
später  als  Übertreibungen  korrigiert  werden.  Die  Forschung  hatte 
einen  frischen  Zug  bekommen,  und  indem  sie  sich  den  Fragen 
der  Gegenwart  zuwandte,  führte  sie  sich  immer  neue  Lebens- 
quellen  zu. 

Nachdem  die  historische  Nationalökonomie  den  wichtigen 
Schritt  getan  hatte,  das  ökonomische  System  des  Liberalismus 
selbst  als  ein  geschichtliches  Ergebnis  zu  deuten,  trat  die  Auf- 
gabe an  die  jüngeren  Kräfte  heran,  ein  neues  Lehrgebäude  zu  ent- 
werfen. Hier  zeigte  sich  nun  bald,  daß  die  vorhandenen  wirtschaft- 
lich-geschichtlichen Einsichten  nicht  ausreichten.  Daher  gaben 
G..  Schmoller  und  seine  Anhänger  die  Parole  aus,  es  müßten 
erst  genügend  Spezialuntersuchungen  vorgenommen  werden,  ehe 
man  die  Entwicklungsgesetze  des  wirtschaftlichen  Lebens,  die  man 
nur  in  den  Umrissen  erblicke,  in  allen  ihren  Folgerungen  erkennen 
könne.  Auf  diesem  Gebiete  der  deskriptiven  Einzeluntersuchung 
ist  in  den  folgenden  40  Jahren  viel  geleistet  worden,  eine  Zu- 
sammenfassung vieler  Resultate  hat  Schmoller,  der  Führer  der 
Schule,   in  einem   Grundriß   der  allgemeinen  Volkswirtschaftslehre 


VII.  Die  Reichssozialpolitik.  ^ßg 


1900  und  1904  unternommen,  und  mit  der  Eigenart  seiner  Be- 
trachtungsweise, das  Wirtschaftsleben  nicht  isoliert,  sondern  im 
Kreise  anderer  Wissensgebiete,  wie  Sprache  und  Schrift,  Sitte, 
Recht  und  Moral,  Geographie  und  Anthropologie  zu  verstehen, 
'durchtränkt. 

Die  Einsicht  in  neue  Entwicklungsgesetze  ist  dabei  nicht 
sonderlich  gefördert  worden.  Das  Ergebnis  der  neuen  historischen 
Schule  bleibt  dennoch  ein  großes,  daß  im  Grunde  die  Volkswirt- 
schaftslehre eine  historische  Wissenschaft  ist  und  nichts  anderes 
sein  kann.  Damit  ist  nicht  gesagt,  daß  ihre  Methode  nur  em- 
pirisch-induktiv zu  sein  habe.  Formulierungen  z.  B.  der  Wirt- 
schaftsstufen, der  Arbeitsteilung,  des  Tauschverkehrs  sind  Abstrak- 
tionen, mit  denen  deduktiv  weitergearbeitet  worden  ist,  um  sie 
geschichtlich  zu  vertiefen  und  sie  in  dem  großen,  bisher  un- 
erforschten Material  nachzuweisen.  Außerdem  können  alle  Wirt- 
schaftshistoriker die  überkommenen  Begriffe,  die  anerkannten  Kau- 
salzusammenhänge und  Begründungen  nicht  entbehren,  um  über- 
haupt an  die  Durchleuchtung  des  historischen  Stoffes  herangehen 
zu  können.  Insofern  wird  eine  theoretische  Volkswirtschaftslehre 
immer  das  notwendige  Gegenstück  zu  den  Einsichten  von  der 
Umbildung  der  wirtschaftlichen  Zustände  bleiben.  Denn  ein  Gelehrter 
ohne  Formeln,  bemerkt  Fr.  Nietzsche,  gleicht  einem  Manne, 
der  ungemünzt  sein  Gold  in  der  Tasche  trägt.  Nur  ist  die  Vor- 
stellung nicht  haltbar,  daß  man  eine  solche  Theorie  aus  der  Natur 
des  Menschen  oder  den  ewigen  Tatsachen  der  ihn  umgebenden 
Natur  und  der  ihn  beherrschenden  Naturgesetze  direkt  ab- 
leiten könne.  Alle  Wirtschaftstheorie  ruht  auf  geschichtlich  ge- 
gebenen Voraussetzungen.  Nehmen  wir  z.  B.  einen  der  abstrak- 
testen Forscher,  Ricardo.  Worauf  baut  er  seine  Lehren  auf ?  Auf 
Privateigentum  an  Boden,  Kapital  und  Kapitalgewinn,  Lohn  und 
Zins,  Geld  und  Kosten,  also  lauter  historischen  Begriffen.  Und 
wie  war  es  mit  seinem  Vorgänger  Smith  ?  Sind  Markt,  freie  Kon- 
kurrenz, Freihandel,  Monopol,  Banknoten  und  Grenzzölle  etwa 
anders  als  wie  gewordene  Einrichtungen  zu  verstehen?  Seitdem 
die  Menschen  über  ihr  Wirtschaftsleben  nachgedacht  haben,  haben 
sie  eine  Summe  von  Abstraktionen  angesammelt,  mit  denen  sie 
weiterforschen.  Neue  Vorstellungen  bilden  sich  aus  neuen  Ver- 
hältnissen, alte  Begriffe  werden  geprüft,  werden  schärfer,  ver- 
feinert, um  die  ökonomischen  Notwendigkeiten  des  Lebens  besser 
zu  begreifen. 

Das  Unbefriedigende  der  Manchesterpraxis  für  die  deutsche 
Volkswirtschaft  führte  1872  in  Eisenach  zur  Gründung  des  Ver- 
eins  für   Sozialpolitik.    In   dem   von   Schmoller  entwor- 

22* 


ßAO  V-  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871  — 1890. 

fenen  Programm,  das  in  seinen  Hauptzügen  dauernd  aufrecht  er- 
halten wurde,  wnrde  das  Eingreifen  des  Staates  in  die  Ein- 
kommensverteilung als  dessen  Pflicht  hingestellt,  und  die  prak- 
tische Möglichkeit  eines  solchen  auf  einer  Reihe  von  Gebieten 
wurde  gleichzeitig  bejaht.  Man  wollte  keine  Nivellierung  der  Ge- 
sellschaft, aber  die  Auswüchse  der  ökonomischen  Freiheit  seien 
zu  beschneiden.  Man  erstrebte  nicht  die  Aufhebung  des  Lohn- 
verhältnisses, nur  eine  wirksame  Fabrikgesetzgebung,  größeren 
Einfluß  der  Arbeiter  auf  den  Abschluß  des  Arbeitsvertrages,  He- 
bung der  ganzen  Klasse  durch  Erziehung,  Verbesserung  des  Woh- 
nungswesens u.  a.  m.  Vor  50  Jahren  hatte  S  i  s  m  o  n  d  i  ein  ähn- 
liches ethisches  System  vertreten. 

Vieles  von  diesem  Programm  ist  in  der  Folgezeit  verwirklicht 
worden,    neue    Aufgaben    auf    anderen    Gebieten    des    Wirtschafts- 
lebens   sind   hinzugekommen.    Der   Verein   hat    durch   seine   vielen 
Veröffentlichungen  dazu  beigetragen,  die  Wissenschaft  um  manche 
Spezialuntersuchung  zu  bereichern.    Da  die  führenden  Köpfe  Uni- 
versitätsprofessoren  waren,  zu  nennen   sind  außer   den   schon   Ge- 
nannten W.  Lexis,  L.  Brentano,  G.  F.  Knapp,  G.  Cohn, 
wurde  der  neuen  Richtung  von  dem  „Volkswirt"   H.  B.  Oppen- 
heim   der    Spottname    „Kathedersozialisten"    gegeben.    Der    Vor- 
wurf war  nicht  ganz   gerecht,   da  ihn  nur  wenige  von  allen  Teil- 
nehmern   verdienten,    aber   er    hatte    das    Gute,    die    Sozialpolitiker 
daran   zu   erinnern.    Maß    zu   halten   und  nicht   bloß   deshalb    kein 
Sozialist  zu  sein,   weil  man  das   Utopische  des   Kommunismus   als 
einer  umfassenden  Lebensordnung  ablehnt,  sondern  auch  deshalb, 
weil    man    die    Ungleichheit    der    Menschen,    wie    sie    nun    einmal 
besteht,    als    die    Grundlage    jeder    wirtschaftlichen    Ordnung   und 
Forschung    anerkennt.    Das    Bedenkliche    der    Namensbezeichnung 
lag  andererseits   darin,    in    weiteren   Kreisen    den   Glauben  zu   er- 
wecken, daß  der  Sozialismus  auf  den  Universitäten  offiziell  abge- 
stempelt gelehrt  werde,  womit  ihm  bei  dem  Ansehen,  das  die  Hoch- 
schulen genossen,  mehr  Wert  zugesprochen  wurde,  als  ihm  zukam. 
1875     wurde    der     Sozialismus     ein    öffentlicher     Streitgegenstand 
zwischen    Schmoller    und    von    Treitschke,    obwohl    beide 
die  Manchesterlehre  ablehnten  und  in  der  praktischen  Sozialpolitik 
nicht    weit   voneinander    abwichen.    Die   Auseinandersetzung    blieb 
nicht  unfruchtbar,   da   sowohl   die   dem   Extrem  etwas   verfallenen 
Mitglieder  des  Vereins  für  Sozialpolitik  zur  Besonnenheit  gemahnt 
wurden,    als    auch    die    historische    Schule    der    Nationalökonomie 
veranlaßt  wurde,  den  sozialistischen  Historismus  der  Gewalttheorie 
einmal  kritisch  unter  die  Lupe  zu  nehmen. 


VII.  Die  Reichssozialpolitik.  ß^i 


Die  neue  Sozialpolitik  war  mit  der  historischen  Theorie  bei 
der  Mehrzahl  der  Kathedersozialisten  eine  Personalunion  ein- 
gegangen. Doch  galt  es  nicht  für  alle,  wie  z.  B.  A.  Wagner  sich 
der  geschichtlichen  Schule  nicht  zugerechnet  hat.  Ebenso  umge- 
kehrt. Ein  Forscher  kann  ein  strenger  Historiker  sein  und  zugleich 
der  ethischen  Richtung  jener  Sozialpolitiker  ganz  fern  stehen.  Er 
könnte  z.  B.  sagen,  daß  die  Geschichte  zeigt,  wie  jede  Unterstütz- 
ung einer  unterdrückten  Klasse  von  anderen  Gruppen  dieser  zur 
Macht  verhilft,  die  sie  undankbar  gegen  ihre  Wohltäter,  sofort  re- 
volutionär ausnutzt,  wenn  sie  genügend  stark  geworden  ist. 

Allein  damals  war  es  der  Nationalökonomie  wie  schon  oft 
vorher  ergangen.  Die  Praxis  verschmolz  sich  mit  einer  Theorie, 
um  ihre  Forderungen  beweiskräftig  zu  machen.  So  waren  die 
Merkantilisten,  so  die  Individualisten,  so  auch  List  und  Rodbertus 
verfahren.  Jetzt  woirden  ethische  Prinzipien  in  Geschichte  zu  sehen 
geglaubt  und  das  Gesamtwohl  mit  dem  Schutze  der  wirtschaftlich 
Schwachen  identifiziert.  Wurde  durch  den  Optimismus  des  Glau- 
bens an  ein  festes  Ziel  des  Sollens  einerseits  der  objektiven 
Forschung  Schwungkraft  verliehen,  so  war  andererseits  die  ethische 
Tendenz  des  Guten  und  Gerechten  etwas  zu  Unbestimmtes,  um 
in  einem  modernen  Repräsentativstaate  mit  seinen  Parteien  und 
in  der  berufsmäßig  gegliederten  Volkswirtschaft  mit  ihren  organi- 
sierten Gruppen  allgemein  zu  befriedigen. 

Das  ethische  Pathos,  das  hinter  den  praktischen  Forderun- 
gen der  Sozialpolitiker  stand,  fand  zudem  im  Volke  kein  Echo, 
da  es  zu  abstrakt  ausgefallen  war.  Das  haben  die  Organisationen 
und  Parteien  wohl  gewußt,  die  ebenfalls  die  egoistische  Natur  des 
Liberalismus  angriffen,  als  sie  sich  auf  die  Macht  des  Christen- 
tums beriefen. 

Die  Steuer-  und  W^irtschaftsreformer  sind  oben 
bei  der  neuen  Zollpolitik  schon  genannt  worden.  In  den  ein- 
leitenden Worten  ihres  Programmes  stehen  die  Worte:  „Die  Ver- 
einigung hat  den  Zweck,  die  Ideen  und  Grundsätze  einer  gemein- 
nützigen, auf  christlichen  Grundlagen  beruhenden  Volkswirtschaft 
im  Volke  zu  verbreiten  und  in  der  Gesetzgebung  zum  Ausdruck 
zu  bringen".  In  der  Sozialpolitik  treten  sie  für  die  Befreiung 
des  ländlichen  Grundbesitzes  „vom  Zwange  des  römischen 
Rechtes",  für  die  Ordnung  des  ländlichen  Arbeiterverhältnisses 
ein.  Für  die  gewerbliche  Arbeiterfrage  hatten  sie  nur  die  allge- 
meine Wendung,  daß  die  Gewerbeordnung  der  Revision  bedürfe. 

Anders  verhält  es  sich  mit  der  Sozialpolitik  in  der  katho- 
lischen Partei,  die,  soweit  Preußen  in  Betracht  kam,  in  den  Indu- 
strieprovinzen, Rheinland  und  Westfalen  ihren  Hauptanhang  hatte. 


342  V-  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1  — 1890. 


Schon  in  den  sechziger  Jahren  erschienen  „die  Chrisdich-sozialen 
Blätter"  in  Aachen,  von  J.  Schings  redigiert;  der  Bischof  von 
Mainz,  Freiherr  von  Ketteier,  hatte  einen  „Entwurf  zu 
einem  politischen  Programm  für  die  Katholiken  im  Deutschen 
Reich"  veröffentlicht,  in  dem  die  korporative  Reorganisation  des 
Arbeiter-  und  Handwerkerstandes,  Arbeiterschutz  und  Arbeits- 
inspektion verlangt  wurden.  Der  Domkapitular  Moufang  faßte 
1871  seine  Forderungen  so  zusammen:  Schutz  der  Arbeiterassozia- 
tionen, gesetzliche  Regelung  der  Arbeitszeit,  des  Lohnverhältnisses, 
der  Frauen-  und  Kinderarbeit,  Beaufsichtigung  der  Arbeitslokale, 
staatliche  Geldunterstützung  von  Produktivgenossenschaften,  welche 
die  Arbeiter  selbständig  machen  sollen. 

Die  katholische  Kirche,  die  aus  ihren  Sätzen  des  Geistes 
der  Liebe,  des  Wohltuns  und  der  Trostspendung  eine  Sozialpolitik 
zugunsten  der  Schwachen  folgerte,  war  vermöge  ihrer  Macht  über 
die  Gemüter  und  ihrer  festen  einheitlichen  Verfassung  wohl  ge- 
eignet, im  Sinne  des  praktischen  Christentums  einzugreifen,  eher 
als  die  evangelische  Geistlichkeit,  der  die  Zentralisation  fehlte, 
und  deren  orthodoxe  und  liberale  Richtung  einander  befehdeten. 
Die  christliche  Arbeiterpartei,  später  christlich-soziale  Partei,  der 
W  i  c  h  e  r  n  und  H  u  b  e  r  vorgearbeitet  hatten,  befand  sich  mit 
der  katholischen  Richtung  in  dem  Verlangen  in  Übereinstimmung, 
die  egoistischen  Auswüchse  der  Volkswirtschaft  zu  beschneiden, 
wie  sich  auch  die  speziellen  Arbeiterforderungen  fast  deckten.  Sie 
wich  nur  im  Hinblick  auf  die  evangelische  Landeskirche  durch  die 
spezielle  Aufgabe  des  christlich-monarchischen  Staates,  sich  mit 
seiner  Kraft  für  eine  versöhnliche  Reform  einzusetzen,  von  der 
anderen  Konfession  ab.  An  der  Spitze  der  Bewegung  stand 
A.  Stöcker,  dessen  Kampf  gegen  das  Judentum  in  Berlin  oben 
erwähnt  worden  ist.  Ein  unmittelbarer  sozialpolitischer  Erfolg  war 
ihm  nicht  beschieden.  Da  er  selbst  der  strenggläubigen  Seite  an- 
gehörte und  sie  einseitig  vertrat,  wandten  sich  viele  von  denen 
von  ihm  ab,  die  „die  Muckerei"  nicht  mitmachen  wollten.  Außer- 
dem war  die  Arbeiterschaft  durch  die  evangelische  Kirche  nur 
wenig  zu  beeinflussen,  da  viele  Sozialdemokraten  sich  von  ihr  los- 
gesagt hatten.  Ende  der  achtziger  Jahre  kam  S  t  ö  c  k  e  r  mit  dem 
Reichskanzler  in  Konflikt,  der  ein  „Protestantisches  Zentrum"  4n 
der  Politik  und  die  Einwirkung  auf  den  Prinzen  Wilhelm 
nach  den  wenig  günstigen  Erfahrungen  nicht  wünschte,  die  in 
Preußen  mit  „den  Langröcken  am  Hof  und  Thron"  gemacht 
worden  seien. 

B  i  s  m  a  r  c  k  verfolgte  den  Plan,  in  dem  Widerstreit  zwischen 
Kapital  und  Arbeit  mittels  der  Reichsgesetzgebung  in  einer  ganz 


VII.  Die  ReichssozialpolitJk.  ^a^ 


bestimmten,  beschränkten  Weise  einzugreifen  und  iiat  ihn  durchge- 
setzt. Die  Führerschaft  sich  dabei  entreißen  zu  lassen  durch  Ein- 
schiebung  von  Projekten  und  Personen,  die  dazu  seinem  Ermessen 
nach  nicht  paßten,  war  er  durchaus  nicht  gewilh.  Er  rechnete  mit 
den  poHtischen  Parteien,  und  soweit  Agitatoren  und  Programme 
sozialer  Organisationen  seine  Richtung  publizistisch  förderten,  ließ 
er  sich  deren  Unterstützung  wohl  gefallen.  Damit  sollte  es  sein 
Bewenden  haben. 

Es  ist  nun  die  praktische  Bedeutung  der  bisher  besprochenen 
sozialpolitischen  Richtungen  gewesen,  daß  sie  die  Ziele  der  Par- 
teien neu  orientiert  haben.  Dem  Kanzler  stimmten  daher  das  Zen- 
trum und  die  konservativen  Parteien  in  der  Plauptsache  zu,  und  die 
Nationalliberalen  machten  erhebliche  Zugeständnisse. 

Er  war  vollständig  im  Recht,  wenn  er  dem  Reich  die  Pflicht 
zumaß,  in  die  Arbeiterfrage  einzugreifen.  Der  moderne  Staat  steht 
über  den  Konfessionen,  und  die  staatlich  umgrenzte  Verkehrswirt- 
schaft konnte  die  Einheitlichkeit  der  Sozialpolitik  nicht  entbehren. 
In  anderen  Ländern  ist  etwas  auch  nur  entfernt  Ähnliches  nicht 
erreicht  worden.  Obwohl  in  ihnen  das  deutsche  Vorgehen  vielfach 
vorbildlich  geworden  ist,  fehlte  es  überall  an  der  nachhaltigen 
staatlichen  Energie,  ein  so  großes  Werk  nachzuahmen.  Staaten 
mit  parlamentarischer  Regierung,  wie  Frankreich,  Italien,  die  Ver- 
einigten Staaten,  England,  haben  sich  nicht  als  fähig  erwiesen, 
so  großzügige  soziale  Reformen  durchzuführen.  In  den  genannten 
Staaten  gibt  es  nur  eng  umgrenzte  Einzelgesetze,  die  sozialpoliti- 
schen Inhalt  haben,  und  untereinander  nur  unzureichend  zusammen- 
liängen. 

Eine  große  soziale  Gesetzgebung  muß  von  einem  starken 
Geiste  zielbewußt  getragen  und  vollendet  werden.  Wo  die  Par- 
teien abwechselnd  herrschen,  hebt  die  spätere  die  Beschlüsse  der 
Vorgängerin  auf  oder  verhindert  ihre  Durchführung,  ganz  abge- 
sehen davon,  daß  keine  von  ihnen  sich  getraut,  etwas  wirklich 
Umfassendes  zu  unternehmen,  da  sie  weiß,  wie  kurzlebig  sie  ist. 
Männer  von  gewaltiger  Willenskraft  sind  dem  Parlamentarismus 
unwillkomm.en  und  werden  von  ihm  gestürzt.  Hätten  wir  das  parla- 
mentarische System  in  Deutschland  mit  der  Reichsgründung  ein- 
geführt, keine  Bismarcksche  20jährige  Staatsleitung  wäre  uns  be- 
schieden worden.  Dann  auch  nicht  die  großen  Gesetzestaten,  die 
ihr  entsprungen  sind. 

Die  Gewerbeordnung  von  1869  hatte  eine  Anzahl  von  Ar- 
beiterschutzbestimmungen aufgenommen,  die  schon  in  der  preußi- 
schen Gesetzgebung  von  1839,  1845  '^^^  1848  enthalten  gewesen 
waren.    Sie  reichten  nicht  aus.    Seitdem  waren  wiederholt  aus  der 


244  ^-  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1 — 1890. 

Mitte  des  Reichstages  ergänzende  Anträge  gestellt,  eine  Enquete 
war  von  der  Regierung  veranstaltet  worden,  und  1878  kam  eine 
Novelle  zur  Verabschiedung,  die  in  mehreren  Punkten  das  be- 
stehende Recht  erweiterte.  Die  Gewerbeordnung  hatte  u.  a.  be- 
stimmt, daß  Kinder  in  Fabriken  unter  12  Jahren  zu  einer  regel- 
mäßigen Beschäftigung  nicht  angenommen  werden,  vor  dem  vol- 
lendeten 14.  nicht  länger  als  6  Stunden,  vor  dem  vollendeten  16. 
nicht  länger  als  10  Stunden  beschäftigt  werden  dürfen;  ferner 
waren  Arbeitspausen  für  Jugendliche  vorgeschrieben  worden.  All- 
gemein war  das  Trucksystem  in  der  Industrie  verboten.  Die  No- 
velle bringt  eine  strengere  Ordnung  für  die  Arbeit  der  Jugend- 
lichen, dehnt  das  Truckverbot  aus,  erfaßt  auch  den  Schutz  der 
Frauenarbeit,  macht  die  Fabrikinspektoren  obligatorisch  und  er- 
streckt die  Fabrikgesetzgebung  auf  alle  mit  Dampfkraft  tätigen 
Betriebe,  auf  Hüttenwerke,  Bauhöfe  und  Werften. 

Somit  war  einigen  Anforderungen  genügt  worden,  aber  es 
liegt  in  der  Natur  jeder  eine  Klasse  hebenden  Politik,  daß  ge- 
währte Ansprüche  nur  die  Grundlage  zu  neuen  werden.  So  ging 
es  weiterhin  mit  dem  Arbeiterschutz,  und  gleiches  hat  auch  die 
kommende  staatliche  Arbeiterversicherung  erwiesen. 

Am  Ende  der  siebziger  Jahre  bot  das  Arbeiterversicherungs- 
wesen ein  buntscheckiges  Bild  im  Reiche  dar.  Kranken-,  Unfall-, 
Invaliden-  und  Alterskassen  standen  isoliert  nebeneinander  oder 
waren  ohne  inneren  Zusammenhang  verbunden.  Einrichtungen  aus 
alter  Zeit,  wie  Knappschaftskassen,  von  denen  übrigens  viele  der 
Insolv^enz  nahe  waren,  und  die  Innungskassen  als  Reste  aus  der 
Zunftzeit  wechselten  mit  ganz  neuen  wie  mit  denen  bei  Gewerk- 
vereinen oder  Fabriken  und  Eisenbahnen  ab.  Zwangskassen  und 
freie,  lokale  und  nationale,  berufsgenossenschaftliche  und  gemischte 
waren  ohne  einheitliches  Prinzip  geschaffen  worden.  Waren  schon 
die  meisten  einzelnen  Kassen  nicht  imstande,  eine  Sicherstellung 
den  Mitgliedern  zu  gewähren,  so  war  die  Fürsorge  im  ganzen  erst 
recht  ungenügend.    Die  Masse  der  Arbeiter  war  unversichert. 

Die  Gewerbeordnung  hatte  zwar  in  Titel  VIII  die  durch  Orts- 
statut oder  Anordnung  der  Verwaltungsbehörde  begründete  Ver- 
pflichtung der  Gesellen,  Gehilfen,  Lehrlinge  und  Fabrikarbeiter, 
einer  bestimmten  Kranken-,  Hilfs-  oder  Sterbekasse  beizutreten, 
fortbestehen  lassen,  aber  sie  für  diejenigen  Personen  aufgehoben, 
die  den  Nachweis  lieferten,  einer  anderen  entsprechenden  Kasse 
anzugehören.  Dem  herrschenden  liberalen  Gedanken  waren  diese 
Reste  des  ausgesprochenen  Zwanges  zuwiderlaufend.  Seine  Wort- 
führer erhofften  alles  von  der  freien  Initiative  der  Beteiligten,  bei 
denen  man  die  nötige  Einsicht  und  die  Fähigkeit,  sich  selbst  zu 


VII.  Die  Reichssozialpolitik.  jac 


helfen,  voraussetzte.  Es  sei  nur  erforderlich,  daß  das  Gesetz  den 
zu  schaffenden  freien  Einrichtungen  die  brauchbare  rechtliche 
Grundlage  verleihe.  Dementsprechend  wurden  durch  das  Reichs- 
gesetz von  1876  für  die  Hilfskassen  Normativbestimmungen  er- 
lassen. Die  „eingeschriebenen  Kassen"  erhielten  die  juristische 
Persönlichkeit  unter  Beschränkung  der  Haftbarkeit  auf  das  eigene 
Vermögen.  Sie  gingen  über  Krankenfürsorge  und  Sterbegeld  nicht 
hinaus.  Die  Verwaltung  mußte  nach  festgelegten  Vorschriften  ge- 
handhabt werden.  Freie  Kassen  konnten  jedoch  mit  minderem 
Rechte  als  „wilde"  fortbestehen,  wenn  sie  sich  dem  Gesetz  nicht 
anpassen  wollten.  Bestehende  Zwangskassen  sollten  sich  dem  Ge- 
setz iunterwerfen. 

Vorschläge  mannigfacher  Art  tauchten  in  der  Literatur  und 
im  Reichstage  auf,  um  etwas  Positives  umfassender  Art  zu  ermög- 
lichen. Die  Reform  der  Knappschaftskassen  wurde  beraten.  Schon 
bei  der  parlamentarischen  Besprechung  der  Gewerbeordnung  hatte 
Stumm  den  Antrag  eingebracht,  für  die  invaliden  und  alten 
Fabrikarbeiter  nach  dem  Vorbild  der  Bergleute  eine  Zwangsver- 
sicherung zu  errichten.  1878  wurde  der  gleiche  Vorschlag  wieder- 
holt und  mit  einem  anderen  des  Abgeordneten  Günther,  der  von 
freiwilliger  genossenschaftlicher  Teilnahme  für  die  einzelnen  Be- 
rufsschichten ausging,  einer  Reichstagskommission  überwiesen,  die 
sich  für  obligatorische  Beitragspflicht  aussprach  und  einige  all- 
gemeine Verwaltungsregeln  dafür  aufstellte.  Die  Form  des  Kassen- 
wesens wurde  nicht  erwähnt. 

Mehr  und  mehr  hatte  sich  in  weiten  Kreisen  in  jener  Zeit  des 
schlechten  Erwerbes,  der  niedrigen  Löhne  und  der  Arbeitslosigkeit 
die  Überzeugung  festgesetzt,  daß  die  reine  privatwirtschaftliche 
Fürsorge  für  die  Lohnarbeiterschaft  nicht  genüge,  und  daß  es  ver- 
mieden werden  müsse,  daß  der  Arbeitsunfähige  der  entwürdigenden 
und  unzureichenden  Armenpflege  der  Gemeinde  anheimfalle.  Das 
zwangsweise  Eingreifen  des  Staates  fand  um  so  mehr  Zustimmung, 
als  die  aus  der  Not  geborene  wachsende  Unzufriedenheit  der 
Lohnarbeiter  im  allgemeinen  öffentlichen  Interesse  eine  Beseitigung 
dringend  erheischte.  Bei  dem  öffentlichen  Zwang  unterschied  man 
erstens  das  Verlangen  des  Staates,  daß  sich  der  Einzelne  einer 
Kasse  überhaupt  anschließe,  den  Kassenzwang,  und  konse- 
quenter zweitens,  da  die  Voraussetzung  einer  geeigneten  Einrich- 
tung oft  fehlte,  die  Zwangskasse,  welche  der  Staat  einrichtet 
oder  durch  andere  einrichten  läßt,  wobei  es  nicht  ausgeschlossen 
sein  sollte,  daß  gut  arbeitende  freie  Kassen  fortbestehen  könnten. 

Die  Zwangskasse  war  das  Prinzip,  zu  deren  Einrichtung  sich 
die  Reichsregierung  entschlossen  hat.  Die  Initiative  ging  vom  Reichs- 


■3,A.6  ^'  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871  — 1890. 

kanzler  aus,  der  in  dieser  Arbeitersicherstellung  eine  wesentliche 
Ergänzung  seiner  Wirtschaftspolitik  erblickte.  Der  Schutz  der 
nationalen  Arbeit  schloß  es  ein,  daß  die  Lohnarbeiter  berück- 
sichtigt wurden.  Der  Schutzzoll  nützte  allerdings  nicht  bloß  den 
Arbeitgebern,  sondern,  indem  sich  die  Nachfrage  nach  Arbeit 
unter  ihm  belebte,  auch  den  Arbeitern.  Aber  ein  Schutz  gegen  die 
Gefahren  der  Krankheit,  des  Unfalls  und  des  Alters  war  damit 
nicht  gegeben.  Es  mußte  positiv  eingegriffen  werden;  die  Kosten 
konnten  deshalb  getragen  werden,  weil  für  Unternehmer  und  Ar- 
beiter, welche  gemeinsam  zu  ihnen  herangezogen  werden  sollten, 
aus  der  Erschließung  und  Sicherung  des  deutschen  Marktes  ver- 
mehrte Einnahmen  dauernd  in  Aussicht  standen. 

In  der  Begründung  der  ersten  Gesetzesvorlage  ist  die  Staats- 
auffassung des  Reichskanzlers  enthalten,  soweit  sie  die  Grund- 
lage der  Arbeiterfürsorge  bildet.  Hier  heißt  es  u.  a.:  „daß  der 
Staat  sich  im  höheren  Maße  als  bisher  seiner  hilfsbedürftigen  Mit- 
glieder annehme,  ist  nicht  bloß  eine  Pflicht  der  Humanität  und 
des  Christentums,  von  welchen  die  staatlichen  Einrichtungen  durch- 
drungen sein  sollen,  sondern  auch  eine  Aufgabe  staatserhaltender 
Politik,  welche  das  Ziel  zu  verfolgen  hat,  auch  in  den  besitzlosen 
Klassen  der  Bevölkerung,  welche  zugleich  die  zahlreichsten  und 
am  wenigsten  unterrichteten  sind,  die  Anschauung  zu  pflegen,  daß 
der  Staat  nicht  bloß  eine  notwendige,  sondern  auch  eine  wohltätige 
Einrichtung  sei.  Zu  dem  Ende  müssen  sie  durch  erkennbare  direkte 
Vorteile,  welche  ihnen  durch  gesetzgeberische  Maßregeln  zuteil 
werden,  dahin  geführt  werden,  den  Staat  nicht  als  lediglich  zum 
Schutz  der  bessersituierten  Klasse  der  Gesellschaft  erfundene,  son- 
dern als  eine  auch  ihren  Bedürfnissen  und  Interessen  dienende 
Institution  aufzufassen". 

Ebenso  wie  der  Kanzler  in  seiner  Wirtschaftspolitik  Landwirt- 
schaft und  Industrie  zu  einer  Interessengemeinschaft  zu  vereinigen 
bemüht  war,  wollte  er  jetzt  durch  den  Staat  die  durch  das  Prinzip 
des  laisser  faire  geöffnete  Kluft  zwischen  Kapital  und  Arbeit  über- 
brücken. Dieses  Vorhaben  war  ein  außerordentlich  schwieriges, 
nachdem  die  sozialdemokratische  Aufreizung  einmal  soweit  fort- 
geschritten war.  Die  politische  Erziehung  der  Arbeiter  im  Sinne 
des  Kanzlers  konnte  daher  nur  ganz  nach  und  nach  erwartet 
werden.  Dazu  kam,  daß,  da  die  Fürsorge  fortschreitend  auf  alle 
Lohnarbeiter  ausgedehnt  wurde,  was  der  Staatsanschauung  des 
praktischen  Christentums  entspricht,  sie  von  den  Empfängern  für 
nichts  Besonderes,  eher  für  etwas  Selbstverständliches  gehalten 
wurde,  wobei  sie  nur  zu  gern  ausschließlich  an  die  mit  dem  Gesetz 
verbundenen    Lasten,    wie    bei    einer    Steuerzahlung,    dachten.     Es 


VII.  Die  Reichssozialpolitik.  -lAn 


liegt  in  der  menschlichen  Natur,  das  besonders  zu  schätzen,  was 
man  verteidigen  muß.  Landwirtschaft  und  Industrie  blieben  immer 
unter  der  geübten  Handelspolitik  Angriffen  ausgesetzt,  und  die 
Zölle,  meinte  man,  könnten  auch  wieder  einmal  wegfallen.  Die 
dauernd  festgelegte  Arbeiterversicherung  hingegen  wurde  umge- 
kehrt immer  mehr  vervollkommnet,  als  ob  sie  bisher  noch  gar 
nichts  gebracht  hätte. 

Der  erste,  von  Kommerzienrat  B  a  a  r  e ,  Bochum,  angeregte 
Versuch  einer  Unfallversicherung,  demgemäß  die  Unternehmer  von 
Bergwerken,  Fabriken  usw.  verpflichtet  sein  sollten,  ihre  Arbeiter 
und  Betriebsbeamten  bei  einer  Reichsversicherungsanstalt,  haupt- 
sächlich auf  ihre  Kosten,  jedoch  mit  Zuschuß  der  Arbeiter  und  der 
Reichskasse,  zu  versichern,  scheiterte  am  Reichstage,  dessen  Ab- 
änderungsvorschläge die  Regierung  ihrerseits  ebenfalls  ablehnte. 
Wenige  Monate  nachher,  am  17.  November  1881,  ließ  eine  Kaiser- 
liche Botschaft  erkennen,  daß  die  Reichsgewalt  ein  weitgehendes 
Programm  zu  vertreten  gedenke,  dessen  Grundlinien  nach 
mehreren  Seiten  hin  sichtbar  wurden.  „Es  wird",  heißt  es  hier, 
„zunächst  der  von  den  verbündeten  Regierungen  in  der  vorigen 
Session  vorgelegte  Entwurf  eines  Gesetzes  über  die  Versicherung 
der  Arbeiter  gegen  Betriebsunfälle  mit  Rücksicht  auf  die  im 
Reichstage  stattgehabten  Verhandlungen  über  denselben  einer  Um- 
arbeitung unterzogen,  um  die  erneute  Beratung  desselben  vorzu- 
bereiten. Ergänzend  wird  ihm  eine  Vorlage  zur  Seite  treten, 
welche  sich  eine  gleichmäßige  Organisation  des  gewerblichen 
Krankenkassenwesens  zur  Aufgabe  stellt.  Aber  auch  diejenigen, 
welche  durch  Alter  oder  Invalidität  erwerbsunfähig  werden,  haben 
der  Gesamtheit  gegenüber  einen  begründeten  Anspruch  auf  ein 
höheres  Maß  staatlicher  Fürsorge,  als  ihnen  bisher  habe  zuteil 
werden  können.  Für  diese  Fürsorge  die  rechten  Mittel  und  Wege 
zu  finden,  ist  eine  schwierige,  aber  auch  eine  der  höchsten  Auf- 
gaben jedes  Gemeinwesens,  welches  auf  den  sittlichen  Fundamenten 
des  christlichen  Volkslebens  steht.  Der  engere  Anschluß  an  die 
realen  Kräfte  des  Volkslebens  und  das  Zusammenfassen  der  letz- 
teren in  der  Form  korporativer  Genossenschaften  unter  -einem 
staatlichen  Schutz  und  staatlicher  Förderung  werden,  wie  wir 
hoffen,  die  Lösung  auch  von  Aufgaben  möglich  machen,  denen  die 
Staatsgewalt  allein  im  gleichen  Umfange  nicht  gewachsen  sein 
sollte.  Immerhin  aber  wird  auch  auf  diesem  Wege  das  Ziel  nicht 
ohne  die  Aufwendung  erheblicher  Mittel  zu  erreichen  sein". 

In  den  folgenden  8  Jahren  sind  die  drei  großen  Versiche- 
rungsgesetze gegeben  worden,  in  einer  verhältnismäßig  kurzen 
Zeit,   wenn  man   die  ungeheueren   Schwierigkeiten   ermißt,   welche 


%Ag  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1  — 1890. 

mangels  des  den  Beratungen  zugrunde  zu  legenden  statistischen 
Materials  sofort  bei  den  ersten  Vorarbeiten  auftauchten.  Es  ist 
fortwährend  mit  Hochdruck  nicht  nur  seitens  der  beauftragten 
Beamten,  sondern  auch  in  dem  Reichstag  und  den  Kommissionen 
gearbeitet  worden,  immer  unter  dem  Drängen  des  Kanzlers,  der 
dieses  gewaltige  Gesetzeswerk  zu  seinen  Lebzeiten  zu  beendigen 
wünschte.  Deshalb,  wegen  dieser  Eile,  konnte  etwas  verwaltungs- 
technisch völlig  Befriedigendes  nicht  geschaffen  werden.  Die  Or- 
ganisation ist  kompliziert,  schwer  übersichtlich,  zersplittert,  teuer. 
Die  ersten  Gesetze  machten  zahlreiche  Novellen  erforderlich,  teils 
um  gemachte  Fehler  zu  verbessern,  teils  um  vorher  nicht  gekannte 
Lücken  auszufüllen.  Das  Mangelhafte  hat  auch  seinen  Grund  darin, 
daß  die  Reichsregierung  nicht  mit  einem  Gesamtplane  der  Einzel- 
heiten sofort  hervorzutreten  wünschte,  um  nicht  durch  das  Über- 
maß der  Anforderungen  abschreckend  zu  wirken.  „Das  Gebiet 
der  sozialen  Reform",  erklärte  Bismarck,  „muß  schrittweise, 
nach  und  nach  betreten  werden,  gemäß  jener  bewährten  Maxime 
der  Savoyischen  Dynastie,  welche  ein  Gebiet,  das  sie  sich  zu  unter- 
werfen trachtete,  mit  einer  Artischocke  verglich,  die  nicht  mit 
einem  Bissen,  sondern  nur  blätterweise  inkorporiert  werden  könne". 

Es  kann  hier  nicht  die  Aufgabe  sein,  in  die  Einzelheiten  der 
Gesetzgebung  einzutreten.  Nur  die  Hauptzüge  der  Verwaltung  und 
der  Leistungen  sollen  skizziert  werden. 

Die  Krankenkassen,  die  durch  das  Gesetz  von  1883  zur 
Einführung  gelangten,  knüpften  an  mancherlei  historisch  Ge- 
gebenes an,  das  man  mit  Recht  nicht  zerstören  wollte.  Für  er- 
kranktes Gesinde  war  in  einzelnen  deutschen  Staaten  durch  Ge- 
sindeordnungen gesorgt,  durch  das  preußische  allgemeine  Land- 
recht für  die  Schiffsmannschaft,  durch  das  Handelsgesetzbuch  für 
erkrankte  Handelsgehilfen.  Es  bestanden  genossenschaftliche  Ein- 
richtungen für  das  Handwerk  und  für  die  Bergleute.  Großunter- 
nehmer hatten  Fabrikkrankenkassen  geschaffen.  Öffentliche  Ver- 
ordnungen verlangten,  Bergleuten  „Arztgelder"  zu  gewähren, 
freie  Hilfs-  und  Gewerkvereinskassen  stammten  meist  aus  dem 
letzten  Jahrzehnt  und  wurden  von  den  Arbeitern  geschätzt. 

Die  neue  Organisation,  der  Arbeiter  und  Betriebsbeamte  bei- 
zutreten haben  —  sie  wurde  von  dem  verarbeitenden  Gewerbe  in 
Fabriken  und  Handwerk  nach  und  nach  auf  den  Transport,  die 
Land-  und  Forstwirtschaft,  die  Hausindustrie  und  den  Handel  aus- 
gedehnt — ,  trägt  einen  lokalen  Charakter,  um  die  Kontrolle  über 
wirkliche  Krankheit  und  Simulation  zu  ermöglichen.  Ihre  regel- 
mäßige Form  ist  die  Ortskrankenkasse,  die  entweder  für  Ange- 
hörige eines  einzigen  Gewerbszweiges  oder  einer  einzigen  Betriebs- 


VII.  Die  Reichssozialpolitik.  t^q 


art  in  einer  Gemeinde  oder  für  mehrere  Gewerbszweige  einer  oder 
mehrerer  Gemeinden  errichtet  wird.  Subsidiär  besteht  die  Ge- 
meindekrankenversicherung für  diejenigen  Personen,  die  in  an- 
deren Kassen  keine  Unterkunft  gefunden  haben.  Die  Beiträge,  von 
denen  2/3  auf  den  Arbeiter,  1/3  auf  den  Arbeitgeber  entfallen,  wer- 
den nach  den  Durchschnittslöhnen  abgestuft,  bei  der  Gemeinde- 
versicherung nach  dem  ortsüblichen  Lohn  gewöhnlicher  Tage- 
arbeiter berechnet.  Die  Leistungen  sind  nicht  bei  allen  Organi- 
sationen gleich  hoch.  Sie  bestehen  aus  der  freien  Kur  und  Kranken- 
geld, Unterstützung  von  Wöchnerinnen,  und  zwar  ursprünglich  für 
13,  seit  1904  für  26  Wochen.  Daneben  steht  das  Sterbegeld.  Die 
Reichs  Versicherungsordnung  von  191 1,  welche  formell  die  Gesetz- 
gebung des  Krankenkassenwesens  einheitlich  zusammenfaßt,  hat 
den  Kreis  der  versicherten  Personen  weiter  ausgedehnt,  den  In- 
stanzenzug bei  Streitfällen  vereinfacht,  das  Verhältnis  der  Kassen 
zu  ihren  Angestellten  neu  geordnet.  Die  Beseitigung  der  über- 
mäßigen Zersplitterung  des  Kassenwesens  wurde  versucht,  aber 
nicht  energisch  genug  durchgeführt,  so  daß  die  erwünschte  finan- 
zielle Entlastung  durch  Kostenersparung  nicht  sobald  zu  er- 
warten stand. 

Nach  gemeinem  Recht  hatte  der  Arbeiter  bei  einem  Arbeits- 
unfall einen  Anspruch  an  den  Arbeitgeber  nur  dann,  wenn  diesem 
selbst  eine  Schuld  oder,  war  der  Unfall  von  einem  Beamten  oder 
Angestellten  verursacht  worden,  dem  Arbeitgeber  eine  culpa  in 
eligendo  nachgewiesen  werden  konnte.  Der  von  dem  Arbeiter  zu 
führende  Beweis  dieser  Verschuldungen  war  meist  schwer  zu  er- 
bringen, außerdem  fehlten  ihm  oft  die  Geldmittel,  im  Wege  des 
Prozesses  vorzugehen. 

Etwas  besser  waren  die  Arbeiter  im  Geltungsgebiet  des  Code 
Napoleon  gestellt  gewesen.  Es  hatte  der  Unternehmer  für  Ver- 
gehen seiner  Untergebenen  im  Dienste  zu  haften,  aber  auch  hier 
blieb  letzterem  die  Beweislast,  und  dazu  kam,  daß  die  Gerichte 
nach  wechselnden  Zeitströmungen  das  Gesetz  nicht  immer  gleich- 
mäßig ausgelegt  hatten. 

Abweichend  von  dieser  privatrechtlichen  Ordnung  war  die 
preußische  Eisenbahngesetzgebung  1838  vorgegangen,  der  sich 
auch  die  meisten  Kleinstaaten  angeschlossen  hatten.  Der  Unter- 
nehmer hatte  stets  für  einen  Unfall  im  Betriebe  zu  haften,  wenn 
er  nicht  nachweisen  konnte,  daß  derselbe  durch  höhere  Gewalt 
oder  durch  das  Verschulden  des  Verunglückten  herbeigeführt  wor- 
den war.  Damit  war  die  Beweislast  zugunsten  des  Arbeiters  ver- 
schoben worden,  aber  zwei  wichtige  Ausnahmen  der  Sicherstellung 


TCQ  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs  187 1  — 1890. 

bestanden,  und  zudem  war  nur  ein  geringer  Teil  der  Arbeiterschaft 
im  Lande  geschützt  worden. 

In  dem  Haftpflichtgesetz  von  1871  wurde  diese  Gesetzgebung 
auf  das  Deutsche  Reich  ausgedehnt.  Gleichzeitig  wurde  für  Berg- 
werke, Steinbrüche,  Gräbereien  und  Fabriken  bestimmt,  daß  der 
Unternehmer  für  die  Schuld  seiner  Auf  sichtsbeamten  einzutreten  hat, 
durch  die  „der  Tod  oder  die  Körperverletzung  eines  Menschen" 
eingetreten  ist.  Die  Unvollkommenheit  dieser  Bestimmung  trat 
dadurch  ohne  weiteres  hervor,  daß  viele  gefahrbringende  Gewerbe, 
z.  B.  das  Bau-  und  Schornsteinfegergewerbe,  die  oft  mit  Maschinen 
tätige  Landwirtschaft,  nicht  berücksichtigt  worden  waren. 

Wenn  man  die  Eisenbahngesetzgebung  auf  alle  gefahr- 
bringende Betriebe  ausgedehnt  hätte,  so  würde  doch  etwas  Zu- 
reichendes nicht  erzielt  worden  sein,  und,  da  man  sich  überzeugt 
hatte,  daß  die  Arbeiter  weder  Einsicht  noch  guten  Willen  hatten, 
sich  freiwillig  zu  versichern,  so  mußte  die  Reichsregierung  zum 
Versicherungszwange  greifen. 

Der  erste  Entwurf  wurde  nicht  Gesetz.  Einem  zweiten,  der 
den  Reichszuschuß  noch  aufrecht  erhielt,  ging  es  nicht  besser, 
erst  der  dritte  wurde  im  Reichstag  angenommen,  dann  durch 
weitere  Gesetze  von   1885,   1886  und  1887  ergänzt. 

Die  Fürsorge  erstreckt  sich  prinzipiell  auf  alle  Betriebe,  in 
denen  der  Arbeiter  besonderen  Gefahren  ausgesetzt  ist.  Nur  dann, 
wenn  der  Betriebsunfall  durch  den  Verletzten  oder  Getöteten  vor- 
sätzlich herbeigeführt  ist,  ist  eine  Entschädigung  der  Hinter- 
bliebenen oder  des  Verletzten  ausgeschlossen. 

Die  Unfallrente  steigt  bei  voller  Erwerbsunfähigkeit  bis  '^/^ 
des  Lohnes.  Die  Witwe  und  Kinder  erhalten  außer  einem  Sterbe- 
geld ebenfalls  Renten,  die  bis  zu  60  0/0  des  Lohnes  anwachsen 
können.  In  den  ersten  13  Wochen  hat  für  Verletzungen  die 
Krankenversicherung  einzutreten,  d.  h.  für  die  große  Menge  der 
kleinen  Unfälle  durchweg,  das  waren  um  1900  94,80/0  aller.  Da  in 
den  Krankenkassen  die  Arbeiter  2/„  der  Beiträge  zu  entrichten 
haben,  hat  man  behauptet,  die  Unternehmer  hätten  die  Last  durch 
jene  Gesetzesbestimmung  von  sich  abgewälzt.  Das  ist  aber  nicht  so. 
Von  der  ganzen  Geldlast  entfielen  gleichzeitig  89 0/0  auf  die  5,20/0 
schweren  Fälle,  bei  denen  die  Arbeitgeber  die  Kosten  allein  zu  be- 
fahlen hatten. 

Träger  der  Einrichtung  sind  öffentlich-rechtliche  Korpora- 
tionen, die  als  Berufsgenossenschaften  bezeichnet  werden.  Sie  um- 
fassen die  Unternehmer  bestimmter  Bezirke  und  pflichtiger  Be- 
triebe und  haben  das  Recht  der  juristischen  Person,  so  daß  den 
Gläubigern  nur  das   Genossenschaftsvermögen  haftet.    Die  Kosten 


VII.  Die  Reichssozialpolitik.  ßcj 


werden  von  den  Mitgliedern  nach  Maßgabe  der  in  ihren  Be- 
trieben gezahlten  Löhne  und  der  statutenmäßigen  Gefahrentarife 
aufgebracht.  Die  Knappschaftsverbände,  die  in  der  Vergangenheit 
den  Bergleuten  nur  einen  unvollkommenen  Schutz  gewährten, 
werden  zu  einer  großen  Genossenschaft  vereinigt.  Reich  und 
Bundesstaaten  treten  bei  den  Transport-,  Marine-  und  Heeres- 
verwaltungen und  Regiebauten  an  die  Stelle  der  Berufsgenossen- 
schaft. Für  land-  und  forstwirtschaftliche  Arbeiter  ist  die  Aus- 
führung der  Landesgesetzgebung  überlassen,  die  örtliche  Bezirke 
zur  Verwaltung  anzuordnen  hat.  Als  höchste  richterliche  und  ver- 
waltende Behörde  wurde  das  Reichsversicherungsamt  in  Berlin  er- 
richtet. Die  Berufsgenossenschaften  haben  zugleich  die  wichtige 
Unfallverhütung  zu  übernehmen,  die  man  als  die  Seele  des  ganzen 
Werkes  bezeichnet  hat.  Sie  haben  die  nötigen  Vorschriften  dazu 
zu  geben  und  deren  Ausführung  durch  Beamte  überwachen  zu 
lassen.  Durch  die  Reichsversicherungsordnung  sind  neue  Betriebe 
und  Tätigkeiten  in  die  Versicherung  einbezogen  worden.  Der 
Inhalt  der  früheren  Gesetze  ist  in  der  Hauptsache  aufrecht- 
lerhalten  worden. 

Die  Alters-  und  Invalidenversorgung  wurde  erst 
unter  Kaiser  Friedrich  dem  Bundesrat  vorgelegt  und  unter 
Kaiser  V^ilhelm  IL,  der  die  Weiterbildung  der  sozialen  Ge- 
setzgebung als  ein  teueres  Vermächtnis  seiner  Vorfahren  feierlich 
proklamiert  hatte,  nach  langen  Verhandlungen,  bei  denen  B  i  s  - 
marck  wiederum,  um  das  Werk  zu  vollenden,  seine  ganze  Per- 
sönlichkeit eingesetzt  hatte,  gesetzlich  zur  Verabschiedung  gebracht. 

Die  Lage  der  Arbeiter  war  auf  diesem  Gebiete  bisher  eine 
besonders  schlechte.  Die  Erwerbsunfähigen  und  Alten,  die  sich 
nichts  erspart  hatten  oder  nicht  von  ihren  Kindern  oder  Ver- 
wandten erhalten  wurden,  fielen  der  ganz  ungenügenden  Armen- 
pflege anheim.  Sparkassen,  freie  Hilfskassen,  gelegentlicher 
Kassenzwang  der  Gemeinde,  Gewerkvereinskassen  waren  zwar  vor- 
handen, aber  nur  ein  geringer  Teil  der  Arbeiter  wurde  durch 
sie  geschützt.  Das  Problem  für  die  Gesetzgebung  war  hier  ein 
ausnahmsweise  schwieriges,  weil  es  an  einer  zuverlässigen  Alters- 
und Invalidenstatistik  gänzlich  mangelte.  Man  mußte  daher  mit 
etwas  Provisorischem  fürlieb  nehmen  und  die  Korrekturen  nach 
guten  oder  üblen  finanziellen  Erfahrungen  der  Zukunft  über- 
lassen. Zudem  war  der  Reichszuschuß  nicht  zu  entbehren,  wenn 
die  Renten  nicht  gar  zu  schmal  ausfallen  sollten.  Die  Gewerbe 
sollten  freilich  an  sich  so  leistungsfähig  sein,  ihre  gesamten  Unkosten 
zu  decken.  Der  Anwendung  dieses  Grundsatzes  standen  Verwal- 
tungsschwierigkeiten entgegen,  da  für  eine  lange  Reihe  von  Jahren. 


3^2  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871  — 1890. 

die  Zahlung  nötig  wurde,  die  durch  unglückliche  Umstände  Un- 
terbrechung erleiden  konnte,  ferner,  da  die  Verwaltung  bei  den 
Millionen  kleiner  Zahler  zu  teuer  war,  und  schließlich,  weil  die 
an  sich  schon  häufige  Simulation  der  Invalidität  bei  der  Zer- 
streuung und  Wanderung  der  Berechtigten  über  das  ganze  Reichs- 
gebiet hin  und  namentlich  auf  dem  Lande  schwierig  zu  kontrol- 
lieren  war. 

Die  Gesetzgebung  von  1889  und  1891  macht  keine  Unter- 
scheidung nach  Gewerben  oder  Bezirken,  sondern  spricht  die  Ver- 
sicherungspflicht ganz  allgemein  für  alle  gegen  baren  Lohn  oder 
Gehalt  beschäftigten  Arbeiter,  Gehilfen,  Gesellen,  Lehrlinge,  See- 
leute, Dienstboten  und  alle  Betriebsbeamten,  W^erkmeister,  Tech- 
niker, für  Handelsgehilfen,  Lehrer  und  Erzieher  vom  16.  Lebens- 
jahre ab  bei  einem  Arbeitseinkommen  bis  zu  2000  Mark  aus. 
Daneben  steht  die  Selbstversicherung  der  kleinen  Betriebsunter- 
nehmer und  der  Hausgewerbetreibenden.  Gewährt  wird  nach  einer 
längeren  Wartezeit  eine  Altersrente  bei  Erreichung  des  70.  Le- 
bensjahres —  später,  19 16,  des  65.  —  oder  eine  Invalidenrente 
bei  nachgewiesener  früherer  Invalidität.  Neben  einem  Reichs- 
zuschuß von  jährlich  50  Mark  für  die  Rente  werden  die  Mittel 
vom  Arbeitgeber  und  Arbeiter  zu  gleichen  Teilen  durch  Wochen- 
beiträge nach  vier  Lohnklassen  aufgebracht.  Die  Organisation  be- 
ruht auf  Versicherungsanstalten,  Vermögensverwaltungen,  die  ju- 
ristische Persönlichkeit  besitzen,  die  Beiträge  mittels  Marken  ein- 
ziehen, die  eingezogenen  Gelder  zinsbar  anlegen  und  die  Renten 
durch  Vermittelung  der  Post  auszahlen.  In  Preußen  erstreckt 
sich  ihre  Tätigkeit  auf  die  Provinz,  nur  die  Millionenstadt  Berlin 
hat  eine  Sonderverwaltung,  in  Bayern  auf  die  Regierungsbezirke. 
Die  Hansestädte  und  die  thüringischen  Staaten  haben  je  eine  ge- 
meinsame, die  Mittelstaaten  ihre  eigene  Einrichtung. 

Die  Novelle  von  1899  brachte  eine  Ausdehnung  der  Ver- 
sicherungspflicht, die  Beitragserstattung  in  gewissen  Fällen,  eine 
neue  Bemessung  der  Wartezeit,  eine  5.  Lohnklasse,  anderweitige 
Berechnung  der  Renten  und  einen  Vermögensausgleich  der  An- 
stalten. Die  Reichsversicherungsordnung  ließ  die  bewährten 
Grundlagen  der  bisherigen  Gesetzgebung  fortbestehen.  Ihr  wich- 
tigster Zusatz  ist  die  Hinterbliebenenversorgung  für  Witwen,  Wit- 
wer und  Waisen.  Zu  dem  Zweck  mußten  die  Beiträge  erhöht 
werden,  die  auch  hier  von  Unternehmern  und  Arbeitern  zu  gleichen 
Quoten  getragen  werden.  Der  Reichszuschuß  wurde  erhöht.  Ver- 
heiratete und  Unverheiratete  werden  gleichmäßig  herangezogen. 
Die  Leistungen  sind  Renten  für  den  hinterbliebenen  Ehegatten  und 
Waisenaussteuer. 


VII.  Die  Reichssozialpolitik.  tc^ 


Über  das  Reichsarbeiterversicherungswesen  werden  jährlich 
statistische  Angaben  veröffentlicht,  welche  dessen  wachsende  un- 
mittelbare Bedeutung  für  die  gesamte  Bevölkerung  ersichtlich 
machen.  1898  waren  22  130  Krankenkassen  vorhanden,  die  8770057 
Mitglieder  zählten,  davon  4078958  in  den  Ortskrankenkassen  und 
228061  in  den  Betriebs-  oder  Fabrikkassen.  Die  subsidiäre  Ge- 
meindeversicherung umfaßte  1409730  Mitglieder.  191 2  war  die 
Zahl  der  Kassen  durch  Konzentration  auf  21  659  zurückgegangen, 
die  der  Mitglieder  auf  13  217  705  vermehrt  worden.  Die  Krank- 
heitskosten betrugen  zu  dieser  Zeit  359,7  Millionen  Mark,  davon 
kamen  85,6  auf  den  Arzt,  54,7  auf  Arznei  usw.,  150,3  auf  Kranken- 
gelder, 7,2  auf  Zahlungen  an  Schwangere  und  Wöchnerinnen,  7,9 
auf  Sterbegelder,  53,5  auf  Krankenanstalten,  in  denen  die  Ver- 
sicherten behandelt  und  verpflegt  wurden,  0,3  auf  Zahlungen  an 
Genesende. 

1898  bestanden  65  gewerbliche  Berufsgenossenschaften.  In 
ihnen  waren  enthalten  456366  pflichtige  Betriebe  mit  6316843 
Personen.  Dazu  kamen  48  landwirtschaftliche  mit  4654176  Be- 
trieben und  II  189  071  Personen,  ferner  146  staatliche  und  263 
gemeindliche  Ausführungsbehörden  mit  673950  bzw.  66158  Per- 
sonen. Das  Jahr  191 2  verzeichnete  in  den  gewerblichen  66  Berufs- 
genossenschaften 10 178  577,  in  den  48  landwirtschaftlichen 
17  179000,  in  544  Ausführungsbehörden  1032028  Personen.  Die 
Ausgaben  beliefen  sich  jetzt  auf  225,2  Millionen  Mark,  von  denen 
170  auf  Entschädigungen  fielen.  Die  Verwaltungskosten  waren 
hoch,  18,1  Millionen  Mark,  ohne  die  Unfalluntersuchung  und  Fest- 
stellung der  Schadloshaltung  zu  rechnen,  wofür  noch  6,1  nötig 
waren.  Für  die  Unfallverhütung  waren  2,4  Millionen  Mark  aus- 
gegeben worden. 

Die  Invaliden-  und  Altersversorgung  ruhte  191 3  auf  40  Ver- 
sicherungsanstalten. Die  Zahl  der  festgesetzten  Renten  betrug 
192574,  vom  I.  Januar  1891  bis  31.  Dezember  1913  2971727,  von 
denen  am  i.  Januar  191 4  noch  i  151  999  liefen.  Seit  19 12  werden 
Renten  an  Witwen  und  Waisen  gezahlt.  Die  Invalidenrente  be- 
trug 1891  113,5  Mark  jährlich,  die  Altersrente  124,0.  Für  1900 
waren  die  entsprechenden  Zahlungen  bereits  142,0  und  145,5,  ^^^^ 
191 2  186,9  '^^^  166,1.  Der  aktive  Vermögensstand  der  Anstalten 
war  am  31.  Dezember  191 2  1929,1  Millionen  Mark,  die  Gesamt- 
leistung im  laufenden  Jahre  205,1,  der  Reichszuschuß  gleichzeitig 
55,0.  Die  Zahl  der  Versicherten  wurde  mit  16099400,  darunter 
4938  100  Frauen  angegeben. 

Aus  diesen  wenigen  Zahlen  läßt  sich  der  gewaltige  Umfang 
der  Reichsversicherung  ersehen.    Die  positiven  Leistungen  für  die 

A.Saitoriusv.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        23 


^CA  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs  187 1 — 1890. 


Arbeiter  gehen  noch  weit  darüber  hinaus.  Da  die  Verpflegung  und 
Heilung  in  Häusern  der  Versicherungsträger  statt  der  Renten  zu- 
lässig ist,  konnten  große  Vermögen  in  ihnen  Anlage  finden.  1910 
waren  60  Millionen  Mark  in  dieser  Weise  angelegt,  in  Kranken- 
häusern, Heilanstalten,  Lungenheilstätten,  Erholungs-  und  Gene- 
sungsheimen, Invalidenhäusern.  Gleichzeitig  hatten  die  Versiche- 
rungsanstalten vornehmlich  an  Gemeinden  große  Summen  zu  ge- 
meinnützigen Zwecken  3,usgeliehen;  320  Millionen  Mark  zur  För- 
derung des  Arbeiterwohnungswesens,  iio  für  landwirtschaftliche 
Kreditbedürfnisse,  97  für  den  Bau  von  Kranken-  und  Genesungs- 
heimen, Volksheilstätten,  Erholungs-  und  Invalidenheimen,  Siechen- 
häusern, 152  zur  Förderung  der  öffentlichen  Gesundheitspflege, 'wie 
zu  Volksbädern,  Wasserleitungen,  Kanalisationen,  82  zur  Hebung 
der  Volksbildung,   116  für  sonstige  Wohlfahrtspflege. 

Damit  wurde  zugleich  der  Krankheit  und  der  frühzeitigen  In- 
validität vorgebeugt,  und  viele  Personen  wurden  der  Arbeit  wieder- 
gegeben. Von  den  Berufsgenossenschaften  wurden  Unfallstationen 
errichtet  oder  unterstützt,  in  denen  durch  rasches  und  geschicktes 
ärztliches  Eingreifen  manches  Leben  erhalten  und  manches  Glied 
gerettet  werden  konnte,  ferner  wurde  eine  Prämienzahlung  für 
Rettung  von  Verunglückten  und  Abwendung  von  Unglücksfällen 
ausgesetzt.  Die  Unfallverhütungsvorschriften  setzten  die  Zahl  der 
Verletzungen  und  Todesfälle  herab  und  verminderten  die  schweren 
Unfälle.  Gewisse  früher  häufige  Verletzungen  in  maschinellen  Be- 
trieben kommen  überhaupt  nicht  mehr  vor. 

Die  näheren  mittelbaren  Wirkungen  des  großen  Versiche- 
rungswerkes lassen  sich  bei  den  Arbeitern,  Arbeitgebern  und  der 
Gemeinde  verfolgen.  Freilich  ist  hier  der  Beweis  des  Nutzens 
nicht  immer  genau  zu  führen,  da  sich  auch  andere  Kräfte  des 
öffentlichen  Lebens  in  gleicher  Richtung  geltend  machen  'können. 

Bei  dem  Erlaß  der  Gesetzgebung  bestand  die  Sorge,  daß 
die  Löhnung  sich  um  die  Kassenbeiträge  der  Arbeiter  ver- 
mindern würde.  Das  ist  ebensowenig  eingetreten,  als  in  England 
und  Amerika  die  Beiträge  an  die  gewerkvereinlichen  Versicherungs- 
kassen zur  Herabsetzung  der  Lebenshaltung  geführt  haben.  Viel- 
mehr haben  die  Versicherungseinrichtungen  aus  den  von  ihnen 
zusammengestellten  Lohnstatistiken  den  Satz  erhärtet,  daß  die 
Löhne  erheblich,  oft  weit  mehr  als  die  Versicherungsbeiträge  ge- 
stiegen sind.  Man  wird  diese  Tatsache  gewiß  an  erster  Stelle 
der  allgemein  wachsenden  deutschen  Produktivkraft  und  der  Reich- 
tumsvermehrung zuzuschreiben  haben,  allein  ganz  abgesehen  davon, 
daß  die  Reichssozialpolitik  selbst  produktiv  gewirkt  hat,  konnten 
die    Arbeitgeber    den    Grundsatz    der    Billigkeit    nicht    verkennen. 


VII.  Die  Reichssozialpolitik.  ■lee 


daß  die  Forderung  der  Zwangskasse  für  sie  kein  Grund  sei,  dem 
Leben  ihrer  Leute  eine  Verschlechterung  zuzumuten.  Bei  den 
Dienstboten  übernehmen  die  Dienstherrschaften  die  Ausgabe  der 
Versicherung  sehr  oft  ganz.  Die  Sitte  und  das  Herkommen  spielen 
in  der  Lohnfrage  eine  größere  Rolle  als  man  gewöhnlich  annimmt, 
am  auffallendsten  da,  wo  persönliche  Beziehungen  noch  zwischen 
'Arbeitgeber  und  -nehmer  bestehen. 

Auf  alle  Fälle  dürfen  wir  nicht  übersehen,  daß  zwischen  der 
deutschen  Wirtschafts-  und  Sozialpolitik  auch  in  der  Lohnfrage 
ein  Zusammenhang  besteht.  Die  erstere  ermöglicht  es  dem  Ar- 
beiter, seine  Beiträge  zu  entrichten,  ohne  in  eine  Schmälerung 
der  Befriedigung  seiner  Bedürfnisse  eintreten  zu  müssen. 

Sie  setzte  auch  die  Unternehmer  in  den  Stand,  die  großen 
steigenden  Lasten  zu  tragen.  Oft  haben  sie  erklärt,  die  Bürde 
werde  ihnen  zu  schwer,  und  in  Zeiten  schlechten  Geschäftsganges 
wurden  sie  auch  empfindlich  betroffen.  Der  ungeheuere  Auf- 
sch\Aaing  der  deutschen  Volkswirtschaft,  der  bis  191 4  anhielt,  hat 
sie  doch  immer  wieder  über  die  Schwierigkeiten  hinweggeholfen. 
Bisher  konnten  auch  die  Betriebe,  die  für  den  Absatz  im  Auslande 
Waren  herstellten,  zum  größten  Teil  die  Versicherungslast  aus- 
halten. Aber  eine  gewisse  Gefährdung  ist  in  einer  Anzahl  dieser 
Industrien  doch  nicht  zu  verkennen,  soweit  sie  von  Zollmaßregeln 
und  Schikanen  auswärtiger  Staaten  abhängig  sind,  wobei  nur  an 
die  Einfuhrhindemisse  erinnert  sein  mag,  die  seit  der  Mac  Kinley- 
Bill  von  Seiten  Nordamerikas  immer  wieder  erneut  dem  deutschen 
Ausfuhrhandel  ein  Gegenstand  der  Klage  gewesen  sind.  Wenn  man 
somit  zugeben  muß,  daß  der  Ausdehnung  der  sozialen  Aufwendun- 
gen seitens  des  Unternehmertums  je  nach  seinem  Gedeihen  in  Pro- 
duktion und  Absatz  Schranken  gesetzt  sind,  so  wird  man  auch  vom 
Standpunkt  der  staatlichen  und  kommunalen  Finanzen  nicht  we- 
sentlich anders  urteilen  können.  Der  Reichszuschuß  hat  aller- 
dings in  den  ersten  25  Jahren  der  Arbeiterversicherung  keinen 
solchen  Umfang  angenommen,  daß  er  den  Etat  überlastet  hätte. 

Die  Gemeindeentbürdung  von  der  drückenden  Armen- 
pflege wurde  als  ein  Motiv  für  die  Einführung  der  Versicherung 
hervorgehoben.  Daß  namentlich  die  Invalidenversorgung  auf  die 
Minderung  der  Zahl  der  Gemeindearmen  einen  Einfluß  gehabt  hat, 
wird  allgemein  zugegeben.  Die  Armenlast  als  Summe  ist  jedoch 
in  den  Großstädten  nicht  geringer  geworden,  vielfach  gestiegen. 
So  paradox  es  klingt,  man  sieht  die  Ursache  in  dem  wachsenden 
Wohlstand.  Mit  der  allgemeinen  Erhöhung  der  Lebenshaltung  hat 
man  auch  höhere  Bedürfnisse  der  Ortsarmen  an  Wohnung,  Klei- 
dung  und   Ernährung   anerkennen   müssen,   neben   Ausgaben,    die 

23* 


2^6  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1  — 1990. 


durch  die  Preissteigerung  hinaufgesetzt  worden  sind.  Es  hat  sich 
hier  dasselbe  vollzogen  wie  bei  dem  Arbeitslohn,  der  allein  schon 
deshalb,  vermittelt  durch  die  Konkurrenz  der  Bedürfnisse,  erhöht 
werden  mußte,  weil  die  besitzende  Klasse  wesentlich  besser  lebte. 

Die  Arbeiterversicherung  hat  also  die  Gemeinden  nur  vor 
einer  Erhöhung  der  Armenlast  bewahrt,  die  ohne  sie  unvermeidlich 
gewesen  wäre.  Keine  Sozialpolitik  vermag  das  Residuum  der  nega- 
tiven Auslese  in  der  Gesellschaft,  Personen,  die  nicht  arbeiten 
wollen  oder  können,  ganz  zu  beseitigen,  so  sehr  man  auch  in 
Deutschland  bemüht  war,  den  Arbeitszuweis  an  die  Stelle  der 
Armenpflege  zu  setzen.  Von  einer  anderen  Seite  her  hat  die  Ver- 
sicherung das  Gemeindebudget  steigend  in  Anspruch  genommen. 
Ein  großer  Teil  der  Ausführungsarbeiten  für  alle  drei  Versiche- 
rungszweige wurde  ihm  zugewiesen,  und  vielfach  konnte  die  sub- 
sidiäre Gemeindekrankenversicherung  ohne  öffentliche  Zuschüsse 
nicht  auskommen.  Daß  durch  solche  Ausgaben  die  Finanzen  in 
Unordnung  gekommen  seien,  wird  jedoch  niemand  behaupten 
wollen.  Das  ungemeine  Steigen  der  Gemeindesteuern,  die  drücken- 
den Zuschläge  zu  den  Staatsabgaben  liegt  eher  darin,  daß  die 
Gemeinden  selbständige,  oft  zu  weitgehende  Sozialpolitik  trieben, 
die  durch  die  Versicherungsgesetzgebung  hier  und  da  angeregt 
sein  mochte,  aber  teils  in  dem  Drängen  der  sozialdemokratischen 
Mitglieder  der  Gemeindevertretungen  nach  solchen  Ausgaben,  teils 
in  der  Überwucherung  humanitärer  Vorstellungen  ihren  Grund 
hatte.  So  nützlich  öffentliche  Erholungs-,  Turn-,  Spiel-  und  Sport- 
plätze, Volksbibliotheken,  Lesehallen,  Haushaltungsschulen,  Jung- 
gesellenheime und  dergleichen  an  sich  sein  mögen,  die  luxuriösen 
Einrichtungen,  die  man  hier  für  nötig  hielt,  können  der  Kritik 
nicht  standhalten. 

Der  Segen  der  Arbeiterversicherung  wird  über  das  Gesagte 
hinaus  noch  weiter  entfernt  sichtbar,  wenn  auch  immer  weniger 
meßbar.  Die  besseren  Gesundheitsverhältnisse  der  Nation,  zu 
denen  sie  beigetragen  hat,  haben  nicht  nur  die  ökonomische  Pro- 
duktivkraft, sondern  auch  die  Wehrkraft  gehoben.  Die  militäri- 
schen Aushebungen  in  den  Großstädten  werden  als  Beleg  dafür 
herangezogen,  wenn  auch  im  allgemeinen  die  ländliche  Bevölke- 
rung immer  noch  einen  größeren  Prozentsatz  der  Wehrpflichtigen 
bringt.  Ebenso  wird  man  nicht  verkennen  dürfen,  daß  der  Rück- 
gang der  deutschen  Auswanderung  der  letzten  25  Jahre  in  dem 
Gelingen  der  Versicherungsgesetzgebung  eine  ihrer  Wurzeln  hat. 
Denn  einerseits  gibt  es  in  den  überseeischen  Ländern  keine  aus- 
reichende Fürsorge  bei  Unfall  und  Krankheiten,  und  wenn  auch 
die  Aussicht  auf  Eigentumserwerb,  namentlich  an  Land  und  Haus, 


VII.  Die  Reicbssozialpolitik.  -lej 


dort  eine  größere  sein  mag  als  daheim,  und  eine  gute  Sicherung 
für  das  Alter  in  solchem  Besitze  liegt,  so  verwirklicht  sie  sich 
doch  nicht  immer,  während  die  heimische  Rente  so  fest  dasteht 
wie  das  Deutsche  Reich.  Dazu  kommt,  daß  man  erworbene  An- 
sprüche durch  Auswanderung  nicht  gern  preisgibt  und  sich 
höchstens  auf  Zeit  fortzugehen  entschließt.  Die  zeitweise  Aus- 
wanderung aus  Deutschland  scheint  prozentual  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten zugenommen  zu  haben,  was  man  namentlich  daraus 
schließt,  daß  die  Familienauswanderung  in  der  Abnahme  gegen 
früher  begriffen  ist.  Die  Tatsache,  daß  Deutschland  ein  Ein- 
wanderungsland geworden  ist,  ist  auf  die  Versicherungsgesetz- 
gebung insofern  zurückzuführen,  als  auch  Ausländer,  selbst  als  Sai- 
sonarbeiter ihrer  auf  Grund  internationaler  Übereinkommen  teil- 
haftig geworden  sind,  an  denen  namentlich  Italien  interessiert 
gewesen  ist. 

Die  Reichssozialreform  hat  weiterhin  auf  die  Vereinheitlichung 
der  deutschen  Volkswirtschaft  nicht  ohne  Einfluß  bleiben  können. 
Schon  die  allgemeine  Gesetzgebung  mußte  den  Gedanken  nahe- 
legen, daß  jedem  deutschen  Arbeiter,  wo  er  auch  Stellung  suchte, 
und  ob  er  hin  und  her  wanderte,  innerhalb  der  Reichsgrenzen  das 
gleiche  Recht  garantiert  war.  Dazu  kommt,  daß  die  Berufsge- 
nossenschaften sich  teilweise  über  ganz  Deutschland  erstrecken, 
im  übrigen  einen  engen  örtlichen  Charakter  nicht  besitzen.  Schließ- 
lich hat  die  dauernde  Verfügung  erkrankter,  verletzter,  invalider 
Arbeiter  über  ein  Einkommen  der  gesamten  Verkehrswirtschaft 
Festigkeit  unter  Stärkung  der  lokalen  Märkte  zugeführt. 

Die  Frage,  ob  die  Reichssozialpolitik  geeignet  gewesen  ist, 
den  sozialen  Frieden  mit  der  Arbeiterschaft  anzubahnen,  läßt  sich 
in  ihrer  ersten  Periode  etwa  bis  1900  nicht  bejahen.  Es  ist  dies 
so,  einmal  im  Verhältnis  der  Arbeiter  zum  Staat,  und  dann  in  dem 
zum  Unternehmertum.  Die  Staatsfeindlichkeit  der  Lohnarbeiter 
war  unter  dem  Sozialistengesetz  verschärft  worden.  Es  galt  die 
Meinung,  daß  das  Kapital  in  Deutschland  brutal  durch  den  Staat 
herrsche,  und  daß  alle  militärische  Rüstung  nur  im  Dienste  einer 
profitgierigen  Klasse  vorgenommen  werde.  Für  auswärtige  Politik 
fehlte  jedes  Verständnis.  Hatte  doch  die  Arbeiter-Internationale 
als   ihr  künftiges  Ziel  hingestellt,  die  Staatsgegensätze  auszulöschen. 

Nicht  weniger  abweisend  war  das  Empfinden  den  Arbeit- 
gebern gegenüber.  Sie  zahlten,  sagte  man,  den  Beitrag  nicht  frei- 
willig, sondern  weil  der  Staat  sie  dazu  zwingt,  und  der  Staat 
zwänge  sie,  weil  er  sich  vor  der  Revolution  fürchte. 

Die  Gewerkschaften  und  die  Fachvereine,  von  denen  man  eine 
Ergänzung    der   Sozialpolitik    in    der    genossenschaftlichen    Selbst- 


•leg  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871  — 1800. 

hilfe  erwartet  hatte,  hatten  diesen  Zweck  nur  wenig  erfüllt.  Die 
sozialdemokratischen  waren  nur  ein  Mittel  der  Staats-  und  gesell- 
schaftsfeindlichen Propaganda.  Abgesehen  von  wenigen  dieser  Ver- 
eine, wie  z.  B.  von  dem  der  Buchdrucker,  waren  alle  damaligen 
von  politischen  Parteien  geschaffen  worden,  die  ihren  Einfluß 
dauernd  behaupten  wollten.  Insofern  waren  sie  etwas  anderes  als 
die  englischen  Trades  Unions,  an  welche  ihre  Verteidiger  der 
nationalökonomischen  Wissenschaft  in  Deutschland  so  gern  er- 
innerten. Ihnen  den  konservativen  Charakter  der  englischen  Ein- 
richtung zu  geben,  war  in  der  Hauptsache  bisher  mißglückt.  Sie 
bedurften  zunächst  der  Freiheit  von  der  politischen  Beeinflussung, 
um  sich  auf  sich  selbst  zu  besinnen.  Bis  aber  die  Schlacken  der 
Vergangenheit  abgestreift  waren,  mußte  sich  in  der  nachfolgenden 
Zeit  noch  mancherlei  im  Deutschen  Reiche  auf  dem  Gebiete  der 
Wirtschafts-  und  anderer  Politik  ereignen,  worauf  wir  zum  Ab- 
schluß unserer  Betrachtung  in  einem  späteren  Kapitel  zurück- 
kommen werden. 

VIII.  Die  deutsche  Kolonialpolitik.  Die  nationale 
Wirtschaftspolitik  hatte  sich  das  Ziel  gesetzt,  im  Innern  des 
Reiches  alle  produktiven  Einheiten  und  Gruppen  durch  gegen- 
seitige Einwirkung,  unter  Beseitigung  auswärtiger  Störung,  zu  ent- 
falten. Doch  war  die  Neuordnung  nicht  so  gedacht  worden,  daß 
die  deutsche  Volkswirtschaft  ein  selbstgenügsames  Ganzes  werden 
sollte.  Dieser  Unmöglichkeit  war  sich  die  Reichsregierung  wohl 
bewußt.  Die  Einbeziehung  der  Hansestädte  in  die  ZoUinie  weist 
schon  auf  den  Wunsch  nach  einem  vermehrten  Außenhandel  hin. 
Die  zahlreichen  seit  1871  errichteten  Konsulate  hatten  andauernd 
den  Auftrag  erhalten,  an  ihrem  Sitze  die  Absatzgelegenheiten  für 
deutsche  Waren  zu  erforschen,  der  Bau  der  Reichsflotte,  so  be- 
scheiden er  zuerst  gewesen  war,  wurde  mit  dem  Schutz  der  Deut- 
schen im  Auslande,  ihrer  dortigen  Vermögen  und  ihres  Handels 
gerechtfertigt,  die  zollpolitischen  Retorsionen  gegen  Österreich  und 
Rußland  hatten  den  Zweck,  diese  Länder  für  einen  erhöhten 
.Warenaustausch  willfährig  zu  machen. 

Die  Schaffung  eines  Kolonialreiches,  die  in  den  achtziger 
Jahren  gelang,  vertritt  zunächst  den  Gedanken,  daß  die  deutsche, 
innerlich  gefestigte  Nation  der  Aufteilung  Afrikas  nicht  müßig 
zuzuschauen  habe,  um  sich  weltpolitisch  betätigen  zu  können.  Zu- 
gleich sollte  sie  dem  Auslandsgeschäft  Ergänzung  und  neue  Rich- 
tung gewähren. 

Der  Reichskanzler  war  nur  zögernd  an  die  Lösung  dieser 
Frage  herangetreten.  Lange  hatte  er  die  Meinung  gehegt,  daß 
die   Auslandsdeutschen,   unter   dem   Recht   staatlicher   Verträge   in 


VIII.  Die  deutsche  Kolonialpolitik.  3  SO 

ihren  Niederlassungen  gesichert,  wirtschaftlich  vorankommen 
würden.  Schlechte  Erfahrungen,  die  deutsche  Kaufleute  in  Levuka 
auf  den  Fidjiinseln  bei  Schadenersatzansprüchen  gegen  die  eng- 
lische Verwaltung  gemacht  hatten,  auch  das  Übelwollen,  dem 
deutsche  Unternehmer  in  französischen  Kolonien  begegnet  waren, 
überzeugten  ihn,  daß  ohne  Einsetzen  staatlicher  Machtpolitik  der 
überseeische  deutsche  Kaufmann  seinen  Mitbewerbern  nicht  voll 
(gewachsen  war. 

Während  der  Friedensverhandlungen  mit  Frankreich  1871 
waren  Stimmen  in  Deutschland  zugunsten  der  Abtretung  franzö- 
sischer Kolonien  laut  geworden.  Sie  fanden  bei  der  Regierung  kein 
Entgegenkommen.  Als  nun  in  den  nachfolgenden  Jahren  in  Eng- 
land das  Wort  geprägt  und  nach  ihm  verfahren  wurde:  ,, Afrika 
englisch  vom  Tafelberg  bis  zum  Nil",  als  die  Franzosen  in  Indo- 
china  vordrangen  und  im  Sudan  Expeditionen  zum  Zwecke  des 
Landerwerbes  vornahmen,  als  die  Wirtschaftsstockung  nach  1873 
das  Ausfuhrgeschäft  lähmte,  während  tropische  Rohstoffe  und 
Kolonialwaren  andauernd  begehrt  wurden,  gelang  es  einigen  pa- 
triotischen Männern,  die  öffentliche  Aufmerksamkeit  auf  die 
Kolonialfrage  zu  lenken.  1878  gründete  Dr.  Jannasch  'den 
„Zentralverein  für  Handelsgeographie  und  Förderung  deutscher 
Interessen  im  Auslande".  Im  gleichen  Jahre  veröffentlichte  E.  v. 
Weber  ein  Werk  ,,Vier  Jahre  in  Afrika",  in  dem  eine  Verbin- 
dung Deutschlands  mit  den  Burenrepubliken  empfohlen  wurde, 
1879  erschien  Friedrich  Fabris  Broschüre  „Bedarf  Deutsch- 
land der  Kolonien?".  Bald  nachher  traten  zahlreiche  Schriftsteller 
hervor,  die  ihre  überseeischen  Erfahrungen  mitteilten,  Politiker 
und  Nationalökonomen  nahmen  das  Problem  auf,  das  in  kurzer 
Zeit  so  populär  wurde,  daß  die  Reichsregierung,  auch  der  öffent- 
lichen Meinung  wegen,  an  den  Zeichen  der  Zeit  nicht  meinte  vor- 
übergehen zu  dürfen. 

Die  Fabrische  Schrift  hatte  ihren  Ausgang  von  der 
deutschen  Übervölkerung  genommen,  an  deren  Dasein  damals  in 
der  Periode  des  wirtschaftlichen  Niederganges  der  Glaube  wieder 
verbreitet  war,  weiter  von  der  an  sie  sich  anschließenden  Aus- 
wanderung nach  Nordamerika,  wo  die  Deutschen  nur  zu  leicht 
ihr  nationales  Gepräge  preisgaben  und  als  Bauern  ihrer  alten  Hei- 
mat eine  Getreidekonkurrenz  bereiteten.  Der  zutreffende  Schluß 
für  die  Erhaltung  des  Deutschtums  war  die  Aufforderung,  Acker- 
baukolonien zu  gründen,  und  da  Afrika  nur  für  Handelsnieder- 
lassungen geeignet  erschien,  wurde  Südamerikas  gemäßigte  Zone 
in  Vorschlag  gebracht.  Das  war  freilich  unpolitisch  gedacht,  da 
die  Brasilianer  und  Argentinier  nicht  im  geringsten  die  Neigung 


^5o  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871  — 1890. 

hatten,  den  Deutschen  einen  Teil  ihres  Landes  zu  überlassen,  und 
Nordamerika  mit  der  Monroe-Doktrin  opponierte,  aber  eine  starke 
Anregung  des  kolonialen  Gedankens  blieb  der  warm  empfundenen 
Schrift  nicht  aus. 

Wir  haben  oben  die  deutsche  Auswanderung  bis  zur  Reichs- 
gründung in  kurzen  Zügen  erzählt.  Die  glänzende  Konjunktur  in 
den  Vereinigten  Staaten  hatte  1872  und  1873  noch  zahlreiche 
Deutsche  über  den  Ozean  gelockt.  Dann  lähmte  die  Verkehrs- 
stockung das  dortige  Wirtschaftsleben  bis  1879  f^^st  noch  mehr  als 
in  Europa,  die  Arbeitsgelegenheit  in  der  Industrie  wurde  immer 
schlechter,  zahlreiche  gewalttätige  Streiks,  besonders  bei  den  Eisen- 
bahnen, brachten  überwiegend  den  Arbeitern  Mißerfolge,  für  die 
Besiedelung  des  Westens  gab  es  genug  Leute  im  unzufriedenen 
Osten.  Die  deutsche  überseeische  Auswanderung  ließ  rasch  nach, 
ging  von  1 10  000  des  Jahres  1873  auf  ein  Fünftel  bis  1877  hin- 
unter. Zwei  Jahre  später  fing  sie  mit  der  amerikanischen  ver- 
besserten allgemeinen  Konjunktur  wieder  an  zu  steigen,  um  dann 
1882  mit  220902  Personen  den  Rekord  des  Jahrhunderts  zu  er- 
reichen. Mit  der  Besserung  der  deutschen  Erwerbsverhältnisse 
und  der  Arbeiterversicherung  ging  sie  wieder  zurück.  1886  betrug 
sie  nur  noch  83  000,  aber  da  die  Schutzzollpolitik  erst  nach  und 
nach  den  industriellen  Aufschwung  brachte,  blieb  die  Zahl  der 
P^ortziehenden  doch  zunächst  noch  hoch  und  sank  erst  in  dem  fol- 
genden Jahrzehnt  wieder  auf  den  Stand  der  Mitte  der  siebziger 
Jahre,  was  bei  der  inzwischen  gewachsenen  Bevölkerung,  prozent- 
weise gerechnet,  eine  Verminderung  bedeutete.  Der  aus  Volks- 
zählung, Geburten  und  Sterbefällen  berechnete  Wanderungsverlust 
hat  von  1881  — 1885  4,3  auf  1000  Einwohner  betragen,  von  1885  bis 
1890  nur  noch  1,4. 

Die  Forderung  auf  Kolonien  war  eine  logische  Konsequenz 
des  Reichsgedankens  und  der  nationalen  Wirtschaftspolitik.  Wollte 
man  eine  politische  und  wirtschaftliche  Großmacht  sein,  so  mußte 
man  nicht  bloß  europäische,  sondern  Weltpolitik  treiben,  wollte 
man  die  deutsche  Volkswirtschaft  als  Ganzes  erstarken  lassen, 
mußte  man  in  die  Weltwirtschaft  mit  Handel,  Schiffahrt,  Kapital- 
anlage,  Banken,    Niederlassungen   und   Filialen  hinaus. 

Es  ist  daher  ein  Irrtum,  zu  behaupten,  daß  man  erst  seit 
1890  die  große  Bedeutung  der  Weltwirtschaft  für  das  Reich  er- 
kannt habe.  Seitdem  der  Reichskanzler  begonnen  hatte,  sich  den 
Kolonien  zuzuwenden,  betrieb  er  neben  der  ihm  hauptsächlichen 
europäischen  eine  Weltpolitik.  Auch  auf  diesem  Gebiete  hat  die 
folgende  Generation  nur  das  Erbe  seines  kraftvollen  Eingreifens 
angetreten. 


VIII.  Die  deutsche  Kolonialpolitik.  761 


Der  deutsche  Liberalismus,  der  der  Gründung  des  Reiches  so 
kräftig  beigestanden,  die  Kleinstaaterei  deshalb  so  oft  angegriffen 
hatte,  weil  sie  den  Deutschen  in  der  Fremde  keinen  Schutz  zu  ver- 
leihen vermochte,  wollte,  soweit  die  freihändlerische  Demokratie 
in  ihm  Einfluß  gewonnen  hatte,  von  Kolonien  nichts  wissen  und 
nahm  in  ihrer  Bekämpfung  die  Bundesgenossenschaft  der  Sozial- 
demokraten gern  an.  Die  unmittelbaren  Gründe  der  Ablehnung 
jeder  Kolonialpolitik  lagen,  neben  einzelnen  Fällen  persönlichen 
Getriebes  wirtschaftlicher  Konkurrenten,  wie  1880  bei  der  Samoa- 
vorlage,  die  zugunsten  des  in  Zahlungsschwierigkeiten  gelangten 
Hauses  Godeffroy  eine  Reichsgarantie  in  Aussicht  nahm,  und  wie 
bei  der  Dampfersubvention  für  die  Post  nach  Ostasien  und  Austra- 
lien 1884,  welche  man  der  Neu-Guinea-Gesellschaft  nicht  gönnte, 
in  der  Abneigung  gegen  finanzielle  Geldaufwendungen,  die  unver- 
meidlich waren,  und  in  dem  freihändlerischen  Argument,  daß  man 
die  Kolonialprodukte  da  einzukaufen  hätte,  wo  sie  am  billigsten 
seien,  wobei  erst  zu  erschließende  Kolonien  nicht  in  Frage  kämen. 
Die  Demokratie  endet  wirtschaftspolitisch  immer  im  Konsumenten- 
individualismus, d.  h.  in  dem  Wohlbefinden  der  gegenwärtig  leben- 
den Menschen.  Die  zukünftigen  Geschlechter  mögen  für  sich  sor- 
gen. Das  ist  wenig  national  empfunden.  Mögen  andere  Völker  die 
Erde  unter  sich  teilen,  der  deutsche  Michel  soll  die  liberale  Presse 
lesen  und  sich  mit  dem  Bewußtsein  zu  Bette  legen,  daß  er  klüger 
als  andere  gewesen  ist.  Etwaige  Bedenken  gegen  solche  Ideen  wur- 
den zudem  mit  dem  Argumente  beschwichtigt,  es  seien  ja  doch  nur 
Sandwüsten  und  Fieberländer  zu  erwerben.  30  Jahre  hat  die 
Kolonialopposition  im  Reichstag  immer  dasselbe  gesagt  —  aller- 
dings war  ihr  ein  Erfolg  damit  nicht  beschieden. 

Es  war  vielmehr  im  deutschen  Volke  ein  Jubel  ausgebrochen, 
als  die  schwarz-weiß-rote  Fahne  in  Afrika  und  Australien  gehißt 
worden  war,  ein  Völkerfrühling  schien,  wie  der  Reichskanzler  sagte, 
die  deutschen  Gaue  zu  durchziehen,  mit  Freude  begrüßte  er  dieses 
Erwachen  des  Nationalbewußtseins.  Überall  errichtete  der  jetzt 
gegründete  Kolonialverein  Zweigverbände  und  wirkte  durch  Vor- 
träge und  seine  Zeitschrift  aufklärend  und  anfeuernd.  Die  Regie- 
rung verstand  die  Bewegung  recht,  und  B  i  s  m  a  r  c  k  war  der  Mann, 
sie  sicher  und  vorsichtig  zu  lenken.  Jeden,  der  die  Geschichte  des 
Erwerbes  der  deutschen  Kolonien  liest,  muß  seine  diplomatische 
Meisterschaft  in  der  Benutzung  aller  vorhandenen  Mittel  und  seine 
Festigkeit  mit  höchster  Bewunderung  erfüllen.  Deutschland  hatte 
nur  eine  schwache  Flotte,  eine  Volksvertretung,  die  nicht  recht 
wollte,  es  stand  der  englischen  und  französischen  Mißgunst  gegen- 
über,  die  die   geringsten   Landansprüche  nicht  zuzugeben   geneigt 


202  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reiohs  187 1  — 1890. 

war.  Die  Australier  tobten,  der  Kapstaat  wurde  aufgehetzt. 
Trotzdem  gelang  das  Werk  vollkommen  mit  wenigen  Kreuzern,  die 
gegen  widerspenstige  arabische  Sultane  und  Negerhäuptlinge  aus- 
gesandt wurden,  und  mit  geschickten  Noten,  die  nach  London 
gingen,  mit  tüchtigen  Männern,  wie  Nachtigal,  Peters,  Wiß- 
mann, die  vom  Reich  beauftragt  waren  oder,  wo  sie  selbst  die 
Initiative  ergriffen  hatten,  von  ihm  geschützt  wurden. 

Der  Reichskanzler  war  alles  andere  eher  als  ein  unbedingter 
Kolonialschwärmer,  der  gleich  ins  Große  gehen  will.  Er  fing  mit 
Vorsicht  im  Kleinen  an,  ohne  das  Reich  finanziell  erheblich  zu  be- 
lasten. „Unsere  Absicht",  erklärte  er  am  26.  Juni  1884  im  Reichs- 
tage, „ist  nicht,  Provinzen  zu  gründen,  sondern  kaufmännische 
Unternehmungen,  aber  in  der  höchsten  Entwicklung  auch  solche, 
die  sich  eine  Souveränität,  eine  schließlich  dem  Deutschen  Reiche 
lehnbar  bleibende  erwerben,  zu  schützen  in  ihrer  freien  Entwick- 
lung sowohl  gegen  die  Angriffe  aus  der  unmittelbaren  Nachbar- 
schaft, als  auch  gegen  Bedrückung  und  Schädigung  von  selten 
anderer   europäischer   Mächte". 

Ehemals  zu  Zeiten  des  gespaltenen  Deutschlands  hatten  schon 
Private,  wie  in  Nordamerika  und  Brasilien,  Ländereien  erworben, 
um  dorthin  die  Auswanderung  zu  leiten.  Deutsche  Missionare 
hatten  zur  Heidenbekehrung  in  fremden  Erdteilen  ihre  Nieder- 
lassungen gegründet,  Handelsgesellschaften  zur  Förderung  der  Aus- 
fuhr einige  Filialen  im  Auslande  errichtet,  deutsche  Forscher  waren 
in  das  Innere  von  Afrika  vorgedrungen  und  hatten  auf  den  anzu- 
knüpfenden Handel  hingewiesen.  Jetzt  sollte  die  schützende  Hand 
des  Reiches  über  solche  Bestrebungen  gehalten  werden,  wo  es 
völkerrechtlich  zulässig  war,  ohne  zugleich  eine  weitere  private 
Tätigkeit  zu  unterbinden.  Es  fehlte  den  Deutschen  ganz  an  Er- 
fahrung in  der  kolonialen  Gesetzgebung  und  Verwaltung,  es  gab 
kaum  Beamte,  die  man  hätte  entsenden  können.  Daher  sollten  die 
Unternehmer  aus  eigenem  Vorgehen  zunächst  lernen,  ob  sie  durch 
den  Handel  mit  den  Eingeborenen  oder  durch  die  Anlage  von 
Kultivationen  mit  dortigen  Arbeitskräften,  oder  durch  Ansiedlung 
von  Europäern  Erfolge  gewinnen  könnten.  Erst,  wenn  der  prak- 
tische und  dauernde  Verkehr  mit  den  „Schutzgebieten"  —  so  wur- 
den die  Erwerbungen  genannt  —  in  sichere  Bahnen  gelenkt  wäre, 
sollte  sich  ein  beschränktes  Eingreifen  der  Reichsverwaltung  an- 
schließen. Diese  Politik  des  „Kompagniensystems"  ist  bis  1890 
festgehalten  worden.  Es  stellte  sich  dann  heraus,  daß  die  Kolo- 
nien mehr  als  kommerzielle  Einrichtungen  sein  konnten.  Die  Kauf- 
leute reichten  nicht  mehr  aus,  Beamte  und  einige  Schutztruppen 
mußten  hinausgeschickt  werden. 


VIII.  Die  deutsche  Kolonialpolitik.  753 

Die  erste  völkerrechtliche  Besitzergreifung  erfolgte  in  Süd- 
westafrika durch  den  Bremer  Kaufmann  Lüderitz  in  einem 
Hafen  des  Namaqualandes,  Angrapequeiia,  einer  Gegend,  wohin 
schon  Anfang  der  vierziger  Jahre  eine  Barmer  Gesellschaft  von 
Kapstadt  aus  Missionare  entsandt  hatte.  Von  hier  aus  ist 
Deutsch-Südwestafrika,  der  Wohnsitz  der  Hereros  im 
Norden,  der  Bastards,  der  Hottentotten  im  Süden,  gegründet 
worden,  das  schon  im  Frühjahr  1885  im  großen  ganzen  seine 
späteren  Grenzen  besaß.  Dann  folgten  die  westafrikanischen  Er- 
werbungen in  Kamerun  und  Togoland,  bei  denen  nicht  bloß 
Schwierigkeiten  mit  England,  wie  in  Südwest,  sondern  auch  mit 
Frankreich  zu  überwinden  waren,  wobei  der  entsandte  Generalkonsul 
Dr.  N  achtigal  sichdas  höchste  Verdiensterwarb.  In  der  Südsee 
wurden  ebenfalls  1884  ein  Teil  von  Neu-Guinea  und  einige  Insel- 
gruppen dem  Reichsschutze  unterstellt,  deren  Zugänglichkeit  durch 
die  Bremer  Lloydlinie  erschlossen  wurde.  Im  Stillen  Ozean  hatte 
die  schon  erwähnte  Firma  Godeffroy  in  den  fünfziger  Jahren, 
von  Südamerika  ausfahrend,  lebhaften  Handel  angeknüpft  und 
Stationen  errichtet.  1862  fuhren  29  eigene  große  Segelschiffe  des 
Hauses  von  Hamburg  aus,  und  100  kleine  Schiffe  hielten  die  Ver- 
bindung zwischen  den  Inseln.  Die  „große  Firma"  erregte  die 
englische  Eifersucht.  Wäre  1880  die  Reichssubvention  gelungen, 
mit  Leichtigkeit  hätten  bald  wichtige  herrenlose  Inseln  zu  Schutz- 
gebieten gemacht  werden  können.  Später  wurde  das  Vorgehen  er- 
heblich erschwert.  Schließlich  woirde  1885  in  Ostafrika  auf 
Zugreifen  der  „Gesellschaft  für  deutsche  Kolonisation"  ein  großes 
Schutzgebiet  sichergestellt,  zuerst  durch  Dr.  Peters,  der,  von 
Sansibar  ausgehend,  mit  unvergleichlichem  Mute  und  größter  Zä- 
higkeit die  Landerwerbungsverträge  abschloß  und  damit  die  künf- 
tige Reichsherrschaft  einleitete,  die  den  Widerstand  der  ansässigen 
kleinen  arabischen,  völkerrechtlich  nicht  anerkannten  Machthaber 
bald  überwand.  Durch  das  spätere  Abkommen  mit  England 
wurden  das  Sultanat  Witu  und  die  Rechte  auf  die  Insel  Sansibar 
gegen  den  Besitz  von  Helgoland  ausgetauscht.  Dieser  Vertrag  ist 
namentlich  auch  von  selten  Bismarcks  heftig  angegriffen  worden. 
Der  Weltkrieg  hat,  nachdem  diese  Insel  vor  der  Elbe-  und  Weser- 
mündung stark  befestigt  worden  war,  ihn  vom  Standpunkt  der 
deutschen  Seemacht  aus  gerechtfertigt.  Es  ist  allerdings  die  Frage, 
ob  die  Erschaffung  der  deutschen  großen  Kriegsflotte  eine  rich- 
tige Politik  gewesen  ist.  Wer  sie  verneint,  wird  auch  den  Erwerb 
von  Helgoland  gering  einschätzen,  da  der  Felsen  in  deutschem  Be- 
sitz nur  ein  neues  Motiv  war,  die  Seerüstung  zu  verstärken. 


364  ^'  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs  1881  — 1890. 


Dem  Vertrag  ist  es  auch  nachgerühmt  worden,  daß  durch  ihn 
die  kolonialen  Streitigkeiten  mit  England  zum  Abschluß  kamen, 
wie  das  Kaiser  Wilhelm  II.  in  den  ,, Ereignisse  und  Gestalten" 
wiederum  hervorgehoben  hat.  Eine  englische  Freundschaft  konnte 
freilich  aus  diesem  Tauschgeschäft  nicht  entstehen,  worauf  Bis- 
marck  im  dritten  Bande  der  ,, Gedanken  und  Erinnerungen"  hin- 
weist, da  bei  dem  Wechsel  der  parlamentarischen  Majoritäten  die 
spätere   an  die   Politik   der  früheren  nicht   gebunden   sei. 

Übrigens  erinnert  der  Kaiser  an  gleicher  Stelle  daran,  „daß 
mit  dem  Aufblühen  von  Tanga,  Dar-es-Salam  usw.  an  der  Küste 
Afrikas  der  Wert  Sansibars  —  als  Hauptumschlagshafen  —  dahin 
sein  würde",  mithin  afrikanische  Produkte  direkt  an  der  Küste 
eingeladen  und  europäische  dort  ausgeladen  werden  könnten.  Diese 
Entwicklung   hat   tatsächlich   stattgefunden. 

In  der  nachbismarckschen  Zeit  wurden  1899  die  Karo- 
linen, die  M  a  r  i  a  n  e  n  und  die  Palauinseln  von  Spanien  um 
25000000  Pesetas  gekauft,  1900  wurde  Deutsch-Sa  moa 
übernommen,  1 898  wurde  das  Kiautschougebiet  von 
China  auf  99  Jahre  gepachtet.  Tsingtau,  ein  Haufen  ersten  Ranges 
an  der  nordchinesischen  Küste,  kannte  damals  nur  eine  dörfliche 
Niederlassung  und  wurde  unter  deutscher  Leitung  eine  Stadt  von 
30000  Einwohnern.  Die  meisten  sind  Chinesen,  die  in  besonderen 
Quartieren  wohnen  und  die  Arbeiterschaft  ausmachen.  Die  Ver- 
waltung der  Kolonie  wurde  dem  Reichsmarineamt  unterstellt,  wäh- 
rend seit  1890  die  sonstigen  kolonialen  Besitzungen  ihre  Zentrale 
in  der  Kolonialabteilung  des  Auswärtigen  Amtes  hatten,  der  ein 
besonderer  Kolonialrat  von  Sachverständigen  beigegeben  war. 
Später  wurde  die  Errichtung  eines  selbständigen  Kolonialamtes 
'notwendig. 

Das  gesamte  Kolonialgebiet  umfaßte  schließlich  2  657  204 
Quadratkilometer,  die  Bevölkerung  wurde  19 10  auf  10,8  Millionen 
angegeben,  1913  wurden  28846  Weiße,  darunter  23952  Reichs- 
deutsche gezählt.  Durch  den  Staatsvertrag  mit  Frankreich  191 1 
trat  letzteres  nach  der  Marokkokrise  ein  Stück  seines  westafrika- 
nischen Kongogebietes  ab,  das  mit  Kamerun  vereinigt  wurde  und 
den    Namen    Neukamerun   erhielt. 

Der  wirtschaftliche  Fortschritt  der  Kolonien  war  zuerst  nur 
ein  langsamer,  dann  aber,  nachdem  mancherlei  Umgestaltungen 
der  Verwaltung  vorgenommen  worden  waren,  ein  durchaus  gün- 
stiger. Nach  der  Denkschrift  des  Staatssekretärs  des  Kolonial- 
amts Dernburg  betrug  190S  die  Gesamtsumme  der  in  den 
Schutzgebieten  angelegten  Kapitale,  mit  Ausnahme  von  Kiautschou, 
370  Millionen  Mark.    Davon  waren    191    rentabel,    159  in  der  Ent- 


VIII.  Die  deutsche  Kolonialpolitik.  365 


Wicklung  begriffen,  12  unrentabel  und  8  in  Missionen  angelegt.  In 
diese  Summe  sind  die  Schiffe  eingerechnet,  die  dem  Verkehr  mit 
den  Kolonien  dienen  (65077800  Mark).  Die  Anlagen  des  Reichs 
sind  mit  60782340  Mark,  der  Erwerbsgesellschaften  mit  1427 13985 
Mark,  der  Einzelunternehmungen  mit  66521000  Mark  beziffert. 
Kurz  vor  dem  großen  Kriege  wurde  die  Kapitalanlage  auf  eine 
halbe  Milliarde  angegeben.  Sie  hatte  sich  in  20  Jahren  etwa 
verzehnfacht.    In  gleicher  Weise  war  der  Außenhandel  gewachsen. 

Es  ist  genau  das  eingetreten,  was  im  Jahre  1880  bei  der 
Samoavorlage  der  Reichstagsabgeordnete  M  o  s  1  e  prophetisch  aus- 
gesprochen hat.  Es  verdient  wiederholt  zu  werden:  „Ich  habe 
die  Überzeugung,  daß  die  Kolonialpohtik  mit  Naturnotwendig- 
keit in  ganz  kurzen  Jahren  an  uns  herantritt,  und  daß  sie  dann 
zuerst  mit  Fehlern  und  später  mit  Erfolg  betrieben  werden  wird. 
Das  ist  noch  niemals  dagewesen,  daß  ein  Staat,  wenn  er  einen 
ganz  neuen  Weg  unternommen  hat,  nun  gleich  auf  diesem  Wege 
die  reichsten  Früchte  überall  erntet.  Auch  bei  der  Kolonialpolitik 
werden  Erfahrungen  zu  machen  sein,  große  und  schwere  Erfahr- 
ungen, aber  das  letzte  Ende  wird  segensreich  für  Deutschland 
sein". 

Die  wirtschaftliche  Erschließung  der  Kolonien  ist  je  nach 
der  Natur  des  Landes,  des  Klimas  und  der  eingeborenen  Bevölke- 
rung verschieden  ausgefallen.  In  Südwestafrika  mit  seinem 
Steppencharakter  war  die  Grundlage  die  Viehwirtschaft,  die  unter 
den  Verhältnissen  der  Gegenwart  erst  in  Betrieben  von  der  Größe 
nicht  unter  5000  Hektar  lohnend  ist.  Diese  großbäuerlichen 
Farmen  setzen  ein  Anlagekapital  von  20 — 30000  Mark  voraus. 
Nach  Abschätzung  des  verfügbaren  Weidelandes  würden  25000 
Familien  so  Platz  finden  können.  An  dem  Swapokfluß  ist  aus- 
gezeichnetes Gartenland  vorhanden,  das  für  die  Dattelpalme  und 
den  Weinstock  brauchbar  ist.  Der  Bergbau  im  Norden  der  Ko- 
lonie, ferner  die  Diamantengewinnung  haben  sich  als  ertrag- 
bringend erwiesen  und  hatten  eine  Zukunft.  Für  eine  große  Be- 
völkerung war  zunächst  kein  Dasein  gegeben.  Doch  mußte  sich 
das  Wirtschaftsleben  nach  und  nach  intensiver  gestalten,  wenn 
das  Bahnnetz  ausgebaut,  genügend  Wasser  erschlossen  war,  einige 
Mittelpunkte  des  Verkehrs  entstanden  waren.  Der  Fortschritt  der 
Kolonie  ließ  sich  an  den  Viehzählungen  von  1903 — 191 2  für  Rind- 
vieh, Schafe,  Ziegen,  an  der  wachsenden  Diamanten-  und  Kupfer- 
ausfuhr verfolgen.  In  dieser  Periode  ist  die  Gesamtausfuhr  im 
Werte  von  3,9  Millionen  auf  mehr  als  das  Zwölffache  gestiegen. 

Nicht  minder  hoffnungsreich  hatte  sich  Ostafrika  ent- 
wickelt.   In  dem  tropischen  Klima  war  die  Erzeugung  von  Kopra, 


366  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1  — 1890. 

Kautschuk,  Sisalhanf,  Kaffee,  Nutz-  und  Edelholz,  Erdnüssen  das 
wichtigste.  Für  die  Viehzucht  waren  Ländereien  in  kühlerer,  hö- 
herer Zone  verwendbar.  In  den  sehr  hoch  gelegenen  Gegenden  ist 
eine    intensivere   Bauernansiedelung   möglich. 

Reicher  von  der  Natur  ist  Kamerun  ausgestattet,  dessen 
Fruchtbarkeit  außerordentlich  ist,  und  das  vornehmlich  unter  der 
Kultivation  der  Ölpalme,  des  Kakaos,  des  Kautschuks  und  des 
Bau-  und  Nutzholzes  ausgebeutet  wurde.  Der  Export  war  in 
raschem  Steigen  und  hatte  sich  in  den  letzten  lo  Jahren  mehr 
als   verdreifacht. 

Die  viel  kleinere  Kolonie  Togo  —  etwa  in  der  Größe 
Bayerns,  während  Kamerun  ohne  das  von  Frankreich  abgetretene 
Stück  den  Flächeninhalt  Deutschlands  hat  —  produzierte  ähnlich 
wie  die  vorgenannte,  daneben  hatte  man  mit  dem  Anbau  von 
Baumwolle  begonnen  und  ganz  gute  Ergebnisse  erzielt.  Man  setzte 
auf  die  Ausdehnung  dieser  Kultur  große  Hoffnungen,  wenn  auch 
die  bis   19 14  erzielten  absoluten  Quantitäten  noch  gering  blieben. 

Von  den  australischen  Schutzgebieten  ist  Neu-Guinea  als 
die  zukunftsreichste  von  allen  Kolonien  bezeichnet  worden,  da 
sie  sich  für  die  Kokospalme,  Guttapercha,  Kautschuk,  Tabak, 
Baumwolle,  Sisalhanf  und  Holz  ganz  besonders  eignete.  Auch 
S  a  m  o  a ,  obwohl  nur  eine  kleine  Insel,  zeigte  eine  steigende  Aus- 
fuhr in  Kopra,  Kakao  und  Kautschuk.  Das  Hauptprodukt  der 
vielen  kleinen  sonstigen  Inseln  ist  diese  Kopra,  der  Kern  der 
Dattelpalme,  der  zu  Öl,  Speisefett,  Seife,  Lichten,  Futterkuchen 
verarbeitet  wird.  Die  Einfuhr  davon  nach  Deutschland  ist  von 
1907 — 1913  von  49785  auf  196598  Tonnen  gesteigert  worden. 
Von  mineralischen  Rohstoffen  hatten  die  Phosphate  der  j  Inseln 
Beachtung  gefunden. 

Das  Kiautschougebiet  hatte  eine  große  Bedeutung  für 
den  Handel  mit  China,  insbesondere  in  der  angrenzenden  Provinz 
Schantung,  in  der  die  Deutschen  einige  Bevorzugungen  genossen. 
Durch  die  Schantungbahn,  die  1904  vollendet  wurde,  sind  die 
wertvollen  Kohlenfelder  der  Provinz  nutzbar  gemacht  worden. 
Tsingtau  zeigt,  was  in  kurzem  durch  energische  methodische  An- 
leitung und  Unternehmung  in  Ostasien  mit  seinen  reichen,  billigen 
Arbeitskräften  geleistet  werden  kann.  Eine  moderne  Stadt  mit 
gesundem  Europäerquartier,  mit  Kais  und  Promenaden,  mit  elek- 
trischen Anlagen,  Großziegeleien,  Straßenbahnen,  Krankenhäusern, 
Schulen,  Missionen,  Hotels  ist  auf  einem  öden  Terrain  geschaffen 
worden.  Die  Krönung  des  Werkes  war  die  deutsch-chinesische 
Hochschule,  von  beiden  Staaten  gemeinsam  errichtet.  Die  umlie- 
genden   kahlen    Berge    sind    aufgeforstet    worden.     Mit    dem     bc- 


VIII.  Die  deutsche  Kolonialpolitik.  ^Ö? 

schränkten  Landbesitz  wurde  sorgsam  Haus  gehalten,  die  Land- 
ordnung von  1898  kennt  das  Vorkaufsrecht  für  das  Reich  und 
eine  Zuwachssteuer  von  331/3 ''/o,  um  die  Bodenspekulation  zurück- 
zuhalten. Unter  den  36  chinesischen  Seezollamtsstädten  hat  Tsing- 
tau  sich  in  15  Jahren  an  die  siebente  Stelle  emporgearbeitet.  Die 
Eroberung  dieser  Kulturstätte  durch  Japan  im  Herbst  191 4  ist 
besonders  nach  diesen  glänzendan  Leistungen  in  ganz  Deutsch- 
land  tief   schmerzlich   empfunden    worden. 

Aus  dieser  kurzen  Übersicht  ergibt  sich,  daß  die  deutschen 
Schutzgebiete  eine  wertvolle  Ergänzung  der  heimischen  Volks- 
wirtschaft werden  konnten.  Gewiß  war  bis  19 14  noch  alles  im 
Werden,  aber  daß  die  Deutschen  zu  kolonisieren  wußten,  haben 
sie  bewiesen.  An  die  Ausfuhr  schließt  sich  die  Einfuhr  an.  Der 
Gesamthandel,  der  1903  auf  117  Millionen  Mark  berechnet  wurde, 
hatte  191 3  die  Höhe  von  464  bereits  erklommen.  Ein  weitge- 
stecktes Ziel  war,  Deutschland  von  anderen  überseeischen,  tro- 
pischen und  subtropischen  Gebieten  einmal  unabhängig  zu  machen, 
deren  Produkte  wir,  abgesehen  von  den  sogenannten  Kolonial- 
waren, sowohl  in  der  Industrie  als  auch  in  der  Landwirtschaft, 
in  den  Edelfuttermitteln  gebrauchen,  und  deren  Besitzer  durch 
Preisgestaltungen  der  Handelspolitik  oder  Vertrustung  uns  hohe 
Tribute  aufzuerlegen  vermögen.  Die  Vorgänge  des  nordameri- 
kanischen BaumwoU-,  Tabak-  und  Petroleumtrusts  sind  warnende 
Zeichen.  Nur  wenn  Hoheitsrechte  über  den  Standort  der  Pro- 
duktion bestehen,  kann  die  Gesetzgebung  und  die  Verwaltung  die 
großen  ökonomischen  Interessen  der  Volksgesamtheit  wahrnehmen. 
Außerdem  weiß  niemand,  was  in  dem  Boden  an  mineralischen 
Werten  alles  vorhanden  ist.  So  waren  die  Diamanten  in  Südwest 
eine  ganz  unerwartete  Gabe.  Nur  derjenige  Staat,  der  über  viel 
Land  verfügt,  wird  eine  wirtschaftliche  Zukunft  im  internationalen 
Verkehr  haben  können.  Dieses  Empfinden  hat  stets  den  Völkern 
innegewohnt,  wie  es  die  Geschichte  seit  Jahrtausenden  beweist. 
Leider  werden  die  Erfahrungen  der  Geschichte  von  den  Völkern 
zu  leicht  vergessen,  um  so  mehr  sollten  die  Historiker  und  Politiker 
sie  immer  von  neuem  in  Erinnerung  bringen. 

Die  Kolonien  waren  nur  unzureichend  geschützt.  Sie  be- 
saßen keine  Militärmacht,  die  einmal  dem  Mutterlande  eine  Hilfe 
hätte  bringen  können.  Nicht  einmal  so  viel  Truppen  wurden  ihnen 
bewilligt,  daß  sie  sich  gegen  angreifende  Nachbarn  leidlich  ver- 
teidigen konnten.  Die  geschaffene  Schutztruppe  war  ausschließlich 
gedacht  für  die  Aufrechterhaltung  von  Ruhe  und  Ordnung  unter 
den  Eingeborenen  und  für  die  Unterdrückung  des  Sklavenhandels. 
Keine    Spur    von    Militarismus    war    in    den    Kolonien    zu    finden. 


758  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871 — 1890, 


Auch  das  ist  eine  geschichtliche  Tatsache.  Als  nach  Niederwerfung 
des  Hottentotten-  und  Hereroaufstandes  die  Reichsregierung  den 
Antrag  stellte,  in  Südwestafrika  eine  mäßige  Truppenmacht  stehen 
zu  lassen,  wurde  er  vom  Reichstage  abgelehnt.  Dieser  Aufstand 
war  nicht  im  geringsten  durch  grausame  Behandlung  der  Ein- 
geborenen veranlaßt  worden,  was  die  Engländer  später  lügne- 
rischerweise in  alle  Welt  hinausgeschrieen  haben,  obwohl  sie  als 
die  letzten,  nach  dem,  was  von  ihnen  seit  Jahrhunderten  von  der 
Eroberung  Ostindiens  bis  zum  Burenkrieg  getan  war,  berechtigt 
waren,  auf  uns  einen  Stein  zu  werfen.  Wenn  es  auch  wahr  sein 
mag,  daß  der  Landhunger  der  deutschen  Siedler  zu , Grenzreibereien 
hier  und  da  ein  Motiv  gewesen  ist,  so  waren  doch  die  feind- 
lichen Überfälle  und  Räubereien  unbedingt  zu  unterdrücken,  die 
sich  keine  friedliche  Kolonisation  gefallen  lassen  darf. 

Militärische  Machtmittel  über  die  bestehenden  hinaus  glaubte 
man  auch  in  einem  großen  Teile  des  afrikanischen  Gebietes  im 
Hinblick  auf  den  §  ii  der  Kongoakte  nicht  zu  benötigen,  da  man 
im  Falle  eines  Krieges  der  dort  interessierten  Mächte  unterein- 
ander die  Neutralisierung  zum  Schutz  der  weißen  Rasse  fest- 
gelegt hatte.  Es  war  dies  eine  Bestimmung,  die  von  Deutschlands 
Feinden  auf  Englands  Andringen  weder  in  Kamerun  noch  Ost- 
afrika beachtet  worden  ist.  Die  Engländer  bewiesen  auch  hier, 
daß  das  Völkerrecht  ihnen  nur  Wort  und  Schall  ist,  worauf  sie 
hören,  solange  es  ihnen  paßt.  Sie  ignorierten  vollkommen  das 
Solidaritätsgefühl  der  weißen  Rasse,  auf  das  im  Verkehr  mit 
Farbigen  so  viel  ankommt,  als  sie  deutsche  Kriegsgefangene  von 
Negern  unter  dem  Zuschauen  von  Negerhorden  öffentlich  aus- 
peitschen ließen  und  ihre  Offiziere  an  die  Spitze  von  farbigen, 
zwangsweise  ausgehobenen  Regimentern  stellten,  die  gegen  den 
Feind  auf  den  Flandernschen  Schlachtfeldern  zur  Bestialität  und 
Hinterlist  angefeuert  wurden.  In  der  Nachkriegszeit  haben  die 
Franzosen  mit  der  „schwarzen  Schmach",  die  sie  über  besetzte 
deutsche  Gebiete  mit  farbigen  Truppen  verhängten,  den  Beweis 
erbracht,  daß  auch  sie  das  Gemeinschaftsgefühl  der  weißen  Rasse 
mißachten,   wenn   sie   ihr   Deutschenhaß    verblendet. 

Die  Handelspolitik  der  deutschen  Kolonien  war  im  Gegen- 
satz zu  der  französischen  und  amerikanischen,  ja  selbst  zu  der 
englischen,  im  ganzen  genommen,  eine  liberale,  die  sich  bis  191 4 
bewährt  hatte.  Die  ausländische  Ware  blieb  der  deutschen  zoll- 
politisch gleichgestellt,  unter  der  Voraussetzung^,  daß  die  möglichst 
billige  Einfuhr  dem  reinen  und  zunächst  nicht  abänderbaren  Agrar- 
land am  schnellsten  zum  wirtschaftlichen  Aufschwung  verhelfen 
werde.    Das   Prinzip   der  offenen  Tür  galt  auch  bei   der   Kapital- 


VIII.  Die  deutsche  Kolonialpolitik.  t5q 

anläge,  die  als  ausländische  bis  zu  89  Millionen  Mark,  d.  h. 
auf  mehr  als  ein  Sechstel  der  gesamten,  angewachsen  war.' 
Wegen  der  regelmäßigen  Verbindung  mit  Deutschland  strömten 
übrigens  Waren  und  Werte  selbstverständlich  von  dort  ganz  über- 
wiegend ein,  wie  das  auch  die  freihändlerischen  Kronkolonien  der 
Engländer    erwiesen   haben. 

Auch  im  inneren  Finanzwesen  sind  die  Fremden  den  Reichs- 
angehörigen gegenüber  nicht  benachteiligt  gewesen.  Nur  den 
Missionen  sind  einige  Begünstigungen  zuteil  geworden. 

Das  Missionswesen  hat  in  den  Kolonien  einen  ungeahnten 
Aufschwung  erlebt.  1914  wirkten  nach  M.  H.  Solf  in  allen  deut- 
schen Kolonien  zusammen  476  katholische  Missionspriester,  305 
Laienbrüder  und  462  Missionsschwestern  auf  232  Haupt-  und  1680 
Nebenstationen.  Die  protestantischen  Missionsgesellschaften  ver- 
fügten über  231  Hauptstationen  mit  346  Missionaren,  177  Laien, 
12  Ärzten  und  81  Schwestern.  Für  die  Kolonisation  waren  die 
Missionare  deshalb  von  hervorragender,  auch  wirtschaftlicher  Be- 
deutung, als  sie  bei  ihrer  Kenntnis  der  Sitten,  Lebensweise,  des 
Rechtes  und  der  geistigen  Vorstellungen  der  Eingeborenen  zwi- 
schen diesen  und  der  Regierung  bzw.  dem  Unternehmertum  die 
Verbindungsbrücke  herzustellen  verstanden.  Unerhört  ist  es  ge- 
wesen, daß  England  im  Kriege  sich  veranlaßt  gesehen  hat,  das 
deutsche  kulturbringende  Missionswerk  zu  zerstören.  Ein  brutaler 
Faustschlag  in  das  Gesicht  der  erprobten  Rassenpolitik,  eine  kurz- 
sichtige, sich  rächende  Handlung  gegenüber  der  eigenen  Zukunft! 

In  der  kolonialen  Siedelungs-  und  Arbeiterfrage  mußten  erst 
manche  Erfahrungen  gewonnen  werden,  ehe  man  das  Richtige 
traf.  Das  Arbeitsverhältnis  wurde  durch  Gesetze  und  Verord- 
nungen streng  geregelt.  Willkürlichkeiten  waren  ausgeschlossen. 
Jede  übertriebene  humanitäre  Ordnung,  die  den  Charakter  der 
Eingeborenen  verkennt,  galt  indessen  als  eine  Gefahr.  Man  ver- 
stand zudem  mit  Recht,  daß  jeder  Schematismus  der  Regelung, 
der  sich  über  alle  Kolonien  erstreckt,  abzulehnen  war.  Denn  die 
eingeborenen  Afrikaner  zeigen  nicht  bloß  große  Rassenverschieden- 
heiten, sondern  stehen  auch  auf  ganz  verschiedener  Stufe  des  ge- 
sellschaftlichen und  religiösen  Lebens.  Ihnen  politische  Rechte  zu 
verleihen,  wird  jeder  verneinen,  der  weiß,  wie  es  damit  in  den 
Vereinigten  Staaten  gegangen  ist,  wo  seit  langem  die  dortige 
Zivilisation  unmittelbar,  aber  ohne  Ergebnis  für  die  politische  Er- 
ziehung, auf  die  Neger  einwirkt.  Der  Neger  fühlt  sich,  wo  er  in 
Afrika  mit  den  Weißen  zusammenleben  muß,  am  wohlsten,  wenn 
er  wie  ein  großes  Kind  behandelt  wird.  Ein  gütiger  und  ge- 
rechter,   aber    auch,    wenn   nötig,    strenger    Herr    kommt    am   wei- 

A.  Sartorius  v.  Walters  hausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte    2.  Aufl.        24 


XJO  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs  1871  — 1890. 

testen  mit  ihm.  Patriarchisches  Wohlwollen,  freundliche  Behand- 
lung bei  seinen  kleinen  Wünschen,  verbunden  mit  der  Achtung 
der  hergebrachten  Sitten,  Gebräuche,  der  Religion,  der  Stammes- 
einrichtungen, der  Rechtsbegriffe,  führt  nach  der  Überzeugung 
der  besten  Kenner  am  ehesten  zu  dem  Ziel  der  Verträglichkeit 
und  .Unterordnung. 

Freilich  war  die  Erziehung  der  Neger  zu  dauernder  Arbeit 
noch  keineswegs  damit  gewährleistet.  Da  die  Sklaverei  unserem 
Rechtsbewußtsein  nicht  entspricht,  konnte  als  Arbeitssystem  ent- 
weder die  Kontraktarbeit  mit  Bindung  auf  Jahre,  oder  das  euro- 
päische Lohnrecht  in  Frage  kommen.  Die  erstere,  wie  sie  bei  den 
asiatischen  arbeitssamen  Kulis,  deren  Heimat  weit  von  der  Arbeits- 
stätte entfernt  ist,  zweckmäßig  sein  mag,  paßte  für  die  afrika- 
nischen Eingeborenen  nicht,  die  erst  noch  das  Arbeiten  lernen 
mußten.  Sie,  die  den  steten  Wechsel  der  Arbeit  mit  dem  Nichtstun 
als  ein  Bedürfnis  empfanden,  die  in  Sorglosigkeit  und  Trägheit 
zurückfielen,  wenn  der  Einfluß  von  oben  aufhörte,  würden  ein- 
fach daran  zugrunde  gegangen  sein.  Man  mußte  daher  das  Arbeits- 
verhältnis mit  kurzen  Bindungsfristen  nicht  bloß  als  das  mensch- 
lichere, sondern  auch  als  das  wirtschaftlich  produktivere  Recht 
gelten  lassen  und  zudem  Motive  zu  erwecken  verstehen,  welche 
die  freiwillige  Wiederholung  der  Arbeit  nach  sich  zogen.  Es  kam 
vor  allem  darauf  an,  in  ihrer  und  ihrer  Familie  Lebenshaltung 
neue,  jedoch  ethisch  gerechtfertigte  Bedürfnisse  einzuschieben,  die 
nur  durch  Warenkauf  zu  befriedigen  waren.  Der  Lohn  mußte 
dann  gesucht  werden,  weil  auf  seine  Verwendung  nicht  verzichtet 
werden  konnte.  Daneben  haben  H.  von  Wißmann  und  andere 
die  direkte  Kopf-  und  Hüttensteuer  empfohlen,  die  in  Geld  zu 
zahlen  war,  also  Lohnarbeit  voraussetzte,  und  als  Entgelt  für 
den  gewährten  Schutz  gegen  Sklavenjagden  und  Räubereien  ge- 
rechtfertigt wurde.  Auch  eine  zeitweise  militärische  Dienstpflicht 
mit  ihrer  Regelmäßigkeit  und  Disziplin  ist  als  Erziehungsmittel 
zur   Ordnung  und  Arbeit   vorgeschlagen   worden. 

Von  sozialpolitischen  Maßregeln  wurde  auf  die  größte  Genauig- 
keit in  dem  Halten  des  Arbeitsvertrages  von  selten  der  Arbeit- 
geber, auf  die  Aufsicht  über  die  Vermittler  bei  dem  Anwerben 
der  Arbeiter  und  über  die  Kleinhändler  zur  Vermeidung  einer 
dauernden  Verschuldung  der  Neger  Gewicht  gelegt.  In  Kamerun 
wurde  das  Trägerwesen  geordnet,  in  Samoa  sind  Farbigen-Kom- 
missare bestellt  worden,  um  das  Arbeitsverhältnis  zu  überwachen, 
eine  Einrichtung,  die  dann  auf  andere  Schutzgebiete  übertragen 
worden  ist.  Die  Zeitdauer  des  Arbeitsvertrages  war  festgelegt, 
die  tägliche  Arbeitszeit  begrenzt  worden.    Der  Lohn  war  in  Geld 


VIIL  Die  deutsche  Kolonialpolitik.  ^  7  I 

auszuzahlen.  Dem  Arbeitgeber  sind  Verpflichtungen  auferlegt 
worden  für  die  Einrichtung  gesunder  Arbeitsräume,  für  Hilfe  in 
Krankheitsfällen  nach  bestimmten  Vorschriften  zu  sorgen. 

Die  Meinung,  daß  das  Lohnsystem  zu  vermeiden,  und  daß  die 
Zukunft  der  Kolonien  ganz  überwiegend  auf  dem  Betrieb  selbst- 
wirtschaftender kleiner,  eingeborener  Eigentümer  aufzubauen  sei, 
wurde  vom  produktionstechnischen  Standpunkt  aus  als  unhaltbar 
erkannt.  Die  Neger  mit  ihrer  Unkultur  waren  keine  deutschen 
Bauern,  und  selbst  diese  hätten  der  Führung  des  Großbetriebes 
nicht  entraten  können,  um  zu  einer  intensiveren  Wirtschaft  über- 
zugehen. 

Der  Zweck  der  Kolonien,  große  Gütermengen  dem  Welt- 
markte und  dem  Mutterlande  zuzuführen,  war  nur  im  Plantagen- 
betrieb nach  rationellen  Grundsätzen  und  mit  sorgsam  registrierten 
Erfahrungen  für  absehbare  Zeit  zu  erreichen.  Eine  gleichmäßige, 
handelstypische  Ware,  die  Verarbeitung  und  die  Verpackung 
waren  nur  unter  steter  Aufsicht  von  Weißen  zu  erwarten.  So  machen 
es  die  Holländer  im  Sundaarchipel,  so  die  Engländer  in  Ceylon 
und  Vorderindien.  Vielfach  galt  es  als  erwünscht,  daß  die  Kulti- 
vationen  Monokulturen  waren,  auf  die  sich  unter  den  heutigen 
Weltmarktsverhältnissen  ein  größeres  Kapital  lieber  einläßt.  Der 
Bergbau  war  selbstverständlich  allein  in  einer  umfangreichen,  zen- 
tralisierten Unternehmung  denkbar.  Das  Landeigentum  hat  man 
den  Negern  jedoch  nicht  etwa  entziehen  wollen.  Man  garantierte 
ihnen  so  viel  davon,  daß  sie  auf  ihm  ihren  Bedarf  an  Lebensmitteln 
decken  konnten,  womit  ihnen  zugleich  ein  zureichendes  Maß  so- 
zialer Freiheit  zugesprochen  wurde.  Der  Mehrerwerb  an  Land 
sollte  keineswegs  verhindert  werden,  so  daß  der  Anbau  für  den 
Export  demjenigen  möglich  wurde,  dem  die  sittliche  und  intellek- 
tuelle Eigenschaft  dazu  eigen  war.  Aber  viel  Land  denen  zu  ge- 
währen, die  nichts  damit  anzufangen  vermögen,  war  vom  Übel. 
Es  folgte  nur  Raubbau  und  planloses  Hin-  und  Herziehen  auf  den 
Äckern.  Die  Männer  ergeben  sich  leicht  dem  Müßiggang  und 
lassen  Frauen  und  Kindern  die  Sorge  der  Familienernährung. 

Überall  wurde  bestehender  Kleingrundbesitz  der  Neger  nicht 
bloß  anerkannt,  sondern  es  wurde  ihnen  auch  Land  zugewiesen, 
falls  sie  solches  nicht  besaßen.  Der  Verkauf  oder  die  dingliche 
Verschuldung  solcher  Heimstätten  war  entweder  überhaupt  nicht 
zulässig  oder  wurde  von  der  Genehmigung  des  Gouverneurs  ab- 
hängig gemacht.  Die  Einrichtung  des  Grundbuches  war  auf  die 
deutschen  Schutzgebiete  übertragen  worden,  sie  war  im  Interesse 
der  weißen  Besiedler  geboten.  In  Zukunft  sollte  auch  der  Neger 
davon   Vorteil  ziehen.    Er  konnte,   seine   Zuverlässigkeit   vorausge- 

24* 


•3  "7  2  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs  1971 — 1890. 

setzt,  in  das  Grundbuch  eingetragene  Stücke  ebenfalls  erwerben. 
Diese  waren  dann  freies  Eigentum.  Der  Heimstättebesitz  konnte 
nicht  eingetragen  werden,  da  er  unverkäuflich  und  unverschuld- 
bar  war,  es  sei  denn  bei  solchen  Negerbauern,  von  denen  sich  vor- 
aussetzen ließ,  daß  die  Umwandlung  ihres  Bodens  in  freies  Eigen- 
tum ihnen  Nutzen  brachte.  Diese  Möglichkeit  war  vom  sozialen 
Standpunkt  aus  bedenklich,  da  die  Nachkommen  das  vertun  kön- 
nen, was  die  Väter  erspart  haben. 

Wenn  es  den  überseeischen  Schutzgebieten  auch  nach 
30jährigem  Bestehen  nicht  beschieden  sein  konnte,  eine  große  An- 
zahl von  deutschen  Auswanderern  aufzunehmen,  so  hat  das  deutsche 
Volk  nicht  darunter  gelitten,  weil  es  in  dieser  Zeit  von  jeder 
Übervölkerung  befreit  gewesen  ist.  Für  die  Heimat  verdiente  üb- 
rigens nicht  bloß  die  Quantität  der  Kolonisten,  sondern  auch 
ihre  Qualität  eine  Beachtung.  Diejenigen,  welche  das  ruhige  Da- 
sein zu  Hause  mit  der  Halbkultur  der  Kolonie  vertauschten,  waren 
meist  Leute  besonderer  Energie,  mochten  auch  Unternehmer-  und 
Abenteurernaturen  nebeneinander  herwandeln.  Der  Auslese  in  der 
Heimat  entsprach  eine  neue  im  Siedelungsgebiet.  Wer  sich  dort 
nicht  bewährte,  ging  zugrunde,  da  jeder  auf  sich  selbst  weit  mehr 
gestellt  war  als  in  der  sicheren  sozialen  Ordnung  in  Deutschland. 
Diejenigen,  welche  zu  Vermögen  und  Ansehen  gelangten,  waren 
unter  dem  Einfluß  der  steten  Selbstverantwortlichkeit  zu  unab- 
hängigen Männern  geworden,  ihr  Blick  war  politisch  ausgeweitet, 
und  man  konnte  ihnen  ruhig  die  Selbstverwaltung  der  Kolonie 
innerhalb  gewisser  Schranken  anvertrauen.  Diejenigen,  die  nach 
Deutschland  zurückkehrten,  waren  am  ehesten  imstande,  über  die 
Gesetzgebung  der  Schutzstaaten  mitzusprechen.  Den  Typus  des 
Kolonialdeutschen  neben  dem  Heimatsdeutschen  zu  besitzen,  mußte 
unserem  Vaterlande  nur  Segen  bringen.  Die  englische  Gesellschaft 
konnte  als  Parallele  herangezogen  werden.  Wir  brauchten  deshalb 
England  nicht  ohne  weiteres  zum  Vorbilde  zu  nehmen.  Die  maß- 
lose Überhebung  der  Engländer  nicht  nur  über  niedere  Rassen, 
sondern  auch  über  alle  Europäer  lag  unserem  Wesen  nicht  und 
sollte  auch  nicht  herangezüchtet  werden.  Nirgends  ist  die  englische 
Heuchelei  widerwärtiger  als  in  der  Eingeborenenpolitik  ihrer  tro- 
pischen und  subtropischen  Kolonien.  Mögen  englische  Missionare 
auch  anders  zu  beurteilen  sein  als  Regierende  und  Geschäftsleute, 
jeder  Deutsche,  der  die  Geschichte  der  englischen  Kolonien  in 
Nordamerika  und  Westindien  mit  der  Indianerausrottung  und 
Negersklaverei,  die  Ausdehnung  der  Herrschaft  in  Indien  mit 
ihren  Greueln  und  die  Leiden  der  Schwarzen  und  Australier  bei 
der  Aufteilung  von  Afrika  und  der  Besetzung  von  Australien  kennt, 


VIII.  Die  deutsche  Kolonialpolitik.  ^-j^ 


wird  nur  den  heiligen  Wunsch  in  sich  aufflammen  sehen,  daß  sein 
Volk  von  solcher  Kolonialpolitik  für  immer  befreit  bleibe. 

Daß  Deutschland  aller  seiner  Kolonien  nach  dem  großen 
Krieg  beraubt  worden  ist,  ließe  sich  verstehen,  wenn  seine  Feinde 
deren  bedürften,  um  leben  zu  können.  Allein  England  und  Frank- 
reich haben  mehr  Land,  als  sie  mit  friedlicher  Arbeit  und  ihrem 
Kapital  zu  bewältigen  vermögen.  Blinder  Haß,  Raubgier  und  Angst 
sind  die  Vernichter  eines  großen  Kulturwerkes  in  Afrika  geworden. 
Die  Erschließung  des  dunklen  Erdteils  für  die  Europäer  unter  dem 
Gemeinschaftsgefühl  der  weißen  Rasse  sowie  die  Einbeziehung 
seiner  Einwohner  in  die  Kulturwelt  des  Christentums  und  der 
europäischen  Gesittung  sind  Aufgaben,  zu  denen  das  Zusammen- 
arbeiten aller  europäischen  Völker  kaum  ausreicht.  Die  Aus- 
merzung der  deutschen  Kolonisatoren  wird  sich  daher  bald  fühl- 
bar machen  und  zu  einer  Stauung  oder  einem  Stillstand  führen, 
die  den  Weltmonopolisten  die  Früchte  ihres  Raubzuges  schmälern 
wird,  sintemal  dem  Deutschen  Reiche  die  kolonialen  Rohstoffe 
und  Genußmittel  beschnitten  werden.  Hieß  es  während  des 
Krieges:  Können  wir  Euch  militärisch  nicht  unterkriegen,  so  tun 
wir  es  mit  dem  Völkerbund,  so  heißt  es  nach  der  Besiegung,  dieser 
Bund  soll  durch  seine  Oberaufsicht  dafür  sorgen,  daß  die  Deut- 
schen in  fremden  Erdteilen  niemals  wieder  Fuß  fassen,  weil  sie  es 
nicht  verdienen,  daher  die  Annexion  der  deutschen  Kolonien  eine 
Tat  selbstloser  Weltbeglückung  sei.  In  verlogener  und  dummer 
Weise  wurde  über  die  deutschen  kolonialen  Methoden  abgeurteilt, 
von  denen  es  feststeht,  daß  sie  in  30  Jahren  zu  glänzenden  Resul- 
taten geführt  hatten.  Das  ist  der  eigentliche  Grund,  weshalb  alles 
zerstört  werden  soll,  was  daran  erinnern  könnte. 

Literatur. 

I.  Fr.  Nietz seile,  Nachgelassene  "Werke.  Der  Wille  zur  Macht,    1901. 
Derselbe,  Unzeitgemäße  Betrachtungen  I,     2.  Aufl.      i893. 
E,  Horneffer,   Erkenntnis,  Die  Tragödie  des  Deutschen  Volkes,    1919. 
R.  Wagner,  Gesammelte  Schriften  und  Dichtungen.     Bd.  VIII.      1888. 
R.  Muther,  Geschichte  der  Malerei  im   19.  Jahrhundert,   1893. 
II.  Die  Straßburger  Post,  Tageszeitung  bis   1918. 

A.  Sartorius  v.  Waltershausen,  Der  Paragraph  11  des  Frankfurter  Friedens,  igiS- 
H.  Herkner,  Die  oberelsässische  Baumwollindustrie  und  ihre  Arbeiter,   1887. 
Die    oberelsässische    Baumwollindustrie    und    verwandte    Zweige,    Beilage    zum    Kon- 
fektionär 28.  Juni   1914. 
Jahresberichte  der  industriellen  Gesellschaft  von  Mülbausen  bis   191 2. 
Statistisches  Jahrbuch  für  Elsaß-Lothringen  bis   1914. 
M.  Hamburger,  Standortsgeschichte  der  Baum  Wollindustrie,   191 1. 
W.  Lochmüller,  Zur  Entwicklung  der  Baum  Wollindustrie  in  Deutschland,   1906. 


7-74  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   1871  — 1890. 

Dr.  Kreuzkamm,  Das  soziale  und  wirtschaftliche  Element  in  der  elsaß-lothringischen 
Frage.     Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat.     III.   F.     Bd.  XL. 

Die  wirtschaftliche  Entwicklung  Elsaß-Lothringens  unter  der  deutschen  Verwaltung, 
191 1.  Nachrichten  des  statistischen  Landesamtes. 

H.  Germain,  Die  natürlichen  Grundlagen  der  lothringischen  Eisenindustrie  und  die 
Verfassung  vor   1870,    1913. 

Das  Reichsland  Elsaß-Lothringen.     Sammelwerk.     Bd.  I.      19 10. 

Wohin  gehört  Elsaß-Lothringen?     Von  einigen  Elsässem,    1915. 

W.  Kapp,  Elsaß-Lothringens  Autonomie.  Denkschrift  über  die  Zukunft  des  Reichs- 
landes,   1 9 1 6. 

J.  Fr  ick,  Die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  des  Weinbaues,  des  Weinhandels  im 
Elsaß  seit   187 1,    191 1. 

L.  Berkholz,  Die  Wirkung  der  Handelsverträge  auf  Landwirtschaft,  Weinbau  und 
Gewerbe  in  Elsaß-Lothringen,   1902. 

E.  Thisse,     Die     technische    Entwicklung    der    elsässischen    Landwirtschaft    in     der 

zweiten  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts,    191 1. 
Lothringen  und  seine  Hauptstadt  Metz,   1913. 
R.    Krzymowski,     Die    landwirtschaftlichen    Wirtschaftssysteme     Elsaß-Lothringens, 

1914. 

D.  Langenbeck,    Bericht    über    die    Fortschritte    der    Landeskunde    von  Elsaß-Loth- 

ringen   1900 — 19 10.     III.  Teil.      Wirtschaftsgeographie.     Mitteilungen    der    Ge- 
sellschaft für  Erdkunde  und  Kolonialwesen  zu  Straßburg  i.  E.,   1918. 

III.  Verhandlungen  der  deutschen  Handelstage  1861   und   1868. 
A.  Soetbeer,  Deutsche  Münzverfassung,   1874. 
Derselbe,  Deutsche  Bankverfassung,   1876. 
K.  Helfferich,  Die  Reform  des  deutschen  Geldwesens,   1898. 
Derselbe,  Zur  Erneuerung  des  deutschen  Bankgesetzes,    1899. 
R.  Koch,    Die  Reichsgesetzgebung    über    das  Münz-    und  Notenbankwesen,  4.  Aufl. 

1900. 
G.  F.  Knapp,  Staatliche  Theorie  des  Geldes,    1905. 
W.  Lotz,  Geschichte  und  Kritik  des  deutschen  Bankgesetzes,    1888. 
M.  Ströll,  Über  Gegenwart  und  Zukunft  des  deutschen  Notenbankwesens,    1886. 
Die  Reichsbank   1876 — 1900,  Denkschrift   1901. 

J.  Friedrich,  Die  Währungs-  und  Diskontopolitik  der  Reichsbank,    1895. 
O.  Hübner,    Die  Banken,   1853. 
H.  V.  Poschinger,  Bankwesen  und  Bankpolitik  in  Preußen    1878/79. 

IV. u.V.  Allgemeine  Zeitung   1870 — 1880,  Handelsbeilage. 

G.  Fr.  Kolb,  Handbuch  der  vergleichenden  Statistik,   1675. 

Max  Wirth,  Geschichte  der  Handelskrisen,   1874. 

Joseph  Neu  wirth.  Die  Spekulationskrisis  von    1873,   1874  (in  Österreich). 

F,  Stöpel,  Die  Handelskrisis  in  Deutschland,    1875. 

A.  v.  Mayer,  Geschichte  und  Geographie  der  deutschen  Eisenbahnen,    1891. 

Dr.  Strousberg  und  sein  Wirken,  von  ihm  selbst  geschildert,    1876. 

Zeitschrift     für     Kapital     und     Rente      1870 — 1876,     herausgegeben     von     Freiherrn 

von   Danckelmann. 
F.  Per  rot.  Der  Bank-,  Börsen-  und  Aktienschwindel,    1873. 
Derselbe,  Die  deutschen  Eisenbahnen,   1876. 

Otto  Glagau,   Der  Börsen-  und  Gründungsschwindel   in  Berlin,    1876. 
Derselbe,   Der  Börsen-  und  Gründungsschwindel  in  Deutschland,    1877. 
W,  Marr,   Der  Sieg  des  Judentums  über  das  Germanentum,    1879. 

E.  v.   Hartmann,  Das  Judentum  in  Gegenwart  und  Zukunft,    1885. 


Literatur. 


375 


C.  Wilmanns,  Die  „goldene"  Internationale,   1876. 

*Jul.  Luebeck,  Die  wirtschaftliche  Entwicklung  Bayerns,   1919. 

H.  Wiermann,  Der  deutsche  Reichstag,  seine  Größen  und  Parteien,    1884. 

A.  Sartorius    v,    Waltershausen,    Zwischenstaatliche    Wanderung    und    die    Un- 
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1876. 

Briefe   und    sozialpolitische  Aufsätze   von  Dr.  Rodbertus  Jagetzow,    herausgegeben 
von  R.  Meyer,   1880, 

Denkschrift  über  die  preußischen  Eisenbahnen.     Drucksachen    des  Hauses    der  Ab- 
geordneten 1879/81,  Bd.  I,  Nr.  5. 

Archiv  für  Eisenbahnwesen  seit  1897. 

Viktor  Böhmert,  EnquSte  über  die  Reichseisenbahnfrage,   1876. 

Deutschlands  Eisenbahnen,  die  Reform  und  Vielheitlichkeit    ihrer  Verwaltung.     Jahrb. 
für  Nat.  u.  Stat.    1901. 

Paul  Ritter,  Eine  deutsche  Eisenbahngemeinschaft?    Jahrb.  für  Nat.  u.  Stat.   1913. 

H.  Kirchhoff,  Reichsbahn  oder  vereinigte  Staatsbahnen,    1918. 
VI.  Ausgewählte  Reden  des  Fürsten  von  Bismarck  III,    1878 — 1881. 

H.  von  Poschinger,  Fürst  Bismarck  als  Volkswirt,  5  Bände,  1889/90. 

Die  Handelspolitik  des  Deutschen  Reiches  vom    Frankfurter  Frieden    bis  zur 
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H.    von    Festenberg   Packisch,    Deutsche    Zoll-  und    Handelspolitik    1873  — 1877, 

1879. 
M.  Sering,  Geschichte   der   preußisch-deutschen   Eisenzölle   von   1818  bis   zur  Gegen- 
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O.  V.  Aufseß,  Die  Zölle,  Steuern  und  vertragsmäßigen  auswärtigen  Handelsbeziehungen 

des  Deutschen  Reiches.     Annalen  des  Deutschen  Reiches.   1880. 
C.  Heiß,   Die  großen  Einkommen  in  Deutschland.     Ann.  d.  D.  R.,   1893. 
R.  Martin,  Die  Eisenindustrie  in  ihrem  Kampf  um  den  Absatzmarkt,   1904. 
W.  V.  Kardorff,  Gegen  den  Strom,    1878. 

W.   Lotz,  Die  Ideen  der  deutschen  Handelspolitik  von   1860 — 1891,   1892. 
Alexander  Peez,  Die  amerikanische  Konkurrenz,    1881. 
Rudolf  Meyer,   Ursachen  der  amerikanischen  Konkurrenz,   1883. 
Derselbe,   Heimstätten-  und  andere  Wirtschaftsgesetze  der  Vereinigten  Staaten  usw., 

1883. 
M.  Sering,  Die  landwirtschaftliche  Konkurrenz  Nordamerikas,   1887. 
H.  Semler,  Die  wahre  Bedeutung    und    die  wirklichen  Ursachen    der   amerikanischen 

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J.  Wolf,  Tatsachen   und   Aussichten   der    ostindischen    Konkurrenz    im  Weizenhandel 

1886. 
J.  Croner,  Die  Geschichte  der  agrarischen  Bewegung  in  Deutschland,   1909. 
Fr.  Engels,  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England,  Vorwort,  2.  Aufl.,    1892. 
G.  Tuch,  Die  Sonderstellung  der  deutschen  Freihäfen,   1878. 
Derselbe,  Sonderstellung  und  Zollanschluß  Hamburgs,  Schm.  J.  B.   1882. 
H.  V.  Treitschke,  Der  letzte  Akt  der  Zollvereinsgeschichte,   2.  Aufl.,   1880. 
Theodor  Hansen,    Hamburg    und    die   zollpolitische    Entwicklung    Deutschlands    im 

19.  Jahrhundert,    19 13. 
VII.  F.  Mehring,  Die  deutsche  Sozialdemokratie,   1879. 
Zwölf  Jahre  Sozialistengesetz,   1890. 
Nach  zehn  Jahren,  Material  und  Glossen  zur  Geschichte  des  Sozialistengesetzes,  London 

1889. 


•376  V.  Abschnitt.     Die  Volkswirtschaft  des  Deutschen  Reichs   187 1  — 1890. 


H.  von  Scheel,  Die  Theorie  der  sozialen  Frage,   187 1. 

Derselbe,  Unsere  sozialpolitischen  Parteien,   1878. 

L.  Bamberger,  Deutschland  und  der  Sozialismus,   1878. 

Dr.  Zacher,  Die  rote  Internationale,   1884. 

Fr.  Engels,  Ludwig  Feuerbach,   1888. 

O.  Atzrott,    Sozialdemokratische    Druckschriften    und  Vereine,    verboten   auf    Grund 

des  Reichsgesetzes,   1886. 
"W.  Krieter,  Die  Geheime  Organisation  der  sozialdemokratischen  Partei,   1887. 
J.  Corwey,  Die  deutsche  Sozialdemokratie  unter  dem  Ausnahmegesetze,   1884. 
T.  de  Wyzewa,  Die  sozialistische  Bewegung  in  Europa,   1892. 
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Derselbe,  Der  internationale  Sozialismus  von   1885  — 1890,   1891. 
W.  Lexis,  Kathedersozialismus.     Hw.  d.  Stw.    1910,  Bd.  V. 
L.  Pohle,  Politik  und  Nationalökonomie.     Zeitschr.  f.  Sozialwissenschaft,    19 10. 
H.  V.  Treitschke,  Der  Sozialismus  imd  seine  Gönner,   1875. 

G.  Schmoller,  Über  einige  Grundfragen  des  Rechts  und  der  Volkswirtschaft,   1875. 
A.  Fleischmann,  Die  Arbeiteragitatoren  des  Kathedersozialismus,    1884. 

A.  Schaf fle.  Die  Quintessenz  des  Soziahsmus,   1879. 
Derselbe,  Die  Aussichtslosiglceit  der  Sozialdemokratie,   1885. 

Frh.  V.  Ketteier,  Entwurf    zu    einem    politischen  Programm  für  die  Katholiken  im 

Deutschen  Reiche,   1873,   5-  -^"fl- 
Derselbe,    Die   Arbeiterfrage    und    das    Christentum,    1890.      4.    Aufl.      Einl.    von 

Windthors  t. 
Reden  und  Aufsätze  von  Adolf  Stock  er,  herausg.  von  R.  Seeberg,   19 13. 
H.  B.  Oppenheim,  Hilfs-  und  Versicherungskassen    der    arbeitenden  Klassen,    1875. 
M.  Hirsch,  Die  gegenseitigen  Hilfslcassen,   1876. 
L.  Brentano,  Die  Arbeiterversicherung,   1879. 
v.  Landmann.  Arbeiterschutzgesetzgebung  (Deutschland).     Hw.  d.  Stw.  Bd.  I. 

C.  Bornhak,  Die  deutsche  Sozialgesetzgebung,   1900. 

Honigmann  und   Manes,   Arbeiterversicherung  (Deutschland).     Hw.  d.  Stw.  Bd.  L 

L.  Laas  u.  F.  Zahn,  Einrichtung  und  Wirkung  der  deutschen  Arbeiterversicherung, 
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Die  Reichsversicherungsordnung,  Handausgabe  von  Manes  usw.,   191 2. 

J.  Schmöle,  Die  sozialdemokratischen  Gewerkschaften,   1896. 

W.  Kulemann,  Gewerkvereine  (Deutschland).  Hw.  d.  Stw.,  Bd.  IV,  mit  Literatur- 
angabe. 

VIII.  Deutsche  Kolonialzeitung  bis  zur  Gegenwart. 

D.  Fr.  Fabri,  Bedarf  Deutschland  der  Kolonien?      1879. 
Derselbe,  Ein  dunkler  Punkt,    1880. 

E.  v.  Weber,    Vier  Jahre  in  Afrika,   1871  — 1875,   1878. 
Derselbe,  Die  Erweiterung  des  deutschen  Wirtschaftsgebietes,    1879. 

C.  G.  Büttner,  Das  Hinterland  von  Walfischbai  und  Angra  Pequena,    1884. 

B.  Schwarz,  Ein  deutsches  Indien,   1884. 

Dr.  Charpentier,  Entwicklungsgeschichte  der  Kolonialpolitik  des  Deutschen  Reichs, 

1886. 
A.  Sartorius  v.  Waltershausen,  Die  Zukunft  des  Deutschtums  in  den  Vereinigten 

Staaten,   1895. 
Derselbe,  Hw.    d.    Stw.     VI.  Art.     Negerfrage   mit    Literatur  über    die   afrikanische 

Arbeiterfrage, 
v.  Wißmann,  Afrika,  Schilderungen  und  Ratschläge,    1903. 

C.  Peters,  Die  Gründung  von  Ostafrika,    1906. 


Literatur.  ,  -  .7 

B.  Dernburg,  Die  deutschen  Kapitalinteressen  in  den  deutschen  Schutzgebieten,  1907. 

H.  ßöttger,  Die  neue  Ära  der  deutschen  Kolonialpolitik,   1907. 

M.  Fleischmann,  Die  Verwaltung  der  deutschen  Kolonien,   1909. 

Deutschland  als   Kolonialmacht,  herausg.  von   P.   Leutwein,    1914. 

Denkschriften  des  Kolonialamtes. 

Die    Kolonien    der    europäischen    Mächte    und    der  Vereinigten  Staaten    von    Amerika, 

herausg.  von  der  Deutschen  Kolonialgesellschaft. 
O.  Jöhlinger,   Die  koloniale  Handelspolitik  der  Weltmächte,    19 13. 
A.  Zimmermann,  Geschichte  der  deutschen  Kolonialpolilik,   1914. 
P.  Rohrbach,  Deutsche  Kolonialwirtschaft,   1909. 
K.  Herrfurt,  Bismarck  und  die  Kolonialpolitik,    1909. 
Schrameier,  Kiautschou,  seine  Entwicklung  und  Bedeutung,    191 5. 
V.   Grapow,  Die  deutsche  Flagge  im   Stillen  Ozean,    1916. 
V.  Valentin,  Kolonialgescbichte  der  Neuzeit,   1915,  mit  Literatur. 
W.  H.  Solf,    Die  deutsche  Kolonialpolitik,  Sammelwerk  „Deutschland  und  der  Welt- 

krieg",    1915. 
Derselbe,  Kolonia'politik.  Mein  politisches  Vermächtnis,   1919. 


VI.  Abschnitt. 
Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

I.  Einleitung.  Das  ökonomische  Zeitalter.  Die 
25  Jahre  deutscher  Geschichte,  von  1890 — 191 4,  waren  gegenüber 
den  beiden  vorausgehenden  Jahrzehnten  eine  neue  Zeit.  Sie  hatten 
ihren  Schwerpunkt  weniger  in  politischen  Ereignissen,  als  in  privat- 
und  sozialwirtschaftlichen  Tatsachen  unter  dem  Heraufkommen 
großen  Reichtums.  In  der  verflossenen  Periode  war  der  neuge- 
wonnenen staatlichen  Macht  eine  umfassende  volkswirtschaftliche 
Gesetzgebung  entsprungen.  Es  lag  keine.  Veranlassung  vor,  von 
der  bewährten  Richtung  dieser  Normen  abzuweichen.  Nur  in  der 
Handelspolitik  wurde  der  Versuch  dazu  gemacht,  der  indessen  nach 
einem  Jahrzehnt  scheiterte.  Auf  den  Ausbau  der  sozial-  und 
verkehrspolitischen  Gesetze  nach  1890  wurde  im  vorigen  Abschnitt 
schon  hingewiesen.  In  Einzelheiten  wird  das  Reichsfinanzwesen 
reformiert,  neu  sind  das  Börsengesetz  und  dasjenige  über  die  Be- 
aufsichtigung  der   Auswanderung. 

Ein  starkes  Bindemittel  in  der  Form  des  Zusammengehörig- 
keitsgefühls brachte  dem  deutschen  Einheitsgedanken  das  Bürger- 
liche Gesetzbuch,  das  am  i.  Januar  1900  im  ganzen  Reich  einge- 
führt wurde.  1873  war  der  Antrag  Laskers  über  eine  einheit- 
liche Rechtsgestaltung  angenommen  worden.  Nach  dem  Erlaß 
des  Strafgesetzbuches  von  1871  waren  das  Prozeßverfahren  und 
die  Gerichtsverfassung  schon  Ende  der  siebziger  Jahre  geregelt 
worden.  Das  Reichsgericht  in  Leipzig  hatte  mit  seinen  Entschei- 
dungen die  allgemeine  Rechtsprechung  beeinflußt.  20  Jahre  wurde 
an  dem  B.G.B.  gemeinsam  von  Praktikern  und  Theoretikern  ge- 
arbeitet, und  manche  Gegnerschaft  der  Einzelstaaten  konnte  nur 
schrittweise  überwunden  werden.  1894  war  das  große  Werk  in 
seinem  dritten  Entwurf,  in  dem  die  weitgehendsten  Gegensätze 
zwischen  dem  römischen  Recht  und  den  Bedürfnissen  der  Gegen- 
wart leidlich  ausgeglichen  worden  waren,  endlich  geglückt,  und 
die  zwei  folgenden  Jahre  dienten  den  Arbeiten  im  Reichstag.  In 
der  Kommission  erfolgten  einige  wichtige  Abänderungen  über  Ehe- 
recht,    Vereinsrecht    und     Testamentsform.      Im     Plenum     redete 


I.  Einleitung.     Das  ökonomische  Zeitalter.  379 

man  lebhaft  eigentlich  nur  über  Zivilehe,  Ehescheidungsgründe  und 
—  über  den  Hasenschaden  auf  den  Feldern. 

In  der  deutschen  Verkehrswirtschaft  wurden  durch  das  Ein- 
heitsrecht ungezählte  Hemmungen  beseitigt,  was  auch  der  Güter- 
herstellung zugute  kommen  mußte.  Die  einzelnen  aufgestellten 
Rechtssätze  befriedigten  nicht  durchweg,  aber  größtenteils,  und 
die  Eingewöhnung  in  sie  vollzog  sich  mit  ruhiger  Sicherheit.  Neue 
große  Rechtsgedanken  sind  in  dem  Gesetzbuche  nicht  enthalten, 
da  es  im  wesentlichen  eine  Darstellung  bringt,  die  auf  die  gemein- 
rechtlichen Anschauungen  der  achtziger  Jahre  abgestimmt  ist.  1897 
erhielt  auch  das  Handelsgesetzbuch  einige  dem  neuen  Wirt- 
schaftsleben entsprechende  Ergänzungen  —  Agenturwesen,  Aktien- 
gesellschaften, Lagergeschäft  ~  und  nahm  mit  dem  Schutz  der 
Handlungsgehilfen  und  Lehrlinge  eine  soziale  Tendenz  in  sich  auf. 
Ein  Teil  der  alten  Bestimmungen  des  Gesetzes  wurde  in  das  B.G.B. 
.übergeführt. 

Die  Entlassung  des  Fürsten  von  Bismarck  aus  dem 
Amte  des  Reichskanzlers  bedeutete,  wie  man  das  damals  allgemein 
aussprach,  einen  neuen  Kurs  in  der  Politik.  Das  stimmte  in  einiger 
Hinsicht  für  die  innere  Verwaltung,  auf  die  in  dem  nächsten  Kapitel 
eingegangen  werden  soll.  Für  die  auswärtige  Politik  läßt  sich  der 
Ausdruck  nur  in  beschränkter  Weise  anwenden,  da  sie  eigentlich 
ohne  Kurs  gewesen  ist.  Sie  wird  in  ihrem  Ziel  immer  unsicherer, 
will  es  mit  keinem  verderben  und  drängt  damit  Deutschland  aus 
dem  Kreis  der  entscheidenden  Mächte  heraus.  Sie  verfeindet  sich 
sov/ohl  mit  England  als  auch  mit  Rußland,  statt  sich  mit  einem 
von  beiden  bei  der  ungebrochenen  Revanchelust  der  Franzosen 
gutzustellen  oder  zu  verbünden.  Das  Ergebnis  des  Zauderns  und 
der  verpaßten  Gelegenheiten  war  der  Weltkrieg,  in  dessen  Aus- 
gang  sich   die   deutsche   Ziellosigkeit   furchtbar   gerächt  hat. 

Der  Dreibund,  das  große  Erbe  der  früheren  Staatskunst, 
garantiert  einstweilen  noch  die  Ruhe,  aber,  nachdem  mit  Rußland 
der  Rückversicherungsvertrag  gelöst  ist  —  mit  dem  das  Zaren- 
reich die  Neutralität  Deutschland  zusichert,  wenn  dieses  von 
Frankreich  angegriffen  wird,  während  Deutschland  neutral  bleibt, 
wenn  Österreich-Ungarn  Rußland  angreift  — ,  durch  den  neuen 
Reichskanzler  von  C  a  p  r  i  v  i ,  dem  dies  Verhältnis  zu  kompliziert 
ist,  alliieren  sich  das  demokratische  Frankreich  und  das  absolut 
monarchische  Rußland,  das  von  jenem  Milliarden  über  Milliarden 
empfängt,  um  sich  für  den  Krieg  nach  Westen  vorzubereiten.  Daß 
militärischer  Ruhm  und  Revanche  für  Sedan  das  Wichtigste  in 
dem  Leben  der  gallischen  Nation  waren,  hätten  die  Deutschen 
daraus   lernen   sollen,   daß   die   sparsamen   Franzosen   eine   erheb- 


2  8o  VI.  Abschnitt.       Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

liehe  Quote  ihrer  Erübrigungen  jährlich  opferten,  und  daß  unter 
der  Allianz  die  russische  Autokratie  ihrem  republikanischen  Emp- 
finden nicht  im  geringsten  anstößig  war. 

Während  des  spanisch-amerikanischen  Krieges  und  während 
des  Burenkrieges  wird  eine  unklare  Gefühlspolitik  von  den  deut- 
schen Staatsmännern  getrieben,  die  die  Nordamerikaner  wie  die 
Engländer  gegen  das  Reich  aufbringt  und  von  beiden  als  etwas 
Feindseliges  ausgelegt  und  nicht  vergessen  worden  ist.  Dann  folgt 
die  Einkreisung  König  Eduards  VII.,  die  Deutschland  völlig 
isolieren  soll  und  Italien  wankelmütig  macht.  Der  japanisch-rus- 
sische Feldzug  schiebt  die  Gefahr  für  das  Reich  noch  einige  Jahre 
hinaus.  Der  Marokkostreit  ist  ein  Vorbote  der  kommenden  Dinge, 
in  Algeciras  wird  es  von  der  Gegenkoalition  diplomatisch  ge- 
schlagen. Der  Balkankrieg  geht  mit  seiner  Verörtlichung  noch 
glücklich  vorüber,  da  Rußland  mit  seiner  Rüstung  noch  nicht 
fertig  ist. 

Der  lange  Friede  brachte  eine  beispiellos  rasche  wirtschaft- 
liche Entwicklung,  die  in  der  Übertreibung  des  Industrialismus 
und  Kapitalismus  eine  nicht  unangezweifelte  Gabe  gewesen  ist.  Sie 
führte  mit  Notwendigkeit  zu  einer  weltwirtschaftlichen  Ausbreitung 
durch  Außenhandel,  Auslandskapital,  Auslandsbanken,  zu  strafferer 
Verwaltung  der  Kolonien,  zu  erhöhtem  Schutz  der  Auslandsdeut- 
schen. Das  alles  konnte  zwar  von  großem  Nutzen  sein,  wenn  es 
glückte,  mit  England  sich  zu  verständigen.  Man  berauschte  sich 
an  den  gewonnenen  Ergebnissen  der  Güterherstellung,  ohne  die 
Gefahr  zu  erkennen,  die  man  damit  heraufbeschwor.  England, 
das  das  ganze  Jahrhundert  die  wirtschaftlichen  Fortschritte 
Deutschlands  scheel  angesehen  hatte,  wurde  dessen  Feind,  je  mehr 
die  Wirtschaftskräfte  Deutschlands  erstarkten  und  je  größer  die 
deutsche  Kriegsflotte  wurde.  Ihr  Aufbau  unter  zeitgemäßer  Tech- 
nik entsteht  durch  das  persönliche  Eingreifen  des  Kaisers  und 
wird  durch  die  politische  Geschicklichkeit  des  Fürsten  Bülow 
ermöglicht.  Die  Flotte  soll  so  stark  werden,  daß  sie  allen  ein- 
zelnen feindlichen  Staaten  gegenüber  eine  achtungsgebietende 
Macht  ist.  Gegen  England  ist  sie  ausschließlich  als  Verteidigungs- 
waffe gedacht,  um  Deutschlands  Gestade  gegen  einen  Überfall  zu 
sichern,  und  daher  bedeutete  diese  Wehr  für  das  deutsche  Volk  ein 
neues  nationales  Ziel,  dem  sich  keine  Partei,  außer  der  sozialdemo- 
kratischen, verschließen  wollte.  In  England  hat  man  an  diese 
Defensive  nie  glauben  wollen  und  hielt  die  eigene  insulare 
Lage  für  immer  mehr  gefährdet,  wenn  Deutschland  seine  Flotte 
um  einige  Schiffe  vermehrte.  War  daher  eine  Verständigung  nicht 
möglich,  so  galt  es  wenigstens  für  das  Reich,  um  den  Rang  inner- 


I.  Einleitung.     Das  ökonomische  Zeitalter.  ßgl 


halb  der  europäischen  Staaten  zu  behaupten,  den  Anschluß  an 
Rußland  zu  suchen.  Auch  das  ist  nicht  geschehen  oder  nicht  ge- 
glückt. Hätte  man  sich  mit  England  geeinigt,  so  brauchte  deshalb 
die  überseeische  Politik  nicht  vernachlässigt  zu  werden.  Sie  konnte 
aber  nur  segensreich  werden,  wenn  sie  in  der  gesamten  auswärtigen 
Politik  fundiert  war,  daher  sie  der  erste  Kanzler  des  Reiches  mit 
so  großer  Mäßigung  verwaltete.  Will  man  die  auswärtige  Politik 
Deutschlands  vom  Standpunkt  der  Schwäche  des  einseitigen  In- 
dustrielandes aus  würdigen,  so  wird  man  sie  von  dem  Bedürfnis 
nach  Siedelungsland  orientiert  sein  lassen.  Suchte  man  dieses  in 
Osteuropa,  so  mußte  man  sich  mit  England  dauernd  vertragen, 
also  von  einer  großen  Flotte  Abstand  nehmen,  sollte  es  in  über- 
seeischen Besitzungen  gesucht  werden,  so  brauchte  man  Anschluß 
an  Rußland  und  eine  starke  Flotte. 

„Was  Du  ererbt  von  Deinen  Vätern  hast,  erwirb  es,  um  es 
zu  besitzen",  dies  Wort  hatte  nicht  bloß  hier,  sondern  auch  im 
Verhältnis  zu  Österreich-Ungarn  zu  gelten.  Denn  dieser  habs- 
burgische  Kaiserstaat,  den  eigentlich  nur  noch  die  Persönlichkeit 
des  alten  Kaisers  zusammenhielt,  zersetzte  sich  in  seinen  natio- 
nalistischen Streitigkeiten  zusehends.  Das  Bündnis  mit  ihm  verlor 
täglich  an  Wert,  je  mehr  die  Auflösung  fortschritt.  Statt  zu  einer 
Neuorientierung  in  der  Politik  zu  greifen,  ließ  sich  das  auswärtige 
Amt  in  Berlin,  dem  man  zudem  vorwarf,  daß  es  unter  einer  Doppel- 
regierung leide  und  sich  durch  Entsendung  unfähiger  Diplomaten 
auszeichne,  von  den  Österreichern  hinhalten,  mit  denen  man  wahr- 
haftig das  ganze  Jahrhundert  hindurch  keine  guten  Erfahrungen 
gemacht  hatte.  Wie  sehr  Bismarck  davon  überzeugt  war,  daß  das 
Bündnis  mit  der  Donaumonarchie  nur  für  eine  bestimmte  Zeit 
passend  sei,  kann  man  in  seinen  „Gedanken  und  Erinnerungen'" 
nachlesen.  Er  konnte  nicht  voraussehen,  was  alles  die  Zukunft 
bringen  werde,  aber  die  Schwächen  und  Gefahren,  die  der  Alliierte 
besaß  und  von  ihm  drohten,  sind  in  seinen  warnenden  Worten  aufs 
deutlichste  enthalten.  Die  Revision  des  deutsch-österreichischen 
Vertrages  war  mindestens  geboten,  statt  unter  dem  Stichwort  der 
„Nibelungentreue"  durch  dick  und  dünn  mit  einem  zweifelhaften 
Verbündeten  zu  gehen. 

Jetzt,  nach  dem  für  Deutschland  unglücklich  ausgehenden 
Weltkrieg,  erfüllt  der  Zusammenbruch  des  Bismarckschen  Werkes 
alle  wahren  Patrioten  mit  tiefstem  Leid.  Wir  müssen  uns  sagen 
lassen,  daß  jene  Epoche  der  wehrhaften,  aufbauenden,  erfolg- 
reichen Staatskunst  als  Grundlage  eines  organisch  fortzubildenden 
Dauerwerkes  vergeblich  gewesen,  daß  Deutschland  zu  einer  Ohn- 
macht wieder  verurteilt  ist,  wie  es   sie  nach  Karl  und  Otto   dem 


ß82  ^I-  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

Großen,  nach  den  staufischen  Kaisern,  nacl^  dem  an  die  Refor- 
mation sich  anschließenden  dreißigjährigen  Krieg,  nach  Friedrich 
dem  Großen,  also  nach  Höhepunkten  des  politischen  und  geistigen 
Lebens,  hat  erdulden  müssen.  Das  ist  freilich  nur  zu  wahr,  aber 
dennoch  kann  das,  was  diese  Männer  leisteten,  die  immer  den 
deutschen  Sondergeist  zu  bändigen  und  zu  leiten  wußten,  als  ein 
unschätzbares,  vorbildliches  Gut  festgehalten  werden.  Versenken 
wir  uns  in  den  Gedanken  Zarathustras,  den  Ring  der  Ewigkeit,  so 
erleben  jene  hohen  Zeiten  eine  ewige  Wiederkunft  oder  sind  un- 
zerstörbar und  ebenso  Selbstzweck  in  dem  Ganzen  wie  alles  andere 
Geschehen.  Es  ist  ein  ähnlicher  Trost,  wie  ihn  Schiller  dem 
großen  Augenblick  in  seiner  Vergänglichkeit  verliehen  hat,  der 
sich  seines  Namens  Ewigkeit  vorausnimmt: 

„Denn  wer  den  Besten  seiner  Zeit  genug 
getan,  der  hat  gelebt  für  alle  Zeiten." 

Im  Inneren  Deutschlands  verfügte  die  Gesellschaft  über  einen 
reichen,  aufgespeicherten  Schatz  von  wirtschaftlichen  Mitteln.  Ihn 
jetzt  nutzbar  zu  machen,  wird  die  bewußte  Aufgabe.  Alle  Welt  ist 
so  in  Wirtschaftswillen  befangen,  daß  sich  der  Gedanke  des 
Bremsens  ganz  dem  Gesichtsfelde  entrückt.  Es  ist  eine  Periode 
einzig  in  ihrer  Art,  und  es  bleibt  fraglich,  ob  sie  je  wiederkehren 
wird.  Der  neue  große  Reichtum  hat  sich  in  allen  Klassen  der  Ge- 
sellschaft sein  Lager  bereitet.  Die  Masse  der  Bevölkerung,  Lohn- 
arbeiter in  Stadt  und  Land,  Handwerker  und  Kleinbauern,  An- 
gestellte mit  privater  und  öffentlicher  Verpflichtung,  Kleinkäuf- 
leute, Wirte,  Transportbesorger  aller  Art,  persönlichen  Dienst 
Leistende  haben  durch  reichlichere  Lebenshaltung  gewonnen,  durch 
bessere  Wohnung,  Ernährung,  Kleidung,  durch  öffentliche  Hygiene 
sich  physiologisch  gehoben.  Auch  in  den  höheren  Mittelklassen 
bringt  die  Wohlhabenheit  gute  Früchte,  wenn  auch  daneben  nicht 
zu  verkennen  ist,  daß  die  Überschätzung  der  materiellen  Lebens- 
güter die  Wertung  der  geistigen  zurückdrängt.  Noch  mehr  ist 
letzteres  der  Fall  in  den  obersten  großstädtischen  Schichten,  die 
sich  in  einem  raffinierten  Luxus  ergehen,  dem  kein  gesteigertes 
körperliches  und  seelisches  Gutbefinden  entsprechen  kann.  Sie 
sind  ebensoweit  von  der  Lebensweisheit  entfernt,  daß  das  Glück 
in  dem  Sich-selbst-Genügen  liegt,  wie  die  politische  Anschauung 
des  Tages  von  dem  Wert  der  Autarkie  für  die  vom  Feinde  be- 
drohte Volkswirtschaft  unter  der  berauschenden  Statistik  des 
Außenhandels. 

Eine  Nation,  die  im  ganzen  so  wohlhabend  wird,  ist  durch- 
aus  friedlich   gesonnen.    Sie   wollte   die   drohenden   Wolken   nicht 


I.  Einleitung.     Das  ökonomische  Zeitalter.  383 

sehen,  die  sich  am  Horizont  der  auswärtigen  Politik  auftürmten. 
Warnende  Stimmen  wurden  überhört,  und  man  tröstete  sich  da- 
mit, daß  gesteigertes  wirtschaftliches  Wohl  vermehrte  Wehrkraft 
wäre,  was  aber,  ganz  abgesehen  von  der  Unzulänglichkeit  des 
Beweisgrundes,  im  Hinblick  auf  die  wachsende  Abhängigkeit  vom 
wirtschaftlichen  Auslande,  zu  allgemein  gedacht  worden  war.  Die 
Landarmee  wurde  zwar  von  Zeit  zu  Zeit  vergrößert,  aber  von  einer 
praktisch  durchgeführten  allgemeinen  Wehrpflicht  konnte  kaum 
mehr  die  Rede  sein,  selbst  nachdem  an  die  Stelle  der  dreijährigen 
die  zweijährige  Dienstzeit  getreten  war.  Die  Opposition  tat  so,  als 
ob  das  Reich  die  Militärlast  kaum  mehr  zu  tragen  vermöge,  obwohl 
es  täglich  reicher  wurde,  wenn  auch  nicht  an  Staatsfinanzen,  da 
die    Steuertechnik   rückständig   blieb. 

Die  innere  Politik  des  ganzen  Zeitraumes  ist  arm  an  neuen 
Gedanken  und  Zielen  und  entbehrt  des  fruchtbaren  Ausgleichs 
unter  den  Berufsständen.  Die  Verständigung  zwischen  Landwirt- 
schaft und  Industrie,  das  „politische  Kartell"  Bismarcks,  geht 
unter  seinem  ersten  Nachfolger  verloren,  der  „Bülowsche  Block" 
bringt  nur  vorübergehend  ein  Ergebnis  für  die  Landesverteidigung 
und  die  Kolonien,  da  die  zu  weit  gespannte  Brücke  zwischen 
rechts  und  links  ohne  Mittelpfeiler  die  Belastung  nicht  erträgt. 
Die  Parteien  bekämpfen  sich  in  unendlichem,  verbitterndem  Streit, 
wobei  die  Volksvertretung  an  Ansehen  einbüßt.  Sachverständige 
Männer  werden  im  Reichstag  selten,  schön  redende  Berufsparla- 
mentarier bieten  keinen  Ersatz.  Hamburg  z.  B.,  die  größte  Han- 
delsstadt des  europäischen  Festlandes,  entsendet  nur  Sozialdemo- 
kraten nach  Berlin.  Die  Großindustrien  entbehren  der  sie  ver- 
teidigenden Volksvertreter.  Die  Verhandlungen  erschöpfen  sich  oft 
in  zu  eiligen,  juristisch  und  sachlich  unklaren  Vereinbarungen, 
damit  nur  die  Volksboten,  unter  denen  immer  weniger  Ernst- 
arbeiter sind,  nach  einem  behaglichen  Dasein  in  der  vergnügungs- 
reichen Hauptstadt,  wo  ihnen  seit  1906  die  Tagegelder  aus  der 
Reichskasse  nicht  mehr  wie  ehedem  vorenthalten  sind,  um  sie 
wenigstens  zu  der  Teilnahme  an  den  Sitzungen  zu  bewegen,  recht- 
zeitig in  die  Ferien  gehen  können. 

Die  höchste  Intelligenz  und  der  zähe  schaffende  Wille  des 
deutschen  Volkes  steckt  im  Wirtschaftsleben  und  in  der  praktisch 
verwendbaren  Wissenschaft.  Die  Kongreßberichte  der  Indus- 
triellen, der  Bankiers,  der  Gelehrten  würden  davon  schon  genug 
Kunde  geben,  wenn  nicht  Chroniken  und  Statistiken  gleichzeitig 
das  Neugeschaffene  aufgezeichnet  hätten. 

Die  geistige  Bildung  wird  durch  das  allgemeine  zielbewußte 
Erwerben  und  durch  den  Reichtum  bis  in  die  Wolle  gefärbt.   Dem 


284  ^^-   Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

Öffentlichen  Unterricht  in  Volksschule,  Gymnasium  und  Universität 
strömt  der  quantitative  Aufwand  für  Lehrstätten,  Lehrer  und  Lehr- 
mittel zu.  Von  187.1  — 19 II  vermehrt  sich  die  Zahl  der  Volks- 
schulen in  Preußen  von  33130  auf  38684,  und  auf  einen  Lehrer 
kommen  82,9  bzw.  56,3  Schulkinder,  während  auf  100  Schulen  141 
bzw.  301  Lehrer  entfallen.  1913  besitzt  Deutschland  nur  0,4  %o 
Analphabeten,  Frankreich  30,  Italien  306.  Auf  den  höheren  Schulen 
wird  die  Richtung  auf  die  Berufsvorbildung  begünstigt.  Die  Natur- 
wissenschaften laufen  den  Geisteswissenschaften  den  Rang  ab.  Der 
Altphilologe  verliert  seinen  Einfluß  auf  die  heranwachsende  Jugend 
und  wird  auf  die  Sorge  um  seinen  eigenen  Nachwuchs  hingewiesen. 
Die  jungen  Juristen  glauben  nach  Einführung  des  neuen  Rechts 
der  lateinischen  Pandektenvorbereitung  nicht  mehr  zu  bedürfen. 
Die  klassischen,  antiken  Ideale,  die  schon  mit  der  Erstarkung  des 
Deutschtums  unter  der  Reichsgründung  verblaßten,  sind  um  so 
schwerer  zu  beleben,  je  mehr  die  alten  Sprachen  durch  die  prak- 
tische Nachfrage  nach  neuzeitlichen  den  intensiven  Unterricht  in 
der  Schule  nicht  behaupten  können.  Der  Glaube  an  die  formale 
Bildungsfähigkeit  des  Lateinischen  wird  untergraben  in  dem  Maße, 
als  die  Ersatzmittel  Vertrauen  genießen.  Der  Kaiser  setzt  sich  für 
den  veränderten  Lehrgang  ein,  und  die  Errungenschaften  des  rasch 
fortschreitenden  Wirtschaftslebens  scheinen  ihm  Recht  zu  geben. 
Die  Universitäten  mit  13997  Studenten  um  1869  zählen  deren  um 
1913  60095.  Die  neuen  Hochschulen  für  Technik,  Landwirtschaft, 
Bergbau,  Forstwesen  werden  den  alten  gleichwertig,  und  die  Han- 
delshochschulen nehmen  den  gleichen  Anlauf  dazu.  Der  Universitas 
tritt  der  Spezialismus  entgegen.  Die  Fürsorge  der  Regierungen 
für  neue  medizinische,  chemische,  physikalische  und  sonstige  natur- 
wissenschaftliche Anstalten  macht  sich  in  dem  Staatshaushalt  an- 
schaulich, während  die  Gelder  für  die  alten  führenden  Einrich- 
tungen nur  langsam  und  zögernd  vorgeschlagen  und  bewilligt 
werden.  Der  Dr.  ing.  tritt  zu  den  alten  gelehrten  Graden  der  Aus- 
zeichnung hinzu.  Frankfurt  a.  M.  wird  als  neue  Universität  ge- 
gründet, auf  privaten  Mitteln  als  einem  Zeichen  des  Reichtums. 
Niemals  haben  die  Universitätslehrer  größere  Freiheit  des  Lehrens 
und  Schreibens  genossen,  als  in  dem  hier  besprochenen  Zeitraum. 
So  segensreich  dies  für  die  Wissenschaft  war,  ihr  Grund  lag  we- 
niger in  einer  hochherzigen,  toleranten  Politik,  als  in  einer  Kon- 
fliktscheu, die  immer  eine  Schwäche  des  Staates  ist. 

Das  künstlerische  Leben  der  Nation  kann  und  will  sich  der 
tonangebenden  Technik  nicht  entziehen.  Das  Kunstgewerbe  nutzt 
die  Vielartigkeit  der  Stoffe  und  der  maschinellen  Herstellung  aus 
und   wirft    Bücher   mit    reich   ausgestaltetem    Schmuck  und   billige 


I.  Einleitung.     Das  ökonomische  Zeitalter.  ^85 

Bildreproduktionen  von  großer  Vollendung  auf  den  Markt.  Die 
Textilmuster,  die  Tapeten,  das  Plakat  zeichnen  sich  durch  künstle- 
rische Entwürfe  aus.  Selbständige  Kunstgewerbeausstellungen  üben 
faszinierende  Anziehung  auf  die  Massen  aus,  da  sie  die  Luxus- 
wünsche jeder  Abstufung  zu  befriedigen  imstande  sind,  wenn  sie 
nur  das  Prädikat  des  Modernen  als  Reklameschild  auszuhängen 
wissen.  Der  kunstgewerbliche  Anhang  der  Kunstausstellungen 
nimmt  immer  weiteren  Raum  ein,  um  zu  beweisen,  daß  die  Fabrik 
der  individuellen  Fertigkeit  nicht  nachstehen  will.  Der  deutsche 
Werkbund  ist  eine  Vereinigung  von  Industriellen,  Kaufleuten, 
Künstlern  und  Kunstindustriellen,  die  das  Zusammenarbeiten  von 
Kunst  und  Industrie  sich  zum  Ziele  genommen  hat.  Die  Museen 
füllen  sich  mit  Altertümern,  an  denen  sich  das  Stilgefühl  bilden 
soll.  Man  powert  zu  dem  Zweck  das  Schloß,  das  Bauernhaus,  die 
Kirchen  aus,  in  der  sozialen  Befangenheit,  der  Großstadt  auf  solche 
Weise  zu  einer  Veredelung  zu  verhelfen. 

Es  ist  ein  Zeichen  der  Zeit,  die  Unterdrückung  der  Qualität 
zugunsten  der  Quantität,  der  geistigen  Originahtät  durch  verblüf- 
fendes maschinelles  Können.  Musikinstrumente,  wie  Grammo- 
phone und  Pianolas,  Theaterausstattungsstücke  mit  Beleuchtungs- 
effekten und  Massenaufgebot  von  Statisten,  Kinematographen  mit 
ihren  in  Minuten  sich  vollziehenden  Schauerromanen  machen  dem 
Klaviervirtuosen,  der  alten  harmlosen  und  doch  gediegenen  Volks- 
posse,   dem    geistreichen    Lustspiel   erfolgreiche    Konkurrenz. 

Für  öffentliche  Bauten,  Kirchen,  Brunnen,  Denkmäler  ist  ge- 
nug Geld  vorhanden.  Nur  hier  und  da  glückt  dem  Architekten 
oder  dem  Bildhauer  der  Wurf.  Seit  1900  wird  man  im  Bau  etwas 
einfacher  und  wendet  sich  gegen  die  Überschätzung  der  nach- 
geahmten Stilformen.  Neu  ist  die  Verbindung  von  Eisen  und  Stein 
in  den  Riesenwerken  der  Bahnhöfe  und  Kaufhäuser,  die  durch  ihre 
Bogenspannungen  und  Tausende  von  Menschen  fassenden  Hallen 
imponiert.  Das  Wertheimsche  Warenhaus  Messeis  in  Berlin 
verbindet  damit  die  edle  Form,  die  ein  Vorbild  auch  für  andere 
Städte  geworden  ist.  Es  ist  das  Warenhaus  eine  Neukonstruktion 
für  seinen  Handelszweck,  die  die  Stockwerktrennung  überwindet 
und  in  dem  Innenraum  mit  gewaltiger  Höhe  den  zusammenhängen- 
den, übersichtlichen  Betrieb  gestattet.  Auch  die  Warenhäuser 
T  i  e  t  z  und  Oberpollinger  in  München  haben  gelungene  Archi- 
tektonik und  praktische  Einrichtung  zu  verbinden  gewußt.  Ein 
Gegenstück  ist  das  Bürohaus,  das  in  jedem  seiner  vielen  Stock- 
werke abgeschlossene  Geschäftsräume  für  Agenten,  Versicherungs- 
unternehmungen, Immobilienhändler,  Rechtsanwälte  usw.  enthält 
und    nur    ausnahmsweise     sich     einen     architektonischen    Aufwand 

A.  Sartorius  v.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.  ^0 


ß86  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 19 14. 


leistet,  vielmehr  meist  durch  Nüchternheit,  Größe  und  Höhe,  ohne 
es  jedoch  den  amerikanischen  Wolkenkratzern  gleichzutun,  auf- 
fällt. Die  Passage  mit  ihren  Kaufläden  wurde  schon  vereinzelt 
vor  1890  durch  ganze  Häuserblocks  hindurchgelegt.  Jetzt  wird 
sie  häufiger  und  vor  allem  erweitert  und  erhöht,  wie  z.  B.  in  Leip- 
zig, wo  sich  Meßpaläste  in  sie  einschieben.  Die  Baukunst  betätigt 
sich  künstlerisch  sowohl  an  der  Fassade  wie  in  der  Überwölbung 
dieser   gedeckten   Straßen. 

Im  ganzen  herrscht  in  den  Städten  der  Eklektizismus  vor,  der 
gelegentlich  durch  die  ästhetische  Romantik  des  Kaisers,  wie  bei 
dem  Berliner  Dombau,  nicht  ohne  Widerstreben  und  Nachteil  der 
Neues  schaffen  wollenden  Künstler  unterstützt  wird.  Eine  Oppo- 
sition gegen  das  Hergebrachte  macht  sich  in  einer  Reihe  deutscher 
Mittelstädte  und  Residenzen  mit  beachtenswerten  Bauten  geltend. 
Eine  Unzahl  von  Porträtdenkmälern  zieren  die  Friedhöfe  und 
Stadtanlagen,  wobei  die  Künstler  wohl  verdienen,  aber  ohne  rechte 
innere  iA.nteilnahme  schaffen. 

Es  gibt  im  neuen  Deutschland  genug  Talente  in  der  Dicht- 
kunst, der  Musik,  der  Malerei,  der  Plastik,  der  Architektur.  Die 
Münchener  Wochenschrift  „Die  Jugend"  bewies  es  auf  ihrem  Ge- 
biete. Aber  es  werden  fast  nur  Werte  für  die  Gegenwart  ge- 
schaffen, keine  für  die  Unsterblichkeit,  die  der  stillen,  nicht  der 
reklamehaften  Arbeit  bedarf,  nicht  des  Kompromißhandels  und  der 
Preisüberforderung,  sondern  der  inneren  persönlichen  tiefen  Er- 
regung und  der  stolzen  Befriedigung. 

Zwar  hatten  die  jungen  Literaten  am  Ende  der  achtziger  Jahre 
einen  Anlauf  zum  Besseren  genommen  und  sich  in  der  materia- 
listischen Welt  der  großen  Industrie  für  ein  ideales  Streben  ein- 
gesetzt unter  Ablehnung  der  Schreiberei  aus  dem  Taumel  der 
Gründerjahre,  aber  sie  leisteten  doch  nur  dies,  daß  sie  die  deut- 
schen Dichter  der  vergangenen  Periode,  wie  G.  Keller,  C.  F. 
Meyer,  W.  R  a  a  b  e ,  wieder  in  das  Gedächtnis  der  Nation  riefen 
und  die  großen  Ausländer,  namentlich  die  Skandinavier  und 
Russen,  ihr  bekannt  machten.  Ihr  eigenes  Schaffen  war  trotz 
einzelner  bedeutender  Namen,  an  deren  Spitze  G.  Hauptmann 
zu  nennen  ist,  doch  nicht  stark  und  allgemein  genug,  um  ihrer  Zeit 
einen  eigenen  Stempel  aufzuprägen. 

Auf  einer  höheren  Warte  steht  die  Wissenschaft,  namentlich 
die  Naturwissenschaft  mit  Einschluß  der  Medizin.  Das  ökono- 
mische Zeitalter  schiebt  mehr  denn  je  die  Physik,  die  Chemie,  die 
Biologie,  die  Botanik  in  die  Linie  der  praktischen  Verwendbarkeit. 
Sie  müssen  das  Brauchbare  bringen,  wenn  sie  Ansehen  genießen 
wollen,  und  tun  es  auch,  fördern  damit  die  Einsicht  in  das  Walten 


I.  Einleitung.     Das  ökonomische  Zeitalter.  aß? 

der  Natur.  Entdeckungen,  überraschende  Synthesen,  neue  Me- 
thoden und  Werkzeuge  führen  zu  glänzenden  Ergebnissen  und  zu 
deren  Ausnutzung  im  großen,  oft  fabrikmäßigen  Stil.  Es  sei  nur 
erinnert  an  die  Röntgenstrahlen  und  an  die  Radiumfor- 
schung, die  den  Konstitutionsgedanken  der  Materie  modifiziert, 
an  die  Versuche  von  Hertz,  denen  sich  die  drahtlose  Telegraphie 
von  Braun  und  Slaby  anschließt,  an  das  Mikroskop  von  Abbe, 
an  die  Prismenfernrohre  der  Zeisswerke,  an  die  farbige  Photo- 
graphie, an  die  künstlichen  Edelsteine,  an  die  synthetischen  Pflan- 
zenriechstoffe und  an  den  künstlichen  Kampher,  an  die  neuen  Teer- 
farbstoffe, an  die  Arzneimittel  wie  Pyramidon,  Antipyrin,  Aspirin, 
Veronal.  In  der  Heilkunde  wirkt  bahnbrechend  R.  Kochs  Auf- 
finden wichtiger  Krankheitserreger,  des  Tuberkel-  und  Cholera- 
bazillus, ferner  der  Ausbau  der  bakteriologischen  Methode,  die 
manche  andere  Krankheiten  aufklärt,  das  Heilserum,  das  Salvarsan, 
die  antiseptische  und  aseptische  Wundbehandlung.  Die  soziale 
Medizin  und  die  öffentliche  Hygiene  werden  neue  Wissenschafts- 
zweige und  veranlassen  gesetzliche  und  Verwaltungsmaßregeln 
zur  Bekämpfung  der  Infektionen  durch  Überwachung  des  Per- 
sonen- und  Warenverkehrs,  des  Trinkwassers,  des  Leichentrans- 
portes, der  Wohnungen.  Auf  die  sozialgewerbliche  Hygiene,  die 
andauernd  fortgebildet  wird,  wurde  schon  bei  der  Darstellung  der 
Arbeiterversicherung  hingewiesen.  Die  Bekämpfung  des  Alkoho- 
lismus, der  Tuberkulose,  der  Prostitution  ist  auch  im  Anschluß 
daran  nicht  bloß  eine  individuelle,  sondern  eine  soziale  Angelegen- 
heit geworden.  Endlich  ist  auch  noch  die  Veterinärmedizin  zu 
nennen,  die  mit  dem  Reichsviehseuchengesetz,  der  Fleischbeschau, 
der  Milchkontrolle  ihre  theoretischen  Erkenntnisse  der  Seuchen- 
forschung  in   die   Praxis   des   Wirtschaftslebens   umsetzt. 

Die  organische  Entwicklungslehre,  die  in  einer  einheitlichen 
Zellenlehre  für  Pflanzen  und  Tiere  wurzelt,  wird  für  die  Land-  und 
Forstwirtschaft  nutzbar  gemacht.  Sie  stützt  zugleich  die  alte  mate- 
rialistische Weltanschauung  des  i8.  Jahrhunderts.  Der  Monismus 
wird  von  naturwissenschaftlich  Denkenden  nach  den  Anregungen 
Haeckels  gepflegt,  womit,  wenn  auch  nur  in  oberflächlicher 
Weise,  die  philosophische  Lehre  von  der  Einheit  der  Welt  gegen 
den  Skeptizismus  behauptet  wird.  Die  Philosophie  verbindet  sich 
als  experimentelle  mit  der  Physiologie,  um  exakte  Ergebnisse  über 
die  Tätigkeit  der  Seele  zu  gewinnen.  Die  Soziologie  und  die 
Völkerpsychologie,  die  W.  W  u  n  d  t  in  großen  Zügen  zusammen- 
faßt, ergehen  sich  in  ethischen  Zielen,  um  das  gegenwärtige  Leben 
zu  meistern.  Die  Philosophie  Fr.  Nietzsches  geht  des  Ur- 
sprunges nach   der  Zeit,   die  hier  geschildert  wird,   voraus,   wenn 

25* 


7  88  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 1914. 


auch  ihre  Kritik  wohl  auf  sie  paßt.  Da  ihre  Psychologie  und  ihre 
Zielsetzung  tief  und  neu  sind,  bleibt  sie  weiten  Kreisen,  selbst  der 
Gebildeten,  unverstanden  und  wird  mit  dem  Schlagwort  des  Neu- 
individualismus abgetan,  aber  ist  doch  genügend  aufgenommen,  um 
als  wertvoller  Schatz  für  die  Zukunft  aufbewahrt  zu  werden. 

Die  Nationalökonomie  arbeitet  sich  lebhaft  in  die  Praxis 
des  Tages  ein  und  wandelt  in  ihren  Lehrsätzen  und  Vorschlägen 
die  oft  verschlungenen  Pfade  des  Spezialismus.  Der  ungeheuere, 
aufgestapelte  Stoff  der  empirischen  Forschung  wird  in  Sammel- 
werken (Handwörterbuch  der  Staats  Wissenschaften),  d.  h.  alphabe- 
tisch, nicht  nach  großen  Gesichtspunkten,  konzentriert.  Die  Nach- 
frage nach  jungen,  in  Seminaren  rasch  fertigen  Nationalökonomen 
geht  ins  Große  von  seiten  der  Banken,  der  Industriesyndikate,  der 
Handelskammern,  der  statistischen  Büros,  der  Kommunalverwaltun- 
gen. Die  auf  den  Universitäten  lernenden  Juristen  fangen  an,  auch 
Volkswirtschaftslehre  zu  studieren,  die  ihnen,  wenigstens  in  Nord- 
deutschland, 20  Jahre  früher  ganz  fern  lag.  Seitens  der  großen, 
rasch  anschwellenden  Zahl  der  Fachleute  in  den  Redaktionen  der 
Zeitungen,  auf  den  Hochschulen,  im  freien  schriftstellerischen  Beruf 
wird  gegenüber  den  sechziger  Jahren,  in  denen  die  ,, Volkswirte" 
die  positiven,  realen,  historischen,  statistischen  Kenntnisse  vernach- 
lässigten und  mit  dem  leichten  Gepäck  der  manchesterlichen  Lehr- 
sätze ihre  Wanderung  in  die  Volkswirtschaftspolitik  antraten,  der 
relative  Wert  aller  wirtschaftlichen  Maßnahmen  stark  betont,  wo- 
mit übereilte  Schlüsse  allerdings  vermieden,  andererseits  zu  große 
Bedenklichkeiten  in  unentschlossenen  Naturen  aufgezogen  wurden. 

Die  theoretische  Wissenschaft  hat  keine  so  bedeutenden 
Namen  wie  in  der  vorangehenden  Periode  aufzuweisen,  da  die  Auf- 
stellung einheitlicher  Systeme  bei  dem  Übermaß  an  guter  Spezial- 
literatur  nicht  glückt  und  zugleich  dem  Eklektizismus  Vorschub  ge- 
leistet wird  (v.  P  h  i  li  p  po  V  i  c  h  ,  Grundriß  der  politischen  Öko- 
nomie, J.  Conrad,  Grundriß  zum  Studium  der  politischen  Öko- 
nomie).   Doch  fehlte  es  auch  nicht  am  Neuen. 

Denn  es  konnte  nicht  ausbleiben,  daß  die  gewonnenen  Ein- 
sichten der  organischen  Naturwissenschaft  auf  die  soziale  Wissen- 
schaft und  damit  auch  auf  die  Nationalökonomie  zurückwirkten. 
Hatte  schon  A.  Schäffle  1875  i^i  seinem  Werke  „Bau  und  Leben 
des  sozialen  Körpers"  das  Wirtschaftsleben  durch  bis  ins  einzelne 
gehende  Analogien  aus  der  organischen  Natur  verständlich  zu 
machen  unternommen,  so  treten  seit  den  neunziger  Jahren  Sozio- 
logen auf,  die,  wie  O.  Amnion  (Die  Gesellschaftsordnung  und 
ihre  natürlichen  Grundlagen,  1895),  W.  Schallmeyer  (Ver- 
erbung und  Auslese  im  Lebenslauf  der  Völker,   1903),  an  Darwin 


I.  Einleitung.     Das  ökonomische  Zeitalter.  ßSo 


und  an  dessen  wirksamsten  Überträger  auf  das  Soziale,  H. 
Spencer,  anknüpften,  um  die  Naturgesetze  der  Biologie  auf  die 
Volkswirtschaft  anzuwenden.  Wenn  es  auch  ein  Irrtum  war,  den 
sozialen  Menschen  mit  seiner  geschichtlichen  Vergangenheit  und 
seiner  selbstgeschaffenen  Umgebung  von  Recht,  Sitte  und  Moral 
nicht  als  etwas  Eigenartiges  unter  den  Lebewesen  zu  nehmen,  worin 
schon  M  a  1 1  h  u  s  gefehlt  hatte,  und  wenn  auch  die  praktischen 
Folgerungen  oft  recht  willkürlich,  daher  sehr  verschieden  gezogen 
wurden,  so  war  doch  nicht  zu  verkennen,  daß  neue  Gesichts- 
punkte in  die  Nationalökonomie  gelangten,  wie  die  der  Auslese 
und  Anpassung,  der  Ungleichheit  der  Rassen  und  Individuen,  der 
Vererbung  der  Eigenschaften,  insbesondere  der  sozialen  und  indivi- 
duellen  Grundtriebe. 

Die  historische  Nationalökonomie  entzog  sich  dieser  An- 
regung nicht,  um  so  weniger,  als  die  Naturwissenschaft  einen 
Entwicklungsgang  lehrte.  Von  anderen  Gesetzmäßigkeiten,  die  das 
ökonomische  Leben  der  Gegenwart  durchziehen,  wollte  sie  indessen 
nicht  viel  wissen,  weil  sie  sie  zu  sehr  an  die  bekämpfte  liberale 
Schule  erinnerten.  Unbestrittene  Herrscherin  ist  sie  in  Deutschland 
keineswegs  geblieben.  Wurde  nicht  allein  die  Dogmatik  der  so- 
genannten klassischen  Nationalökonomie,  wenn  auch  kritisch  und 
vertieft,  wieder  belebt,  wie  von  F.  J.  Neumann  und  H. 
Dietzel,  so  war  es  vor  allem  die  österreichische  Schule,  die 
durch  die  Ausführungen  von  K.  Menger  (Untersuchungen  über 
die  Methode  der  Sozialwissenschaften  und  der  politischen  Ökonomie 
insbesondere,  1883),  von  E.  Böhm  von  Bawerk  (Kapital  und 
Kapitalzins,  1884— 1889),  von  F.  von  Wieser  (Der  natürhche 
Wert,  1889)  den  Versuch  machte,  die  volkswirtschaftliche  Ver- 
teilung, insbesondere  Wert,  Preis  und  Zins,  als  unabhängig  von 
der  sozialen  Verfassung  der  Völker  aus  einer  Lehre  der  Bedürf-' 
nisse  und  des  Nutzens  der  Güter  zu  erklären.  Konnte  es  ihr  auch 
nicht  gelingen,  obwohl  sie  den  Glauben  daran  hatte,  die  geschicht- 
lichen Voraussetzungen  jedes  Wirtschaftens  aus  der  Theorie  zu  eli- 
minieren, so  wirkte  sie  doch  befruchtend  auf  den  Gedanken  ein, 
die  reine  Wirtschaftslehre  von  der  praktischen  schärfer  als  bisher 
abzugrenzen  und  den  bisher  arg  vernachlässigten  Begriff  des  sub- 
jektiven Wertes  (Grenznutzentheorie)  in  die  vordere  Linie  der  öko- 
nomischen Grundbegriffe  zu  rücken,  wohin  er  gehört.  Einen  An- 
hang en  bloc  fanden  die  Österreicher  im  Reiche  nirgends,  während 
einzelne  Lehren  bereitwillig  anerkannt  A\iirden. 

Das  ökonomische  Zeitalter  mit  seinen  immer  von  neuem  auf- 
tauchenden sozialen  Fragen  bestimmte  auch  Männer  der  katho- 
lischen  Religion  und  Kirche  wieder,   ihre  Lebensanschauung   zum 


igo  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 1914. 

Ausgang  frischer  Forschungen  zu  machen  (G.  Ratzinger,  Die 
Volkswirtschaft  und  ihre  sittlichen  Grundlagen,  1895,  Pesch, 
Lehrbuch  der  Nationalökonomie,  2.  Aufl.,  191 4).  Indem  hier  Staat, 
Eigentum,  Lohnarbeit  und  Gewinn  als  unantastbar  nachgewiesen 
wurden,  wobei  sie  auch  aus  kirchlichen  Dogmen  und  der  Bibel  be- 
gründet wurden,  waren  die  praktischen  Forderungen  ähnlich,  wie 
sie  die  oben  mitgeteilte  christlichsoziale  Bewegung  der  siebziger 
Jahre  vertreten  hatte  und  standen  denen  des  Kathetersozialismus 
nahe.  Diese  ethische  Richtung  blieb  keineswegs  unangefochten 
(I.  Wolf,  L.  Fohle,  A.  Voigt,  P.  Arndt,  R.  Ehrenberg), 
sei  es,  daß  man  die  Ausbeutungslehre  bestritt,  die  einseitige  Politik 
zugunsten  der  Schwachen  im  Wirtschaftsleben  als  nicht  unbedingt 
im  Gesamtwohl  liegend  kritisierte,  sei  es,  daß  man  den  aus  der  Ge- 
schichte gebrachten  Beweis  bestimmter  sozialer  Ziele  nicht  zugab, 
sei  es,  daß  man  die  Theorie  von  den  Wünschen  des  SeinsoUens 
völlig  loszulösen  für  das  allein  Wissenschaftliche  hielt. 

Die  Vielseitigkeit  und  Vieldeutigkeit  der  zahlreichen  deutschen 
nationalökonomischen  Richtungen  trug  nicht  dazu  bei,  das  An- 
sehen der  Wissenschaft  unter  den  Praktikern  zu  heben,  die  inner- 
halb der  Interessenkämpfe  tätig  selbstbewußt  dastanden.  Dennoch 
wurde  die  Nationalökonomie  immer  wieder  angegangen,  ihr  Wort 
zu  sprechen,  das  in  der  so  überwiegend  wirtschaftlichen  Epoche 
dringend  benötigt  wurde.  Sie  mißgeachtet  und  hochgeachtet 
gleichzeitig  zu  sehen,  ist  einer  der  Widersprüche,  an  denen  die  Zeit 
von   1890 — 191 4  krankte. 

Fassen  wir  die  ganze  geistige  Bewegung  des  ökonomischen 
Zeitalters  von  1890 — ^1914  in  Deutschland  zusammen,  so  herrschen 
Form  und  Technik  in  allen  Einzelgebieten  des  Avissenschaftlichen 
und  künstlerischen  Schaffens  nach  besonderer  für  sich  stehender 
Vollendung  und  Routine  vor,  während  die  Einheit  einer  seelischen 
Auffassung,  als  Ausdruck  eines  ideellen  Gesamtzieles,  dem  Emp- 
finden der  Nation  mangelt,  so  daß  die  großen  Synthesen  der 
Lebenserkenntnis  ausbleiben. 


Die  Lebenshaltung  des  ganzen  Volkes  verändert  sich.  Man 
wohnt  geräumiger,  komfortabler,  gesunder,  freilich  keineswegs 
immer  geschmackvoller  als  ehedem.  Wer  auf  ein  langes  Leben 
zurückblickt,  erinnert  sich  der  alten  Städte  der  sechziger  Jahre, 
deren  Grenze  noch  mit  der  mittelalterlichen  Stadtmauer  zusammen- 
fiel. Heute  haben  wir  die  enggassige  Altstadt  mit  ihren  gotischen 
Kirchen  und  ihren  Befestigungstürmen,  und  die  Neustadt  mit 
breiten  Straßen,  schattigen  Alleen,  breiten  Plätzen,  Parkanlagen 
und     Vorhausgärten     nebeneinander.      Wir     treffen     überall     dies 


I.  Einleitung.     Das  ökononjische  Zeitalter.  5  g  j 


Doppelbild  solange  ungetrübt  an,  bis  der  Geschäftsgeist  die  male- 
rische Vergangenheit  mit  Kaufhaus-Hotel-Bankpalastlinien  durch- 
schneidet und  die  neuen  Quartiere  in  häßliche  Mietskasernen  und 
uniforme  Reihen  von  Ein-  oder  Zweifamilien-Arbeiterhäusern  aus- 
laufen läßt. 

Früher  unterschied  man  das  Bürgerhaus  in  der  Stadt,  das 
Schloß  der  Gutsherren  und  das  Bauernhaus  auf  dem  Lande.  In 
Nord  und  Süd,  in  der  Ebene  und  im  Gebirge  hatten  die  sozialen 
Klassen  ihr  je  nach  ihrem  Wohlstand  in  Größe,  Form  und  Dauer- 
haftigkeit abgestuftes,  besonderes  Heim.  Die  Gegenwart  bringt 
neue  Typen,  die  teils  dem  leichten  Nah-  und  Fernverkehr,  teils  den 
Raumbedürfnissen  der  Großstadt  angepaßt  sind:  Unweit  der  häß- 
lichen Fabrik,  die  nur  nach  praktischen  Gesichtspunkten  erbaut  ist, 
das  Fabrikantenhaus  mit  Kontors  im  Erdgeschoß  und  Wohn- 
räumen in  den  Stockwerken,  das  Vorstadtarbeiterhaus,  das  Miets- 
haus mit  vielen  kleinen  Abteilen  für  Unbemittelte,  die  vorstädtische 
Villa  mit  Garten,  die  Sommervilla  an  der  See,  im  Wald,  in  den 
Bergen,  das  Etagenmiethaus  für  die  Wohlhabenden  mit  seinen 
Graden  des  einfachen  und  des  Fassadenbaues,  die  herrschaftliche 
und  hochherrschaftliche  Wohnung.  Die  letztere  steigert  ihr  Raf- 
finement unaufhörlich.  Die  Zeitungsanzeigen  geben  ein  Bild  da- 
von: „Zu  vermieten.  Eine  hochherrschaftliche  Wohnung  mit  12 
Zimmern  und  Zubehör.  Bad,  Zentralheizung,  heißes,  fließendes 
Wasser  das  ganze  Jahr.  Gas,  Elektrizität,  Telefon,  geräumige 
Terrasse,  Wintergarten,  Autogarage,  Haltestelle  der  Straßenbahn 
und  der  Automobile.  Post  nebenan,  Friseur,  Zahnarzt,  Wäscherin, 
Büglerin  im  Hause.    Filiale  eines  bekannten  Traiteurs  gegenüber". 

Wer  einmal  im  Goethehaus  zu  Weimar  war,  wird  sich  des 
ganz  primitiven  Schlafzimmers  —  2,5 — 3,5  Meter  —  mit  einer 
schmalen  kurzen  Bettstelle  aus  Fichtenholz  und  des  Tischchens  mit 
dem  winzigen  Waschbecken  erinnern,  das  sich  an  den  ebenfalls 
höchst  einfachen  Arbeitsraum  Sr.  Exzellenz,  des  Staatsministers, 
anschloß  (vgl.  W.  Bode,  Das  Leben  in  Altweimar).  Der  Dichter 
war  weder  Asket  noch  Purist.  Er  lebte  deshalb  auf  solcher  Stufe 
des  intimen  Wohnens,  über  die  heute  ein  Subalternbeamter  hinaus 
ist,  weil  man  es  damals  in  Bürgerkreisen  nicht  anders  gewohnt 
war.  Der  Komfort  der  Schlafräume  ist  als  sanitäre  Einrichtung  be- 
sonders nach  1900  erst  von  England  und  Amerika  in  die  deutschen 
Städte  herübergekommen,  von  der  man  191 4  in  Frankreich  und 
Italien  noch  wenig  kannte.  Die  Empfangsräume  des  Goethehauses 
waren  hingegen  stilvoll  mit  Kunstgegenständen,  Geschenken  aus 
aller  Welt,  reich  gefüllt  und  geschmückt,  und  der  feierliche 
Treppenaufgang,  auf  dem  sich  die  Besucher  in  würdige  Stimmung 


ßQ2  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 1914. 

versetzten,  erinnerte  etwas  im  kleinen  an  die  alte  Palastkultur 
Italiens.  In  den  alten  deutschen  mauerumgrenzten  Reichsstädten 
wohnte  man  in  kleinen  Häusern  und  engen  Zimmern,  die  man  im 
Winter  warm  halten  konnte.  Die  heutige  weiträumige  Privat- 
wohnung setzt  die  offene  Stadt  und  die  reichliche  Kohlenzufuhr 
voraus.  Der  Großbau  bestand  ehemals  nur  für  Kirchen  und  Rats- 
häuser, entsprechend  der  Menschenzahl,  die  sie  aufnehmen  mußten. 
Heute  werden  unter  der  kommunalen  Dezentralisation  nur  mittel- 
große Kirchen  gebaut  für  einen  geringen  Stadtabschnitt,  dessen 
Bewohner  sie  leicht  und  bequem  erreichen  sollen. 

Die  ehemalige  strenge  Verörtlichung  des  Hausgeschmackes 
ist  durch  das  Durcheinanderwürfeln  der  Bevölkerung  und  der  alten 
Klassen  beseitigt  worden.  In  den  Dörfern  entstehen  saubere,  gerad- 
linige städtische  Häuser  und  auf  den  ländlichen  Hügeln  und  an 
den  Seen  städtische  Paläste,  in  der  Stadt  Gebäude  im  Burg-  und 
Bauernstil,  von  Försterwohnungen  und  Schwe'zerhäusern.  In  diese 
Buntheit  wird  willkürlich  die  historische  Form  eingezwängt.  In 
den  vornehmen  Westquartieren  Berlins  schließt  sich  das  Haus  im 
Pittigeschmack  an  das  deutsche  Giebelhaus  mit  imitiertem  Fach- 
werk an,  an  das  mit  Karyatiden  überlastete  Barockgebäude  das 
gotische  Schlößchen  mit  unbesteigbaren  Türmen,  das  Biedermeier- 
haus, die  Empire-  und  Louis  Seize-,  die  Rokkoko-Fassade.  Das 
ökonomische  Jahrhundert  mit  seinen  sozialen  Verwerfungen  ist  der 
Hintergrund  zu  diesen  Verirrungen.  Da  sind  zunächst  die  vielen 
Leute,  denen  das  Geschäft  nicht  die  Muße  gönnt,  über  die  Gestalt 
des  eigenen  Heims  nachzudenken.  Massenhaft  werden  Häuser  auf 
Spekulation  gebaut,  die  den  Architekten  gestattet,  ihre  Laune  aus- 
zulassen. Dann  das  Übertrumpfenwollen  im  Werte  des  Stein- 
materials, in  der  Zahl  der  Balkons,  „weil  man's  hat",  das  Protzen- 
tum  der  neugeschaffenen  Millionäre,  um  ihr  Dasein  zu  beweisen. 
Der  reichgewordene  Mann  vom  Lande  erfüllt  die  alte  Sehnsucht 
nach  dem  Schloß  über  seinem  Heimatdorfe  in  der  breiten  städti- 
schen Straße.  Der  Städter  trägt  die  Bequemlichkeit  seiner  bis- 
herigen Behausung  an  das  Meeresufer  oder  in  die  Berge. 

Dem  äußeren  Ansehen  entspricht  die  innere  Ausstattung  der 
Räume  an  Charakterlosigkeit  des  geschmacklosen  Durcheinanders. 
Neben  dem  Speisezimmer  mit  schweren  gotischen  Möbeln  ist  das 
türkische  Kabinett  als  Rauchzimmer,  neben  dem  Arbeitszimmer  des 
Hausherrn  mit  Klubsesseln  und  Aktenschrank  des  amerikanischen 
Office  der  Rokkokosalon  der  Gnädigen.  Vergessen  wir  nicht  einen 
Augenblick,  daß  wir  weltwirtschaftlich  leben.  Persische  Teppiche, 
chinesische  Vasen,  japanische  Bronzen,  ein  indischer  Buddha,  Photo- 
graphien vom  alten  Rom,  afrikanische  Jagdtrophäen  dürfen  nicht 


I.  Einleitung.     Das  ökonomische  Zeitalter.  ßgß 

fehlen.  Dazwischen  werden  Antiquitäten  gestopft,  echte  und 
falsche,  Madonnen  auf  Goldgrund,  lothringisches  Bauerngeschirr 
und  venezianische  Gläser.  An  die  weltwirtschaftliche  Verflechtung 
Deutschlands  erinnert  der  Verbrauch  stündlich.  Kaffee,  Tee, 
Kakao,  Südfrüchte,  Südweine,  türkischer  Tabak  wurden  um  die 
Mitte  des  19.  Jahrhunderts  nur  für  die  Wohlhabenden  eingeführt, 
um  1900  sind  sie  Gemeingut  aller  Volksschichten.  Die  Bekleidung 
kann  aus  russischem  Leder,  australischer  Wolle,  japanischer  Seide, 
ägyptischer  Baumwolle,  irischem  Flachs  gefertigt  sein.  Fremde 
Ganzfabrikate  umgeben  das  individuelle  Dasein,  die  amerikanische 
Füllfeder,  der  Schweizer  Chronometer,  die  böhmische  Wäsche,  der 
Wiener  Hut. 

In  drei  Beziehungen  hat  sich  der  Bedürfnisstand  verändert: 
quantitativ,  qualitativ,  sozial.  Über  den  durchschnittlichen 
Verbrauch  der  Massengüter  in  den  letzten  Jahrzehnten  und 
auch  früher  gibt  uns  die  Statistik  einige  Auskunft.  Bei  dem  Zucker 
hat  er  sich  von  1870— 1876  bis  1907/8  von  6  kg  auf  17,1  gehoben, 
bei  dem  Kaffee  von  1841  — 1845  bis  1908  verzweiundeinhalbfacht, 
bei  ausländischen  Gev»ürzen  von  1840 — 19 10  verdreifacht,  bei  dem 
Kakao  vom  ersten  Drittel  des  Jahrhunderts  bis  zu  seinem  Schluß 
Verdreißigfacht.  1872/73  kamen  auf  den  Kopf  78  1  Bier,  1899 
bis  1903  123,4,  10  Jahre  später,  infolge  der  Antialkoholbewegung, 
des  Kampfes  gegen  den  Frühschoppen,  etwas  weniger  des  bei  sol- 
cher Konsumtion  volksverdummenden  Getränkes.  Der  Branntwein 
hat  1889  den  Höhepunkt  des  durchschnittlichen  Verbrauchs  über- 
schritten. Der  Fleischverbrauch  wurde  18 16  auf  17,3  kg  für  den 
Kopf  berechnet,  1840  auf  21,6,  1873  auf  29,5,  1892  auf  32,5,  1900 
auf  46,2,  191 2  auf  52,3.  Die  letztere  ungemeine  Steigerung,  die 
physiologisch  und  ethisch  ebenso  gepriesen  als  verabscheut  wurde, 
kam  der  Nation  erst  bei  der  Rationierung  während  des  Weltkrieges 
zum  Bewußtsein,  als  man  sich  auf  den  Stand  der  Großeltern  zu- 
rückzuschrauben genötigt  sah.  Für  Weizen,  Roggen,  Gerste,  Kar- 
toffeln war  die  Angabe  durchschnittlich  der  Jahre  1890— 191 4 
90,9,  147,7,  80,1  und  600,  für  1913  — 1914  von  95,5,  153, i> 
103,0,  702,2  kg.  Es  kamen  an  Reis  auf  den  Kopf  1836 — 1840 
0,18  kg,  1851  — 1858  0,81,  1898  2,51,  1906— 1910  2,58,  an  Petroleum 
1866 — 1870  1,87,  1908  17,97  kg,  an  Baumwolle  in  denselben  Jahren 
1,8  und  6,79,  hier  die  Ausfuhr  mit  einbegriffen. 

Die  Qualität  der  Lebenshaltung  verwandelt  sich  in  der 
Weise,  daß  das  mehr  Haltbare,  Nahrhafte,  Gefällige  vordringt,  vor 
allem,  daß  der  Verbrauch  wechselt.  Das  Brot  wird  in  vielerlei 
Sorten  und  Mischungen  und  Ausmahlgraden  auf  den  Tisch  ge- 
bracht,  das   Bier  wird  malzhaltiger  in   mehreren   Farben   gebraut. 


2Q4  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 1914. 

das  Fleisch  mehr  vom  Mastvieh  genommen,  das  Wild,  in  Wald 
und  Feld  gefüttert  und  gepflegt,  ist  regelmäßig  auf  dem  städtischen 
Markt,  Kaffee,  Kakao,  Tee  haben  ihre  eigene  Tageszeit  in  den 
Haushaltungen,  die  Speisekarten  in  den  Gasthäusern  werden  lange 
Listen,  die  Weinkarten  mit  Goldschnitt  schwellen  zu  ganzen  Bü- 
chern in-  und  ausländischer  Getränke  ian.  Seit  1890  beginnt  der 
Massenverbrauch  der  russischen  und  ägyptischen  Zigarette,  die 
Importzigarren  variieren  nach  Hunderten  von  Sorten.  Gemüse-, 
Pilz-,  Fruchtkonserven,  Marmeladen  und  Fruchtsäfte  bringen  die 
Fabriken  für  den  ganzen  Winter.  Die  Frühjahrsprodukte  von  Süd- 
frankreich, Italien,  Algier,  Ägypten  erscheinen  im  Februar  für  das 
Diner  der  Reichen,  die  Tropen,  Subtropen  und  die  südliche  Halb- 
kugel versorgen  die  nördliche  mit  Bananen,  Ananas,  Orangen  das 
Jahr  hindurch.  Seefischhandlungen  kennt  jede  größere  Stadt,  und 
Steinbutt  und  Seezungen  kommen  im  Schwarzwald  neben  den  Fo- 
rellen, am  Bodensee  neben  dem  Felchen  auf  die  Gasttafel.  Nicht 
minder  vielseitig  versorgt  die  Industrie  die  Haushaltungen  bis  zum 
kleinsten  Bedürfnis.  Ein  Sofa,  das  um  1830  als  ein  unerhörter 
Luxus  des  Buchhändlers  Freiherrn  von  Cotta  in  Tübingen  von  Pro- 
fessoren und  Studenten  verachtet  wurde,  schmückt  jede  „gute 
Stube"  des  kleinen  Mannes.  Bücher,  Bilder,  Teppiche,  Gardinen, 
kunstgewerbliche  Gegenstände  aus  Glas,  Ton  oder  Metall,  Öl- 
drucke und  Kollektionen  von  Ansichtspostkarten  gehören  eben- 
falls zu  ihrer  Ausstattung.  Allgemein  haben  helle  große  Glas- 
fenster die  trüben  kleinen  Scheiben  verdrängt,  die  Aufgänge  in 
den  Häusern  sind  keine  steilen  Stiegen  mehr,  der  alte  deutsche 
Rauchfang  ist  durch  den  russischen  Kamin  ersetzt  worden,  der 
kleine  Kachelofen  durch  den  Dauerbrenner,  den  Gasofen,  die  Zen- 
tralheizung. Vor  100  Jahren  erhellten  zwei  oder  drei  Talgkerzen 
das  Abendzimmer  des  wohlhabenden  Mannes.  Die  Lichtputzschere 
war  ein  wichtiges  Requisit  der  Haushaltung.  Dunkel  war  es  auf 
dem  Bürgersteig.  Glücklich  schätzte  sich  der  verirrte,  weg- 
suchende Wanderer,  wenn  ein  schmaler,  matter  Lichtstreif  aus 
einem  Hause  fiel  oder  ihm  eine  Dame  begegnete,  die  sich  von 
ihrem  Dienstmädchen  mit  der  schwankenden  Laterne  heimleuchten 
ließ,  oder  der  Nachtvv^ächter,  der  die  Stunde  ausrief. 

Im  Lichtmeer  erstrahlen  191 3  die  großen  Verkehrsadern 
der  nächtlichen  Hauptstadt.  Unter  den  taghell  funkelnden  Bogen- 
lampen wird  die  neueste  Abendzeitung  gelesen.  Die  Schaufenster 
mit  hundert  weißen  und  farbigen  Lampen,  die  beweglichen,  inter- 
mittierenden Reklamelichter,  die  Scheinwerfer,  die  erleuchteten 
Etagen,  in  denen  eine  Handbewegung  genügt,  um  sie  mit  zahl- 
reichen elektrischen  Glühfäden  in  Glanz  zu  tauchen,  verleihen  den 


I.  Einleitung.     Das  ökonomische  Zeitalter.  3Q5 


Öffentlichen   Plätzen  den  zauberhaften   Schimmer  eines   Ballsaales, 
gegen  den  der  Vollmond  ein  stümpernder  Lichtbringer  wird. 

Für  die  Demokratisierung  der  Bedürfnisse  ist  die 
erste  Voraussetzung  die  Zunahme  des  allgemeinen  Wohl- 
standes, die  zweite  die  Konkurrenz  in  der  Begehrlichkeit.  An  Sonn- 
tagen weitere  Ausflüge  zu  machen,  versteht  auch  die  Familie  mit 
bescheidenen  Mitteln  zu  ermöglichen.  Der  Handwerker  und  der 
Kleinkaufmann  sparen  für  eine  Sommerreise  an  die  See  oder  ins 
Gebirge.  Für  eine  Tageszeitung  und  ein  Wochenblatt  muß  Geld 
geschafft  werden.  Theater,  Kino,  Kaffeehaus-  und  Bierhauskonzert 
werden  von  allen  Klassen  besucht.  Man  läßt  sich  und  seine  Kinder 
jedes  Jahr  einmal  photographieren.  Es  wäre  interessant,  zu  wissen, 
wie  viele  Klaviere  in  Deutschland  stehen,  wieviel  Fahrräder  benutzt 
werden,  wieviel  Buben  keine  Schlitt-  oder  Rollschuhe  besitzen. 
Volksbäder,  auch  für  den  Winter,  hat  die  Großstadt.  Ebenso  Sport- 
plätze für  die  gesamte  Jugend.  Eine  Uhr,  ein  Portemonnaie,  eine 
Füllfeder  trägt  jeder  Geschäftsmann  bei  sich,  im  Büro  hat  er  seine 
Schreibmaschine,  jede  Hausfrau  führt  ihre  Ledertasche  beim  Aus- 
gang zu  Besorgungen.  Die  Jagd  war  ehemals  ein  Vergnügen  des 
Adels,  jetzt  gibt  es  große  Jagdpachtgesellschaften  von  Klein- 
bürgern oder  Bauern.  Wie  viele  Familien  gehen  einmal  wöchent- 
lich in  ein  Restaurant  und  lassen  dort  reichliches  Geld  für  Speisen 
und  Getränke  aufgehen!  Die  allbekannten  technischen  Fortschritte 
sind  Allgemeingut  geworden.  Gas,  das  von  Auer  von  Wels- 
bach 1880  erfundene,  von  Cerhaltigen  Erden  ausströmende  Gas- 
glühlicht, die  in  der  Nernst-  und  Tantallampe  wirksame  Elektri- 
zität erleuchten  auch  die  kleinen  Wohnungen.  Wasserleitungen, 
Wasserklosett,  Gaskocher,  Fensterläden,  Rouleaux,  eiserne  Bett- 
stellen mit  Roßhaarmatratzen,  elektrische  Glocke  sind  fast  selbst- 
verständliche Einrichtungen.  In  der  Bekleidung  wird  das  Unter- 
zeug auch  für  den  gewöhnlichen  Mann  üblich.  Taschen-  und  Hals- 
tuch trägt  jeder  Städter,  der  gutsitzende  Schnürstiefel  tritt  an 
Stelle  des  Schaft-  und  Zugstiefels.  Filzhut,  Strohhut,  Mütze 
braucht  man  nach  der  Jahreszeit,  mit  Regenschirm  und  Mantel 
schützt  sich  auch  der  Fabrikarbeiter.  Die  Mode  herrscht  bei  der 
Männerkleidung  nur  in  den  reichen  Klassen,  in  der  Frauenwelt 
überall.  Früher  unterlag  ihrer  Tyrannei  nur  die  wohlhabende 
Frau.  Heute  muß  diese  weit  schneller  zum  Wechsel  übergehen, 
weil  ihr  Dienstmädchen  das  Neueste  ihr  nachmacht. 

Über  der  gut  versorgten  Massenschicht  hebt  sich  die 
schmalere  des  höheren,  genießenden  Wohllebens  hervor,  welche 
zweiter  Klasse  in  der  Eisenbahn  fährt,  die  Sommerpensionen  in 
der  Schweiz  und  an  der  Nord-  und  Ostsee  bezieht,  den   Parkett- 


•igö  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 1914. 

platz  im  Theater  benutzt  und  die  Söhne  auf  das  Gymnasium  schickt. 
Neben  dem  Arbeitsverdienst  des  FamiHenhauptes  ist  in  der  Regel 
einiges  Vermögen  da.  Alle  diese  Leute  glauben  auf  der  goldenen 
Mittelstraße  zu  wandeln  und  stellen  das  Ideal  der  bürgerlichen 
Demokratie  dar:  eine  genügsame,  moralische,  behagliche  Herde. 
Doch  klaffen  ihnen  Abgründe  auf  beiden  Seiten  der  Straße.  Sie 
schauen  rechts  mit  Begehrlichkeit  auf  die  höchste  kleine  Schicht 
der  ganz  Reichen  mit  ihrem  individuell  launenhaften,  alles  über- 
bietenden Willen  zum  Raffinement  an  Toilette,  Diners,  Autofahrten, 
Festlichkeiten,  zum  Sport  des  Sammeins  von  Gemälden  und  Pre- 
ziosen.  Links  droht  die  Gefahr,  in  das  Proletariat  zu  versinken,, 
wenn  sie  sich  nicht  mit  aller  Zähigkeit  halten.  Die  „upper  tens" 
vergleichen  sich  mit  den  Renaissancemenschen,  sind  es  aber  nicht, 
weder  in  der  vornehmen  Sitte,  noch  im  Kunstgeschmack,  noch  in 
der  geistvollen  Konversation.  Ausnahmen  bestätigen  nur  die  Regel. 
Sie  wollen  mehr  sein  als  andere,  daher  gebärden  sie  sich,  wie  ihr 
Klassenname  zeigt,  gern  international,  d.  h.  als  Engländer  oder 
Amerikaner. 

Manchem  läßt  das  Erwerbsleben  keine  ruhige  Minute,  denn, 
wer  nicht  immer  dabei  ist,  kommt  zu  kurz.  Andere  sind  erschöpft 
oder  mit  Erschöpfung  erblich  belastet.  Sie  alle  bedürfen  der 
raschen  Nervenerregung  von  außen  her,  die  sie  aus  sich  selbst 
nicht  zu  gewinnen  vermögen.  Der  Lärm  auf  der  Straße  ist  ihnen 
ein  Bedürfnis,  ebenso  wie  das  Amüsieren  um  jeden  Preis  in  dem 
Großstadttaumel.  Diejenigen,  die  den  Kopf  hochhalten,  sind  von 
eisernem  Fleiß  und  von  rücksichtslosem  Geschäftsegoismus  durch- 
drungen. ^  '  l) 

Der  Wertsetzung  aller  menschlichen  Tätigkeit  wurde  der  Maß- 
stab des  Geldmachens  aufgedrängt.  Was  bringt  ein  wissenschaft- 
liches Lehrbuch  ein,  was  eine  Oper,  was  eine  neue  Therapeutik? 
Diese  Frage  schrieen  die  Händler  den  Autoren  solange  in  die 
Ohren,  bis  diese  selbst  anfingen,  diese  ,, Vernunft  des  Zeitalters"' 
nicht  mehr  ernstlich  zu  bezweifeln.  Wie  tief  der  brutale  und 
quantitativ  schätzende  Sinn  von  Angebot  und  Nachfrage  die  Nation 
in  wenigen  Jahrzehnten  durchseucht  hatte,  hat  dann  die  Schieber- 
epidemie in  und  nach  dem  großen  Kriege  zu  erschreckendem  Aus- 
druck gebracht.  Die  Industriellen  wurden  vom  Handel  aus  zu- 
nächst in  die  Stromwelle  des  LTmsatzes  so  hineingezogen,  daß  sie 
ihre  geschäftliche  Individualität  preiszugeben  nicht  zögerten  und 
sich  Verkaufsstellen  schufen,  von  denen  der  einzelne  in  fühlbare 
Abhängigkeit  geriet.  Die  Landwirtschaft  konnte  in  ihrer  Zersplit- 
terung hier  nicht  folgen,  wenn  sie  auch  ihrem  Genossenschafts- 
wesen eine  verschärfte,  auf  Gewinn  gerichtete  Wendung  zu  geben 


I.  Einleitung.     Das  ökonomische  Zeitalter.  ony 

sich  anschickte.  Als  aber  die  Ernährungsnot  des  Krieges  herauf- 
kam, machte  sie  von  dem  ihr  tauglichen  Mittel  der  Zurückhaltung 
im  Angebot  Gebrauch,  um  auch  ihrerseits  dem  händlerischen  Mo- 
loch zu  opfern.  Die  Städter  waren  dann  über  die  Herzlosigkeit  der 
Bauern  entrüstet,  wobei  sie  vergaßen,  daß  sie  20  Jahre  die  Profit- 
wut als  höchste  Lebensaufgabe  in  Wort  und  Tat  verherrlicht  und 
sich  über  die  Landleute  moquiert  hatten,  die  nicht  ,, modern"  emp- 
finden wollten. 

Fast  noch  schlimmer  war  es  für  die  Nation,  daß  aus  allen 
Kreisen  die  befähigsten  Köpfe  in  den  Dienst  des  ökonomischen 
Produzierens  und  Umsetzens  hineingezogen  wurden,  und  andere 
höhere  Berufe  dementsprechend  verarmten.  Nur  der  viel  ge- 
schmähte Militarismus  bildete  in  seiner  Anziehung  noch  eine  Art 
des  Gegengewichts  und  rechtfertigte  sich  damit  ethisch,  wenn  er 
als  einziges  Schutzmittel  Deutschlands  im  Umkreise  von  lauter 
P'einden  es  noch  nötig  gehabt  hätte,  sein  Dasein  zu  rechtfertigen. 
Auch  die  politisch  Begabten,  an  denen  unser  Volk  wahrlich  keinen 
Überfluß  besitzt,  verschwanden  aus  der  Regierung  und  machten 
Leuten  zweiten  Ranges  Platz,  die  das  Ungewitter  nicht  vorfühlten, 
das  sich  international  zusammenballte.  Die  Kraftausgabe  jeden 
Volkes  ist  beschränkt,  gibt  es  sich  voll  auf  einem  Gebiete  aus,  so 
ist  die  Lücke  auf  einem  anderen  unvermeidlich. 

Typisch  für  das  Hasten  und  Wagen  aller  ist  die  Schnellig- 
keit und  Vielartigkeit  der  persönlichen  Fortbewegung.  Um  1895 
wird  das  Fahrrad  ein  verbreitetes  Vergnügungs-  und  Sport-,  bald 
ein  notwendiges  Verkehrsmittel,  eine  deutsche  Erfindung  insofern, 
als  der  badische  Oberförster  D  r  a  i  s  das  Laufrad,  und  der  Schwein- 
furter  Instrumentenmacher  Fischer  die  Tretkurbel  erfanden. 
Erst  als  der  irische  Arzt  Dunlop  den  luftgefüllten  Gummireifen 
hinzufügte,  wurde  die  Maschine  praktisch.  5  Jahre  später  kommt 
das  Automobil  und  bald  danach  das  Motorrad  in  den  allgemeinen 
Gebrauch.  Die  Schnellzüge  steigern  mit  ihren  Riesenlokomotiven 
ihre  Geschwindigkeit  bis  über  100  km  die  Stunde,  die  elektrischen 
Straßenbahnen,  die  alle  5  oder  3  Minuten  passieren,  treten  an  die 
Stelle  der  Pferdebahnen,  in  denen  man  zwar  gemütlich  fuhr,  auf 
die  man  dafür  eine  Viertelstunde  lang  zu  warten  hatte.  Die  Groß- 
städte umgeben  Rundbahnen,  und  Vorortbahnen  schließen  sich 
an  die  Linien  der  inneren  Stadt  an.  Die  Hoch-  und  Untergrund- 
bahn wird  zur  Entlastung  des  Straßenverkehrs  notwendig.  Die 
großen  Überseedampfer  mit  Stockwerken,  wie  Luxuspaläste,  ver- 
doppeln fast  ihre  Geschwindigkeit  gegen  1880,  der  Aufzug  fährt 
in  die  höchsten  Häuser  hinauf,  hohe  Berggipfel  lassen  sich  in 
einer    Stunde   mit    der    Drahtbahn    erreichen.    Die    Zeit   steht    „im 


7q8  vi.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 1914. 


Zeichen  des  Verkehrs".  Wer  nicht  in  Geschäften  reist,  tut  es  zum 
Vergnügen.  In  14  Tagen  im  Zickzackkurs  mit  dem  Automobil 
durch  Europa!  Das  Monopolhotel  mit  seinem  schweren  Stil  der 
achtziger  Jahre  macht  in  den  neunziger  dem  Grandhotel  mit  dem 
„Jugendstil"  Platz.  Wieder  nach  10  Jahren  lebt  die  vornehme 
Reisewelt  im  Palasthotel  des  amerikanischen  Millionärgeschmacks. 

Endlich  nach  vielen  Versuchen  wird  am  Ende  der  Epoche  die 
Luft  erobert.  Schon  gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts  hatten 
von  Dalberg,  der  spätere  Kurfürst  von  Mainz,  und  der  Phy- 
siker Kratzenstein  Lenkballons  mit  Handkurbelantrieb  und 
Steuer,  unabhängig  von  einem  französischen  Plan,  erdacht,  ohne 
ihre  Ideen  in  die  Praxis  umsetzen  zu  können.  Luftschiff  und  Flug- 
zeug schicken  sich  jetzt  an,  ein  Beförderungsmittel  zu  werden.  Da 
kommt  der  Weltkrieg  herauf  und  stellt  sie  einstweilen  in  den  aus- 
schließlichen Dienst  der  Auskundschaft  und  des  Bombenangriffes. 
Das  starre  Luftschiff  System  des  Grafen  Zeppelin  wird  dank 
der  unermüdlichen,  selbstlosen  Tätigkeit  des  Erfinders  andauernd 
verbessert  und  läuft  dem  halbstarren,  das  für  kleinere  Fahrzeuge 
brauchbar  bleibt,  den  Rang  ab.  Dem  Berliner  Luftfahrforscher 
Lilienthal  gelingt  der  Gleitflug  von  mehreren  hundert  Metern 
schon  im  Anfang  der  neunziger  Jahre,  und  die  Anfänge  der  Flug- 
maschine gehen  darauf  zurück.  In  Frankreich  und  Amerika  werden 
Luftfahrzeuge,  schwerer  als  die  Luft,  mit  Motoren  versehen  und 
fliegen  wie  Vögel  in  die  Höhe,  um  im  Äther  zu  verschwinden.  Die 
Deutschen  ahmen  diese  Neuerungen  nach  und  bringen  während ^des 
Weltkrieges   selbständig  Eigenartiges  daneben. 

Es  ist  erstaunlich,  was  Deutschland  in  25  Jahren  wirtschaft- 
lich und  technisch  geleistet  hat,  fast  noch  erstaunlicher  muß  es 
erscheinen,  daß  es  das  Volk  physisch  überhaupt  ausgehalten  hat. 
Gewiß  hat  das  rasche  Reichwerden,  Überhasten  der  Arbeit,  über- 
triebenes Genießen  in  einzelnen  Kreisen  einen  Niedergang  an 
Leibeskraft  gebracht.  Im  Vergleich  zu  der  Gesamtheit  war  er  nur 
bei  wenigen.  Denn  welche  Menge  natürlicher  und  moralischer 
Energie  ihr  ungebrochen  zur  Verfügung  stand,  hat  sich  am  Ab- 
schluß der  Periode,  als  es  sich  um  das  Dasein  der  Nation  han- 
delte, herausgestellt.  Der  Grund  ist,  daß  der  steigende  Wohlstand 
allen  Volksschichten  zugeflossen  ist.  Die  Opferwilligkeit  an  Blut 
und  Gut  sondergleichen  wird  auch  daraus  verständlich,  daß  die 
Volkswirtschaft  eine  Einrichtung  geworden  war,  an  der  alle  ihre 
Glieder  lebhaften  und  tiefen  Anteil  hatten. 

Will  man  eine  richtige  Einsicht  in  den  gewaltigen  Auf- 
schwung der  Volkswirtschaft  gewinnen,  wird  man  nicht  übersehen 
dürfen,    daß    er   kein    isolierter,    kein    nur    Deutschland    allein    an- 


I.  Einleitung.     Das  ökonomische  Zeitalter.  igg 


gehender  Vorgang  gewesen  ist.  Ganz  Europa  ist,  wie  von  1850 
bis  1873,  so  von  1895 — 1914  im  raschen  Vordringen  begriffen, 
und  auch  viele  überseeischen  Staaten  waren  in  gleicher  Lage.  Wir 
können  daher  die  ganze  Bewegung  auch  international  zu  verstehen 
suchen,  da  eine  Volkswirtschaft  auf  die  andere  eingewirkt  hat,  nach- 
dem in  allen  neue  Ideen,  neue  Mittel,  neue  Mächte  sich  regten.  In- 
dessen, Deutschland  hat  bei  dem  Aufstieg  obenan  gestanden,  hat 
viel,  vielleicht  das  meiste  gegeben,  hat  dafür  im  Austausch  auch 
viel  empfangen.  Es  blieb  selbst  während  des  Krieges  der  Lehr- 
meister seiner  Feinde.  Es  wurde  aber  auch  durch  die  ganze  Epoche 
wegen  seiner  Erfolge  beneidet,  und  der  Haß  der  Zurückbleibenden 
trat  feindselig  hervor. 


Die  Entwicklung  des  ökonomischen  Zeitalters  spiegelt  sich  in 
dem  Tun  und  Treiben  der  Reichshauptstadt  Berlin  wieder,  die 
ein  Brennpunkt  des  industriellen  und  kommerziellen  Lebens  ge- 
blieben war.  Wir  haben  in  früheren  Abschnitten  ihrer  mehrfach 
gedacht,  und  so  mögen  hier  noch  einige  Ergänzungen  aus  der 
neuesten  Zeit  Platz  greifen,  wobei  wir  auf  das  umfangreiche  „Ber- 
liner Jahrbuch  für  Handel  und  Industrie"  verweisen,  das  als  Be- 
richt der  Ältesten  der  Kaufmannschaft  herausgegeben  wird. 

Die  Bevölkerung  der  eigentlichen  alten  Binnenstadt  wächst 
von  1578794  am  i.  Dezember  1890  auf  2708267  um  1913.  Die 
Vermehrung  vollzieht  sich  immer  langsamer,  und  es  bleibt  in  ein- 
zelnen Jahren  auch  der  Rückgang  nicht  aus.  Anders  ist  es  mit 
Großberlin,  d.  h.,  wenn  wir  den  alten  Kern  von  seinem  Vorstadt- 
kranz umsäumt  denken,  der  nicht  bloß  örtlich  den  alten  Mittel- 
punkt umschlossen  hält,  so  daß  fast  aller  dazwischen  liegender 
Boden,  der  vordem  Gartenland  und  Heide  war,  überbaut  worden 
oder  von  städtischen  Straßenanlagen  wenigstens  durchzogen  ist, 
sondern  sich  auch  immerfort  weiter  ausweitet,  so  daß  ein  Halb- 
messer von  bald  8  km  erreicht  ist.  An  der  Peripherie  ist  Raum 
für  menschliche  Wohnungen  und  für  den  Wald  von  Fabrikschorn- 
steinen genug,  während  man  im  Innern  nur  noch  in  die  Höhe 
bauen  kann.  Mit  Schöneberg,  Lichtenberg,  Wilmersdorf,  Char- 
lottenburg, Neukölln,  Rixdorf,  Teltow  und  Niederbarnim  hatte  die 
Reichshauptstadt  1890  fast  2,  191 3  4 1/5  Millionen  Einwohner.  Die 
ersten  drei    sind  zuerst  in  das   alte  Weichbild   eingemeindet   worden. 

Großberlin  pflegt  in  39  Postorten  den  postalischen  Fern- 
und  Nachbarverkehr,  dessen  Postüberweisungen  und  Postscheck- 
zahlungen für  1909  und  19 10  derart  ermittelt  worden  sind,  daß  die 
Summe  der  Konteninhaber  in  diesen  zwei  Jahren  von  2  423  auf 
5  720,   der   Gesamtumsatz   von   2375,2   Millionen   Mark   auf   4328,8 


400  ^^-  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 19 14. 

gestiegen  ist,  ein  Betrag,  der  erst  dadurch  in  das  richtige  Licht 
gerückt  wird,  daß  der  entsprechende  Verkehr  im  ganzen  Reichs- 
postgebiete nur  das  4 — 5  fache  beträgt. 

Berlin  kann  sich  neben  Paris,  London,  New  York  sehen  lassen, 
nicht  bloß  wegen  seiner  Ausdehnung,  sondern  auch  wegen  seiner 
Volks-  und  weltwirtschaftlichen  Bedeutung,  die  sich  in  ihren  Ein- 
und  Ausfuhren,  ihren  Wertumsätzen  und  in  dem  Zusammenströmen 
der  Menschen  aus  aller  Herren  Länder  kund  tut.  Nach  dem 
Bericht  der  Gewerbeaufsichtsbeamten  des  Landespolizeibezirkes 
Berlin  wurden  1901  10740  Fabriken  gezählt,  1913  21  061.  Die 
meisten  Gewerbegruppen  der  Statistik  sind  vertreten.  Die  wich- 
tigsten sind  das  Bekleidungsgewerbe,  die  Maschinen-,  Eisen-,  Me- 
tall-, die  elektrische  Industrie,  der  Wagenbau  aller  Art,  die  Bier- 
brauerei. Dann  folgen  die  Gewerbe,  die  Papier,  Tapeten,  Möbel, 
musikalische  Instrumente,  Schmucksachen,  Kautschuckwaren, 
Seife,  Chemikalien,  wohlriechende  Wasser,  Schirme,  Posamentier- 
waren, Linoleum,  Porzellan,  Öfen,  Tonwaren,  Marmorwaren,  Hand- 
schuhe, Asphalt,  Dachpappe,  Goldleisten,  Geldschränke  herstellen. 
Um  1910  betrug  die  Kohlenzufuhr  5,75  Millionen  Tonnen,  von 
denen  mehr  als  Y5  t^^i^  der  Bahn  zugeführt  wurden.  Auf  der  Berlin- 
Charlottenburger  Wasserstraße  kamen  in  Berlin  Gegenstände  zu 
Berg  als  mit  2711695,5,  zu  Tal  2485108  Tonnen  an,  in  Char- 
lottenburg 755135  und  1772626.  Abgegangen  sind  im  ganzen 
zu  Wasser  683  000  Tonnen.  Trotz  aller  heute  üblichen  Ferndis- 
position über  die  Ware,  die  Berlin  als  Welthandelsplatz  durch 
Börse  und  Großkaufleute  vermittelt,  ist  die  Stadt  noch  ein  be- 
deutender Stapelplatz,  von  dem  aus  Getreide,  Hülsenfrüchte, 
Mehl,  Sämereien,  Eier,  Felle,  Häute,  Kolonialwaren,  Wolle  wieder 
ausgeführt  werden,  nicht  bloß  nach  dem  übrigen  Deutschland, 
sondern  auch  nach  Frankreich,  England,  Österreich,  Skandi- 
navien. Dieser  Umsatz  wurde  1903  auf  130000  Tonnen  Getreide 
geschätzt,  auf  630000  Schock  Eier,  auf  15 — 20  Millionen  Mark 
in  Häuten  und  Fellen. 

Was  eine  solche  Millionenstadt  verbraucht,  geht  u.  a.  daraus 
hervor,  daß  1910  auf  ihrem  Markt  240071  Rinder,  1333910 
Schweine,  197828  Kälber,  628951  Schafe  aufgetrieben  wurden. 
Im  Jahre  1890  unterstanden  dem  Steueramt  der  Stadt  82  Bier- 
brauereien, die  105943  hl  obergäriges  und  1992777  untergäriges 
Bier  brauten.  19 10  waren  in  Berlin,  Charlottenburg,  Pankow,  Neu- 
kölln iio  Brauereien  mit  einem  Produkt  1084602  hl  obergärigen 
und  4034880  untergärigen  Bieres.  Eingeführt  und  in  der  Stadt 
erzeugt  wurden  378  278  368  1  Milch,  der  Jahresumsatz  von  Fischen 
durch  die  Fischauktionen  betrug  allein   35  792   Ztr. 


I.  Einleitung.     Das  ökonomische  Zeitalter.  40 1 

Wenn  man  sich  die  Bewältigung  solcher  Massen  veranschau- 
licht, versteht  man,  daß  der  städtische  Handel  rasch  umgebildet 
werden  mußte.  Die  Vorwärtsbewegung  der  kaufmännischen 
Technik  im  Kleinhandel  hat  keinen  Augenblick  geruht.  Waren- 
häuser und  Spezialgeschäfte  wetteiferten  mit  Gewerbehöfen  und 
Handelsstätten,  die  sich  über  das  Stadtgebiet  verbreiteten.  1908 
wurden  300  Geschäftspaläste  mit  luxuriöser  Ausstattung  gezählt. 
Die  vornehme  Straße  „Unter  den  Linden"  hat  ihre  alten  bekannten 
Häuser  verschwinden  sehen  und  hochaufragende  Neubauten  erster 
Berliner  Firmen,  Hotels  und  Ausstellungsgebäude  an  deren  Stelle 
treten  lassen.  Die  Millionen  dazu  waren  zur  Verfügung,  für  den 
Bodenwert  wurden  märchenhafte  Preise  gezahlt.  Die  Rente  der  An- 
lage hatte  der  Umsatz  im  großen,  der  sich  hier  zusammendrängen 
sollte,  aufzubringen. 

Die  kaufmännische  Propaganda  wurde  durch  die  Ausstattung 
der  Schaufenster  mit  ihren  Farbenanordnungen  und  Beleuchtungs- 
effekten gesteigert.  Der  Schaufensterwettbewerb  kehrte  seit  1909 
regelmäßig  wieder,  dem  das  großstädtische,  auf  das  neueste  er- 
pichte Publikum  seine  Huldigung  darbrachte.  Vorträge  über  die 
Geschmacksbildung  des  Kaufmanns  wurden  veranstaltet,  und  Aus- 
stellungen in  großer  Zahl  gehören  seit  1900  zu  dem  dauernden  In- 
ventar des  industriellen,  künstlerischen  und  kaufmännischen  Ber- 
lins. Sie  haben  sich  als  Fachausstellungen  bewährt,  während  man 
von  den  gemischten,  wie  die  Weltausstellungen  es  sind,  wegen 
ihrer  das  Geschäft  nicht  deckenden  enormen  Kosten  nicht  viel 
hören  wollte.  Abgesehen  von  kleinen  und  privaten  Unternehmen 
ersterer  Art,  die  sich  gar  nicht  zählen  lassen,  schwankten  die 
großen  jährlich  zwischen  30  und  50,  die  mit  der  Schaffung  perma- 
nenter Ausstellungsgebäude  für  das  Publikum  leicht  auffindbar 
wurden.  Es  beteiligten  sich  die  Kunst-  und  Handelsgärtnereien, 
deren  Blumensäle  bis  zur  Spezialisierung  mit  Orchideen  gingen, 
die  Tierzucht  mit  ihren  bienenwirtschaftlichen,  Geflügel-,  Hunde-, 
Geweih-,  Kaninchen-,  Mastviehausstellungen;  die  Maschinen-,  Elek- 
trizitäts-,  Seifen-,  Papier-,  Leder-,  Holz-  und  Schnitzstoff-,  Nah- 
rungsmittel-, die  polygraphische,  die  Spielzeug-,  die  Instrumenten- 
industrie; das  Bekleidungsgewerbe  mit  Unterabteilungen  für 
Wäscherei,  Plätterei,  Moden,  Spitzen,  Schuhen,  Pelzwaren,  Schlei- 
fen, Posamentierwaren,  Haartrachten,  Reformbekleidung;  das 
Kunstgewerbe  und  die  Kunst  der  Gemälde  und  Plastik,  die  Anti- 
quitäten, die  Liebhaberkunst  für  echte  alte  Gobelins  und  für  Be- 
gräbnisschmuck. 

Die  Ausstellungen  hatten  den  Zweck,  besonders  auch  auf  die 
Fremden    einzuwirken,    deren    polizeilich    gemeldete    Zahl    in    der 

A.Sartorius  v.  Walters  hausen.  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        26 


A02  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 1914. 

ersten  Hälfte  der  neunziger  Jahre  die  halbe,  1905  die  ganze  Million 
und  19 13  wieder  die  Hälfte  derselben  mehr  ausmachte.  Für  sie  und 
die  Einheimischen  wurden  die  Personenbeförderungsmittel  immer 
ausreichender  zur  Verfügung  gestellt.  In  den  letzten  6  Jahren  vor 
dem  Kriege  erfüllt  der  Kraftwagen  mit  seiner  Hast  und  seinem 
Lärmen  alle  großen  Verkehrsadern.  1908  zählte  Großberlin  1121 
Kraftdroschken  neben  7592  Pferdedroschken  erster  Klasse  mit 
Fahrtanzeiger,  während  gleichzeitig  die  alte  Fahrgelegenheit  zweiter 
Klasse  für  diejenigen  Leute,  die  Zeit  haben,  sich  nur  noch  auf  239 
belief.  Neben  934  alten  Omnibussen  sind  146  Kraftomnibusse  im 
Betrieb.  Straßenbahnwagen  laufen  3209.  Im  Jahre  1914  zählt  die 
Statistik  2489  Kraftdroschken,  341  Kraftomnibusse.  Automobile 
wurden  im  ganzen  5494  ermittelt,  zu  denen  noch  747  Motorräder 
hinzukamen.  Während  des  Krieges  blieb  nur  ein  kleiner  Bestand 
zurück,  da  die  Heeresverwaltung  beschlagnahmte,  was  sie  an  Ma- 
schinen, Wagen  und  Gummireifen  nur  benutzen  konnte.  Um  so 
mehr  Personen  hatten  die  städtischen  elektrischen  und  Dampfeisen- 
bahnen zu  befördern,  deren  Verkehr  schon  vorher  gewaltig  empor- 
geschnellt war. 

Großberlin  schloß  1913  rund  i/^g  der  deutschen  Reichsbevöl- 
kerung in  sich  ein.  Das  war  bald  soviel  als  Württemberg,  Baden 
und  Hessen  zusammen  Einwohner  hatten.  Mit  dieser  Quote  war 
aber  weder  diejenige  an  der  gesamten  Produktivkraft,  noch  die 
an  dem  nationalen  Reichtum  identisch.  Verschiedene  Berechnungen 
kamen  überein,  daß  der  städtische  Bodenwert  der  Reichshaupt- 
stadt etwa  Ve  dessen  aller  Städte  ausmachte.  Der  Wertanteil  an 
mobilen  Vermögen  wird  dem  nicht  nachgestanden  haben,  was  man 
aus  der  großen  Zahl  der  Millionäre  hat  schließen  wollen.  Groß- 
berlin zahlte  191 1  1/4  der  direkten  Staatssteuern  Preußens,  soviel 
wie  die  sieben  Provinzen  des  Ostens  und  Schleswig-Holstein.  Das 
städtische  Budget  war  größer  als  das  württembergische  um 
51  Millionen  Mark,  das  249  Millionen  Mark  1911/12  betragen 
hatte. 

II.  Der  neue  Kurs.  Im  Winter  1889/90  ging  das  Be- 
streben der  Reichsregierung  dahin,  das  Sozialistengesetz,  das  im- 
mer von  3  zu  3  Jahren  verlängert  worden  war,  zu  einem  dauernden, 
milderen  umzugestalten,  jedoch,  obwohl  unter  Verstärkung  der  so- 
genannten richterlichen  Garantien,  den  kleinen  Belagerungszustand 
mit  den  Ausweisungen,  beizubehalten.  Die  Vorlage  würde  wohl  in 
dieser  oder  einer  anderen  Form  im  Reichstage  angenommen  wor- 
den sein,  wenn  sich  der  Reichskanzler  für  sie  eingesetzt  hätte.  Er 
kam  zwar  nach  Berlin,  aber  nicht  in  die  Sitzung.  Man  erfuhr  bald, 
was  das  bedeutete.    Es  bereitete  sich  die  Kanzlerkrise  vor,  deren 


II.  Der  neue  Kurs. 


403 


Vorbote  die  Stockung  der  Regierungsmaschine  war.  Der  Aus- 
weisungspargraph wurde  von  der  Majorität  abgelehnt,  und  nun 
stimmten  die  Konservativen  gegen  das  ganze  Gesetz,  das  sie  ohne 
ihn  für  wertlos  erklärten,  und  brachten  es  zu  Fall. 

Kaiser  Wilhelm  II.  hatte  sich  mit  jugendlichem  Feuer 
der  Lösung  der  Arbeiterfrage  und  neuen  sozialpolitischen  Maß- 
regeln zugewandt.  Das  Sozialistengesetz  paßte  in  diese  versöhn- 
liche Stimmung  nicht  hinein.  Im  Februar  1890  hatte  Bismarck 
das  preußische  Handelsministerium  niedergelegt,  das  er  seit 
10  Jahren  verwaltete,  wohl  im  Hinblick  darauf,  daß  er  über  die 
hier  gesteckten  Ziele  der  Sozialpolitik  nicht  hinausgehen  wollte, 
doch  blieb  er  Reichskanler,  da  er  es  für  seine  Pflicht  hielt,  die  aus^ 
wärtige  Politik  im  Interesse  des  Reiches  fortzuführen,  die  nie- 
mand wie  er  nach  seinen  Erfahrungen  zu  meistern  vermochte. 
Um  die  Ungeduld  des  Kaisers  einigermaßen  zu  befriedigen,  redi- 
gierte er  zwei  Kaiserliche  Erlasse,  die  alsbald  veröffentlicht  wur- 
den, der  eine  an  den  Reichskanzler,  der  andere  an  den  neuen 
Handelsminister  Freiherrn  von  Berlepsch  gerichtet.  Der 
erstere  enthält  die  Zusicherung,  der  Kaiser  sei  entschlossen,  zur 
Verbesserung  der  Lage  der  deutschen  Arbeiter  die  Hand  zu  bieten, 
soweit  dies  möglich  sei,  ohne  die  Industrie  in  ihrer  Konkurrenz- 
fähigkeit auf  dem  Weltmarkte  zu  schädigen.  Zu  dem  Zwecke  seien 
zwischenstaatliche  Verständigungen  erforderlich,  zu  deren  Anbah- 
nung eine  Konferenz  von  Staatenabgeordneten  in  Aussicht  zu  neh- 
men sei.  Der  zweite  bezieht  sich  auf  Reformen  in  Deutschland, 
die  die  Versicherungs-  und  Fabrikgesetzgebung  ausbauen  und 
sozialpolitische  Musteranstalten  in  staatlichen  Bergwerken  und  Eini- 
gungsämter schaffen  sollen.  Der  Reichskanzler  hoffte,  daß  die 
Beratungen  in  der  internationalen  Konferenz  bzw.  in  dem  Staatsrat 
durch  sachverständige  Männer  ein  Gegengewicht  gegen  die  unver- 
antwortlichen Ratschläge  bilden  würden,  die  dem  Kaiser  erteilt 
worden  seien.  Darin  hatte  er  sich  jedoch  getäuscht,  wie  das  im 
dritten  Bande  der  „Gedanken  imd  Erinnerungen"  ausgeführt  wird. 

Die  Konferenz  wurde  in  höflichem  Entgegenkommen  von 
England,  Frankreich,  Österreich-L^ngarn,  Italien,  der  Schweiz,  Hol- 
land, Belgien,  Luxemburg,  Portugal  und  den  drei  nordischen  Staa- 
ten beschickt.  Die  Verhandlungen  drehten  sich  um  die  Sonntags- 
ruhe, die  Beschränkung  der  Arbeitszeit  von  Frauen,  Kindern, 
Jugendlichen,  die  Regelung  der  Arbeit  in  den  Bergwerken.  Man 
einigte  sich  über  einige  Maßregeln,  deren  Überwachung  den  ein- 
zelnen Staaten  zufallen  sollte.  Spätere  Zusammenkünfte  wurden 
zum  Austausch  der  gemachten  Erfahrungen  vorbehalten.  Niemand 
übernahm  eine  Verpflichtung,  so  daß  keine  praktischen  Ergebnisse 


404 


VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von    1890  — 19 14. 


hervorgetreten  sind.  Ein  Minimum  zwischenstaatlich  zu  sichern 
wäre  möglich  gewesen,  soweit  es  den  bereits  bestehenden  Gesetzen 
entsprach.  Das  hätte  freilich  wenig  geändert,  fand  aber  trotzdem 
keine  Zustimmung,  da  man  sich  im  Auslande  grundsätzlich,  et- 
waiger neuer  künftiger  Forderungen  wegen,  nicht  festlegen  wollte. 
Denn  eine  internationale  Arbeiterschutzgesetzgebung  hat  nur  einen 
Wert  unter  annähernd  gleichgestellten,  in  einem  Beharrungszu- 
stande befindlichen  Industrieländern.  Diese  Voraussetzung  fehlte, 
Technik,  wirtschaftliche  Organisation  und  Kapitalmacht  waren  un- 
gleich, und  vieles  war  in  der  Umbildung. 

Jede  Uniformität  bedeutenden  Arbeiterschutzes  mußte  ein  sehr 
verschiedener  Eingriff  in  die  industriellen  Kosten  der  einzelnen 
Länder  bringen.  Differenzen  mögen  innerhalb  eines  großen  Einzel- 
staates auch  vorhanden  sein,  aber  hier  lassen  sich  Ausgleichungen 
durch  die  Handels-,  Steuer-  und  Transportpolitik  finden,  ganz  ab- 
gesehen davon,  daß  eine  staatliche  Überwachung  der  Vorschriften 
sicherer  als  die  völkerrechtliche  ist. 

Der  zweite  Entwurf  hatte  Erfolg,  zunächst  im  Staatsrat,  der 
um  Personen  verstärkt  worden  war,  die  dem  neuen  Kurs  der 
kaiserlichen    Politik   zustimmten  und   weiterhin   im   Reichstage. 

Die  Novelle  von  1891  bringt  Bestimmungen  über  die  Sonn- 
tagsruhe und  die  zulässige  Sonntagsarbeit,  den  11  stündigen  Maxi- 
malarbeitstag für  erwachsene  weibliche  Arbeiter,  obligatorische 
Arbeitsordnung  für  größere  Betriebe,  die  Arbeitsbücher  jugend- 
licher Personen  und  die  Neuorganisation  von  Gewerbegerichten, 
die  in  allen  Gemeinden  von  über  20000  Einwohnern  zu  er- 
richten sind. 

Die  neuen  Belastungen  waren  für  die  Industrie  nicht  sehr 
erheblich,  wo  sie  ausnahmsweise  schärfer  einschnitten,  wurden  sie 
mit  der  unter  dem  Zollschutz  gebesserten  Lage  gerechtfertigt.  Von 
1888— 1890  war  zwar  gut  verdient  worden,  aber  der  allgemeine  Auf- 
schwung des  Geschäftes  fehlte  noch.  Die  ersparten  Einkommen 
trugen  daher  auch  dazu  bei,  in  diesen  drei  Jahren  eine  Kapital- 
anlage im  Ausland  vorzunehmen,  die  sich  bloß  nach  dem  Emis- 
sionskurs der  Effekten  berechnet,  auf  1432  Millionen  Mark  belief. 
Große  Aufträge  nicht  nur  von  Deutschland  waren  den  Rüstungs- 
industrien zugeflossen,  der  Ausbau  der  Kleinbahnen  hatte  der  Mon- 
tanindustrie zu  verdienen  gegeben.  Schon  im  Sommer  1890  schlug 
die  nicht  ausreichend  gefestigte  Konjunktur  wieder  um  unter  dem 
Einfluß  des  Zusammenbruches  des  englischen  Hauses  Baring 
Brothers  und  der  Errichtung  des  nordamerikanischen  Hoch- 
schutzzolles. 


11.  Der  neue  Kurs. 


405 


Die  Arbeitslöhne  sanken.  Trotzdem  jubelte  die  Sozialdemo- 
kratie. Das  gegen  sie  gerichtete  Gesetz  war  gefallen.  Bei  der 
Reichstagswahl  von  1890  hatte  sie  gegen  die  vorhergehende  ihre 
Stimmenabgabe  verdoppelt,  der  scharfe  Wechsel  der  Geschäftslage 
war  ihr  ein  willkommener  Anlaß,  ihre  Zusammenbruchstheorie 
wieder  hervorzuholen.  Der  Parteitag  in  Halle,  der  erste  wieder 
auf  deutschem  Boden,  war  ein  Freudenfest,  bei  dem  die  Partei  in 
Anlehnung  an  die  Reichstagswahlkreise  neu  organisiert  wurde. 
Das  Gothaer  Programm  wurde  noch  ein  Jahr  beibehalten,  dann 
1891  durch  das  des  nächsten  Parteitages  ersetzt.  Das  Erfurter 
Programm  adoptiert  die  Marxsche  Entwicklungslehre,  be- 
hauptet ganz  allgemein  den  Untergang  der  Kleinbetriebe,  das 
Monopol  der  großen  und  deren  Besitzer,  denen  alle  Vorteile  der 
wachsenden  Gütererzeugung  zuflössen,  während  gleichzeitig  das 
Proletariat  der  Unsicherheit  der  Existenz,  des  Elends,  des  Druckes, 
der  Knechtung,  der  Erniedrigung,  der  Ausbeutung  verfalle.  Die 
Armee  der  überschüssigen  Arbeiter  werde  immer  massenhafter, 
die  Krisen  erhöhten  sich  zum  Normalzustand  der  Gesellschaft. 

Wir  werden  weiterhin  im  einzelnen  erzählen,  wie  in  den 
nächsten  24  Jahren  die  Wirklichkeit  des  wirtschaftlichen  deutschen 
Lebens  den  Beweis  des  Gegenteils  von  alledem  erbracht  hat.  Die 
Kunst  der  Führer  mußte  also  dauernd  darauf  bedacht  sein,  die 
Wahrheit  zu  verschleiern  und  die  Begehrlichkeit  nach  immer  neuen 
Lebensbedürfnissen  und  mehr  Macht  hervorzurufen.  Das  war  die 
Antwort  der  Partei  auf  die  sozialpolitischen  Reformen  des  Reiches 
und  des  Entgegenkommens  des  Kaisers. 

Das  Zukunftsziel  wird  in  dem  Programm  im  phrasenhaften 
Dunkel  gelassen:  Das  Privateigentum  an  Produktionsmitteln  soll 
in  gesellschaftliches  und  die  Warenproduktion  in  eine  sozialistische 
umgewandelt  werden.  Das  Wort  Staat  wird  ängstlich  vermieden, 
als  ob  die  künftige  Gesellschaft  ohne  politische  Machtorganisation 
bestehen  könne.  Es  wird  daher  die  alte  Wendung  von  der  völker- 
beglückenden Internationalität  der  Arbeiterklasse  aufgewärmt,  durch 
welche  die  Menschheit  von  allen  Klassenunterschieden  und  jeder 
Herrschaft  befreit  werden  soll.  Das  Mittel,  die  neue  Gesellschaft 
zu  begründen,  ist  die  Arbeiterdiktatur,  wobei  der  Vorgang  der 
Revolution  mit  Stillschweigen  übergangen  wird.  Die  neuen  Macht- 
haber haben  sich  nach  Vollendung  ihrer  Aufgabe  zu  verneinen, 
d.  h.  die  gewonnene  Macht  aufzugeben,  und  die  erträumte  Gleich- 
heit allen  auf  den  Tisch  zu  legen.  Man  vergleiche  damit  die  Ge- 
schehnisse in  Rußland  und  Deutschland  im  Jahre  1918! 

Höchst  problematisch  klingen  auch  die  Gegenwartsforde- 
rungen:  Volkswehr   an   Stelle   des   stehenden   Heeres,   Schlichtung 


^o6  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

aller  internationalen  Streitigkeiten  durch  Schiedsgerichte,  Unent- 
geltlichkeit der  Rechtspflege  und  des  Rechtsbeistandes,  Abschaf- 
fung aller  indirekten  Steuern  und  der  Zölle.  Andere  Programm- 
punkte entfernen  sich  nicht  von  denen  der  bürgerlichen  Demo- 
kratie, endlich  sind  einige  erreichbare  verzeichnet,  die  auf  den 
Arbeiterschutz  gerichtet  sind,  den  achtstündigen  Normalarbeits- 
tag der  Erwachsenen,  Verbot  der  Erwerbsarbeit  für  Kinder  unter 
14  Jahren,  Nachtarbeit  nur  in  Ausnahmefällen  und  36  Stunden 
Ruhepause  jede  Woche. 

Indem  die  Sozialdemokratie  den  bestehenden  Staat  allein  als 
eine  Ausbeutungsmaschine  schmähte,  fehlte  ihr  zugleich  jedes  Ver- 
ständnis für  die  politische  Organisation  des  deutschen  Volkes 
im  Kreise  anderer,  wie  dies  in  dem  letzten  Jahrhundert  müh- 
sam aufgerichtet  worden,  und  von  der  das  Wohl  jeder  Familie  ab- 
hängig war.  Fast  bei  jedem  volkswirtschaftspolitischen  Vorschlage, 
der  in  den  nachfolgenden  24  Jahren  von  selten  des  Reiches  ge- 
macht wurde,  verhielt  sich  die  Partei  ablehnend,  jedenfalls,  wenn 
es  sich  um  das  Wohl  der  Arbeiter  handelte,  weil  das  Gebotene  zu 
wenig  sei,  und  weil  die  Führer  ihr  Brot  verloren  hätten,  wenn 
ihre  Wähler  zur  Zufriedenheit  neigten.  Es  gab  zwar  manche  Ab- 
stufung des  Radikalismus  unter  den  Genossen,  aber  nach  außen 
gelang  es  doch  stets,  den  streng  negierenden  Charakter  aufrecht 
zu  erhalten.  Nur  die  weiter  unten  zu  würdigenden  Gewerkschaften 
können  den  Anspruch  erheben,  sich  der  Stimme  der  mäßigenden 
Vernunft  nicht  ganz  verschlossen  zu  haben.  Aber  auch  sie  er- 
zogen nur  Parteiführer,  keine  Staatsmänner. 

In  den  Tagen,  als  die  internationale  Konferenz  für  den  Ar- 
beiterschutz tagte,  war  B  i  s  m  a  r  c  k  als  Reichskanzler  entlassen 
worden.  Die  Ursachen  und  die  Ereignisse  des  Konflikts  zwischen 
Kaiser  und  Kanzler  sind  durch  die  bekannten  Veröffentlichungen 
unzweifelhaft  festgestellt  worden.  Für  die  deutsche  Wirtschafts- 
geschichte ergaben  sich  aus  der  Veränderung  der  inneren  und 
äußeren  Politik,  die  der  Entlassung  folgte,  erhebliche  Einwir- 
kungen. Die  Sozialpolitik  Wilhelms  IL  wurde  in  der  soeben 
angegebenen  Weise  verwirklicht.  Nicht  minder  eingreifend  als 
die  soziale  wurde  die  Handelspolitik  betroffen.  Die  Anregung 
dazu  soll  der  Oberbürgermeister  von  Frankfurt,  Miquel,  der  be- 
kannte Parlamentarier  und  spätere  Finanzminister,  dem  Kaiser 
gegeben  haben.  Der  Umschwung  vollzog  sich  bald,  der  in  keiner 
Weise  von  dem  über  den  neuen  Kurs  grollenden  Alten  im  Sachsen- 
walde gebilligt  wurde.  Bismarck  hatte  nach  späteren  Äußerungen 
seines  Sohnes  im  Reichstage  die  Absicht  gehabt,  die  autonome 
Zollpolitik    zunächst    noch    fortzusetzen,    den    Tarif    weiter    zu    er- 


II.  Der  neue  Kurs.  407 


höhen,  um  für  Deutschland  vorteilhafte  Handelsverträge  zum  Ab- 
schluß bringen  zu  können.  Auf  diese  Weise  hätten  sich  die  Inter- 
essen der  Ausfuhrindustrie  mit  dem  Schutz  aller  heimischen  Pro- 
duktivkräfte vereinigen  lassen,  ein  Plan,  der  später  mit  dem  Zoll- 
tarifgesetz von  1902  und  den  sich  ihm  angepaßten  Handelsver- 
trägen aufgenommen  wurde. 

Den  neuen  Männern,  dem  Reichskanzler  von  Caprivi  und 
dem  Staatssekretär  von  Marschall,  war  einerseits  das  System 
des  autonomen  Tarifs  in  Verbindung  mit  seinen  Meistbegünsti- 
gungsverträgen zu  wenig  durchsichtig  und  schien  ihnen  nur  von 
einem  Meister  der  Diplomatie  gehandhabt  werden  zu  können,  für 
den  sie  sich  nicht  wohl  halten  mochten.  Andererseits  wurden  der 
augenblickliche  Rückgang  derAusfuhrindustrie,  der  eine  Folge  der 
Krise  war,  und  der  leidliche  Stand  der  Landwirtschaft,  die  eine 
gute  Ernte  hinter  sich  hatte,  überschätzt.  So  kam  es,  daß  die  Füh- 
rung der  deutschen  Handelspolitik,  obwohl  sie  vor  radikalen  Um- 
wälzungen zurückschreckte,  sich  in  das  Lager  des  Liberalismus 
begab,  wo  sie  mit  offenen  Armen  von  allen  den  Elementen  auf- 
genommen wurde,  die  sich  im  Haß  gegen  das  alte  Regime  zu- 
sammengefunden hatten.  Das  Ideal  der  nationalen  allgemeinen 
Berücksichtigung  der  großen  Berufsstände  wurde  fallen  gelassen, 
und  eine  Politik  in  Angriff  genommen,  die,  wenn  fortgesetzt,  zu 
einem  einseitigen  Industrie-  und  Handelsstaat  führen  mußte.  Es  ist 
das  Verdienst  des  späteren  Reichskanzlers  von  Bülow,  hier 
Halt  geboten  zu  haben,  was  später,  als  der  Weltkrieg  die  Richtig- 
keit bewiesen  hatte,  auch  von  gegnerischer  Seite  anerkannt  werden 
mußte. 

Die  einfachere  und  bequemere  Politik  der  Regierung  war  der 
baldige  Abschluß  langfristiger  Handelsverträge  mit  Tarifbindung. 
Die  bestehenden  reinen  Meistbegünstigungen  liefen  1892  ab,  und 
man  besorgte,  daß  überall  Ausschließungen  bevorständen,  wenn 
man  nicht  einlenkte.  Ein  Krieg  aller  gegen  alle  sei,  wie  Caprivi 
betonte,  unvermeidlich,  unter  dem  die  Deutschen  am  schlimmsten 
leiden  würden.  Frankreich  war  im  Begriff,  einen  hohen  Maximal- 
und  Minimaltarif  aufzustellen,  die  Vereinigten  Staaten  ergriffen  mit 
der  Mac  Kinley  Bill  Prohibitionen,  und  Rußland  hatte  im  Zoll- 
krieg mit  Deutschland  den  Wareneingang  ungemein  erschwert. 
Wenn  man  nun  auch  annahm,  daß  Österreich-Ungarn  und  die 
kleinen  europäischen  Staaten  sich  ebenfalls  abzusondern  an- 
schickten, so  war  doch  durchaus  nicht  einzusehen,  warum  Deutsch- 
land, das  mehr  als  die  übrigen  Staaten  in  den  letzten  10  Jahren 
wirtschaftlich  erstarkt  war,  nicht  auch  so  lange  hätte  für  sich 
gehen  können,  bis  die  übrigen  nachgaben.    Die  neue   Politik  war 


4o8  VT.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 


kleinmütig  und  ganz  in  der  Gegenwart  der  Wirtschaftskrise  be- 
fangen. „Wir  müssen  exportieren",  sagte  der  Reichskanzler,  „ent- 
weder wir  exportieren  Waren  oder  wir  exportieren  Menschen.  Der 
innere  Markt  genügt  nicht  mehr".  Fehlte  es  an  Nahrung,  so  wäre 
das  Nächstliegende  gewesen,  die  Landwirtschaft  zu  heben,  damit 
sie  das  Fehlende  ergänze.  Daß  dies  in  großzügiger  Weise  mög- 
lich war,  hat  das  neue  Jahrhundert  erwiesen.  Aber  man  wollte 
nichts  von  Preissteigerungen  hören  und  alles  vermeiden,  was  äußer- 
lich mit  der  Sozialpolitik  nicht  im  Einklang  war. 

Theoretisch  richtiger  war  das  Argument,  das  auch  von  zahl- 
reichen Handelskammern  vertreten  wurde,  die  Ausfuhrindustrie 
bedürfe  beständigerer  Verhältnisse,  die  durch  die  Tarifbindung 
möglich  würden.  Hier  lag  aber  eine  Übertreibung  vor,  da  Eng- 
land gar  nicht  daran  dachte,  seinen  Freihandel  abzuschaffen,  die 
englischen  Kolonien  die  Meistbegünstigung  noch  gewährten,  da 
Holland  sich  nicht  rührte,  und  Frankreich,  wie  alle  überseeischen 
Staaten,  an  erster  Stelle  die  nordamerikanische  Union,  als  Tarif- 
vertragsstaaten gar  nicht  in  Betracht  kamen.  Man  würde  auch 
noch  einige  Jahre  wie  bisher  ausgekommen  sein. 

Eine  dritte  Rechtfertigung,  deren  sich  die  neue  Richtung  be- 
diente, war  der  engere  Zusammenschluß  der  mitteleuropäischen 
Staaten,  sowohl  gegen  Rußland  und  Nordamerika,  vielleicht  auch 
gegen  das  britische  Weltreich.  Aus  diesem  Gedanken  hätte  sich 
allerdings  eine  neue  Handelspolitik  herleiten  lassen.  Aber  dann 
mußte  die  Sache  ganz  anders  angefaßt  werden.  Es  kam  nicht  bloß 
darauf  an,  daß  sich  Staaten  untereinander  Zugeständnisse  mach- 
ten, sondern  daß  sie  sich  in  gemeinsamer  Abwehr  zusammen- 
schlössen. Das  ist  nicht  geschehen.  Vielmehr  wurde  von  Deutsch- 
land an  Rußland,  die  Vereinigten  Staaten,  England  die  Meist- 
begünstigung gewährt,  statt  daß  der  Generaltarif  gegen  sie  gel- 
tend gemacht  wurde.  Die  Idee,  den  Generaltarif  der  Vertrags- 
staaten einheitlich  zu  gestalten,  wurde  gar  nicht  einmal  erwogen. 

Die  ersten  Verhandlungen  mit  Österreich-Ungarn  gehen  auf 
den  Sommer  1890  zurück,  als  gelegentlich  des  schlesischen  Kaiser- 
manövers die  Kaiser  im  Schloß  Rohnstock  zusammenkamen,  wo 
die  enge  politische  Verbindung  beider  Mächte  gefeiert  wurde,  nach- 
dem der  Bismarcksche  Rückversicherungsvertrag  mit  Rußland,  der 
ein  gutes  Gegengewicht  gegen  österreichische  Ansprüche  war,  et- 
waige Sonderwünsche  der  Donaumonarchie  zu  befriedigen,  leichten 
Mutes  von  Caprivi  preisgegeben  war.  Der  Abschluß  zögerte  sich 
bis  zum  Dezember  1891  hinaus.  In  der  Zwischenzeit  wurden  auch 
Vereinbarungen  mit  Italien,  der  Schweiz  und  Belgien  angebahnt. 
Die  Verträge  wurden  auf  12  Jahre  festgelegt  und  hatten  bei  Nicht- 


II.  Der  neue  Kurs.  40g 


kündigung    von    Jahr    zu    Jahr    fortzulaufen.    Tatsächlich    sind    sie 
erst  1906  erloschen. 

In  dem  Vertrage  mit  Österreich-Ungarn  wurde  deut- 
scherseits die  Herabsetzung  der  Getreidezölle  (Weizen  und 
Roggen  von  5  auf  3,50  Mark,  Hafer  von  4  auf  2,80,  Gerste  von 
2,25  auf  2,  Mais  von  2  auf  1,60)  und  der  Zölle  auf  Hopfen, 
Holz,  Fleisch,  Geflügel,  Vieh,  verschiedene  Rohstoffe,  Halbfabri- 
kate und  einige  Fabrikate  (Papier,  Porzellan,  grobe  Schmuck- 
sachen) zugestanden.  Österreich  setzte  dafür  seine  Textilzölle 
durchschnittlich  um  20  0/0  herab  und  machte  auch  für  Glas-,  Ton-, 
Eisenwaren,  Maschinen,  Instmmente  u.  a.  m.  einige  Zugeständ- 
nisse. Bezüglich  der  Salzdurchfuhr  nach  dem  Orient  gab  es  die 
erwünschten  Erleichterungen.  Die  beiderseitige  Freiheit  von  Tran- 
sitzöllen, die  Verkehrserleichterungen  im  Grenzverkehr  und  Verein- 
barungen über  das  Eisenbahnwesen  wurden  aufrecht  erhalten. 

Während  in  diesem  Handelsvertrag  Industrie-  und  AgrarzöUe 
gegeneinander  aufgerechnet  wurden,  konnten  in  dem  mit  der 
Schweiz  und  Belgien  nur  die  ersteren  gegenseitig  ermäßigt 
werden.  In  dem  deutsch-italienischen  Abkommen  erhielten 
die  deutsche  chemische  Großindustrie,  das  WoU-,  Eisen- und  Seiden- 
gewerbe Vorteile,  Italien  hingegen  solche  auf  agrarem  Gebiete,  je- 
doch nicht  für  Getreide  oder  Vieh,  das  in  keinem  Belang  expor- 
tiert wird,  sondern  für  Geflügel,  Eier,  Wein  und  Südfrüchte. 
Deutschland  büßte  einen  Teil  seiner  Finanzzölle  ein,  was  bei  dem 
Stand  des  Etats  nicht  gerade  erwünscht  war,  handelspolitisch  ließ 
sich  indessen  nicht  mit  Unrecht  hervorheben,  daß  man  der  natür- 
lichen, klimatisch  bedingten,  internationalen  Produktionsverteilung 
Rechnung  getragen  hätte. 

Wie  oben  erwähnt,  befand  sich  das  Reich  mit  Rußland 
seit  Jahren  in  einem  Zollkrieg.  Im  Juli  1891  hatte  letzteres  einen 
neuen  Tarif  erlassen,  der  ersterem  mehrere  Ausfuhrunmöglich- 
keiten auflegte.  Als  nun  das  ungarische  Getreide  gegen  geringeren 
Zoll  als  das  russische  nach  Deutschland  eingehen  durfte,  wurde 
die  russische  Ausfuhr  schwer  geschädigt.  Daher  erließ  Rußland 
einen  Maximaltarif,  den  es  gegen  seinen  Gegner  anwandte,  wäh- 
rend es  gleichzeitig  Frankreich  eine  Ermäßigung  für  einige  Luxus- 
gegenstände und  landwirtschaftliche  Maschinen  gegen  Herab- 
setzung des  Petroleumzolles  einräumte.  Jetzt  machte  das  Reich  von 
dem  Kampfzollparagraphen  Gebrauch,  weil  Produkte  deutschen  Ur- 
sprungs schlechter  als  dieselben  anderer  Herkunft  behandelt  wur- 
den. Die  Antwort  war  eine  50  0/0  ige  Erhöhung  des  gesamten  rus- 
sischen Maximaltarifs  und  die  Steigerung  der  Hafenabgaben  für 
deutsche    Schiffe.     Hiergegen    richtete    sich    als    Retorsion    eine 


Aio  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

preußische  Verordnung,  daß  unter  Berufung  auf  die  Seuchengefahr 
die  Einfuhr  von  Heu  und  Stroh  aus  Rußland  verboten  wurde,  und 
daß  das  Reich  den  Zuschlagszoll  von  50  0/0  auch  auf  Finnland 
ausdehnte. 

Die  Notlage  der  ausführenden  Landwirtschaft,  die  Schwan- 
kungen des  Rubelkurses  und  die  Schwierigkeit,  die  Schuldzinsen 
im  Ausland  zu  zahlen,  veranlaßten  das  Zarenreich  zum  Einlenken. 
Die  Verhandlungen  begannen  im  Herbst  1893,  und  im  März  1894 
wurde  für  10  Jahre  ein  Handelsvertrag  abgeschlossen,  der  an 
Rußland  die  Meistbegünstigung,  auf  die  es  ein  Hauptgewicht  legen 
mußte,  da  die  Vereinigten  Staaten  sie  auch  besaßen,  an  Deutsch- 
land nach  Aufhebung  aller  Zuschläge  eine  Ermäßigung  der  In- 
dustriezölle von  1891  in  218  Positionen  gab.  Bezüglich  der  Zoll- 
abfertigung, des  Grenzverkehrs  und  der  Schiffahrt  wurde  ein  er- 
leichtertes Verfahren  verabredet. 

Obwohl  die  deutsche  Industrie  mehr  erwartet  hatte,  denn  die 
russischen  Abgaben  blieben  immer  noch  recht  hoch,  hatte  Deutsch- 
land doch  insofern  einen  Sieg  in  dem  zehnjährigen  Kampf  davon- 
getragen, als  Rußland  zum  ersten  Male  genötigt  worden  war,  auf 
seine  autonome  Absperrungspolitik  zu  verzichten.  Der  Zollkrieg 
der  letzten  Jahre  hatte  von  deutscher  Seite  deshalb  so  erfolgreich 
geführt  werden  können,  weil  ihr  als  Rüstzeug  die  handelspolitische 
Gesetzgebung  von  1879 — 1887  zu  Gebote  stand.  Wenn  man  ge- 
sagt hat,  daß  das  Reich  von  1890 — 191 4  von  dem  reichen  Erbe 
der  Bismarckschen  Zeit  zehren  konnte,  so  war  das  hier  bewahr- 
heitet worden. 

Ihre  Unzufriedenheit  mit  den  neuen  Verträgen,  namentlich  dem 
russischen,  veranlaßte  die  Vertreter  der  deutschen  Landwirtschaft 
zu  einer  heftigen  Opposition  im  Reichstage.  Sie  konnten  nicht 
durchdringen,  da  ihnen  die  Industrie  nicht  zu  Hilfe  kam,  die  ihr 
Schäflein  bereits  ins  Trockene  gebracht  hatte.  Die  Reichsregie- 
rung erkannte  die  Verstärkung  der  russischen  Konkurrenz  an  da- 
durch, daß  sowohl  die  Staffeltarife  der  preußischen  Eisenbahnen 
für  Getreide  und  Mühlenfabrikate  beseitigt  wurden,  womit  im  In- 
teresse der  west-  und  süddeutschen  Landwirte  eine  Verteuerung  er- 
zielt wurde,  als  auch  dadurch,  daß  dem  Überschuß  an  Getreide 
über  den  Bedarf  in  den  deutschen  Ostseeprovinzen  durch  Auf- 
hebung des  Identitätsnachweises  und  Zulassung  von  Einfuhr- 
scheinen  eine  Ausfuhrerleichterung   zuteil  wurde. 

Der  neue  Kurs  in  der  Wirtschaftspolitik  kam  mit  dem  Rück- 
tritt des  Grafen  Caprivi,  der  schon  im  Oktober  1894  erfolgte, 
zum  Stillstand.  Der  Kanzler,  dessen  Verdienste  bei  der  Durch- 
setzung der  Militärvorlage  von   1893  bedeutende  gewesen  sind,  in- 


III.  Die  Handelspolitik  und  Deutschlands  Stellung  in  der  Weltwirtschaft.  a  j  i 

dem  die  Friedenspräsenzstärke  erhöht  und  zugleich  die  zweijährige 
statt  der  dreijährigen  Dienstpflicht  für  die  Fußtruppen  und  Feld- 
artillerie eingeführt  wurde,  hatte  keine  glückliche  Hand  in  seiner 
sonstigen  Politik  bekundet.  Der  Gegensatz  der  Parteien  und  der 
Zwiespalt  zwischen  Agrar-  und  Industriestaat  waren  verschärft 
worden,  die  Sozialdemokratie  wurde  anspruchsvoller  denn  je.  Eine 
„Umsturzvorlage"  wurde  vorbereitet,  die  der  Kanzler  nicht  gut- 
heißen konnte,  was  zu  seiner  Entlassung  führte. 

Die  deutsche  Volkswirtschaft  war  in  den  vier  Jahren  1890  bis 
1894  in  keiner  guten  Lage.  Die  Handelsverträge  konnten  der 
Industrie  noch  nicht  die  ihnen  eigenen  partiellen  Vorteile  bringen. 
Die  auswärtige  Konkurrenz  versetzte  die  Landwirtschaft  in  eine 
verschärfte  Notlage.  Die  Konjunktur  war  nach  der  Krise  von 
1890  in  der  Eisen-  und  Textilindustrie  rückläufig.  Neue  för- 
dernde Gesetze  von  Bedeutung  für  den  inneren  Verkehr  sind  nicht 
erlassen  worden. 

III.  Die  Handelspolitik  und  Deutschlands  Stel- 
lung in  der  Weltwirtschaft.  Die  deutsche  Handelsstatistik 
von  1892 — 1895  zeigt,  daß  die  Einfuhrzahlen  ungefähr  dieselben 
bleiben,  die  für  die  Ausfuhr  schwanken,  im  Durchschnitt  dem  An- 
fangsjahr gleichstehen.  Die  folgenden  5  Jahre  bringen  eine  Hoch- 
konjunktur, die  zugleich  weltwirtschaftlicher  Art  ist.  Die  Ein- 
fuhr erhöht  sich  um  i  1/2,  die  Ausfuhr  um  i  Milliarde  Mark.  Dann 
folgen  2  Jahre  mäßigen  Rückschlages.  Von  1903 — 1906  kehren 
die  guten  Zeiten  zurück,  die  Einfuhr  steigt  weiter  um  2,1,  die  Aus- 
fuhr um  1,3  Milliarden.  Das  Überwiegen  der  Rohstoffe  für  die 
Industrie,  Lebensmittel  für  die  Bevölkerung,  Futtermittel  für  die 
Tiere  bei  der  Einfuhr  und  der  Fabrikate  bei  der  Ausfuhr  bringen 
das  Wesen  des  einseitigen  Industriestaates  verschärft  zum  Aus- 
druck. Die  Quoten  dieser  Warengruppen  haben  sich  seit  1889 
zwar  nur  wenig  geändert,  wohl  aber  die  absoluten  Zahlen,  die  als 
solche  die  steigende  Gefahr  der  Abhängigkeit  vom  Auslande  her- 
vorkehren. Deutschland  deckt  seinen  auswärtigen  Bedarf  keines- 
wegs vollständig  mit  Waren.  Der  Ausgleich  der  passiven  Han- 
delsbilanz erfolgt  durch  Leistungen  der  Handelsmarine,  Zinsen 
und  Dividenden  vom  Auslandskapital,  Unternehmergewinne  Deut- 
scher in  der  Fremde,  Rimessen  von  Auswanderern,  durch  die  Frem- 
denindustrie, in  geringem  Maße  auch  durch  Finanzierungen,  Bör- 
sen- und  andere  Vermittelungsgewinne  im  Auslande.  Die  inter- 
nationale Forderungsbilanz  wird,  da  der  Ausgleich  durch 
diese  Überschüsse  nach  und  nach  übertroffen  wird,  stark  aktiv,  so 
daß  ohne  Schwierigkeiten  neue  Kapitalanlagen  und  Unternehm- 
ungen in  fremden  Ländern  vorgenommen  werden  können. 


4 1  2 


VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 


Dieser  Zustand  des  weltwirtschaftlichen  Austausches  mochte 
solange  hingehen,  als  die  Ausfuhrquote  der  Fabrikate  im  Vergleich 
zur  Einfuhr  nicht  nachließ,  die  Seeschiffahrt  und  das  Geldgeschäft 
anwuchsen  und  der  Friede  gesichert  war.  Der  letztere  Punkt 
wurde  besonders  von  freihändlerischer  Seite  leicht  genommen,  den 
Krieg  nach  drei  Fronten  hielt  man  für  unmöglich,  Vorbereitungen 
für  eine  volkswirtschaftliche  Mobilmachung  in  dem  Handel,  der 
Landwirtschaft,  der  Industrie  zu  treffen,  für  überflüssig.  Quos  Deus 
perdere  vult,  dementat  prius.  Man  sah  nur  die  eine  helle  Seite  des 
geübten  Systems:  Die  Aufhäufung  des  Reichtums,  das  Wachstum 
des  Einkommens.  Der  Industriestaat  gleicht  einer  elektrischen 
Stadtbeleuchtung.  Wieviel  schöner  und  wohlhabender  sieht  es 
unter  ihr  zu  Nacht  aus  als  ehemals  bei  Gas  und  Petroleum.  Nun 
kommt  ein  Gewitter,  die  Zentrale  versagt,  jede  Straße,  jedes  Haus 
liegt  im  Dunkel,  und  es  fehlt  jeglicher  Ersatz.  So  kann  auch  dem 
Industriestaat  plötzlich  das  Licht  abgedreht  werden,  wenn  ihm 
die  Rohstoffzufuhr  und  die  Auslandsforderungen  durch  Waffen- 
gewalt unterbunden  werden. 

Die  Landwirtschaft  erhob  ihre  warnende  Stimme  gegen  das 
englische  unter  ganz  anderen  Verhältnissen  geschaffene  Vorbild  des 
verstärkten  Industrie-  und  Handelsstaates  und  nahm  den  parla- 
mentarischen Kampf  gegen  die  für  es  schwärmenden  Linksliberalen 
und  Sozialdemokraten  auf.  Die  Preise  des  Getreides  waren  in  der 
Mitte  der  neunziger  Jahre  unter  dem  Druck  des  Weltmarktes  immer 
weiter  gesunken.  Für  Preußen  alten  Bestandes  wurden  folgende 
Durchschnittszahlen  in  Tonne  und  Mark  veröffentlicht: 


Jahre 

Weizen 

Roggen 

Gerste 

Hafer 

1886— 1890   .      . 
1891  — 1895    .      , 
1896 — 1900   .      . 
1901  — 1995    .      . 

173.9 
165,5 
160,9 

163,9 

143,0 
148,5 

134-9 
138.2 

138.4 
142.5 
137,9 
140,7 

135,2 
143,4 
135,1 
140,9 

Zu  dieser  bedenklichen  Lage  des  Körnerbaues  kam  die  Zucker- 
überproduktion hinzu,  und  Handelsgewächse,  wie  Hopfen,  Tabak, 
Hanf,  Flachs,  hatten  ebenfalls  schlechte  Konjunktur.  Hingegen 
waren  die  Preise  der  Hülsenfrüchte,  des  Fleisches,  Geflügels,  der 
Milch,  Eier,  Butter,  des  Specks,  Obstes,  Gemüses  gestiegen.  Das 
nutzten  vorwiegend  die  Kleinproduzenten  in  der  Nähe  der  Groß- 
städte aus,  während  die  Großgrundbesitzer  des  Ostens  darin  keinen 
Ausgleich  finden  konnten.  Von  ihren  politischen  Gegnern  wurde 
immer  der  Vorschlag  wiederholt,  die  Großbetriebe  möchten  zu 
diesen  gewinnbringenden  Produktionen  übergehen.    Es  wurde  mit 


III.  Die  Handelspolitik  und  Deutschlands  Stellung  in  der  Weltwirtschaft.  ^^  j  •! 


Recht  erwidert,  daß  das  bei  dem  Mangel  an  stetigen  Arbeits- 
kräften nicht  anginge,  und  wenn  er  selbst  schwinden  sollte,  der 
Preisdruck  für  die  gewinnbringenden  Produkte  infolge  der  Mehr- 
produktion nicht  ausbleiben  werde,  während  Deutschland  dann 
mehr  Getreide  einzuführen  genötigt  sei. 

Unter  der  Reichskanzlerschaft  des  Fürsten  von  Hohen- 
1  o  h  e  und  mehr  noch  des  Fürsten  von  Bülow  erkannte  die 
deutsche  Regierung  die  schwierige  Lage  großer  Teile  der  deut- 
schen Landwirtschaft  an,  zugleich  auch,  daß  die  Vermehrung  der 
Getreideerzeugung  erwünscht  sei,  um  Deutschland  selbständiger 
in  der  Weltwirtschaft  zu  machen. 

Die  deutschen  Landwirte  hatten  sich  schon  vor  dem  Abschluß 
des  russischen  Handelsvertrages  eine  starke  Kampforganisation  in 
dem  „Bunde  der  Landwirte"  geschaffen.  Parteipolitik  sollte 
mit  ihr  nicht  verbunden  werden,  wie  das  zuerst  in  einem  Aufruf 
des  Generalpächters  Ruprecht-Ransern  1 892  in  der  „Land- 
wirtschaftlichen Tierzucht"  hervorgehoben  war:  „Wir  müssen  In- 
teressenpolitik treiben;  haben  wir  doch  den  Mut,  den  Namen 
Agrarier,  den  die  landwirtschaftsfeindliche  Presse  uns  so  oft  unbe- 
rechtigt gegeben  hat,  nun  mit  Recht  zu  tragen,  deshalb  müssen  wir 
aufhören,  liberal,  ultramontan  oder  konservativ  zu  sein  und  zu 
wählen,  vielmehr  müssen  wir  uns  zu  einer  großen  agrarischen 
Partei  zusammenschließen  und  dadurch  mehr  Einfluß  auf  die 
Parlamente  und  Gestzgebung  zu  gewinnen  suchen".  1895  zählte 
der  Bund  188000,  1908  290  000  Mitglieder.  In  einem  Zenralverband, 
Provinzial-  und  Kreisverbände  gegliedert,  zeichnete  er  sich  durch 
eine  seltene  deutsche  Eigenschaft,  die  Einmütigkeit,  aus.  Der  1909 
gegiründete  Bauernbund,  der  sich  von  ihm  ablöste  und  für  innere 
Kolonisation  verstärkt  eintreten  wollte,  hat  ihn  nicht  erheblich  ge- 
schädigt, da  die  Absplitterung  seine  Kampfziele  nicht  preisgab. 
Ursprünglich  von  Ostelbiern  gegründet,  nahm  der  Bund  der  Land- 
wirte bald  auch  Vertreter  von  West-  und  Süddeutschland  auf.  Er 
hat  die  Großlandwirtschaft  zunächst  verteidigt,  aber  sich  auch  un- 
gezählten kleinen  Landbesitzern  nützlich  erwiesen,  so  daß  er  bei 
diesen  Vertrauen  genoß.  Seine  Tätigkeit  war  oft  rücksichtslos,  so 
daß  seine  demokratischen  Gegner  ihn  moralisch  angriffen,  wenn 
ihre  ökonomischen  Argumente  hinfällig  waren.  Er  betonte  je  nach 
den  Zeitumständen  das  eine  oder  andere  seiner  Programmziele. 
Genügender  Zollschutz  steht  an  der  Spitze,  dann  folgt  die  Forde- 
rung der  steuerlichen  Entlastung,  des  Schutzes  gegen  Viehseuchen, 
der  geeigneteren  Verschuldungsform,  der  Sicherung  gegen  Kon- 
traktbruch ländlicher  Arbeiter. 


AiA  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

Zwei  wirtschaftspolitische  Ansprüche  liegen  außerhalb  des  un- 
mittelbaren Kreises  landwirtschaftlicher  Angelegenheiten,  die  Ein- 
führung der  Doppelwährung  und  die  Bekämpfung  der  Börse,  na- 
mentlich der  Produktenbörse.  Beide  haben  sich  als  ein  wenig 
glückliches  Einschiebsel  im  Programm  erwiesen.  Die  Doppelwäh- 
rung sollte  die  Preise  landwirtschaftlicher  Erzeugnisse  heben,  wo- 
bei man  übersah,  daß  eine  Preisverschiebung  nach  oben  alle 
Waren  und  auch  die  Arbeitslöhne  erfassen  werde,  abgesehen  da- 
von, daß  mit  der  Beseitigung  der  Goldwährung  dem  Außenhandel 
ein  Moment  der  Stetigkeit  entzogen  wurde,  worunter  auch  der  Ge- 
treide- und  Viehhandel  leiden  mußte.  Auf  die  Börse  werden  wir 
weiter  unten  einzugehen  haben.  Nach  dem  Abschluß  des  Handels- 
vertrages mit  Rußland  kam  der  Antrag  Kanitz.  Der  Ein-  und 
Verkauf  des  zum  Verbrauch  im  Zollgebiet  bestimmten  ausländi- 
schen Getreides  sollte  ausschließlich  für  Rechnung  des  Reiches 
getätigt  werden,  worauf  für  den  Verbrauch  Mindestpreise  festge- 
setzt werden  sollten,  die  den  Landwirten  die  Deckung  der  Kosten 
nebst  angemessenem  Gewinn  gestatten  würden.  Da  Deutschland 
damals  genötigt  war,  2,2  Millionen  Tonnen  Weizen,  0,46  Roggen, 
0,43  Hafer,  1,4  Gerste,  0,8  Mais  aus  dem  Auslande  zu  beziehen, 
rechnete  man  damit,  daß  die  Monopolpreise  die  allgemeinen  wer- 
den würden.  Dem  Reiche  werde  durch  den  zentralisierten  Ein- 
kauf große  Einnahme  verschafft  und  seiner  Finanznot  damit  abge- 
holfen werden.  Es  sei  Deutschland  die  Möglichkeit,  Vorräte  für 
den  Kriegsfall  zu  sammeln  und  die  Aushungerung  des  Landes  zu 
verhindern,  gegeben. 

Der  Antrag  wurde  im  Reichstag  abgelehnt,  und  auch  die  Re- 
gierung sprach  sich  gegen  ihn  ia<us.  Die  Hauptschwierigkeiten 
sah  man  zunächst  darin,  daß  staatliche  Beamte  weder  ihrer  Aus- 
bildung nach,  noch  in  ihrer  nach  oben  hin  verantwortlichen  Stel- 
lung gute  Getreidehändler  wären,  ferner,  daß  die  mit  dem  Mono- 
pol geplante  Unterdrückung  des  Terminhandels  zu  großen  Preis- 
schwankungen beim  Einkauf  führen  müßte.  Ebenso  wichtig  er- 
schien es  der  liberalen  Opposition,  daß  der  garantierte  Mindest- 
preis beim  Steigen  des  Weltmarktpreises  erhöht  werden  müßte, 
und  es  fraglich  sei,  ob  die  technische  Fortbildung  der  Landwirt7 
Schaft  gesichert  bliebe,  wenn  die  Gefahren  der  Minderung  der  be- 
stehenden Rente  als  Anreiz  zum  Fortschritt  ausgeschlossen  wür- 
den. Die  Ansammlung  von  Beständen  für  die  Kriegsnot  wäre 
auch  ohne  den  Staat  als  einem  Dauerhändler  denkbar.  Leider 
wurde  die  Verwirklichung  der  letzteren  Maßregel  nicht  einmal 
versucht. 


III.  Die  Handelspolitik  und  Deutschlands  Stellung  in  der  Weltwirtschaft.  4 1  e 

Nachdem  dieses  sogenannte  große  Mittel  zum  Schutze  der 
Landwirtschaft  sich  als  politisch  unerreichbar  erwiesen  hatte, 
wurde  bis  zur  Abänderung  des  Zolltarifs  für  kleine  Mittel  ununter- 
brochen agitiert.  Zu  den  erfolgreichen  gehörten  die  Einführung 
der  offenen  Ausfuhrvergütungen  für  Zucker,  nachdem  die  unter 
Zahlung  der  Materialsteuer  verdeckten  fortgefallen  waren,  ferner 
die  staatlichen  Schutzmaßregeln  für  die  landwirtschaftlichen 
Branntweinbrennereien,  die  sogenannte  Liebesgabe,  ferner  das  Süß- 
stoffgesetz, das  die  Saccharinindustrie  und  Einfuhr  verbot  und  nur 
für  Apotheker  kleine  Mengen  zu  verkaufen  gestattete,  die  Ver- 
kürzung der  Zollkredite  der  Getreidehändler  von  7  auf  4  Monate 
und  die  Einschränkung  der  gemischten  Getreidetransitlager  und 
Mühlenkonten.  Die  bestehenden  Vergünstigungen  der  Händler 
wurden  deshalb  angefochten,  weil  sie  die  Spekulation  in  den  er- 
leichterten Besitz  von  großen  Vorräten  zu  setzen  geeignet  seien, 
die  bei  dem  Wechsel  der  Konjunktur  zum  Preisdruck  auf  den 
Binnenmärkten  benutzt  werden  könnten. 

Industrie  und  Handel  standen  dem  Bund  der  Landwirte  stark 
ablehnend  gegenüber.  Aber  erst  viel  später,  1909,  schufen  sie  sich 
eine  Gegenorganisation  in  dem  Hansabund,  der  2  Jahre  nach 
seinem  Bestehen  250000  Mitglieder  und  625  Ortsgruppen  zählte, 
durch  Vorträge  und  Presse  gegen  die  angebliche  agrarische  Über- 
hebung scharf  machte,  der  Ausdruck  für  einen  unliebsamen  Gegen- 
satz war,  den  die  Bismarcksche  Handelspolitik  so  glücklich  ge- 
trennt gehalten  hatte. 

Inzwischen  war  die  Zeit  herangekommen,  daß  die  Vorberei- 
tungen für  neu  abzuschließende  Handelsverträge  geschaffen  wer- 
den mußten.  Der  Zolltarif  von  1879  ^^  seinen  späteren  Ab- 
änderungen, der  noch  auf  den  preußischen  von  18 18  zurückging, 
konnte  schon  rein  formell  den  Ansprüchen  der  Gegenwart  nicht 
mehr  genügen,  nachdem  soviele  neue  Waren  in  den  Handel  ge- 
bracht worden,  Preisverschiebungen  eingetreten  und  'die  Kräfte 
des  Auslandes  nicht  dieselben  geblieben  waren.  Nicht  bloß  der 
Bund  der  Landwirte,  auch  die  Zentralstelle  für  die  Vorbereitung 
von  Handelsverträgen,  ein  Organ  für  den  seit  1897  bestehenden 
Handelsvertragsverein,  der,  ursprünglich  zur  Sicherung  der  In- 
teressen der  chemischen  Industrie  begründet,  diejenigen  der  ge- 
kannten Ausfuhrindustrie  und  des  Außenhandels  im  freihändle 
tischen  Sinne  wahrnahm  (Herausgeber  der  Korrespondenz  zuerst 
Dr.  Vosberg-Rekow,  später  Dr.  W.  Borgius),  traten  mit 
Vorschlägen  technischer  Verbesserung  hervor.  1897  wurde  ein  wirt- 
schaftlicher Ausschuß  zur  Begutachtung  wirtschaftspolitischer  Maß- 
nahmen   von    der  Reichsregierung    einberufen,    bestehend  aus   30 


AI  6  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890  — 1 914. 

Vertretern  der  Landwirtschaft,  der  Industrie  und  des  Handels,  wel- 
cher unter  der  Leitung  des  Staatssekretärs  des  Innern,  Grafen 
Posadowsky,  in  100  Sitzungen  2000  Sachverständige  vernahm. 
Ein  ungeheures  Material  wurde  gesammelt  und  verarbeitet,  auf 
Grund  dessen  der  neue  Zolltarif  vom  25.  Dezember  1902  ge- 
schaffen worden  ist. 

Diese  neue  Aufstellung  zeichnet  sich  durch  formelle  Vor- 
trefflichkeit aus,  gilt  als  Ergebnis  höchst  sachverständiger  Ein- 
sicht in  die  Vielseitigkeit  der  deutschen  Produktion  und  als  eine 
Zusammenfassung  aller  Vorzüge,  die  sich  den  Zollgesetzen  der 
wichtigsten  Länder  nachrühmen  lassen.  Aus  dem  feingegliederten 
Tarif  mit  seiner  weitgehenden  Spezialisierung  ergibt  sich  eine 
leichtere  Verständigung  bei  dem  Abschluß  der  Verträge  als  bis- 
her, da  sich  die  Zugeständnisse  unter  Berücksichtigung  der  aus- 
ländischen Sonderproduktion  genauer  abmessen  lassen,  eine  ge- 
rechtere Zollauflegung,  weil  die  Waren  schärfer  nach  der  Qualität 
und  damit  vielfach  mittelbar  nach  dem  Werte  abgestuft  sind,  die 
Leichtigkeit  und  Sicherheit  der  Zollerhebung  und  die  Verein- 
fachung der  Schlichtung  bei  Zollstreitigkeiten.  Bedenkt  man,  daß 
in  19  Abschnitten  946  Sätze  mit  vielen  Unterabteilungen  des  rein 
sachlichen  Tarifs  aufgestellt  worden  sind,  so  werden  nur  wenige 
Waren  vorhanden  sein,  die  als  nicht  genannte  Zollfreiheit  ge- 
nießen, woraus  schon  die  verstärkte  schutzzöllnerische  Tendenz 
folgt.  Aber  auch  in  den  Geldsätzen  sind  zahlreiche  Erhöhungen 
gegeben,  um  den  Unterhändlern  eine  geeignete  Handhabe  beim 
Abschluß  künftiger  Verträge  zu  ermöglichen. 

Der  Tarif  trägt  indessen  den  Charakter  des  Hochschutz- 
zolles nicht,  er  will  in  Deutschland  die  Doppelnatur  des  Agrar- 
und  Industriestaates  fördern,  d.  h.  der  Industrie  auf  dem  Vertrags- 
wege die  Ausfuhr  erleichtern,  der  Landwirtschaft  mehr  helfen 
als  bisher,  die  auswärtige  Konkurrenz  zu  bestehen.  Zu  dem  letz- 
teren Zweck  wird  ein  Doppeltarif  aufgestellt.  Ein  unantastbarer 
Minimaltarif  für  Roggen,  Weizen,  Spelz,  Malzgerste  und  Hafer, 
der  gegen  den  bisherigen  Zustand  eine  Erhöhung  von  10 — 20  M. 
für  die  Tonne  brachte,  soll  den  Vertrags-  und  Meistbegünstigungs- 
staaten eingeräumt  werden,  während  nach  dem  Maximaltarif  bei 
der  Einfuhr  aus  allen  anderen  Ländern  zu  erheben  ist,  deren 
Bedeutung,  wie  man  mit  Recht  annahm,  ganz  zurücktreten  werde. 
Außerdem  werden  die  Stückwertzölle  für  Pferde  und  die  Ge- 
wichtzölle für  die  übrigen  Viehgattungen  erhöht.  Der  Kampf- 
zollparagraph erhält  eine  Verdoppelung,  die  Zollkredite  für  Ge- 
treide und  Hülsenfrüchte  fallen  fort,  der  Bundesrat  wird  anordnen, 
an  welchen  Plätzen  die  gemischten  Transitlager  fortbestehen  dür- 


IIL  Die  Handelspolitik  und  Deutschlands  Stellung  in  der  Weltwirtschaft.  aij 


fen.  Die  Einfuhrscheine  von  1894  erhielten  eine  Erweiterung. 
Sie  hatten  sich  für  die  Landwirtschaft,  die  Müllerei  und  den  Aus- 
fuhrhandel bewährt. 

Da  ein  Zoll  den  Preis  des  für  den  Bedarf  nicht  ausreichen-- 
den  inländischen  Getreides  erhöht,  können  die  Händler  zu  dem 
Weltmarktspreis  nur  im  Zwischenverkehr  ausführen,  d.  h.  wenn 
sie  bezolltes  Getreide  weitergeben  und  den  Zoll  zurückvergütet 
erhalten.  1880  wurde  gemäß  des  Aintrages  Stollberg- 
Ricke  rt  bei  der  Ausfuhr  gestattet,  die  Identität  der  eingeführten 
Ware  nicht  mehr  nachzuweisen  und  statt  dessen  also  auch  ge- 
mischtes Getreide  —  in  der  Praxis  handelte  es  sich  um  die 
Mischung  von  russischem  und  deutschem  Korn,  die  eine  gute 
Handelsware  darstellte  —  zur  Ausfuhr  zu  bringen.  Doch  wurde 
im  Anfang  der  neunziger  Jahre  in  den  Hafenstädten  der  Ostsee 
nur  wenig  Gebrauch  davon  gemacht. 

Nun  liegen  in  Deutschland  die  Verhältnisse  so,  daß  der 
Westen  auf  der  Rheinstraße,  in  Duisburg,  Mainz  und  vor  allem  in 
Mannheim  das  meiste  fremde  Getreide  bezieht.  Der  Osten  hin- 
gegen hat  einen  Überschuß  über  den  eigenen  Verbrauch,  der  bei 
vorhandener  Absatzschwierigkeit  oft  zum  Preisdruck  führt,  wäh- 
rend die  Getreidepreise  im  Westen  und  Südwesten  des  Reiches 
stets  höher  als  im  Osten  stehen.  Der  Ausgleich  konnte  sich  bei 
den  hohen  Kosten  der  Bahn-  und  Schiffsverfrachtung  und  aus- 
wärtigen Konkurrenz  nicht  durchsetzen. 

Dieser  Schwierigkeit  wurde  durch  das  oben  genannte  Ein- 
fuhrscheingesetz von  1894  begegnet.  Bei  jeder  Ausfuhr  von  Weizen, 
Roggen,  Hafer,  Hülsenfrüchten,  Gerste,  Raps,  Rübsaat,  Rübsen 
und  Mühlenfabrikaten,  soweit  sie  500  kg  überschreitet,  wird  der 
Zoll  durch  Einfuhrschein  vergütet,  der  binnen  6  Monaten  zur  Zoll- 
zahlung einer  entsprechenden  Menge  derselben  Warengattung 
irgendwo  berechtigt  und  übertragbar  ist.  Die  Scheine  sind  bei  einer 
kleinen  Wertherabsetzung  an  den  Getreideeinfuhrstellen  immer  ver- 
käuflich, und  der  Überschuß  in  Königsberg,  Danzig,  Stettin  usw. 
kann  also  zu  dem  Weltmarktpreis  annähernd  ausgeführt  werden. 
Der  Erfolg  dieser  Maßregel  war  der  erwünschte.  Während  1891 
nur  3371  dz  Weizen,  1342  dz  Roggen,  3729  dz  Hafer  und 
38992  dz  Gerste  zur  Ausfuhr  gelangten,  war  diese  1904  auf  330483 
Tonnen  Weizen,  359871  Roggen,  290124  Hafer,  42685  Gerste  an- 
gewachsen. Für  die  Landwirte  des  Ostens  wurde  auf  diese  Weise 
eine  Preiserhöhung  erzielt,  und  außerdem  hatten  Handel  und  Schiff- 
fahrt ihren  Vorteil  gefunden. 

Es  ist  der  Einrichtung  der  Vorwurf  gemacht  worden,  daß  sie 
eine    Exportprämie    in    sich    berge.     Das    ist    aber    nur    dann    der 

A.  Sartorius  v.  Walters  hausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2  Aufl.        27 


4i8  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890  — 19 14. 

Fall,  wenn  die  Differenz  zwischen  dem  deutschen  Ausfuhrhafen- 
preis und  dem  Weltmarktpreis  geringer  als  der  Zollbetrag  ist. 
Sobald  diese  Konjunktur  eintritt,  steigt  die  Ausfuhr  und  damit  der 
Inlandpreis  bis  zu  der  Höhe,  bei  der  die  Prämie  verschwindet. 

Das  Zollgesetz  von  1902  bringt  nun  noch  eine  weitere  Er- 
leichterung für  diese  Art  des  Geschäftes.  Wer  z.  B.  Roggen  aus- 
führte, konnte  nach  der  bisherigen  Gesetzgebung  nur  Roggen 
gleicher  Menge  einführen.  Jetzt  wurde  bestimmt,  daß  der  Einfuhr- 
schein auf  die  anderen  landwirtschaftlichen  Produkte  übertragbar 
war,  die  unter  der  Vergünstigung  ebenfalls  standen.  So  konnte  das 
Hauptprodukt  des  Ostens,  der  Roggen,  etwa  nach  Schweden  gehen, 
und  die  Hauptbrotfrucht  des  Westens,  der  Weizen,  ebenso  das 
Weizenmehl,  konnten  von  Holland  gegen  Einfuhrschein  in  das 
Land  kommen.  Das  Geschäft  war  191 2  so  bedeutend  geworden, 
daß  811  673  Tonnen  Roggen,  507481  Weizen,  496706  Hafer,  53386 
Gerste  und  346  379  Mehl  zum  Export  kamen.  Die  Müllerei  war 
neben  der  Landwirtschaft  gefördert  worden.  Denn  es  betrug  die 
Mehleinfuhr  im  gleichen  Jahre  nur  17279  Tonnen.  Für  das  aus- 
gehende Mehl  war  entsprechend  Rohstoff  ins  Land  genommen 
worden.  Die  Voraussetzung  zu  alledem  war  die  auf  der  deutschen 
landwirtschaftlichen  Fläche  vermehrte  Produktion,  die  zudem  durch 
die  Einfuhrscheine  eine  starke  Anregung  gefunden  hatte. 

Zwei  durch  den  Reichstag  in  das  neue  Zollgesetz  eingescho- 
bene Bestimmungen  sind  kein  glücklicher  Griff  gewesen.  Um 
den  städtischen  Verbrauchern  eine  Erleichterung  zu  verschaffen, 
falls  der  Schutzzoll  das  Getreide  verteuerte,  wurde  der  Oktroi 
auf  Getreide,  Mehl,  Fleisch  und  Fett  usw.  den  Gemeinden  von 
1900  an  zu  erheben  verboten.  Das  war  eine  große  finanzielle 
Schwächung  für  viele,  und  der  Zweck  wurde  nicht  erreicht.  Die 
Preise  der  Lebensmittel  gingen  um  den  Oktroi  nicht  zurück,  da 
Großhändler,  Metzger,  Bäcker,  Transporteure,  Kleinverkäufer,  die 
ehemals  alle  etwas  von  der  Abgabe  übernommen  hatten,  jeder  für 
sich  ein  geringes  aufzuschlagen  vermochten,  was  die  Verbraucher 
nicht  verhindern  konnten. 

Der  §  15  des  Zollgesetzes  (lex  Trimborn)  bestimmt,  daß 
die  Nettozollerträge  bei  Weizen,  Roggen,  Mehl  und  Fleisch  über 
den  Durchschnitt  von  1898 — 1903  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung 
zur  Erleichterung  der  Durchführung  einer  Witwen-  und  Waisen- 
pension im  Anschluß  an  die  Arbeiterversicherung  zu  verwenden 
seien.  War  diese  Maßregel  schon  vom  Standpunkt  des  Etats  be- 
denklich, weil  der  Grundsatz  der  einheitlichen  Regelung  der 
Einnahmen  und  Ausgaben  nach  festen,  aber  für  beide  besonderen 
Linien  durchbrochen  wurde,  so  führte  sie  auch  zu  keinem  Ergebnis, 


III.   Die  Handelspolitik  und  Deutschlands  Stellung  in  der  Weltwirtschaft.  41g 

da  1906,  1908,  1909  keine  Überschüsse  erzielt  wurden.  Gute  Ernten 
und  die  fortschreitenden  Roherträge  der  Landwirtschaft  setzten 
trotz  der  steigenden  Bevölkerung  die  Zolleinnahmen  herab.  Die 
Folge  war,  daß  die  Reichsversicherungsordnung  feste  Zuschüsse 
für  die  Hinterbliebenenversorgung  dem  Reich  auflegte. 

Nach  der  Verabschiedung  des  Tarifgesetzes  im  Reichstage 
beginnen  die  Verhandlungen  mit  dem  Ausland  um  die  Handelsver- 
träge zu  erneuern.  Die  mit  den  sieben  Staaten,  Italien,  Belgien^ 
Rußland,  Rumänien,  der  Schweiz,  Serbien  und  Österreich-Ungarn 
verabredeten  werden  dem  Reichstag  gemeinsam  im  Februar  1905 
vorgelegt  und  von  dem  Grafen  Posadowsky  als  ein  einheit- 
liches Ganzes  verteidigt.  Sie,  zu  denen  später  diejenigen  mit  Bul- 
garien, Schweden,  Portugal,  Japan  hinzukommen,  enthalten  Bin- 
dungen und  gegenseitige  Meistbegünstigung  und  gelten  bis  191 7. 
Die  Verhandlungen  sind  schwierig,  besonders  mit  den  Staaten,  die 
durch  die  AgrarzöUe  betroffen  werden.  Die  deutsche  Industrie 
prophezeit  daher,  da  sie  zu  kurz  gekommen  sei,  für  sich  erschwer- 
ten Absatz.  Doch  sind  die  Befürchtungen  unbegründet  gewesen, 
die  Schwierigkeit  wird  überwunden,  und  in  bezug  auf  Rußland  ist 
der  Pessimismus  überhauupt  nicht  am  Platze,  weil  die  russischen 
Industriellen  höchst  ungehalten  sind  und  behaupten,  daß  ihre  Re- 
gierung in  der  Notlage  des  japanischen  Krieges  zu  nachgiebig 
■gewesen  sei. 

Die  neuen  Verträge  hießen  Zusatzverträge,  weil  die  Grund- 
lagen der  alten  erhalten  blieben,  nur  in  den  Bindungen  und  Er- 
mäßigungen des  Tarifs  sind  viele  Abänderungen  vorhanden.  So- 
weit wie  möglich  sind  die  sonstigen  Bestimmungen,  wie  bei  der 
Beseitigung  der  Ein-,  Durch-  und  Ausfuhrverbote,  untereinander 
ausgeglichen  und  ungenaue  und  zweifelhafte  Wendungen  durch 
präzisere  ersetzt  worden.  Eine  Neuerung  ist  die  Schiedsgerichts- 
klausel für  Meinungsverschiedenheiten  in  Tariffragen,  die  für  Ruß- 
land nicht  gilt.  Ihre  Ausdehnung  auf  andere  Gebiete  des  Zoll- 
wesens wurde  abgelehnt,  da  man  erst  den  Erfolg  dieses  völker- 
orechtlichen  Versuchs  abwarten  wollte. 

Die  vier  späteren  Verträge  —  mit  Griechenland  war  der  von 
1884  fortgesetzt  worden  —  brachten  Deutschland  wenig  Gewinn, 
weil  in  der  Meistbegünstigung,  die  den  Gegenkontrahenten  zuteil 
wurde,  schon  der  Hauptinhalt  möglicher  Konzessionen  vorweg- 
genommen war,  woraus  der  Schluß  gezogen  wurde,  daß  alle  Tarif- 
handelsverträge, wenn  sie  vollen  Nutzen  bringen  sollen,  gleich- 
zeitig zur  Erledigung  kommen  müssen. 

Neben  den  Tarifverträgen  bestehen  in  großer  Zahl  die  reinen 
Meistbegünstigungen,    die    teils    neu    festgelegt    wurden,    teils    als 

27* 


A20  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von    1890  — 1914. 


frühere  fortliefen.  Sie  sind  nicht  ganz  gleichartig.  Als  beider- 
seits vollkommen  gelten  sie  im  Verkehr  mit  Dänemark,  Norwegen, 
den  Niederlanden,  Frankreich  (Frankfurter  Frieden,  s.  oben), 
Großbritannien,  Montenegro,  der  Türkei,  in  Afrika  mit  Ägypten, 
Liberia,  Marokko  und  Abessinien,  in  Asien  mit  Persien  und  Indien, 
in  Amerika  mit  Mexiko,  Ekuador,  Paraguay,  Bolivien,  Venezuela 
und  den  Vereinigten  Staaten.  Auch  Argentinien  und  Chile  kann 
man  dahin  in  der  Hauptsache  rechnen,  obwohl  sie  keinen  An- 
spruch auf  Erleichterungen  haben,  die  von  anderen  Ländern  gegen 
Gegenleistungen  gewährt  worden  sind. 

Die  Meistbegünstigung  nicht  in  vollem  Maße  besitzt  Deutsch- 
land in  Spanien,  das  Portugal  eine  bestimmte  Vorzugsbehandlung 
gewährt,  das  gleiche  gilt  von  Guatemala,  Honduras,  Nicaragua, 
San  Salvador,  die  sich  untereinander  einige  Rechte  vorbehalten 
haben.  Die  englischen  Kolonien,  außer  Indien,  bevorzugen  die 
Einfuhr  aus  dem  Mutterlande  und  untereinander.  Im  übrigen  gilt 
die  Meistbegünstigung.  Die  französischen  Kolonien  sind  ebenso 
zu  beurteilen.  Die  Vereinigten  Staaten  behandeln  ihre  Kolonien 
als  Anhang  des  eigenen  Zollgebietes.  Portoriko  und  Hawaii  ge- 
nießen  deutscherseits   die   Meistbegünstigung. 

Aus  dieser  Übersicht  ergibt  sich,  daß  nur  wenige  Staaten  dem 
deutschen  Generaltarif  unterstellt  geblieben  sind.  Dahin  gehören 
China  und  Slam,  die  auf  Grund  der  Verträge  von  1861  und  1862  an 
Deutschland  die  Meistbegünstigung  einseitig  gewährt  haben,  fer- 
ner Costarika,  die  Philippinen  und  amerikanisch  Samoa.  Die  Ein- 
seitigkeit der  beiden  erstgenannten  Staaten  bedeutet  materiell  für 
sie  kaum  eine  Benachteiligung,  da  die  von  dort  eingebrachten 
Waren  entweder  zollfrei  oder  überhaupt  kein  Gegenstand  der  Zoll- 
Tierabsetzung  sind. 

Die  völkerrechtlichen  Beziehungen  in  der  deutschen  Handels- 
politik sind  kompliziert,  wodurch  der  Zollverwaltung  Schwierig- 
keiten erwachsen.  Dazu  kommt,  daß  manche  Waren  durch  den 
Zwischenhandel  eingehen  und  die  Anwendung  von  Ursprungszeug- 
nissen lästig  ist;  ferner,  daß  die  Kündigung  des  Verhältnisses 
von  verschiedenen  Fristen  und  Terminen  abhängt  und  die  reine 
Meistbegünstigung  das  Moment  der  Stetigkeit  ausschließt,  da  die 
berechtigten  Staaten  bei  ihrer  autonomen  Zollsetzung  nach  Be- 
lieben ihren  Tarif  wandeln  können. 

Die  Klausel  der  Meistbegünstigung  hatte  manche  Gegner  in 
Deutschland,  deren  Ideal  die  rechtliche  Vorzugsbehandlung  inner- 
halb derselben  ist.  Die  letztere  soll  den  Gegenseitigkeitsverkehr 
mit  einzelnen  Staaten  besonders  zur  Ausbildung  bringen  und  doch 
das   andere    Prinzip   nicht   ganz   preisgeben.    So   verlockend   dieser 


III.  Die  Handelspolitik  und  Deutschlands  Stellung  in  der  Weltwirtschaft.       .   ^21 

Kompromißgedanke  sein  mag,  seiner  Verwirklichung  steht  das 
Hemmnis  fremder  Abwehrmaßregeln  entgegen,  also  die  Gefahr, 
daß  die  Weltwirtschaft  zerstückelt  wird.  Schon  beim  Abschluß 
der  Tarifverträge  ist  man  bemüht  gewesen,  die  Konzessionen  zu 
spezialisieren,  um  dem  Gegenkontrahenten  möglichst  das  zu  geben, 
was  ihm  durch  die  Meistbegünstigung  von  dritter  Seite  nicht 
streitig  gemacht  werden  kann.  Vielleicht  kann  man  mit  dieser 
Methode  noch  mehr  erreichen,  wenn  der  Tarif  weiter  verfeinert 
wird,  doch  zuviel  wird  man  sich  bei  der  heutigen  raschen  Verall- 
gemeinerung der  Technik  der  Warenherstellung  durch  die  Industrie- 
länder davon  nicht  versprechen. 

Die  Politik  der  unbeschränkten  Meistbegünstigung  hat  für  die 
Ausfuhrindustrie  großen  Nutzen  gebracht.  Manche  schöne  Position 
hat  Deutschland  zwischen  1892  und  1914,  z.  B.  auf  dem  Markte 
von  Südamerika  und  in  Indien,  gewonnen.  Sie  wirkte  ähnlich  wie 
der  Freihandel:  den  fortgeschrittenen,  zu  denen  die  Deutschen  ge- 
hörten, hatte  sie  am  meisten  zu  bieten. 

Die  Statistik  des  deutschen  Spezialhandels,  ohne  Edelmetall, 
ist  nach  dem  Abschluß  der  neuen  Verträge  diese: 

I.  Millionen  M. 


Jahre 

Einfuhr 

Ausfuhr 

1906 

8021,9 

6  359,0 

1907 

8  744,9 

6845,2 

1908 

7  664,0 

6398,6 

1909 

8  520,1 

6  592,2 

1910 

8934.1 

7  474-7 

1911 

9  705,7 

8  106,1 

1912 

10  691,8 

8  956,8 

1913 

10770,3 

10096,5 

Die  beiden  ersten  Jahre  liegen  noch  in  der  allgemeinen  gün- 
stigen Weltkonjunktur,  die  1902  eingesetzt  hatte,  dann  folgen  zwei 
schlechtere  Jahre  nach  einer  wirtschaftlichen  Katastrophe  in  den 
Vereinigten  Staaten.  Seit  1910  setzt  wiederum  der  Aufschwung 
ein,  der  in  den  ersten  Monaten  1914  zu  Ende  zu  gehen  schien. 
In  der  ganzen  Reihe,  besonders  der  Ausfuhr,  ist  eine  gewaltige 
Steigerung  gegeben,  die  man  bei  den  Ursachen  des  Weltkrieges 
nicht  übersehen  darf. 

Unterscheiden  wir  nach  Tarifvertrags-  und  Meistbegünsti- 
gungsstaaten, so  gilt  für  die  ersteren: 


422 


VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 


II.  Einfuhr  und  Ausfuhr.     Tarif  Vertragsstaaten . 


Jahre 

1901 

1904 

1907 

1910 

1913 

Einfuhr  Millionen  M 

%  der  Gesamteinfuhr     .... 

Ausfuhr  Millionen  M 

%  der  Gesamtausfuhr     .... 

2138,5 
37,4 

J695.3 
37,6 

2410,2 

35.1 
1999,2 

37.6 

3164,2 
36,3 

274'.3 
40,0 

3282,8 

36.5 
3041,0 

41,4 

3593.8 

33,3 
4181,6 

41.4 

Die  Einfuhr  geht  danach  prozentuell  zurück,  wenn  sie  auch 
absolut  gestiegen  ist.  Das  wird  daraus  verständlich,  daß  unter 
den  12  Tarif  Vertragsstaaten  nur  einer  ist,  Rußland,  der  die  Aus- 
fuhr von  Rohstoffen  und  Lebensmitteln  stark  steigern  konnte,  in 
der  ganzen  Periode  um  740,2  Millionen  Mark.  Die  Ausfuhrent- 
wicklung spricht  zugunsten  der  Vertragspolitik  in  den  absoluten 
und  relativen  Zahlen.  Ein  anderes  Bild  geben  nun  die  Meist- 
begünstigungsstaaten : 


III.  Einfuhr  und  Ausfuhr.     Meistbegünstigungsstaaten. 


Jahre 

1901 

1904 

1907 

1910 

1913 

Einfuhr  Millionen  M 

%   der  Gesamteinfuhr     .... 

Ausfuhr  Millionen  M 

%  der  Gesamtausfuhr     .... 

3181,1 

55.7 

2507,8 

55,5 

3957,2 
57,6 

2935,5 
55.1 

4975.9 
56,5 

364M 
53,0 

4786,9 
53,7 

3948,7 
52,7 

6005,0 
57,7 

5165.9 
51.5 

Die  Ein-  und  Ausfuhrmengen  überwiegen  diejenigen  aus  den 
Tarifv^ertragsstaaten.  Sie  bringen  absolut  eine  erhebliche  Vermeh- 
rung, relativ  tritt  das  gleiche  bei  der  Einfuhr  hervor,  während 
die  Ausfuhr  umgekehrt  steht.  Obwohl  England  und  Amerika  in 
der  ganzen  Zeitspanne  für  800  Millionen  Mark  mehr  zu  uns  ein- 
führen, so  sinkt  doch  ihre  Quote  um  etwa  5  0/0,  ein  Beweis,  daß 
Deutschland  mehr  in  das  weltwirtschaftliche  Getriebe  der  ganzen 
Erde  verflochten  ist.  Der  Prozentsatz  steigt  für  Ägypten,  Türkei, 
Britisch-Afrika,  Britisch-Indien,  Niederländisch-Indien,  Argentinien, 
Chile,  Kanada,  Australien.  Die  Ausfuhr  nach  manchen  Kolonial- 
und  jungen  überseeischen  Staaten  ist  ebenfalls  relativ  in  die  Höhe 
gegangen,  in  anderen  gleichgeblieben,  woraus  auch  hier  das  Viel- 
seitigerwerden des  deutschen  Handels  und  der  Schiffahrt  zu 
ersehen  ist. 

Die  Ganzfabrikate  machen  wie  früher  den  Schwerpunkt  der 
Ausfuhr  aus.  Die  prozentuale  Zusammenfassung  gegenüber  an- 
deren Kategorien  ist  folgende: 


III.  Die  Handelspolitik  und  Deutschlands  Stellung  in 

der  Weltwirtschaft. 

423 

IV. 

Jahr 

Rohstoffe          Halbfertige 

Fertige  Waren 

Nahrungs- 
und Genußmittel 

1909 
1913 

15.5                     ".0 
'SfO                     11,3 

63.3 
63.3 

10,0 
10.3 

Eine  Veränderung  ist  kaum  eingetreten.  Daß  die  letzte  Ab- 
teilung auf  der  Höhe  bleiben  konnte,  erklärt  sich  aus  dem  Fort- 
schritt der  Landwirtschaft.  Die  Exporteure  von  Halbfabrikaten, 
die  syndiziert  sind,  waren  mit  der  Handelspolitik  zufrieden,  we- 
niger diejenigen  von  Ganzfabrikaten.  Der  absolute  Betrag  war 
auch  für  sie  vermehrt  worden,  doch  behaupteten  viele,  daß  ihr 
Gewinn  dem  nicht  entspreche.  Die  steigenden  Kosten  der  Roh- 
stoffe, Halbfabrikate,  Löhne  hätten  ihn  beeinträchtigt,  während  die 
Konkurrenz  im  Ausland  sehr  drückend  sei.  Das  ist  die  Klage 
aller  Aufuhrindustrie,  da  die  Überproduktion  bei  ihr  am  leich- 
testen .eintritt. 

Die  Reihenfolge  der  wichtigsten  Staaten  für  die  Ausfuhr- 
mengen hat  sich  von  1906 — 191 3  verschoben.  Im  ersten  Jahre 
ist  sie  diese:  Großbritannien,  Österreich-Ungarn,  Vereinigte  Staa- 
ten, Niederlande,  Rußland,  Frankreich,  Schweiz,  Belgien,  Italien. 
Im  zweiten  blieben  auch  England  und  Österreich  an  der  Spitze  und 
Italien  am  Ende.  Den  beiden  ersteren  folgen  Rußland,  Frank- 
reich, die  Vereinigten  Staaten,  die  Niederlande,  Belgien,  die 
Schweiz.  Bei  den  Einfuhrländern  ist  1906  diese  Rangordnung: 
Die  Vereinigten  Staaten,  Rußland,  Großbritannien,  Österreich-Un- 
garn, Frankreich,  Argentinien,  Britisch-lndien.  1913  ist  sie  ebenso, 
nur.  daß  die  beiden  letztgenannten  ihre  Stellung  getauscht  haben. 

Wenn  wir  nach  Erdteilen  spezialisieren  und  bis  zum  An- 
fang der  hier  geschilderten  Periode  zurückgreifen,  so  erfahren 
wir,  wie  der  deutsche  Handel  viel  mehr  außereuropäisch  ge- 
worden ist: 

V. 


Erdteile 

18 
Einfuhr 

?9 

Ausfuhr 

1912 
Einfuhr               Ausfuhr 

1.  Europa 

2.  Afrika 

3.  Asien 

4.  Amerika 

5.  Australien  und  Polynesien    . 
2-5 

79.5 
0,9 
3.1 

15.6 
0,9 

20,5 

77.1 
0,7 
2,6 

18,9 

0,7 
22,9 

56,2 
4,5 
9.4 

27,0 

2,9 

43.8 

75-4 
2,1 
4,8 

16,7 
1,0 

24,6 

Diese  weltwirtschaftliche  Ausweitung  tritt  bei  den  gegebenen 
Prozentziffern  mehr  in  der  Einfuhr  als  der  Ausfuhr  hervor,  weil 


424  ^^*  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

Europa  sich  durchweg  mehr  industrialisiert  hat,  doch  ist  die  Zu- 
nahme bei  der  Ausfuhr  unter  2 — 5  absolut  ansehnlich,  da  ein 
Wachsen  von  743,5  Millionen  Mark  auf  2201,8  das  Ergebnis  ge- 
wesen ist. 

Da  sich  aus  Tabelle  I  eine  raschere  Steigerung  der  Aus-  als 
der  Einfuhr  ergibt,  so  wurde  die  Handelsbilanz  weniger  passiv,  und 
da  die  sonstigen  Auslandseinnahmen  sich  ebenfalls  vergrößerten, 
so  wuchs  die  Aktivität  der  Forderungsbilanz  an.  Da  nun  diese 
Beträge  nicht  eingezogen  wurden,  denn  das  Gegenteil  hätte  sich 
aus  der  Handelsbilanz  ergeben  müssen,  mußten  die  Kapitalanlagen 
im  Ausland  wachsen.  Wenn  man  also  die  letzteren  bekämpft,  weil 
es  volkswirtschaftlicher  sei,  das  Kapital  im  Inlande  zu  investieren, 
so  ist  das,  wenn  das  Exportgeschäft  fortwährend  wächst,  nur  mög- 
lich, wenn  man  die  Einfuhr  noch  schneller  zunehmen  läßt. 


In  der  langen  Friedenszeit  wurde  das  Völkerrecht  zur  gegen- 
seitigen Förderung  der  wirtschaftlichen  Ansprüche  mehrfach  aus- 
gestaltet. Seit  der  Reichsgründung  ist  von  Deutschland  öfters 
der  Anstoß  dazu  gegeben  worden.  Der  Weltpostverein  wurde 
bereits  oben  erwähnt.  Seinem  Gedanken,  den  postalischen  Ver- 
kehr möglichst  einheitlich  und  billig  werden  zu  lassen,  schließt 
sich  für  Depeschen  der  allgemeine  Telegraphenverein  an,  neben 
welchem  besondere  Vereinbarungen  für  drahtlose  Telegraphie  und 
submarine  Kabel  bestehen.  Weiter  sind  die  Übereinkommen  über 
Schiffahrt  und  Fischerei  auf  dem  offenen  Meer  und  gemeinsamen 
Flüssen  zu  nennen,  über  die  Ausnutzung  der  letzteren  zu  elektri- 
schen Kraftanlagen,  den  Eisenbahnfrachtverkehr,  Automobilver- 
kehr, Schutz  des  gewerblichen  und  geistigen  Eigentums,  die  Ein- 
tragung von  Fabrik-  und  Handelsmarken,  Eintreibung  von  pri- 
vaten ausländischen  Forderungen,  Beseitigung  der  Zuckerprämien 
(Brüsseler  Konvention). 

Die  Beurteilung  der  deutschen  Handelspolitik  wird  dadurch 
erschwert,  daß  die  Veränderungen  des  Außenhandels  nicht  allein 
durch  das  deutsche  Zollwesen  bestimmt  gewesen  sind.  Großen  Ein- 
fluß hat  die  nationale  und  internationale  Konjunktur  gehabt,  fer- 
ner das  Verhalten  des  Auslandes  außerhalb  des  Umkreises  seiner 
Vertragsverpflichtungen,  endlich  das  produktionstechnische  und 
ökonomisch-organisatorische  Fortschreiten  der  Länder,  das  sich 
keineswegs  gleichmäßig  vollzogen  hat. 

Im  allgemeinen  kann  man  sagen,  daß  im  Verhältnis  zu 
Österreich-Ungarn  die  frohen  Erwartungen,  die  von  beiden 
Seiten  an  den  Vertrag  von  1891  geknüpft  wurden,  nicht  in  Erfül- 
lung gegangen  sind.    Somit  sind  auch  die  Schäden,  von  denen  sich 


III.  Die  Handelspolitik  und  Deutschlands  Stellung  in  der  Weltwirtschaft.  425 


die  deutschen  Agrarier  bedroht  fühlten,  nicht  eingetreten.  Die  Ge- 
treideausfuhr blieb  für  die  Donaumonarchie  nur  bei  der  Brau- 
gerste bedeutsam.  Die  übrigen  Feldfrüchte  wurden  von  der  volks- 
verdichteten und  industrialisierten  Westhälfte  beansprucht.  Ungarn 
würde  unter  intensiverer  Wirtschaft  mehr  haben  ausführen  können, 
deren  Aufkommen  aber  die  niedrigen  Weltmarktpreise,  der  Kapi- 
talmangel, der  hohe  heimische  Zinsfuß,  die  mangelnde  Bildung  der 
Arbeiter  und  Unternehmer  hintanhielten.  Auch  die  Industrie  war 
mit  dem  Absatz  in  Deutschland  unzufrieden.  Sie  war,  einige  Spe- 
zialitäten, wie  die  Gablonzer  Glasindustrie,  das  Leinengewerbe, 
die  Haarhutindustrie,  diejenige  für  gebogene  Möbel,  Handschuhe, 
Papier  und  einige  Porzellanartikel  ausgenommen,  im  Verhältnis 
zu  Deutschland  zurückgeblieben,  besonders  in  Eisen,  Stahl,  che- 
mischen Produkten  und  Elektrizitätsverwendung.  Österreich  ist 
von  dem  Weltmeer  entfernt,  die  innere  Verkehrswirtschaft  wird 
durch  das  Alpengebiet  erschwert,  der  ewige  Nationalitätenstreit 
hemmt  die  Entwicklung  der  wirtschaftlichen  Energie  und  läßt  in 
den  Parlamenten  die  industrielle  und  soziale  Fürsorge  zurück- 
treten. Die  Unsicherheit  über  den  Ausgleich  mit  Ungarn  ist  im- 
mer nur  auf  wenige  Jahre  gebannt,  und  die  Währungs-  und  Fi- 
nanzreformen kommen  zu  keinem  Abschluß.  So  bleibt  der  all- 
gemeine Aufschwung,  der  1895  ^^  ^^^  Weltwirtschaft  einsetzte, 
unter  dem  Durchschnitt.  Diese  Rückständigkeit  bedeutet  bis  zum 
Jahrhundertwechsel  zugleich  eine  zurückbleibende  Kaufkraft  gegen- 
über den  deutschen  Waren.  Die  Ausfuhr  aus  dem  Reich  war  von 
1893 — 1899  nur  um  45  Millionen  Mark  gestiegen. 

In  dem  nachfolgenden  Jahrzehnt  hatte  sich  der  Austausch 
zwischen  beiden  Staaten  gebessert.  Die  deutsche  Ausfuhr  hob 
sich  von  1903— 1912  von  649,3  auf  1035,3,  die  Einfuhr  von  754,8 
auf  829,6  Millionen  Mark.  Der  Fortschritt  war  um  so  auffallender, 
als  beide  Staaten  seit   1906  erhöhte  Zollsätze  anwandten. 

Der  alte  Zollunionplan  war  nach  seinem  oben  erzählten 
Scheitern  noch  nicht  ganz  vergessen  worden.  1880  hatte  der  unga- 
rische Abgeordnete  Guido  von  Baußnern  in  diesem  Sinne 
an  Bismarck  geschrieben,  der  im  Hinweis  auf  den  §  1 1  des 
Frankfurter  Friedens  und  den  notwendigen  Schutz  der  deutschen 
Landwirtschaft  jedes  Eingehen  auf  den  Vorschlag  ablehnte.  Der 
Kanzler  war  schon  früher  ein  Gegner  des  Unionsgedankens,  be- 
sonders wegen  der  Schwierigkeit  der  Zollverteilung,  gewesen,  jetzt 
mochte  er  zudem  besorgen,  daß  die  politische  Allianz  durch  wirt- 
schaftliche Mißtöne  gefährdet  werden  könne:  Denn  die  öster- 
reichischen Großindustriellen  beanspruchten  nicht  schwächeren, 
sondern    stärkeren    Schutz    gegen    den    glänzenden    Aufstieg   ihrer 


426  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

deutschen  Mitbewerber.  Dennoch  fehlten  auch  in  späteren  Jahren 
theoretische  Erörterungen  zum  Zwecke  gegenseitiger  Annäherung 
nicht,  die,  wenn  auch  nicht  auf  zollpolitischem  Gebiete,  so  doch  auf 
manchem  anderen  in  dem  1903  geschaffenen  mitteleuropäischen 
Wirtschaftsverein  gepflegt  wurden.  Im  ersten  Jahre  des  Welt- 
krieges wurde  der  Zollunionsgedanke  in  beiden  Ländern  wieder 
eifrig  diskutiert,  um  dem  in  der  Waffenbrüderschaft  erprobten 
politischen  Bündnis  für  die  Zukunft  Festigkeit  zu  verleihen,  da  an- 
geblich die  deutsche  Landwirtschaft  und  die  österreichische  In- 
dustrie so  gekräftigt  seien,  daß  sie  im  Freihandel  mit  dem  be- 
freundeten Nachbar  verkehren  könnten.  Doch  war  das  eine  en- 
thusiastische Übertreibung,  der  es  an  Gegnerschaft  nicht  mangelte, 
zumal  sich  auch  staatsrechtliche,  finanzpolitische  und  verwaltungs- 
technische Schwierigkeiten  auftürmten.  Vorarbeiten  zur  wirtschaft- 
lichen gegenseitigen  Anpassung  wurden  von  beiden  Regierungen 
in  Angriff  genommen,  als  der  Wirtschaftskrieg  der  Alliierten  gegen 
die  Zentralmächte  Europas  auf  den  Pariser  Konferenzen  verkündet 
wurde,  bis  der  Zusammenbruch  des  habsburgischen  Nationalitäten- 
staates und  des  Deutschen  Reiches  alle  solche  Projekte  begrub. 

Die  Ergebnisse  des  Handelsvertrages  mit  Belgien  von  1891 
wurden  von  deutscher  Seite  im  ganzen  günstig  beurteilt.  Die  Aus- 
fuhr war  während  der  Jahre  der  Hochkonjunktur  von  1895^ — ^9^1 
von  159  auf  236  Millionen  Mark  gestiegen,  während  die  geringere 
Einfuhr  auf  dem  bisherigen  Stand  verharrte.  Das  folgende  Jahr- 
zehnt hindurch  hält  die  aktive  Handelsbilanz  Deutschlands  auf- 
recht; 1908  betrug  die  Ausfuhr  322,8,  die  Einfuhr  262,1  Millionen 
Mark,  191 2  493,3  bzw.  386,6.  Belgien  deckt  sein  Passivum  durch 
Transporteinnahmen  seiner  Eisenbahnen,  durch  Zwischenhandel, 
Zinsforderungen  in  Deutschland  angelegter  Kapitalien,  Ein-  und 
Auswanderungsvermittelung  und  Fremdenverkehr  seiner  Seebäder. 
Für  191 3  hat  man  den  Durchfuhrverkehr,  soweit  er  aus  Deutsch- 
land stammt,  auf  800  Millionen  Mark,  soweit  er  dahin  geht,  auf 
580  geschätzt.  Er  steht  und  fällt  mit  Antwerpen,  das  vermöge 
seiner  geographischen  Lage,  des  ihm  angeschlossenen  dichten 
Eisenbahnnetzes  und  seiner  Kanalverbindungen  zu  einem  europä- 
ischen Ausfuhrhafen  ersten  Ranges  geworden  ist,  so  daß  es  80  0/0 
der  seewärts  eingeführten  Tonnenmenge  beim  Ausgange  zu  ver- 
laden mag,  während  Hamburg  nur  über  48,  Rotterdam  über  28  0/0 
verfügen.  Daher  gestalten  sich  die  Exportfrachtsätze  in  Antwerpen 
besonders  niedrig,  und  Liniendampfer  verschiedener  Nationen  lau- 
fen andauernd  ein,  um  hier  ihre  Ladung  zu  vervollständigen. 

Der  gegenseitige  Spezialhandel  zwischen  Belgien  und  dem 
Reich  setzt  sich  aus  vielen,  nicht  gerade  großen  Posten  zusammen, 


III.  Die  Handelspolitik  und  Deutschlands  Stellung  in  der  Weltwirtschaft.  427 

die  je  nach  der  Preisgestaltung  und  Qualität  hinüber-  und  her- 
übergehen, wie  Steinkohlen,  Koks,  Thomasschlacke,  Pelzwerk, 
Tischlerarbeiten,  Motorwagen,  Lederwaren,  Abfälle  bearbeiteter 
Baumwolle,  Maschinen,  Rindshäute,  Ölkuchen.  Von  Belgien  her 
überwiegen  im  übrigen  Halbfabrikate  und  Abfälle,  von  der  an- 
deren Seite  Ganzfabrikate,  Lebensmittel,  wie  Kartoffeln,  Obst, 
Fische,  Getreide,  Bier  finden  daneben  in  mannigfachem  Wechsel 
einen  Austausch. 

Die  belgische  Volkswirtschaft  ist  in  sich  selbst  nicht  beson- 
ders befestigt.  Sie  ist  als  Industrieland  einseitiger  als  Deutsch- 
land, selbst  als  England,  bedarf  der  großen  Getreideeinfuhr,  um 
ihre  sehr  dichte  Bevölkerung  zu  ernähren  und  die  der  meisten 
Rohstoffe  für  ihre  Werke.  Sie  ist  zu  klein,  um  erfolgreich  ein 
volles  Schutzsystem  durchzuführen,  auch  ist  der  innere  Markt  bei 
der  gedrückten  Lage  der  Arbeiter  nicht  recht  aufnahmefähig.  Der 
Gegensatz  zwischen  Flamen  und  Wallonen  durchzieht  die  Wirt- 
schaftspolitik, indem  die  ersteren  der  staatlichen  Unterstützung  für 
ihre  Gewerbe  im  nördlichen  Belgien  entbehren,  die  sich  die  an- 
deren vermöge  ihres  politischen  Übergewichts  im  Süden  verschafft 
haben. 

Die  wirtschaftlichen  Beziehungen  zum  Reich  waren  191 4 
auch,  abgesehen  von  dem  besprochenen  Handel,  enge.  Im  See- 
verkehr von  Antwerpen  herrschte  die  deutsche  Flagge  vor,  die 
besten  Quais  an  der  Scheide  gehörten  deutschen  Gesellschaften. 
Auch  im  Binnenverkehr  auf  dem  Fluß  und  dem  Kanal  genoß  das 
deutsche  Schiff  großes  Ansehen.  Der  Markt  von  Antwerpen  hatte 
bei  der  Deckung  des  deutschen  Bedarfs  an  Wolle,  Tabak,  Kaut- 
schuk große  Einnahmen.  Das  Verbandwesen  der  deutschen  Mon- 
tanindustrie hatte  auf  die  belgischen  Unternehmungen  überge- 
griffen. Deutsche  Metall-,  Waffen-  und  elektrische  Industrien  waren 
bei  belgischen  gleicher  Art  beteiligt.  Banken  beider  Länder  ar- 
beiteten vielfach  zusammen,  die  großen  Berliner  besaßen  Filialen. 
Alle  diese  Verbindungen  würden  noch  weiter  gediehen  sein,  wenn 
nicht  England  und  Frankreich  politische  Gegensätze  in  sie  hinein- 
izutragen  verstanden  hätten. 

Die  günstige  Lage  des  Königreichs  an  der  verkehrsreichen 
Straße  des  Weltmeeres  hatte  dessen  Wirtschaftsleben  an  erster 
Stelle  zu  seiner  neuzeitlichen  Höhe  geführt.  Das  deutsche  Hinter- 
land besaß  das  größte  Interesse  daran,  von  ihr  nicht  abgeschnürt 
zu  werden,  wie  umgekehrt  Belgien  auf  dieses  angewiesen  war. 

Auch  für  die  Niederlande  ist  Deutschland  das  große 
Hinterland,  ausschließlicher  noch  als  für  Belgien,  das  auch  von 
Frankreich  gespeist  wird.     Rotterdam  ist  vor  allem  Einfuhrhafen 


428  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von    1890  — 1914. 


von  Massenprodukten  und  Ümschlagstelle  von  dem  See-  in  das 
Rheinflußschiff.  Das  Königreich  ist  Agrar-,  Handels-  und  Schiff- 
fahrtsstaat und  daher  nicht  auf  dieselbe  Handelspolitik  eingestellt 
als  das  industriereiche  Belgien,  obwohl  die  Kleinheit  des  Gebietes, 
die  Meereslage,  verbunden  mit  dem  Durchgangsverkehr,  auch  hier 
charakteristisch  sind.  Solange  beide  Staaten  vereinigt  waren, 
wurde  zugunsten  des  Südwestens  ein  mäßiger  Schutzzoll  gepflegt, 
seit  der  Trennung  sind  die  holländischen  Zölle  nur  als  finanzielle 
zu  verstehen.  Die  Landwirtschaft  stützt  sich  auf  Viehhaltung, 
Butter,  Milch,  Käse,  Gemüse,  Obst,  Kartoffeln  und  Pferdezucht 
und  bedarf  bei  den  hohen  Preisen  daheim  und  in  den  angrenzen- 
den Industrieländern  und  bei  der  Zugänglichkeit  des  offenen  eng- 
lischen Marktes  des  staatlichen  Schutzes  nicht.  Getreide  zum 
menschlichen  Verbrauch  und  zur  Viehfütterung  wird  zollfrei  ein- 
geführt. 

Von  der  nicht  stark  ausgebildeten  Industrie  sind  die  Baum- 
woll-  und  Wollfabriken  durch  den  monopolistischen  Vertrieb  der 
Handelsmaatschappij  in  den  Kolonien  geschützt.  Das  Schiffsbau- 
gewerbe und  der  Handel  fühlen  sich  unter  dem  Freihandel  wohl. 

Es  lag  daher  nicht  im  Interesse  Hollands,  einen  Tarifvertrag 
mit  dem  Reiche  abzuschließen,  und  auch  dieses  kam  bei  der  frei- 
händlerischen Tendenz  des  Nachbarn  nicht  zu  kurz.  Die  gegen- 
seitige volle  Meistbegünstigung  geht  auf  den  Vertrag  von  1851 
zurück,  der  vom  Reiche  übernommen  wurde.  Spezielle  Abmach- 
ungen waren  wiederholt  wegen  der  Rheinschiffahrt  erforderlich, 
die  zum  Wohl  beider  Länder  immer  freier  gestaltet  wurde.  Die 
Niederlande  verkauften  an  Deutschland  vorzugsweise  ihre  land- 
wirtschaftlichen Produkte  und  Fische  und  kauften  dafür  Fabrikate, 
Steinkohlen,  neuerdings  auch  Hafer  und  Roggen.  Um  ihre  passive 
Handelsbilanz  zu  verstehen,  mußte  man  den  kolonialen  Export  aus 
Ost-  und  Westindien  hinzurechnen.  Dann  wurde  sie  schon  wesent- 
lich gemindert.  Die  fehlende  Differenz  wurde  durch  Schiffahrt 
und  Handel  gedeckt.  Hinzu  kam  noch,  daß  die  Holländer  von 
altersher  große  Kapitalgeber  gewesen  sind.  Das  damit  verbun- 
dene Rentnertum  hatte  im  18.  Jahrhundert  die  produktive  Kraft 
des  Volkes  erschlaffen  lassen.  Im  19.  hat  die  deutsche  Volkswirt- 
schaft und  das  weltwirtschaftliche  Getriebe  das  Geschäft  zu  neuen 
Taten  angeregt.  Die  Amsterdamer  Börse  hat  zahlreiche  Verbin- 
dungen mit  deutschen  Plätzen  und  wiederholt  mit  dem  Effekten- 
geschäft für  deutsche  Rechnung  verdient. 

Als  während  des  Burenkrieges  die  Stimmung  England  feind- 
lich gesinnt  war,  wurde  sie  deutschfreundlicher  als  sie  sonst  zu 
sein   pflegt.     Damals    tauchte   das    Problem   einer   deutsch-hollän- 


III.  Die  Handelspolitik  und  Deutschlands  Stellung  in  der  Weltwirtschaft.  420 

dischen  Zollunion  in  der  Presse  und  in  der  wissenschaftlichen  Lite- 
ratur auf.  Die  praktische  Möglichkeit  vom  wirtschaftlichen  Stand- 
punkte wurde  zugegeben,  unter  den  sich  ändernden  politischen 
Verhältnissen  blieb  die  Sache  jedoch  im  Stadium  der  öffentlichen 
Diskussion  stecken.  Die  deutsche  auswärtige  Politik  seit  1890  kann 
man  auch  hier  als  eine  solche  der  verpaßten  Gelegenheit  be- 
izeichnen. 

Der  Handelsvertrag  mit  Italien  hat  seinen  Zweck,  den 
Austausch  italienischer  landwirtschaftlicher  Spezialprodukte  gegen 
deutsche  industrielle,  die  in  Italien  wenig  zur  Herstellung  ge- 
langen, von  1891  — 1903  ziemlich  erfüllt.  Die  Gesamtziffern  sind 
gewachsen,  mehr  zugunsten  Italiens  als  Deutschlands.  In  der 
zweiten  Vertragsperiode  wachsen  die  Mengen  und  Werte  von  beiden 
Seiten  weiter.  Die  Warenzusammensetzung  bleibt  fast  dieselbe, 
aber  die  Handelsbilanz  steht  jetzt  aktiv  für  das  Reich.  Deutsche 
Kapitalien  fassen  südlich  der  Alpen  stärker  Fuß.  Die  Banca  com- 
merciale  Italiana  von  1894  ist  auf  ihnen  errichtet.  Die  großen 
Fortschritte  der  deutschen  industriellen  Technik  werden  von  den 
Italienern  ähnlichen  Geschäftes  mit  Sorge  betrachtet.  Das  Auf- 
flammen des  Deutschenhasses  in  Norditalien  um  191 5  fand  darin 
seine  materielle  Grundlage. 

Von  der  wirtschaftlichen  Warte  aus  gesehen,  ist  das  Verhält- 
nis zwischen  Deutschland  und  Italien  durch  zwei  Parallelerschei- 
nungen bestimmt.  Beide  haben  einen  besonders  agrarischen  Lan- 
desteil, das  erstere  im  Osten,  das  zweite  im  Süden,  beide  haben 
eine  Exportindustrie,  das  erste  vornehmlich  westlich  der  Elbe,  das 
zweite  am  Fuße  der  Alpen.  Bei  allen  Handelsverträgen  stehen  also 
zweifache  Interessen  in  Frage.  Der  Unterschied  ist  jedoch  der,  daß 
in  Deutschland  nur  der  Schutz  der  Landwirtschaft  gefordert  wird, 
in  Italien  neben  dem  Getreidezoll  die  Ausfuhrerleichterung  für  die 
landwirtschaftlichen  Spezialprodukte,  wie  Südfrüchte,  Wein,  Öl,  Roh- 
seide. Beide  Handelsverträge  waren  daher  auf  einem  Kompromiß 
nicht  bloß  der  Interessen  beider  Länder,  sondern  auch  derjenigen 
innerhalb  der  Länder  —  Deutschland  empfängt  auch  Eier,  Ge- 
flügel, Käse,  frisches  Obst  aus  Italien  —  aufgebaut.  Je  mehr  nun 
die  italienische  Industrie  vorankam,  auch  in  Mittelitalien  und  selbst 
im  Süden,  wo  sie  sich  übrigens  an  die  Landwirtschaft  anlehnt,  um 
so  schwieriger  mußte  sich  das  Einvernehmen  unter  beiden  Ländern 
gestalten.  Da  Deutschland  von  der  Industrie  südlich  der  Alpen 
im  eigenen  Lande  nicht  viel  zu  fürchten  hatte,  so  blieb  ihm  das 
Wohlwollen  am  Vertrag,  Italien  suchte  seine  Lage  dadurch  zu  ver- 
bessern, daß  es  bestrebt  war,  im  östlichen  Mittelmeer  seine  Export- 
fähigkeit zu  begründen,  da  ihm  das  westliche  von  Frankreich  vor- 


430  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890  — 19 14. 


weggenommen  war.  So  wird,  auch  von  dieser  Seite  her,  der  Er- 
werb von  Tripolitanien  und  der  Wert  der  Adriabeherrschung  ver- 
ständlich, ebenso  wie  der  Bruch  des  Dreibundes  und  der  kriege- 
rische Ausfall  gegen  Österreich,  wenn  auch  die  im  Volke  seit 
langem  hochgepäppelte  imperialistische  Großmannssucht,  von  ge- 
wissenlosen Politikern  aufgepeitscht,  die  eigentliche  Veranlassung 
zu  der  Entscheidung,  sich  der  Entente  anzuschließen,  ge- 
worden ist. 

Das  zwischenstaatlich-wirtschaftliche  Verhältnis  des  Reiches 
zu  der  Schweiz  ist  insofern  demjenigen  zu  Belgien  ähnlich,  als 
beide  Kleinstaaten  sind,  den  industriellen  Export  besonders  pflegen 
und  im  Zusammenhang  damit  eine  passive  Handelsbilanz  haben. 
Die  Durchfuhr  ist  hingegen  in  Belgien  wegen  seiner  ozeanischen 
Lage  stärker  ausgebildet,  obwohl  die  Gotthardbahn  und  der  Hafen 
von  Genua  der  Eidgenossenschaft  nicht  wenig  bedeuten.  In  der 
freihändlerischen  Periode  Europas  war  das  Geschäft  für  die  Schweiz 
günstig,  und  viele  Unternehmungen  des  arbeitsamen  und  wirt- 
schaftskundigen Volkes  gelangten  zur  Blüte.  Als  nun  die  großen 
Grenzländer  zum  Schutzzoll  zurückkehrten,  kam  die  Schweiz 
zunächst  in  Schwierigkeiten,  deren  sie  jedoch  dank  der  unter  jenen 
so  eifrigen  Konkurrenz  und  der  politischen  Gegensätze  Herr  ge- 
blieben ist.  Als  sie  z.  B.  zwischen  1893  und  1895  mit  Frankreich 
in  einen  Zollkrieg  verwickelt  \^alrde,  vermochte  sie  das  meiste  von 
dem,  was  sie  bisher  von  dort  bezog,  aus  Deutschland  und  Italien 
zu  decken,  die  ihr  handelspolitisch  entgegenkamen.  Die  Kleinen 
können  mächtig  sein,  wenn  sich  die  Großen  streiten. 

Mit  dem  Handelsvertrag  von  1891  war  man  in  Deutschland 
nicht  zufrieden,  da  die  Republik  ihre  Zollsätze  vorher  erhöht  hatte, 
und  von  diesen  nur  etwas  zurückging,  während  der  deutsche  Gene- 
raltarif nicht  verändert  worden  war.  Die  Hauptbedenken  erhob 
die  elsässische  Baum  Wollindustrie  wegen  des  Garnzolles.  Doch 
waren  sie  eine  Übertreibung,  da  damals  die  reichsländische  Fein- 
garnspinnerei fast  nur  für  die  Weberei  im  eigenen,  engeren  Gebiete 
tätig,  also  an  der  Ausfuhr  nach  Altdeutschland  wenig  interessiert 
war.  1894  bezog  man  im  Reich  für  6  Millionen  Mark  Baumwoll- 
garn aus  der  Schweiz  bei  einer  Gesamteinfuhr  von  136  Millionen 
Mark.  Auch  die  Käseeinfuhr,  der  sich  die  bayerischen  und  würt- 
tembergischen Algäuer  widersetzten,  war  in  dem  gleichen  Jahre 
nur  5,9  Millionen  Mark  und  wurde  weiterhin  ertragen,  als  von 
ihnen  das   Produkt  verbessert  wurde. 

Ebenso  wie  im  Verkehr  mit  Belgien  tauschten  Deutschland 
und  die  Schweiz  dauernd  mancherlei  Waren  gleicher  Bezeichnung 
untereinander  aus,  wie  Anilinfarbstoffe,  Baumwollgewebe,  Sammet, 


III.  Die  Handelspolitik  und  Deutschlands  Stellung  in  der  Weltwirtschaft.  a^  i 

Bücher,  Farbdrucke,  Wollwaren,  Gemälde,  Maschinen,  Obst, 
Seide,  Vieh,  Steine,  Garne.  Die  Zahl  der  sonstigen  Gegenstände 
des  Handels  ist  groß.  Die  Schweiz  hat  auch  Spezialitäten,  wie 
Uhren,  Aluminium,  seidene  Zeuge,  das  erwähnte  Feingarn,  Käse 
und  Kühe.  Dafür  gehen  aus  dem  Reiche  die  Sonderprodukte 
Kohlen,  Koks,  Eisen  und  Stahl  und  deren  Fabrikate.  Die  Handels- 
bilanz der  Schweiz  ist  an  sich  passiv,  19 13  z.  B.  war  die  Einfuhr 
1540,6  Millionen  Mark,  die  Ausfuhr  nur  1000,7.  Davon  entfielen 
auf  den  Verkehr  mit  Deutschland  536,1  bzw.  213,3.  ^^  ^^^^ 
Saldo  zu  decken,  ist  die  Fremdenindustrie  dieses  europäischen 
Sanatoriums,  die  Kapitalanlage  im  Ausland,  der  Durchgangsver- 
kehr und  die  Rimesse  vieler  außerhalb  ihres  Vaterlandes  tätiger 
Schweizer  ausreichend. 

Zwischen  Frankreich  und  Deutschland  war  die  völker- 
rechtliche Bindung  der  Handelspolitik  im  Frankfurter  Frieden  fest- 
gelegt worden.  Ihre  militärische  Niederlage  von  1870  haben  die 
Franzosen  nicht  einen  Tag  vergessen.  Die  Revancheidee  zur 
Wiedereroberung  von  Elsaß-Lothringen  hat  daher  auch  das  han- 
delspolitische Verhältnis  zu  dem  Reiche  andauernd  getrübt  und 
dem  beiderstaatlichen  Austausch  das  entzogen,  dessen  es  immer 
bedürftig  ist:  Stetigkeit  in  der  gegenseitigen  rücksichtsvollen  Be- 
handlung. 

Sehr  oft  ist  französischerseits  die  Behauptung  gehört  worden, 
Bismarck  habe  den  Besiegten  übervorteilt,  um  ihm  ein  industrielles 
Sedan  zu  bereiten.  Die  deutschen  Zollreformen  von  1879  und  1902 
werden  als  eine  Fortsetzung  dieses  hinterlistigen  Planes  gedeutet, 
obwohl  allgemeine  volkswirtschaftliche  Notwendigkeiten  zu  ihnen 
geführt  hatten.  Die  Franzosen  halten  sich  für  den  politischen  und 
kulturellen  Mittelpunkt  der  Welt  und  glauben  daher,  alle  Völker 
hätten  nichts  anderes  zu  tun,  als  sich  mit  ihnen  zu  beschäftigen. 
Im  Jahre  19 13  machte  der  Handel  mit  Frankreich  nur  1/17  von 
dem  deutschen  Außenhandel  aus,  dessen  Umfang  zudem  von  dem 
inneren  weit  übertroffen  wurde. 

Der  Wirtschaftsverkehr  zwischen  beiden  Ländern  ist  sowohl 
wegen  der  Nachbarschaft,  als  auch  wegen  der  Verschiedenheit 
der  Urproduktionen  einer  bedeutenden  Weiterbildung  fähig,  an- 
dererseits ist  der  Wettbewerb  bei  dem  Absatz  vieler  industrieller 
Ganzfabrikate  unvermeidbar.  Beide  Nationen  suchen  gerade  diese 
Waren  vom  eigenen  Gebiete  fernzuhalten,  und  es  ist  dem  nur  ent- 
sprechend, daß  die  wichtigsten  Posten  der  Einfuhr  in  beiden  Län- 
dern wenig  mit  ihnen  zu  tun  haben.  Nach  der  deutschen  Statistik 
von  19 13  sind  die  Masseneinfuhrgüter  aus  Frankreich  Felle  zu 
Pelzwerk,  Eisenerze,  Rindshäute,  rohe  Schafwolle,  Kreuzzuchtkamm- 


AZ2  VI,  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 


garn,  Schaf-  und  Lammleder,  unedle  Metalle,  wie  Chrom,  Wolfram, 
ferner  Kleesaal,  Wein,  Gemüse,  Ölkuchen,  Florettseidengespinnste. 
Aus  Deutschlaand  gehen  ebenfalls  Felle  zu  Pelzwerk,  dann  Koks, 
Steinkohlen,  Weizen,  Hafer,  Roheisen,  Zellstoff,  Chlorkalium,  Ben- 
zol. Sehen  wir  jedoch  von  diesen  Rohstoffen,  Halbfabrikaten,  Nah- 
rungs-  und  Genußmitteln  ab,  so  ist  die  deutsche  Fabrikateinfuhr 
in  Frankreich  größer  als  die  fanzösische  in  Deutschland.  Das 
ist  aber  wesentlich  nur  ein  Ergebnis  der  letzten  Jahre,  in  denen 
die  deutschen  Fertigprodukte  ihren  Siegeszug  durch  die  Weltwirt- 
schaft angetreten  haben.  Die  Handelsbilanz  steht  mit  200  Mil- 
lionen Mark  zugunsten  Deutschlands.  Das  Akti\njm  war  seit  1871 
keineswegs  immer  gegeben.  Daher  war  auch  die  Beurteilung  des 
§  1 1  des  Frankfurter  Friedens  in  beiden  Ländern  zeitweise  ver- 
schieden, obwohl  dieser  nur  neben  anderen  Tatsachen,  wie  der  all- 
gemeinen weltwirtschaftlichen  Konjunktur,  der  sonstigen  Handels- 
politik, dem  produktiven  Auf-  und  Abgehen  innerhalb  der  Ge- 
werbe gewürdigt  werden  kann.  In  der  Zeit  der  liberalen  deut- 
schen Handelsverträge  und  des  passiven  Freihandels  bis  1879  zog 
Frankreich  einige  Vorteile  aus  der  Meistbegünstigung,  während 
Deutschland  bei  den  niedrigen  Preisen  unter  der  Welthandels- 
krise mit  französischen  Waren  überschüttet  wurde.  In  der  Periode 
der  autonomen  Zollpolitik  des  Reiches  wurde  die  französische  Ein- 
fuhr zurückgedrängt,  da  Deutschland  sich  selbst  besser  versorgte, 
unter  den  Capri vischen  Handelsverträgen  wurde  die  franzö- 
sische Handelsbilanz  wieder  aktiv,  als  sich  Frankreich  gleichzeitig 
mittels  seines  Minimaltarifes  von  1892  besonders  gegen  Deutsch- 
land wandte.  Der  neue  deutsche  Tarif  von  1902  und  die  sich 
an  ihn  anschließenden  Verträge  leiten  die  Periode  ein,  in  der,  wie 
gesagt,  der  deutschen  Ausfuhr  ein  neuer  Vorstoß  glückt. 

Die  volkswirtschaftliche  Entwicklung  ist  seit  1871  in  beiden 
Ländern  eine  verschieden  starke  gewesen.  Wenn  Deutschland  zu- 
weilen im  Verkehr  mit  Frankreich  nicht  gut  abgeschnitten  hat,  so 
hat  es  den  Schaden  mit  den  Vorteilen  in  anderen  Ländern  leicht 
wettgemacht  und  sich  durch  Frankreich  in  seinem  inneren  Fort- 
schritt nicht  aufhalten  lassen.  Umgekehrt  ist  dieses  relativ  zurück- 
geblieben und  hat  das  Vordringen  des  deutschen  Absatzes  unlieb- 
sam empfunden.  Es  fehltte  an  eigener  Kraft,  dagegen  mit  tech- 
nischen Erfindungen  und  neuen  Betriebsformen  bei  dem  Aufsuchen 
neuer  Verkaufsgebiete  anzukämpfen.  Man  schob  alle  Schuld  auf 
die  moralisch  verwerfliche  Konkurrenz  des  Ostfeindes,  die  durch 
staatliche  Mittel  zu  beseitigen  sei.  Objektive  französische  National- 
ökonomen erkannten  zwar  in  dem  Stillstand  der  Bevölkerung  ein 
schweres  inneres  Übel,  das  dem  heimischen  Markt  die  Lebhaftig- 


III.  Die  Handelspolitik  und  Deutschlands  Stellung  in  der  Weltwirtschaft.  ^^j 

keit  des  Umsatzes  entzog,  den  Drang,  mit  den  hergebrachten  For- 
men des  Erwerbs  zu  brechen,  nicht  aufkommen  ließ  und  die  Ar- 
beitslöhne erhöhte,  ohne  die  Arbeitskraft  zu  steigern.  Aber  die 
Politiker  konnten  sich  nicht  entschließen,  gerade  aus  diesem  Punkte 
heraus  die  Überlegenheit  des  deutschen  Lebens  anzuerkennen  und 
waren  des  Beifalls  sicher,  wenn  sie  mit  Empfehlung  von  Zollschi- 
kanen und  der  Boykottierung  ihre  Zeit  verschwendeten,  vorausge- 
setzt, daß  nur  der  verhaßte  Nachbar  damit  unangenehm  getroffen 
wurde.  Der  Krieg  von  19 14  mußte  daher  auch  wirtschaftspoli- 
tisch höchst  populär  sein. 

Im  Jahre  1 865  hatte  der  Zollverein  mit  Großbritannien 
unter  dem  Prinzip  der  gegenseitigen  Meistbegünstigung  einen  Han- 
delsvertrag geschlossen,  der  sich  auf  alle  Teile  des  britischen 
Weltreiches  erstreckte.  In  den  folgenden  32  Jahren,  während 
deren  der  Vertrag  fortbestand,  hat  sich  nun  weltwirtschaftlich 
viel  ereignet.  Der  ungeheuere  Vorsprung  des  englischen  Wirt- 
schaftslebens war  dem  europäischen  Kontinent  gegenüber  nicht 
mehr  aufrecht  zu  erhalten,  Deutschland  war  nicht  mehr  der  arme 
geduldete  Verwandte,  es  war  ein  selbstbewußter  freier  Mann  ge- 
worden. 

Es  kann  den  Volkswirtschaften  wie  den  einzelnen  Unterneh- 
mungen gehen.  Es  ist  dafür  gesorgt,  daß  die  Bäume  nicht  in  den 
Himmel  wachsen.  Hemmungen  von  innen  vereinigen  sich  mit 
Widerständen  von  außen.  Der  in  England  aufgespeicherte  Reich- 
tum und  die  vom  Ausland  zufließenden  Kapitalgewinne  entzogen 
zahlreiche  führende  Familien  der  produktiven  Arbeit  und  kehrten 
die  Eigenschaft  des  Rentnerstaates  hervor.  Nachdem  die  Landwirt- 
schaft zum  großen  Teil  unter  dem  Freihandel  der  Industrie  aufge- 
opfert worden  war,  wurde  auch  diese  hinter  den  Handel  und  den 
Geldgeschäft  zurückgestellt.  Sie  wuchs  zwar  noch  weiter,  aber 
langsamer  als  in  der  Vergangenheit.  Gleichzeitig  reckten  die 
jungen  Industrieriesen,  die  Vereinigten  Staaten  und  Deutschland, 
ihre  Glieder  und  griffen  in  die  Weltwirtschaft  ein.  Auch  andere 
Länder  wollten  zeigen,  was  sie  vermochten.  Man  hat  berechnet, 
daß  1867/68  England  24  0/0  des  gesamten  Welthandels  inne  hatte, 
1882  nur  noch  19,5,  1893  18,  daß  1868  53,60/0  aller  geförderten 
Kohlen  auf  seine  Gruben  entfielen,  1883  noch  40,7,  1893  35,  daß  es 
1860/61  50  0/0  der  gesamten  Baumwollernte  verarbeitete,  1895  nicht 
ganz  30. 

In  dem  J.  C  hamb  e  riain  sehen  Reformversuche  lebte  die 
alte  Idee  des  internationalen  Industriemonopols  der  Insel  wieder 
auf,  jetzt  beschränkt  auf  das  britische  Weltreich,  das  machthungrig 
im  Verlaufe  der  letzten  Jahrzehnte  immer  weiter  ausgedehnt  wor- 

A.  Sartorius  v.  Wa  Itershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.     28 


434  ^^'  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 1914. 

den  war,  um  neue  Absatzländer  der  Zukunft  zu  sichern.  Es  sollten 
sich  zunächst  Mutterland  und  Kolonien  durch  sich  gegenseitig  be- 
günstigende, also  fremde  Staaten  abwehrende  Differentialzölle  an- 
einander schließen,  und  ein  Reichszollverein  war  als  die  Krönung 
des  Werkes  geplant.  Das  großangelegte  Projekt  scheiterte  an  dem 
Widerstand  des  Handels,  des  Geldkapitals,  der  Banken  sowohl, 
als  auch  an  der  Arbeiterdemokratie,  die  eine  Verteuerung  des  Le- 
bens befürchtete.  Die  Anpassung  an  die  Weltwirtschaft  des  20. 
Jahrhunderts  wurde  daher  in  steigender  Einseitigkeit  gesucht;  die 
Spezialindustrien,  die  Schiffahrt,  der  Zwischenhandel,  das  inter- 
nationale Darlehns-  und  Zahlungsgeschäft  wurden  kapitalistisch 
verstärkt.  Der  Welthandel  wuchs  rascher  als  die  eigene  Erzeu- 
gung. Es  ist  daher  weniger  der  Handels-  als  der  Produktionsneid 
gewesen,  der  die  Engländer  gegen  das  deutsche  Reich  immer  feind- 
licher gestimmt  hat.  Man  griff  zu  zahlreichen  verdeckten  Mitteln, 
den  Freihandel  zu  stützen.  Es  sei  an  das  Handelsmarkengesetz, 
an  die  Änderung  des  Patentwesens,  an  die  Bevorzugung  englischer 
Lieferanten  bei  öffentlichen  Bauten  in  den  Kronkolonien,  an  die 
Kapitalanleihe  an  das  Ausland  unter  onerosen  Verpflichtungen  zu- 
gunsten  der   heimischen   Industrie   erinnert. 

1897  wurde  der  Handelsvertrag  mit  Deutschland  gekündigt, 
um  den  Kolonien  die  Möglichkeit  zu  geben,  die  englische  Einfuhr 
vor  der  deutschen  bevorzugen  zu  können.  Wurde  auch  die  wechsel- 
seitige Differenzierung  Chamberlains  nicht  verwirklicht,  so 
gewährten  doch  die  meisten  Kolonien  dem  Mutterlande  einseitig 
Vorteile,  zuerst  Kanada,  das  sich  damit  mit  Deutschland  in  Zoll- 
streitigkeiten verwickelte,  die  erst  19 10  durch  ein  Abkommen  der- 
art beigelegt  wurden,  daß  der  deutschen  Ware  nur  wenig  Erleich- 
terung, wohl  aber  der  Schiffahrt  einige  Vorteile  eingeräumt  wur- 
den, —  dann  auch  Südafrika,  Australien,  Neuseeland  und  mehrere 
westindische  Kronkolonien.  Ein  neuer  Handelsvertrag  zwischen 
dem  Reich  und  England  ist  nicht  zustande  gekommen.  Da  dem 
ersteren  an  dem  englischen  Freihandel  viel  gelegen  war  und  in 
Ostindien  die  Meistbegünstigung  blieb,  wurde  deutscherseits  der 
Bundesrat  gesetzlich  ermächtigt,  den  Angehörigen  und  den  Erzeug- 
nissen des  Vereinigten  Königreichs  sowie  dessen  Kolonien  und 
auswärtigen  Besitzungen  diejenigen  Rechte  zu  gestatten,  die  die 
Meistbegünstigten  genießen.  Es  war  dies  ein  Handelsprovisorium, 
das  bis  19 10  auf  Kanada  keine  Anwendung  fand,  dann  auf  25 
wichtige  kanadische  Ausfuhrgüter  erstreckt  wurde.  Es  wurde  nach 
seinem  Ablauf  immer  wieder  erneuert,  bis  der  Krieg  ihm  ein  Ende 
bereitet  hat. 


III.  Die  Handelspolitik  und  Deutschlands  Stellung  in  der  Weltwirtschaft.  a^c 

Deutschland  und  England  sind  vornehmlich  auf  dritten  Märk- 
ten in  heftiger  Konkurrenz  miteinander  befangen  gewesen,  wie  bei 
dem  Verkauf  von  Eisen-  und  Stahlwaren,  Maschinen,  Schiffen, 
Kabeln,  wollenen  und  baumwollenen  Geweben,  Strümpfen,  Glas, 
Papier.  Es  hat  zudem  jedes  Land  seine  besonderen  Güter,  die  auf 
diesen  Märkten  friedlich  nebeneinander  gehen.  Beide  Länder  haben 
sich  durch  das  ganze  verflossene  Jahrhundert  in  starkem  Aus- 
tausch befunden.  Bilanzziffern  und  Warenarten  haben  gewechselt. 
So  lange  der  Zollverein  landwirtschaftliche  Produkte  ausführte, 
gingen  große  Posten  davon  nach  England,  das  Fabrikate  dafür 
hingab,  später  ist  noch  viel  Zucker  vom  Reich  ausgeführt  worden, 
in  den  letzten  Jahren  wieder  Hafer,  dann  Margarine,  die  frische 
Kartoffel,  während  von  England  Heringe  und  frische  Seefische 
kamen.  Mancherlei  Gegenstände  werden  nach  der  Preiskonjunktur 
gegenseitig  bezogen,  z.  B.  Ölkuchen,  Felle,  Kammgarn,  Baumwoll- 
gewebe. Im  übrigen  zeigt  England  im  ganzen  einen  starken  Ab- 
satz von  Halbfabrikaten,  wie  Roheisen,  Baumwoll-,  Alpaka-,  Leinen- 
garn, Kautschuk,  während  Deutschland  mehr  Ganzfabrikate  aus- 
sendet, Kinderspielzeug,  Farben,  Eisendraht,  Klaviere,  Spitzen,  elek- 
trische Apparate,  Kleider,  Öfen,  Uhren. 

Um  die  Handelsbilanz  richtig  zu  verstehen,  darf  man  beide 
Länder  nicht  allein  gegenüberstellen.  Die  Ein-  und  Ausfuhren 
der  englischen  Kolonien  wird  man  richtiger  einrechnen.  Aus  den 
letzteren  kommen  vorzugsweise  industrielle  Rohstoffe,  Lebens-  und 
Genußmittel,  während  sie  dafür  Fabrikate  hinnehmen.  Der  Ge- 
samthandel betrug  von  1909 — 191 2  in  Millionen  Mark  (deutsche 
Statistik) : 

Einfuhr  aus  dem  Ausfuhr  nach  dem 

britischen  Gesamtreiche  britischen  Gesamtreiche 

1909  1505.0  1255,3 

1910  1733. 1  1392,8 

1911  1787. 1  1459.5 

191 2  2000,5  1510,0 

Das  Weltreich  kann  sich  daher  über  die  Wertsummen  seiner 
Ausfuhr  nicht  beklagen.  Deutschland  war  Englands  bester  Kunde 
in  Europa  und  mußte  die  Differenz  der  Handelsbilanz  mit  Wert- 
papieren, Transportleistungen,  Verkäufen  an  reisende  Engländer  in 
Deutschland,  Dividenden  und  Zinsen  ausgleichen.  Die  wirtschaft- 
liche Sorge  Englands  beruhte  neben  der  Zunahme  der  deutschen 
industriellen  Ausfuhr  überhaupt  auf  der  wachsenden  deutschen 
Handelsmarine.     In  deutschen  Häfen  kamen    1911     5058  englische 

Schiffe  mit  5  7997  273  Registertonnen  an,  in  denen  des  englischen 

28* 


436  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890— 1914. 

Mutterlandes  5357  deutsche  Schiffe  mit  7  012  391  Regsitertonnen. 
Der  größere  deutsche  Betrieb  des  einzelnen  Schiffes  wird  aus  diesen 
Zahlen  ersichtlich.  Diesen  Tonnenmengen  entspricht,  daß  Deutsch- 
land nach  England  mehr  ausführt  als  von  dort  bezieht.  Die  Han- 
delsbilanz steht  zu  dem  Inselstaat  allein  aktiv.  Der  Überschuß 
war  in  den  letzten  Jahren  etwa  300  Millionen  Mark. 

Einfacher  als  mit  dem  vielgestaltigen  englischen  Weltreich 
ist  der  auswärtige  Wirtschaftsverkehr  Deutschlands  mit  Rußland 
gewesen.  Für  den  Ausfuhrhandel  ist  das  letztere  Agrarland  aus- 
schließlich, mit  seinem  Verkauf  von  Lebensmitteln,  Futtermitteln, 
Holz  und  Handelsgewächsen,  wie  Hanf,  Flachs,  Flachswerg,  Zucker- 
rübensamen. An  zweiter  Stelle  stehen,  und  in  wachsenden  Be- 
trägen, Eisen-,  Mangan-,  Platinerze,  mineralische  Schmieröle,  Fette, 
Häute,  Borsten,  Rohbenzin.  Die  Einfuhr  aus  Deutschland  setzte 
sich  in  der  Hauptsache  aus  Ganzfabrikaten  zusammen,  von  denen 
die  wichtigsten  waren:  Maschinen,  Lokomotiven,  grobe  und  feine 
Eisenwaren,  Instrumente,  alle  Arten  von  Leder,  chemische  Pro- 
dukte, Farbstoffe,  Waren  aus  edlem  Metall,  Messing,  Kupfer,  Per- 
sonenmotorwagen, elektrische  Vorrichtungen,  Wollgewebe.  Die  rus- 
sische Industrie  war  in  den  letzten  50  Jahren  erstarkt,  so  daß  sie 
auf  manchem  Gebiete,  z.  B.  der  Textile  und  Waffen,  den  inneren 
Bedarf  immer  mehr  deckte,  unzureichend  war  sie  für  die  feine 
Technik  und  für  den  Luxusbedarf.  Ihre  Fortschritte  wurden  u.  a. 
durch  die  steigende  Einfuhr  von  Roh-  und  Hilfsstoffen  aus  Deutsch- 
land ersichtlich,  die  zum  Teil  auf  den  Zwischenhandel  entfielen: 
Steinkohlen,  Zink,  Koks,  Seiden-  und  Wollumpen,  Silber,  Baum- 
wolle, Kautschuk  und  Guttapercha,  Schafwolle,  Blei,  Indigo.  Für 
den  Export  nach  Deutschland  hat  sie  keine  Bedeutung  erlangt. 

Der  Handelsvertrag  von  1894  hatte  bis  1898,  solange  die  Kon- 
junktur in  Rußland  günstig  war,  Deutschland  Nutzen  gebracht. 
Die  Ausfuhr,  namentlich  an  Maschinen,  diente  indessen  auch  dazu, 
die  Industriekraft  des  östlichen  Nachbars  zu  heben.  Die  deutschen 
Exporteure  haben  weiterhin  keinen  ganz  leichten  Stand  gehabt, 
insbesondere  nach  1906  nicht,  als  der  russische  Zolltarif  erhöht 
worden  war.  Umgekehrt  hat  die  Landwirtschaft  des  östlichen 
Deutschlands  unter  dem  Druck  der  russischen  Konkurrenz  in  den 
neunziger  Jahren  gelitten,  im  nächsten  Jahrzehnt  aber  die  Roggen- 
und  Hafereinfuhr  durch  Verstärkung  der  eigenen  Produktion  ge- 
mindert. Der  wichtigste  landwirtschaftliche  Einfuhrartikel  war 
191 3  Futtergerste,  dann  folgten  Weizen,  Eier,  Federvieh,  Butter, 
Kleie,  Ölkuchen,  Schweine,  Mais. 

Rußland  war  ein  ausgesprochener  Schuldnerstaat  in  der  Welt- 
wirtschaft.    Der   Staatskredit  beruhte  zum  größten  Teil  auf  Aus- 


in.  Die  Handelspolitik  und  Deutschlands  Stellung  in  der  Weltwirtschaft.  477 

landsmitteln,  ihm  folgte  die  Eisenbahnschuld,  dann  diejenige  der 
industriellen  Unternehmungen  und  Banken.  Sind  bei  der  politischen 
Allianz  auch  die  Franzosen  die  hauptsächlichsten  Geldgeber  ge- 
wesen, so  waren  doch  auch  die  deutschen  Forderungen  nicht  ge- 
ring. Die  Handelsbilanz  war  für  das  Deutsche  Reich  dauernd  pas- 
siv. Seine  Ausfuhr  war  1894  194,8  Millionen  Mark,  die  Einfuhr 
543,9,  1904  315,5  und  818,7,  1913  880  und  1426,6.  Die  zu  zahlen- 
den Zinsen  und  Gewinne  aus  Rußland  glichen  die  Differenz  nicht 
ganz  aus,  einiges  brachte  der  Fracht-  und  Personenverkehr  auf  der 
Ostsee  und  der  Fremdenverkehr  in  Deutschland,  der  Rest  wurde 
vermutlich  dadurch  beglichen,  daß  aus  Deutschland  ein  Teil  der 
Verpflichtungen  an  Rußland  durch  Vermittelung  anderer  Länder, 
gegen  die  Deutsche  Forderungen  haben,  bezahlt  wurde. 

In  dem  Maße,  als  die  deutsche  Volkswirtschaft  den  dichtbe- 
völkerten Handels-  und  Industriestaat  hervorkehrte,  ist  sie  mehr 
und  mehr  von  der  russischen  Einfuhr  abhängig  geworden,  anderer- 
seits war  aber  auch  das  Zarenreich  als  Schuldnerstaat  auf  Deutsch- 
lands Entgegenkommen  angewiesen.  Bei  gutem  Willen  war  also 
ein  Handelsvertragsverhältnis  im  andauernd  wechselseitigen  In- 
teresse. 

Ein  gefährlicher  Gegner  Deutschlands  im  internationalen  Wirt- 
schaftsverkehr sind  die  Vereinigten  Staaten  von  Amerika, 
einmal  insoweit  sie  ganz  Europa  bedrohen,  dann  wegen  des  be- 
sonderen Wettbewerbes,  der  gegen  das  deutsche  Auslandsgeschäft 
gerichtet  ist. 

Daß  die  nordamerikanische  Union  durch  die  Natur  besser 
ausgestattet  ist  als  Europa,  wird  niemand  behaupten  wollen.  Man 
mag  den  Reichtum  an  Bodenschätzen  in  beiden  gleichsetzen,  für 
den  Verkehr  an  Gedanken  und  Gütern  ist  die  feingegliederte  alte 
Welt  besser  ausgerüstet  als  der  plumpe  Kontinent  der  neuen.  Das 
europäische  Klima,  bedingt  durch  den  Golfstrom  und  die  günstige 
Verteilung  der  Ländermassen,  ist  weniger  dem  Gegensätzlichen 
ausgeliefert  als  das  nordamerikanische,  das  im  Westen  durch  das 
kontinentale  Hochplateau,  im  Osten  durch  das  Aufeinanderprallen 
des  arktischen  und  des  südlichen  warmen  Luftstromes  bestimmt 
wird.  An  Bevölkerungszahl  sind  die  Vereinigten  Staaten  trotz  rascher 
Zuwanderung  dem  westlichen  Europa  unterlegen  und  ebenso  an 
wertvollen  Rasseneigenschaften.  Schon  die  12  Millionen  Neger 
sind  ein  unassimilierbarer  Bestandteil  des  Volkes,  die  Weißen 
sind  zum  Teil  eine  Mischrasse  unausgeglichener  Elemente  aller 
europäischen  Nationen.  Ehemals,  als  fast  nur  Nordeuropäer  an- 
kamen, und  die  Auswanderung  noch  eine  Auslese  starker  Indivi- 
dualitäten war,  war  es  anders.    Es  schien  sich  ein  Volk  von  Unter- 


438  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

nehmern,  Erfindern,  politischen  Neuerern  mit  neuen  Idealen  der 
Freiheit  zu  bilden.  In  den  letzten  Jahrzehnten  ist  es  im  Begriff, 
in  ein  Völkerchaos  sich  umzuwandeln,  die  alteingewanderten  Fa- 
milien sterben  aus.  Europa  mit  seinem  Reichtum  an  Sondervöl- 
kern, die  zu  festen  Typen  im  langen  Verlauf  der  Geschichte  ge- 
worden sind,  ist  ein  sicherer  Boden  für  die  Kultur,  freilich  nicht 
für  irgendeine  Gesamtpolitik. 

Die  amerikanische  wirtschaftliche  Gefahr,  von  der  man  in 
den  letzten  40  Jahren  soviel  gesprochen  hat,  wird  geringer  in  dem 
Maße,  als  sich  das  Volkstum  der  Yankees  verflacht.  Aber  sie  ist 
dennoch  vorhanden  und  auch  nicht  leicht  zu  nehmen.  Der  Grund 
der  Überlegenheit  liegt  in  der  Größe  des  Einheitsstaates,  der  das 
zerrissene,  sich  bekämpfende  Europa  gegenübersteht.  Die  Union 
ist  durch  eine  einheitliche  Zollinie  umschlossen,  innerhalb  wel- 
cher der  große  Markt  der  Produktion  Stetigkeit  und  Fortschritt 
verbürgt. 

Die  Brutalität  der  amerikanischen  Handelspolitik  würde  un- 
möglich gewesen  sein,  wenn  sie  nicht  die  Maxime  „divida  et  im- 
pera"  gegen  Europa  hätte  anwenden  können.  Darunter  hat  auch 
das  Deutsche  Reich  zu  leiden  gehabt.  Zu  den  Zeiten  des  Zollvereins 
war  die  Union  ein  Roh-  und  Hilfsstoffe  versendender  Agrarstaat, 
dazu  nicht  innerpolitisch  geschlossen  wegen  der  freihändlerischen 
Sezession  des  Südens.  Nicht  einmal  ein  Handelsvertrag  wurde 
deutscherseits  für  nötig  erachtet,  man  behalf  sich  mit  dem  alten 
preußischen  von  1828.  Bald  nach  der  Gründung  des  Reichs  setzt 
die  amerikanische  Getreidekonkurrenz  ein.  Dann  beginnt  die  ame- 
rikanische Industrie  rasch  voranzukommen.  Die  Mac  Kinley-Bill 
wird  zu  diesem  Zweck  erlassen,  die  12  Jahre  gültige  Dingley-Bill 
übertrumpft  sie  noch,  und  der  Payne-Alderich-Tarif  geht  mit  sei- 
nem Minimalsatz  wiederum  über  die  letztere  hinaus.  Die  europä- 
ischen Staaten  gewähren  sich  gegenseitig  die  Meistbegünstigung 
und  räumen  sie  auch  den  Amerikanern  in  steter  Konkurrenz  unter- 
einander ein.  So  Deutschland  in  der  Saratoga-Konvention  von  1891, 
in  den  späteren  Abkommen  von  1900,  1906,  19 10,  19 13.  Die  Ame- 
rikaner treiben  bei  der  anwachsenden  Selbstgenügsamkeit  ihrer 
Volkswirtschaft  autonome  Zollpolitik,  die  sie  abändern,  wenn  es 
ihnen  paßt.  Deutschland  kann  sich  nur  mit  einzelnen  Maßregeln 
wehren,  etwa  wenn  die  nordamerikanische  Einfuhr  zu  gesundheits- 
polizeilichen Bedenken  Veranlassung  bietet.  So  wurde  schon  unter 
Bismarck  1885  ein  Einfuhrverbot  amerikanischen  Schweine- 
fleisches wegen  der  Trichinengefahr  erlassen,  1895  wurde  die  Ein- 
fuhr von  Rindern,  bei  denen  Texasfieber  festgestellt  war,  unter- 
bunden,    1897     folgte    die    Erschwerung     des    Obsteinganges,    die 


III.  Die  Handelspolitik  und  Deutschlands  Stellung  in  der  Weltwirtschaft.  ^^g 

mit  der  Einschleppung  der  San  Jose-Schildlaus  motiviert  wurde. 
Amerikanischerseits  wurden  Repressalien  gegen  deutschen  Zucker 
und  Wein  gebraucht,  vor  allem  wurde  mit  Zollschikanen  geant- 
wortet, die  sich  bei  dem  üblichen  Wertzollsystem  als  willkürliche 
Schätzung  der  eingeführten  Waren  auslösten.  Zu  einem  offenen 
Zollkrieg  ist  es  niemals  gekommen.  Das  Reich  gab  regelmäßig 
nach,  weil  immer  zu  fürchten  stand,  gegenüber  England,  Frank- 
reich, Österreich,  Belgien  und  der  Schweiz  differenziert  zu  werden. 
Und  das  war  unter  den  gegebenen  Verhältnissen  das  klügste,  was 
es  tun  konnte,  da  die  gemeinsame  Aktion  der  europäischen  Völker, 
die  oft  empfohlen  wurde,  nicht  kam. 

Aber  auch  abgesehen  von  der  Handelspolitik  ist  Deutschland 
von  der  amerikanischen  Produktion  abhängig.  Es  bedarf  der 
Baumwolle,  des  Kupfers,  des  Erdöls  und  der  Lebensmittel  und 
muß  oft  die  Produkte  mit  hohen  Preisen  bezahlen,  die  von  Trusts 
der  Produzenten,  Ringen  der  Kaufleute  und  Börsenspekulanten  dik- 
tiert werden. 

Seit  20  Jahren  war  die  Union  bemüht,  eine  Ausnahmestellung 
in  der  Weltwirtschaft  zu  erobern:  zugleich  Großexporteur  von  Roh- 
stoffen und  Lebensmitteln  einerseits,  von  Fabrikaten  andererseits 
zu  sein.  Das  ist  ihr  bei  ihrer  noch  dünnen  Bevölkerung  und  bei 
ihrem  Industrieschutz,  dem  die  Vorbedingungen  nicht  fehlten,  ge- 
lungen. Deutschland  bezog  von  Industrieprodukten  zwar  nur  Ma- 
schinen verschiedener  Art  in  Menge,  aber  empfand  auf  manchem 
überseeischen  Markt  das  Vordringen  der  Amerikaner.  Die  Folge 
der  Doppelseitigkeit  der  Ausfuhr  ist  die  dauernd  aktive  Handels- 
bilanz der  Vereinigten  Staaten,  die  besonders  stark  1898 — 1900 
war  und  dann  noch  verstärkt  in  den  ersten  Jahren  des  Weltkrieges 
hervortrat.  Das  deutsche  Passivum  schwankte  von  1900 — 191 2  zwi- 
schen 500  und  800  Millionen  Mark  jährlich,  191 3  belief  es  sich  auf 
eine  Milliarde.  Der  Unterschied  wurde  durch  Gewinn  und  Divi- 
denden der  Kapitalanlagen  in  den  Vereinigten  Staaten,  durch  Ver- 
sendung von  Effekten,  durch  die  deutsche  Handelsmarine  auf  dem 
Atlantischen  Ozean,  durch  Ausgaben  reisender  Amerikaner  in 
Deutschland,  durch  Gewinn  von  Auslandsbanken  und  Sendungen 
der  Auswanderer  gedeckt. 

Bei  dem  Verkehr  Deutschlands  mit  den  südamerikani- 
schen Staaten  steht  Argentinien  an  der  Spitze,  dann  folgt  Bra- 
silien, weiter  Chile.  Sie  alle  sind  Agrar-  und  Rohstoffländer  und 
demgemäß  ist  der  Austausch  gegen  Ganzfabrikate  selbstverständ- 
lich. Sie  sind  Schuldnerländer  und  haben  aktive  Handelsbilanzen. 
Eine  aridere  Gruppe  des  Außenhandels  bilden  die  nordischen 
Staaten,  die  Produkte  der  Land-  und  Forstwirtschaft,  des  Berg- 


440  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

baues  und  der  Fischerei  liefern,  Schweden  auch  Zellulose,  be- 
hauene  Steine,  grobe  Tischlerarbeiten,  Norwegen  Norgesalpeten. 
Sie  erhalten  die  feineren  Waren  der  Metall-,  Textil-,  Leder-,  che- 
mischen und  elektrischen  Industrie  von  Deutschland,  das  dabei 
der  englischen  Konkurrenz  unterstellt  ist.  In  Südosteuropa 
versenden  P^.umänien,  Bulgarien,  Griechenland,  Serbien,  die  Tür- 
kei als  Agrarländer  mancherlei  Produkte  je  nach  Bodenbeschaffen- 
heit und  Klima.  Hier  hatte  das  exportierende  Deutschland  be- 
sonders die  österreichische  Konkurrenz  zu  bestehen,  aber  auch 
England  und  Frankreich  erschienen  auf  den  Märkten,  die  auf  dem 
Wasserwege  erreichbar  sind.  Auf  die  Entwicklung  des  nahen 
Orients  wurden  große  Hoffnungen  gesetzt,  denen  die  Deutschen 
bei  dem  Bau  der  anatolischen  und  der  Bagdadbahn  nachhingen. 
Mit  dem  fernen  Orient,  mit  China  und  Japan  war  der  deutsche 
Außenverkehr  gut  vorangekommen.  Der  Stützpunkt  Kiautschou 
wurde  sehr  wertvoll  und  würde  noch  mehr  bedeutet  haben,  wenn 
China  ruhigere  innerpolitische  Zustände  gehabt  hätte.  Nach  beiden 
Staaten  versandte  Deutschland,  meist  in  eigenen  Schiffen,  Ganz- 
fabrikate, empfing  Roh-  und  Hilfsstoffe,  von  China  auch  Tee,  von 
Japan  einige  Spezialprodukte  seiner  Industrie  aus  Flachs,  Stroh, 
Seide,  Bast,  Holz,  Ton  und  Metall. 

Wir  sind  am  Ende  unserer  Übersicht.  Fassen  wir  nach 
Warenarten  zusammen,  so  sind  19 13  die  wichtigsten  Posten  der 
Einfuhr  der  Wertreihe  nach:  Baumwolle,  Weizen,  Schaf  v.olle, 
Gerste,  Kupfer,  Rindshäute,  Eisenerze,  Kaffee;  der  Ausfuhr  nach: 
Maschinen,  Eisenwaren,  Baumwoll-  und  Wollwaren,  Zucker,  Papier, 
seidene  und  chemische  Produkte. 

Die  weltwirtschaftliche  Fähigkeit  des  Deutschen  Reichs  be- 
ruht nicht  bloß  auf  seinem  Außenhandel,  sondern  auch  auf  der 
weiter  unten  zu  besprechenden  Handelsmarine,  seiner  auswärtigen 
Kapitalanlage  und  der  Niederlassung  Deutscher  in  der  Fremde, 
als  Unternehmer,  Angestellte  und  Arbeiter. 

Die  Kapitalanlage  erscheint  in  verschiedenen  Formen. 
Entweder  sind  es  deutsche  Unternehmer,  die  als  Kaufleute,  Ban- 
kiers, Besitzer  von  Landgütern,  Bergwerken,  Plantagen,  Industrien, 
Schiffen  im  Ausland  Geschäfte  betreiben,  mit  eigenen  oder  in 
Deutschland  geliehenen  Geldmitteln.  Zu  ihnen  gehören  auch  die 
Gesellschaften,  die  in  Deutschland  ihren  Sitz  haben  und  mit  aus- 
ländischen Filialen  arbeiten.  Oder  das  deutsche  Kapital  steckt  in 
Unternehmungen  von  Ausländern  bzw.  ist  fremden  Staaten  geliehen 
worden.  Ein  Hauptanlageland  sind  die  Vereinigten  Staaten  ge- 
wesen, wobei  nicht  zu  übersehen  ist,  daß  große  Schiebungen  hin 
und  zurück  über  den  Atlantischen  Ozean  stattgefunden  haben.  Auch 


III.  Die  Handelspolitik  und  Deutschlands  Stellung  in  der  Weltwirtschaft.  ^^i 


diese  Vorgänge  sind  ein  Stück  deutscher  Wirtschaftsgeschichte, 
das  freilich  mehr  vom  Schuldner-  als  vom  Gläubigerland  bestimmt 
worden  ist. 

Vor  dem  Sezessionskrieg  befanden  sich,  wie  früher  erwähnt 
wurde,  schon  Beträge  amerikanischer  Effekten  in  deutschem  Be- 
sitz. Während  desselben  war  namentlich  Frankfurt  a.  M.  durch  die 
Vermittelung  New  Yorker  Niederlassungen  seiner  Bankhäuser, 
Lazarus  Speyer  und  Ellisen,  Seligmann  und  Stettenheimer,  Emit- 
tent der  6  o/o  igen  nördlichen  Bundesanleihen,  und  weiterhin,  Ende 
der  sechziger  Jahre,  als  das  amerikanische  Bahnnetz  im  großen  von 
den  Bürgern  des  siegreichen  Nordens  in  Angriff  genommen  wurde, 
auch  von  Eisenbahnobligationen.  Am  Schluß  der  achtziger  Jahre 
war  der  größte  Teil  der  Bundesschuldverschreibungen,  die  in- 
zwischen im  Kurs  gestiegen  und  stark  getilgt  worden  waren,  nach 
Amerika  heimgewandert.  Die  Summte  der  Bahnwerte  wuchs  weiter, 
je  mehr  der  weite  Westen  erschlossen  wurde.  In  der  | zweiten  Hälfte 
der  neunziger  Jahre,  als  die  amerikanische  Handelsbilanz  eine  sehr 
hohe  Aktivität  angenommen  hatte  und  die  fälligen  Wechsel  bezahlt 
werden  mußten,  strömten  große  Beträge  von  Aktien  und  Obliga- 
tionen in  das  Ausgabeland  zurück,  60 — 80  0/0  des  Besitzes,  zum  Teil 
auch  bedingt  durch  die  starke  deutsche  Nachfrage  nach  Kapital  zu 
eigener  produktiver  Verwendung.  Aber  in  dem  nächsten  Jahrzehnt 
traten  die  Amerikaner  wieder  als  Kapitalsucher  in  Deutschland  auf, 
und  die  Börsen  verzeichneten  zahlreiche  neue  Effekten.  Im  Ver- 
laufe der  50  jährigen  Periode  haben  viele  einzelne  deutsche  Kapita- 
listen an  amerikanischen  Werten  verloren,  andere  gewonnen.  Die 
Bilanz  zwischen  beiden  Nationen  dürfte  zugunsten  des  Gläubigers 
stehen,  da  die  Sanierungen  der  Aktiengesellschaften,  die  leider  mehr 
als  erwünscht  nötig  wurden,  schließlich  unter  dem  Aufschwung  der 
transatlantischen  Volkswirtschaft  überwiegend  geglückt  sind. 

Über  den  Umfang  der  deutschen  Kapitalien  im  Ausland 
gingen  die  Schätzungen  auseinander.  Die  zuverlässigsten  Angaben 
rechneten  am  Anfang  des  Jahrhunderts  20 — 25  Milliarden  Mark, 
vor  Ausbruch  des  Krieges  etwa  10  mehr.  Gut  2/5  werden  die  Ef- 
fektenform besessen  haben.  Der  Nutzen  und  das  Wesen  des  Aus- 
landskapitals war  in  dem  letzten  Jahrzehnt,  in  dem  sich  die  Theorie 
und  die  politische  Praxis  mit  ihnen  beschäftigt  hat,  umstritten. 
Man  meinte  zuerst,  dies  Kapital  werde  einmal  als  vorzüglich  finan- 
zielles Mobilmachungsinstrument  zur  Verwendung  gelangen  können, 
wenn  bei  der  Auflage  innerer  Kriegsanleihen  andere  Werte  nicht 
verfügbar  seien.  Die  Erfahrung  lehrte  seine  Illiquidität  19 14  beim 
Kriegsausbruch,  ebenso  wie  schon  1870;  immerhin  aber  auch  seinen 
hohen   Wert    als    einer   Reserve   für    internationale    Zahlungen   im 


AA2  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

späteren  Kriegsverlaufe.  Volkswirtschaftlich  lernte  man  seine  ex- 
portfördernde Eigenschaft  schätzen.  Es  gibt  Länder  genug,  die 
wohl  kaufen  wollen,  es  aber  nur  unter  langfristigem  Kredit  ver- 
mögen. Die  Aufgabe  war  mithin,  das  Warenausfuhrland  zugleich 
zum  Gläubigerland  zu  machen,  also  Waren-  und  Kapitalausfuhr 
irgendwie  zu  verbinden.  Auch  seine  politische  Seite  wurde  nicht 
verkannt,  indem  es  als  Schrittmacher  für  politische  Einflüsse  in 
schwachen  Schuldnerstaaten  diente,  außerdem  ein  Band  war, 
Allianzen  zu  befestigen  und  ein  Werkzeug,  Verbündete  zu  unter- 
stützen. Für  eine  umfassendere  Einsicht  in  seine  Natur  ergab  sich 
weiter:  die  ganze  volks-  und  sozialwirtschaftliche  Struktur  des 
Gläubiger-  und  Schuldnerstaates  konnte  durch  seine  Macht  in  be- 
stimmte Bahnen  gelenkt  werden,  bei  jenem,  indem  es  als  Renten- 
vermögen eine  Besitzerklasse  schaffen  kann,  die  sich  der  produk- 
tiven Wirtschaft  entzieht,  bei  diesem,  indem  es  die  Grundlage  zu 
neuer  Kraftentfaltung  wird,  die  die  Abzahlung  der  Schulden  er- 
möglicht und  Konkurrent  des  Gläubigers  auf  dem  Weltmarkt  wird. 

Wie  die  Gütererzeugung  über  den  eigenen  Bedarf,  eines  Volkes 
zum  Außenhandel  drängt,  so  auch  das  Kapital,  das  sich  mit  dem 
vielseitigen,  nutzenbringenden  Streben  des  Volkes,  Gläubigerstaat 
in  der  Weltwirtschaft  zu  werden,  verbindet.  Die  Kunst  der  Staats- 
männer und  der  führenden  Banken  ist,  weniger  dem  Expansions- 
trieb der  Geldgeber  einen  Zügel  anzulegen,  als  der  Anlage,  eine 
solche  örtliche  Richtung  zu  geben,  die  dem  volkswirtschaftlichen 
und  weltpolitischen  Gesamtbedürfnis  angepaßt  ist. 

Die  gleiche  Kontrolle  sollte  auch  für  die  Menschen  gelten,  die 
dauernd  oder  vorübergehend  die  Heimat  verlassen,  um  sich  in 
fremden  Staaten  wirtschaftlich  zu  betätigen.  In  den  vorhergehen- 
den Kapiteln  haben  wir  uns  wiederholt  mit  der  Auswanderung 
beschäftigt.  Sie  als  nationales  Problem  zu  werten,  ist  in  den  ersten 
zwei  Dritteln  des  19.  Jahrhunderts  kaum  versucht  worden.  Man 
blieb  in  individualistischen,  das  Wohl  der  einzelnen  Person  an- 
gehenden Erwägungen  stecken.  Im  allgemeinen  schien  man  froh 
zu  sein,  von  überflüssigen  Essern  und  politisch  Unzufriedenen  be- 
freit zu  werden.  Späterhin  jedoch  erfüllte  es  die  rasch  anwachsende 
Industrie  und  die  Landwirtschaft  mit  Sorge,  wenn  nützliche  Ar- 
beitskräfte das  Land  verließen.  Die  Gründung  des  Reichs  und 
seine  notwendige  Machtstellung  führt  auf  den  Gedanken,  daß  die 
Auswanderung  die  nationale  Volkskraft  vermindert  und  andere  auf- 
steigende Länder  kräftigt.  Eine  Warnung  sind  die  Vereinigten 
Staaten,  in  denen  Millionen  Deutscher  zu  Amerikanern  geworden 
sind,  und  von  denen  nur  ein  kleiner  Rest  als  Deutsch-Amerikaner 
Treue  der  alten  Heimat  gehalten  hat. 


III.  Die  Handelspolitik  und  Deutschlands  Stellung  in  der  Weltwirtschaft.  44^ 

Bei  denen,  die  Deutschland  verlassen,  kann  man  folgende 
Arten  unterscheiden:  i.  Die  eigentlichen  Auswanderer,  die  nicht 
zurückkehren  wollen.  In  den  ersten  Jahren  ihres  Fortseins  haben 
sie  noch  Beziehungen  zum  Vaterland,  lassen  sich  Waren  von  dort 
kommen,  an  denen  ihr  Geschmack  hängt.  Geht  es  ihnen  gut,  so 
werden  sie  gefährlich  dadurch,  daß  sie  Verwandte  und  Freunde 
nach  sich  ziehen.  Von  denen,  die  es  zu  nichts  bringen,  kehrt  ein 
kleiner  Teil  zurück  und  das  ist  meist  ein  unerwünschtes  Element  der 
Heimat.  2.  Diejenigen,  die  nur  auf  Zeit  fortgehen,  im  Ausland  ver- 
dienen und  mit  dem  Erwerb  später  daheim  leben  und  arbeiten 
wollen.  Die  meisten  sind  die  eigentlichen  Wanderarbeiter,  neben 
ihnen  stehen  Kleinunternehmer,  Künstler,  Techniker,  Ingenieure, 
Geschäftsleiter,  Zeitungsleute.  3.  Die  Auslandsunternehmer,  die 
dauernd  größere  Betriebe  errichten  oder  Filialen  deutscher  Werke 
und  Banken  vorstehen.  Sie  leben  lange  Zeit  im  Ausland,  und  wenn 
sie  zurückkehren,  übergeben  sie  ihr  Geschäft  einem  Sohne  oder 
werden  durch  andere  Ausgesandte  ersetzt.  Sie  bleiben  National- 
deutsche, wie  die  unter  2.  genannten,  und  haben  für  die  heimische 
Volkswirtschaft  die  Bedeutung,  daß  sie  neue  Verkehrsbeziehungen 
anknüpfen,  die  Warenausfuhr  erleichtern,  die  Kapitalanlagen  ver- 
mitteln, den  Geist  der  deutschen  Kultur  fremden  Völkern  ver- 
ständlich machen,  das  deutsche  Volksvermögen  durch  ihre  Erspar- 
nisse vermehren.  4.  Die  Handelsreisenden,  die  Männer,  die  zu 
wissenschaftlichen  Zwecken  ausreisen,  dann  die  Vergnügungs!- 
reisenden,  deren  Ziffer  mit  dem  deutschen  Wohlstand  enorm  ge- 
wachsen ist  und  die  der  Schweiz,  Italien,  Österreich,  Belgien,  Paris 
große  Summen  zu  verdienen  gaben,  die  die  Zureiseländer  in  ihrer 
Forderungsbilanz  als  Aktivum  zu  buchen  haben. 

Die  überseeische  Auswanderung  über  deutsche  und  fremde 
Häfen  ist  seit  Mitte  der  neunziger  Jahre  stark  zurückgegangen.  Die 
günstigen  heimischen  Erwerbsverhältnisse  und  die  Arbeiterversiche- 
rung dürfen  als  die  entscheidenden  Gründe  gelten,  was  man  um  so 
mehr,  zugeben  wird,  wenn  man  die  günstigen  Jahre  in  Nordamerika 
nicht  übersieht,  die  ihre  Anziehungskraft  auf  Italiener,  Ungarn, 
Russen  ausgeübt  haben,  Deutschland  gegenüber  ohne  Wirkung  ge- 
blieben sind.  1894  wanderten  noch  40964  oder  0,80*^/00,  um  1900 
noch  22309  oder  o,4o0/qq  Deutsche  aus.  Die  niedrigste  relative  Zahl 
ist  1912  mit  0,28  o/qo  erreicht  worden.  Welcher  Unterschied  mit  188 1 
und  1882,  in  welchen  Jahren  das  Reich  4,86  und  4,45  auf  1000  Ein- 
wohner verloren  hatte!  Die  meisten  gingen  auch  in  der  neuesten 
Zeit  noch  in  die  Vereinigten  Staaten,  z.  B.  um  1900  19703,  wäh- 
rend Brasilien  364,  das  übrige  Amerika  474,  Australien  196,  Afrika 
548,    Asien    178    Personen    als    Reiseziel    angegeben    hatten.     Die 


444  ^^-  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

Reeder  in  Hamburg  und  Bremen  hatten  mit  dem  Ausfall  der  deut- 
schen Auswanderung  einen  solchen  in  ihrem  Geschäft.  Aber  dieser 
wurde  reichlich  kompensiert  durch  die  Beförderung  von  Leuten  an- 
derer Nationalität.  Von  diesen  zählte  man  1900  160  129,  1905 
244787,  1913  413857.  Russen  und  Österreich-Ungarer  machten 
den  Hauptbestandteil  aus. 

Mit  der  speziellen  gesetzlichen  Ordnung  des  Aus- 
wanderungswesens hat  das  Deutsche  Reich  lange  gezögert, 
erst  dann  damit  begonnen,  als  das  Abwandern  gering  geworden 
war.  Die  prinzipielle  Freiheit  für  das  Individuum,  seine  Heimat 
aufzugeben,  war  rechtlich  vom  Norddeutschen  Bund  anerkannt 
und  vom  Reich  übernommen  worden.  Die  Einsicht,  daß  man  die 
Leute  nicht  festhalten  könne,  wenn  man  es  auch  wolle,  war  dabei 
weniger  maßgebend  gewesen  als  der  liberale  Zug  der  Zeit.  Nur 
im  Hinblick  auf  die  militärische  Dienstpflicht  waren  Beschräuir 
kungen  aufgelegt.  Da  zu  der  Kompetenz  des  Reichs  „die  Koloni- 
sation und  die  Auswanderung  nach  außerdeutschen  Ländern"  ge- 
hören, wurden  mehrfach  Versuche  gemacht,  wie  1878  und  1892, 
die  gesamte  Materie  gesetzlich  zu  regeln.  Es  mißglückte  jedes- 
mal, bis  1897  endlich  ein  umfassender  Entwurf  vom  Reichstage 
angenommen  wurde.  Nur  beschränkt  zulässig  ist  die  Auswande- 
rung in  der  Zeit  der  aktiven  Dienstpflicht  vom  17. — 25.  Lebens- 
jahre, ferner  verboten  Personen,  deren  Verhaftung  oder  Festnahme 
von  einer  Gerichts-  oder  Polizeibehörde  angeordnet  ist  und  Reichs- 
angehörigen, für  welche  von  fremden  Regierungen  oder  von 
Kolonisationsgesellschaften  der  Beförderungspreis  ganz  oder  teil- 
weise bezahlt  wird.  Die  letztere  Bestimmung  will  Mißbräuche  ver- 
hindern, die  in  der  Vergangenheit  mehrfach  beobachtet  worden 
waren  und  zu  einer  schmählichen  Ausbeutung  Deutscher,  z.  B.  in 
Südamerika,  geführt  hatten.  Die  meisten  Vorschriften  des  Ge- 
setzes beziehen  sich  auf  die  Aufsicht  des  überseeischen  Transports. 
Die  Auswanderungsunternehmer,  die  nur  Reeder  sein  dürfen,  wo- 
mit das  Geschäft  an  wenige  Orte  gebunden  und  leicht  überwachbar 
ist,  und  die  binnenländischen  Agenten,  deren  sich  der  Wanderer 
bedienen  muß,  sind  konzessionspflichtig  und  haben  Kautionen  zu 
stellen,  die  Seetüchtigkeit  der  Schiffe  und  der  Gesundheitszustand 
der  sich  Einschiffenden  steht  unter  Kontrolle. 

Wichtig  ist  der  sogenannte  Spezialisierungsparagraph,  nach 
dem  die  Auswanderung  nach  bestimmten  Orten  verhindert,  also 
jedenfalls,  da  auch  über  deutsche  Nachbarländer  überseeisch  aus- 
gewandert werden  kann,  stark  beschränkt  werden  kann,  woraus 
dann  das  Abströmen  nach  anderen  Einwanderungsgebieten  be- 
günstigt wird.     Damit  ist  nicht  bloß   ein  Schutz  der  abziehenden 


III.  Die  Handelspolitik  und  Deutschlands  Stellung  in  der  Weltwirtschaft.  ^^c 

Person  oder  Familie  gegeben,  sondern  auch  allgemein  wirtschaft- 
liche und  nationale  Interessen  können  berücksichtigt  werden.  Län- 
dern, die  Deutschland  weltpolitisch  oder  weltwirtschaftlich  schä- 
digen, kann  eine  etwa  erwünschte  Versorgung  mit  deutschen  Ar- 
beitskräften entzogen  werden,  und  das  Reich  hat  bei  internatio- 
nalen wirtschaftlichen  Verhandlungen  einen  wertvollen  Trumpf  in 
der  Hand.  Ein  Gebrauch  ist  bisher  von  dieser  Maßregel  nicht 
gemacht  worden. 

Über  die  Zahl  der  Auslandsdeutschen  liegen  mehr- 
fach Untersuchungen  vor.  Das  Material  ist  ziemlich  lückenhaft. 
Das  Handbuch  des  Alldeutschen  Verbandes  von  1905  hat  89403  500 
deutsche  Sprachangehörige,  R.  Höniger  für  1910  96  Millionen 
für  die  ganze  Erde  berechnet.  Um  diese  Summe  handelt  es  sich 
bei  der  Reichsstatistik  nicht  .  Sie  beschäftigt  sich  vielmehr  mit 
den  im  Ausland  lebenden  Reichsgebürtigen  und  denen,  die  unter 
deutscher  Reichsangehörigkeit  leben.  Vergleicht  man  die  Zählung 
von  1890  mit  der  von  1900,  so  ist  die  Summe  der  Reichsdeutschen 
in  fast  allen  europäischen  Ländern  gestiegen,  besonders  auffällig" 
in  der  Schweiz,  in  Italien,  Spanien,  Luxemburg,  Norwegen,  Schwe- 
den. In  England  ist  ein  geringer  Rückgang.  Dasselbe  gilt  von 
den  Vereinigten  Staaten,  Kanada,  Australien,  nach  welchen  die 
Auswanderung  nachgelassen  hat.  Um  die  Jahrhundertwende  wur- 
den 3029514  deutsche  Reichsgebürtige  im  Ausland,  außerdem 
450392  Personen  dort  ermittelt,  die  zwar  nicht  im  Reiche  ge- 
boren, aber  die  deutsche  Staatsangehörigkeit  besaßen.  2,6  Millionen 
entfielen  auf  die  nordamerikanische  Union,  die  Schweiz  168238, 
Rußland  151  102,  Österreich  106364,  Frankreich  90746,  Groß- 
britannien 53402,  Belgien  53408,  Italien  10745. 

Der  Beruf  der  Auslandsdeutschen  ist  je  nach  Ländern  ver- 
schieden. In  Nordamerika  ist  er  an  erster  Stelle  der  Zahl  nach 
Landwirtschaft,  es  folgt  der  mittelschichtige  produktive  Gewerbe- 
stand in  den  Großstädten,  dann  der  Handel.  Da  sich  in  dem  letz- 
teren auch  die  Großkaufleute  befinden,  dürfte  jedoch  seine  Be- 
deutung für  die  deutsche  Volkswirtschaft  die  wichtigste  sein.  In 
der  Schweiz  beschäftigt  die  meisten  Erwerbstätigen  die  Industrie, 
an  zweiter  Stelle  stehen  die  weiblichen  Dienstboten,  in  Rußland 
tritt  ebenfalls  die  Industrie  in  den  Vordergrund,  in  der  die  meisten 
als  Vorarbeiter  und  gelernte  Arbeiter  tätig  sind,  im  Handel  sind 
viele  selbständig,  vor  allem  in  den  Ostseeprovinzen  und  in  Polen. 
Auch  in  Österreich  besitzt  die  Industrie  die  größte  Anziehungs- 
kraft, dann  kommt  der  Handel,  dann  die  Landwirtschaft.  Die  Ver- 
teilung ist  in  den  Kronländern  sehr  ungleich.  Die  Industriellen 
findet  man  vor  allem  in  Böhmen  und  Niederösterreich,  die  Land- 


446  VI-  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

wirte  in  Schlesien,  Böhmen  und  Oberösterreich,  die  Kaufleute  in 
Wien.  In  England  sind  die  Deutschen  vornehmlich  Handwerker, 
Kellner  und  Matrosen,  die  Frauen  häusliche  Dienstboten,  Lehre- 
rinnen, Schneiderinnen,  Putzmacherinnen.  In  Belgien  folgen  auf- 
einander Industrie,  Handel,  freie  Berufe,  in  Italien  stehen  sich  In- 
dustrielle, Kaufleute  und  Dienstboten  etwa  gleich,  über  Frankreich 
liegen  keine  zuverlässigen  Angaben  vor. 

Der  Weltverkehr  in  Personen  ist  nun  nicht  einseitig.  Es 
findet  ein  Bevölkerungsaustausch  statt,  der  sich  keineswegs  in 
gleichen  Ziffern  betätigt.  1880  zählte  Deutschland  300000  Aus- 
länder, 1890  433000,  1900  77^737,  1910  1259873.  Von  der  letzten 
Summe  waren  634983  Österreicher,  144  175  Holländer,  137697 
Russen,  104204  Italiener,  68257  Schweizer.  Dabei  ist  zu  beachten, 
daß  die  Zählung  am  i.  Dezember  stattfand,  an  welchem  Tage 
viele  Wanderarbeiter  schon  wieder  zu  Hause  waren.  1906  waren 
allein  in  Preußen  600  000  ausländische  Arbeiter  beschäftigt  wor- 
den, davon  2/^  in  der  Landwirtschaft,  ^/^  in  der  Industrie,  1908  im 
Reich  eine   Million,    191 2   mindestens    1,2   Millionen. 

Die  anderen  Nationen  standen  sehr  den  vorgenannten  gegen- 
über zurück,  obwohl  England,  Frankreich,  die  Vereinigten  Staaten, 
Belgien  sehr  große  Warensendungen  nach  Deutschland  machten. 
Aus  Großbritannien  und  Irland  stammten  nur  18  319,  aus  Frank- 
reich 19  140,  aus  der  nordamerikanischen  Union  17  572,  aus  Belgien 
13  455.  In  den  letzten  10  Jahren  war  in  dieser  Zahl  kaum  eine  Ver- 
änderung eingetreten,  woraus  man  schließen  darf,  daß  der  Welt- 
krieg schon  seine  Schatten  vorausgeworfen  hat.  Die  Russen  und 
Polen  waren  vorwiegend  Landarbeiter,  die  Engländer,  Belgier, 
Amerikaner  wählten  Handel  und  Industrie,  die  Italiener  und  Fran- 
zosen die  Industrie  und  den  Bergbau,  die  Österreicher  die  In- 
dustrie und  die  Landwirtschaft.  So  fand  die  zwischenstaatliche 
Produktionsverteilung  nach  Agrar-,  Industrie-,  Handelsstaaten  auch 
in  diesem  Arbeitsaufsuchen  einen  Ausdruck. 

Von  den  Ausländern  halten  sich  verhältnismäßig  viele  des 
Erwerbs  wegen  in  Deutschland  auf.  Man  ermittelte  1900  unter 
ihnen  65,5  Erwerbstätige  und  34,5  Angehörige,  während  die  Reichs- 
bevölkerung das  Verhältnis  von  45,2  zu  54,8  besaß.  Die  Luxusein- 
wanderung, d.  h.  ein  Zuströmen  reicher,  viel  Geld  ausgebender 
Leute  infolge  der  Annehmlichkeiten,  die  Deutschland  darbot,  zeig- 
ten 1909  die  Städte  Wiesbaden,  Wilmersdorf  und  Aachen  mit  4,20/0 
der  Ortsbevölkerung,  Charlottenburg  mit  3,5,  Bonn  und  Görlitz 
mit  2,6.  Die  höchsten  Arbeiterprozente  hatten  die  Orte  Duisburg, 
Recklinghausen,  Oberhausen,  Mülheim,  Landsberg  a.  d.  W.,  Har- 
burg.    Im  ganzen  war  jedoch  das  rheinisch-westfälische  Kohlenge- 


III.  Die  Handelspolitik  und  Deutschlands  Stellung  in  der  Weltwirtschaft.  aa"] 

biet  nicht  reich  an  Fremden  und  erreichte  den  Reichsdurchschnitt 
nicht.  Die  Plätze  waren  hier  durch  die  Preußisch-Polen  bereits 
besetzt. 

Die  Verflechtung  Deutschlands  in  die  Weltwirtschaft  war 
nach  dem  hier  Erzählten  recht  fortgeschritten.  Der  Vorstoß  von 
1895 — 191 4  wird  bekundet  durch  die  wachsenden  Zahlen  des 
Warenhandels,  der  Handelsmarine,  des  positiven  Saldos  der  Forde- 
rungsbilanz, durch  das  Ausgeprägtsein  des  Aktivhandels,  den  Zu- 
stand des  Gläubigerstaates,  die  Aussendung  und  die  Aufnahme 
zahlreicher  Unternehmer  und  Arbeiter,  durch  die  Erfolge  in  den 
Kolonien.  Die  wirtschaftliche  Beweglichkeit  auf  so  vielen  Gebieten 
entsprach  dem  deutschen  unternehmenden  Geiste  durchaus. 

Man  mag,  soweit  die  staatlichen  Organe  in  Mittätigkeit  ge- 
treten sind,  von  einer  Weltwirtschaftspolitik  des  Reichs 
bei  allen  diesen  Dingen  und  Vorkommnissen  sprechen.  Imperia- 
lismus im  ausgeprägten  Sinne  lag  nicht  vor.  Hat  es  überhaupt  je 
einen  deutschen  Imperialismus  gegeben,  den  uns  die  Feinde  seit 
1914,  um  den  ihrigen  zu  verschleiern,  vorgeworfen  haben? 

Deutschland  war  der  machtvollste  Staat  im  westlichen  konti- 
nentalen Europa,  allein  gestellt  militärisch  und  wirtschaftlich,  stär- 
ker als  Österreich-Ungarn  oder  Frankreich  oder  Italien.  Außer- 
dem hatte  es  einen  Überschuß  an  Bevölkerung  und  Wirtschafts- 
mitteln,  die  es,  je  mehr  es  an  der  Weltwirtschaft  teilnahm,  in  diese 
hineinwerfen  mußte.  Daraus  folgte  aber  keineswegs,  daß  es  sich 
eine  beherrschende  Vormachtstellung  über  viele,  geschweige  denn 
alle  Völker  der  Erde,  aneignen  wollte.  Schon  der  Blick  auf  die 
Landkarte  mußte  solche  Ideen,  wenn  sie  einmal  in  phantasie- 
reichen Köpfen  auftauchten,  dem  Spotte  anheimgeben.  Deutsch- 
land liegt  nicht  am  Weltmeer,  dessen  Zugang  zudem  von  den  bri- 
tischen Inseln  aus  verriegelt  werden  konnte,  wobei  vielleicht  Belgien 
oder  Holland  Hilfsdienste  leisten  würden.  Im  Osten  dräuete  der 
russische  Koloß,  dessen  Armeen  und  Wirtschaftskräfte  von  Jahr 
zu  Jahr  anwuchsen  und  eine  landbesiedelnde  Expansion  im  öst- 
lichen Europa  unmöglich  machten. 

Der  Wille  zur  Macht  ist,  wie  die  Weltgeschichte  auf  jedem 
ihrer  Blätter  ohne  Ausnahme  lehrt,  jedem  politischen  Gebilde  im 
Umkreise  anderer  eigen.  Aber  es  wäre  verkehrt,  ihn  in  Deutsch- 
land von  gleicher  Heftigkeit  und  Ausschließlichkeit  anzunehmen 
wie  in  England,  dessen  Bürger  sich  als  gottbegnadete  Rasse  mora- 
lisch allen  Völkern  überlegen  wähnen,  oder  wie  in  den  Vereinigten 
Staaten,  deren  Bewohner  glauben,  daß  sie,  vermöge  ihrer  Regie- 
rungsformen, ein  solches  Übergewicht  im  geschichtlichen  Werden 
besitzen,  daß  sich  alle  anderen  Länder  dieser  ethischen  Macht  zu 


AAg  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

beugen  hätten,  oder  wie  in  Frankreich,  das  sich  in  Ruhmessucht  so 
verzehrt,  daß  jeder  andere  Staat  ihm  nur  Mittel  zu  diesem  Zweck 
erscheint,  oder  endhch  wie  in  der  russischen  InteUigenz,  die  rück- 
blickend auf  die  Ausdehnung  ihres  Machtgebietes  während  der 
letzten  200  Jahre  den  „morschen  Westen"  als  eine  ebenso  sichere 
Beute  beanspruchte,  wie  den  ganzen  asiatischen  Erdteil. 

Deutschland  war  diesen  Imperialismen  gegenüber  immer  in 
der  Abwehr,  und  der  Weltkrieg  war  nichts  anderes,  als  ein  mili- 
tärisch nicht  gut  und  politisch  miserabel  vorbereiteter  Verteidi- 
gungskrieg, was  auch  immer  eine  feindliche  Diplomatie  oder  die 
geschichtlich  nicht  g"ut  orientierte  deutsche  Demokratie  sagen  mö- 
gen. Es  strebte  dahin,  auch  „einen  Platz  an  der  Sonne"  zu  be- 
sitzen und  nur  so  sich  zu  erweitern,  als  es  die  Lebensnotwendig- 
keit und  die  eigene  Befähigung  geboten.  Mehr  konnte  es  nicht 
wollen,  da  es  nicht  mehr  in  sich  hatte.  Denn  es  mangelte  ihm  von 
Natur  ein  solches  starkes  Gesamtgefühl,  um  wie  einst  der  Römer 
„civis  Romanus  sum"  zu  sagen.  Das  deutsche  Volk  hat  niemals 
geographisch  geschlossene  Grenzen  besessen,  offen  sind  seine  Flan- 
ken gelegt,  um  fremden  Einfluß  und  fremde  Rassen  einströmen  zu 
lassen  und  um  ihm  eine  unzuverlässige  Grenzbevölkerung  in  Polen, 
Schleswig  und  Elsaß-Lothringen  zu  bescheren,  während  England, 
Frankreich,  Italien,  die  Vereinigten  Staaten  von  dem  sie  umspülen- 
den Meere  beschützt  werden. 

Man  hat  den  Alldeutschen  Imperialismus  angedichtet,  aber 
wie  schon  ihr  Name  sagt,  ihr  Ziel  war  nur  ein  nationales,  ethno- 
graphisches. Sie  wollen  alle  Deutschen  der  Erde  zusammenfassen, 
was  freilich  zunächst  utopisch  sein  mußte,  da  sie  die  eigene  Volks- 
seele nicht  genug  kannten  und  was,  wenn  es  überhaupt  möglich  ist, 
nur  unter  einer  langen  Schule  des  Leidens,  die  zum  Zusammen- 
schluß drängt,  aussichtsreicher  werden  kann.  Das  deutsche  Wesen 
wurzelt  in  einer  Fülle  von  Individualitäten  und  Stämmen  und  ist 
reich  an  inneren  Widersprüchen  des  Kosmopolitismus  und  Natio- 
nalismus, der  gemütvollen  Tiefe  und  der  politischen  Leichtgläubig- 
keit, des  hergebrachten  allgemeinen  Gehorchens  und  des  Mangels 
an  politischen  Befehlen,  so  daß  es  die  Konzentration  des  staat- 
lichen Willens  nur  erreicht,  wenn  das  Glück  ihm  ein  politisches 
Genie  zuwirft,  während  seine  Feinde  bei  ihrer  natürlichen  Ge- 
schlossenheit mit  Talenten  auskommen  können. 

Blickten  die  Alldeutschen  auf  die  Glanzzeit  des  mittelalter- 
lichen Reichs  zurück,  das  nur  locker  gefügt  zu  sein  brauchte,  weil 
es  auf  der  tatsächlich  gegebenen  kriegerischen  Überlegenheit  der 
jugendlichen  Germanen  weit  sicher  beruhte,  die  im  Weltkriege  191 4 
bis    191 8    sich    noch    einmal    in    den    Nachkommen    bewährte,    so 


IV.  Die  Landwirtschaft.  44g 


wollten  sie  mit  diesem  geschichtlichen  Hinweis  daran  erinnern, 
daß  die  Deutschen  nicht  immer  bloß  ein  Völkerkonglomerat  ge- 
wesen waren,  wollten  nicht  etwas  beleben,  was  ein  für  allemal 
tot  war. 

Es  ist  daher  verständlich,  daß  der  deutsche  Machtwille  vor- 
wiegend im  Wirtschaftlichen  und  Kulturellen,  nicht  im  Politischen 
aufging,  und  wenn  nach  seiner  Befriedigung  mehr  als  dies  gefor- 
dert wurde,  so  konnte  das  nichts  anderes  sein,  als  bloß  den  großen 
Nachbarstaaten  politisch  ebenbürtig  zu  werden. 

IV.  Die  Landwirtschaft.  Für  die  Landwirtschaft  hat 
sich  der  Zollschutz  von  1879 — 191 4  in  der  Weise  segensreich  er- 
wiesen, daß  sie  in  der  ersten  Hälfte  des  Zeitraumes  den  Stand 
ihrer  bisherigen  Produktivität  leidlich  behaupten,  in  der  zweiten 
darüber  hinausgehen  konnte.  Sie  hat  es  nicht  nötig  gehabt,  was  ihr 
der  zweite  Kanzler  des  Reiches  riet,  den  Wert  ihres  Besitzes  abzu- 
schreiben, den  Sandboden  wieder  mit  Kiefern  anzuschonen  und  im 
feuchten  Klima  die  Weiden  auszudehnen.  Durch  die  Berufs-  und 
Betriebszählungen  von  1882,  1897  und  1907  und  durch  andere 
jährliche  oder  mehrjährliche  Erhebungen  über  Bodenbenutzung, 
Anbau,  Ernte,  Viehhaltung,  Schlachtung,  Außenhandel  ist  in  sie  ein 
Einblick  gewonnen  worden,  aus  dem,  wenn  auch  die  Zahlen  nicht 
immer  fehlerfrei  sein  mögen,  manche  quantitative  Beurteilung  bei 
der  nachfolgenden  Darstellung  geschöpft  werden  konnte. 

Verschiedene  Kräfte  sind  zusammengefaßt  worden,  um  ihre 
neue  Blüte  hervorzubringen:  wissenschaftliche  Erfahrungen,  tech- 
nische Erfindungen,  wirtschaftliche  Organisationen.  Die  Intelli- 
genz und  Energie  der  Betriebsleiter  sind  ebenso  wie  die  erhöhte 
Leistungsfähigkeit  der  Arbeiter  zu  beachten.  Man  wird  alles  unter 
der  Erhaltung  und  Steigerung  der  Reinerträge  wie  ehedem  zu 
würdigen  haben,  d.  h.  ohne  die  durch  den  Zoll  und  die  ver- 
stärkte heimische  Nachfrage  erhöhten  Preise  hätte  der  Fortschritt 
nicht  einsetzen  können. 

Die  landwirtschaftliche,  angewandte  Wissenschaft  strebte  in 
Anlehnung  an  die  Naturwissenschaft  voran,  wobei  sie  die  einseitig 
chemische  Behandlungsweise  durch  die  Agrikulturphysik,  die  Bak- 
teriologie, die  Biologie  glücklich  ergänzte.  Die  Wahlzucht  in  der 
Tierhaltung  wurde  neben  der  Rassenzucht  betont,  die  Auswahl  des 
Saatgetreides  sorgsam  gehandhabt,  die  vielartige  Kunstdüngung 
nach  der  Bodenbeschaffenheit  abgestuft. 

Das  von  Schulz-Lupitz  erfundene  System,  durch  den  An- 
bau stickstoffsammelnder  Pflanzen  unter  Zugabe  von  Kali  und 
Phosphorsäure  die  leichten  Sandböden  zu  bereichern,  und  das  von 
Rimpau-Cunrau     angewandte,     Stickstoff  reichen     Niederungs- 

A.  Sartorius  v.  Waltershausen     Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.       29 


45 O  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von    1890 — 1914. 

mooren  durch  Entwässerung  und  Sandbedeckung  Erträge  an  Futter- 
gewächsen, Hackfrüchten  und  Getreide  abzugewinnen,  fanden  jetzt 
weite  Verbreitung.  Erfolgreich  wurde  die  Verunkrautung  des  Bo- 
dens durch  verbesserte  Ackergeräte  und  Maschinen  sowohl,  als 
auch  durch  chemische  Bespritzungsmittel,  die  auch  die  Parasiten 
vernichteten,  bekämpft.  Die  eingeführte  Tiefkultur,  die  dem 
Pflanzenwurzeln  besseren  Standort  als  die  Flachkultur  bietet  und 
dem  Boden  gestattet,  Feuchtigkeitsmengen  für  trockene  Zeiten  auf- 
zuspeichern, wurde  ebenso  zum  Gemeingute  intelligenter  Land- 
wirte wie  die  Pflanzenzüchtung  von  ganzen  Beständen,  nicht 
bloß  die  von  Individuen,  die  der  Gärtner  früher  schon  kannte 
(v.  Lochow)  oder  wie  die  richtige  Auswahl  der  von  der  Natur 
gegebenen  festen  Formen  aus  der  Masse  statt  der  Erzielung  der 
die  Vererbung  leicht  ausschließenden  Variation. 

Die  Landwirtschaft  weist  nicht  so  glänzende  Ergebnisse  wie 
Industrie  und  Handel  auf,  steht  jedoch  in  den  letzten  Jahren  vor 
dem  Krieg  so  im  Zeichen  des  Aufschwunges,  daß  sie  auf  alle  üb- 
rigen Erwerbszweige  als  Abnehmer  glücklich  zurückwirken  kann. 
Das  schließt  nicht  aus,  daßMie  deutschen  Landwirte  nicht  noch 
mancherlei  Wünsche  hatten,  und  wir  werden  sehen,  wo  sie  der 
Schuh  drückte. 

Aus  den  Nachweisen  seit  1890  ergibt  sich,  daß  die  ihnen 
dienliche  Fläche  um  eine  Million  Hektar  gewachsen  ist,  in- 
dem Teile  des  Öd-  und  Unlandes  der  Kultur  zugeführt  worden  sind. 
Sie  umfaßt  rund  2/3  des  Reichsgebietes,  und  eine  Erweiterung  wird 
nur  dadurch  möglich,  daß,  ohne  Waldgebiet  zu  opfern,  das  mehr 
als  1/4  der  Gesamtfläche  bildet,  die  großen,  nicht  bestellten  Moor- 
flächen mit  einem  Umfange  von  2000000  ha,  die  vor  allem  in 
Norddeutschland  liegen,  herangezogen  werden,  neben  denen  auch 
unbebauter  Nichtmoorboden,  der  dem  Moore  nach  seiner  natür- 
lichen Vegetation  nahe  steht,  zur  Verwendung  vorhanden  ist.  Die 
hier  ermöglichten  Wiesen  schätzt  man  als  ausreichend,  um  2 1/2  Mil- 
lionen Stück  Großvieh  zu  ernähren  und  ein  verheißungsvolles  Neu- 
land für  ']'})  000  Siedlerfamilien  zu  werden.  Voraussetzung  eines 
ersten  großen  Erfolges  ist  der  gesetzlich  geordnete  Abbau  des 
Torfes  und  der  Schutz  gegen  Bodenverwüstung,  ferner  vorbild- 
liche Inanspruchnahme  der  Arbeit  auf  Domanialboden  und  die 
regelmäßige  Einsetzung  von  Geldbeträgen  zu  diesem  Zwecke  in 
die  Etats.  Mit  dem  „Verein  zur  Förderung  der  Moorkultur  im 
Deutschen  Reiche"  ist  ein  Organ  geschaffen  worden,  das  alle  ein- 
schlägigen Fragen  erforscht  und  die  gewonnenen  Erfahrungen 
praktisch  verwertet. 

Die   Bestellung   der   Fläche   hat   sich   seit    1870  in   ihrer   Zu- 


IV.  Die  Landwirtschaft.  ^ej 


sammensetzung  aus  Ackerland  und  Wiesen  wenig  verändert,  die 
Weinberge  haben  sich  etwas  vermindert,  der  Gartenbau  und  die 
reichen  Weiden  vermehrt,  die  geringen  Weiden  und  die  Hutungen 
haben  abgenommen.  Schon  die  letztere  Tatsache  läßt  auf  eine  in- 
tensivere Betriebsführung  schließen,  die  sich  zudem  aus 
der  weiteren  Einschränkung  der  Brache  und  der  Ackerweide,  die 
zusammen  1878  14,70/0  ausmachten,  auf  8,70/0  um  1900  ergibt.  Der 
so  gewonnenen  Fläche  entspricht  ein  vermehrter  Anbau  von  Hack- 
und  Hülsenfrüchten,  Gemüse,  Futterpflanzen  und  Getreide,  mit 
dem  das  auch  sonst  beglaubigte  Zurückweichen  der  alten  Drei- 
felderwirtschaft und  anderer  extensiver  Systeme  bis  auf  geringe 
Reste  zusammenstimmt. 

Die  zunehmende  Intensität  ließe  sich  dadurch  anzweifeln,  daß 
man  den  Rückgang  der  gesamten  landwirtschaftlichen  Bevölkerung 
hervorhebt.  1882  zählte  die  Landwirtschaft  i.  w.  S.,  d.  h.  mit  Ein- 
schluß der  Forstwirtschaft  und  Fischerei  19225455  Köpfe,  1895 
18  501  307,  1907  17  681  176.  Das  waren  bei  der  ersten  Zählung 
42,5,  bei  der  letzten  29,60/0  'der  Gesamtbevölkerung'  Der  Schluß 
hieraus  auf  die  sinkende  Arbeitsintensität  wäre  indessen  übereilt. 
Denn  zerlegt  man  die  Berufsangehörigen  in  Erwerbstätige,  Fa- 
milienzugehörige und  häusliche  Dienstboten,  so  ergibt  sich  die 
Hauptabnahme  in  der  letzten  Gruppe,  eine  mäßigere  in  der  zweiten, 
keine  in  der  wichtigen  ersten.  Wahrscheinlich  ist,  daß  die  Zahl  der 
mithelfenden  Familienangehörigen,  stark  bestimmt  durch  den 
Arbeitermangel  auf  dem  Lande,  relativ  gegen  früher  gestiegen  ist. 
Die  statistischen  Angaben  sind,  um  diesen  Schluß  genau  quantitativ 
zu  ziehen,  mit  Vorsicht  aufzunehmen,  da  sie  zum  Teil  auf  einer 
schärferen  Erfassung  der  Arbeitstätigkeit  überhaupt  beruhen 
dürften. 

Die  Zahl  der  weiblichen  Erwerbstätigen  in  der  Landwirtschaft 
hat  um  so  mehr  zugenommen,  als  die  Männer  vom  Lande  abwan- 
derten. Die  Summe  derjenigen  Personen,  die  im  Nebenberufe 
landwirtschaftlich  tätig  waren,  stieg  von  1895 — 1907  um  1952985, 
während  in  den  13  Jahren  vorher  eine  Abnahme  festgestellt  worden 
war.  Es  dürfte  das  wesentlich  mit  der  Ausnutzung  der  in  der  .Nähe 
großer  Städte  gegründeten  Kleinbetriebe  zusammenhängen,  die  bei 
der  Preissteigerung  der  auf  ihnen  erzeugten  Lebensmittel  rentabel 
wurde. 

Übrigens  wird  man  auch  mit  der  erhöhten  qualitativen  Ar- 
beitsintensität zu  rechnen  haben,  die  sich  sowohl  aus  der  besseren 
Bezahlung  der  Lohnarbeiter,  als  auch  aus  Arbeitsspezialisierung 
der  Nicht-Ständigen,  z.  B.  der  Saisonarbeiter,  herleitet. 

Im  Vergleich  zu  den  vergangenen  Jahrzehnten  zeigt  sich,  daß 

29* 


452  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

die  meisten  Landwirte  immer  mehr  ihre  ganze  Kraft  auf  den 
Hauptberuf  gelegt  haben,  wodurch  sie  leistungsfähiger  geworden 
sind.  Ihre  nebenbetriebliche  Tätigkeit  schrumpft  weiter  ein,  wie 
das  Bauen,  Backen,  Schlachten,  die  Jagd  und  Fischerei.  Das  in- 
dustrielle Gebiet  erzeugt  nicht  bloß  für  den  persönlichen  Verbrauch 
der  Landleute  immer  vielseitigeres,  sondern  auch  hunderttausende 
von  Personen  liefern  die  Vorbedingungen  zur  Landwirtschaft  in 
der  Anfertigung  von  Maschinen,  Werkzeugen,  Wagen,  künstlichem 
Dünger  usw.  Auch  der  Transport  der  landwirtschaftlichen  Pro- 
dukte oder  der  vom  Landwirt  eingekauften  Waren  verselbständigt 
sich,  indem  er  der  Eisenbahn,  der  Binnenschiffahrt,  der  Post  über- 
wiesen wird. 

Die  Kapitalintensität  in  der  Landwirtschaft  ist  schon  mit  dem 
Gesagten  angedeutet.  Einige  Verbrauchsschätzungen  liegen  vor. 
Die  Mehrverwendung  des  Handelsdüngers  ist  von  1890 — ^1913  auf 
gegen  70000000  dz  berechnet  worden.  Die  Kalisalze  steigen  von 
2,1  auf  30,1,  das  Superphosphat  von  5  auf  20,  das  Thomasmehl  von 
4  auf  22,  der  Chilesalpeter  von  2,4  auf  5,6,  das  schwefelsaure  Am- 
moniak von  0,6  auf  4000000  dz.  Der  Wert  sämtlicher  dieser  Stoffe 
wird  1913  auf  573000000  Mark  beziffert. 

Die  Maschine  hat  in  der  Landwirtschaft  nicht  wie  in  der  Groß- 
industrie den  Betrieb  gänzlich  umgestaltet.  Die  in  der  Mitte  des 
Jahrhunderts  bewährten  Feldsysteme  bestehen  fort,  nur  die  einzel- 
nen Funktionen  im  Betriebe  werden  maschinell  erleichtert.  Die 
Zunahme  einiger  Maschinenarten  ist  statistisch  festgestellt.  Von 
1882 — 1907  stieg  die  Zahl  der  einfachen  Dreschmaschinen  von 
268367  auf  947003,  der  Dampf dreschmaschinen  von  75690  auf 
488867,  der  Drill-  und  Säemaschinen  von  63842  auf  290039, 
der  Mähmaschinen  von  19634  auf  301325,  der  Dampfpflüge 
von  836  auf  2995.  Alle  Maschinen  kommen  in  verschiedenen 
Typen  vor,  und  die  landwirtschaftlichen  Ausstellungen  zeigen  die 
fortlaufenden  Verbesserungen.  Wohl  nirgends  tritt  die  Rückwir- 
kung des  hochentwickelten  Industrielandes  uns  deutlicher  entgegen 
als  hier.  Wie  die  Fabrik  die  Dampfkraft  vielfach  durch  die  elek- 
trische und  den  Ölmotor  ersetzt,  so  die  Landwirtschaft  die  Loko- 
mobile durch  die  Überlandzentrale,  den  Dampfpflug  durch  den 
Motorpflug.  Die  Kataloge  der  Wanderausstellung  der  Deutschen 
Landwirtschaftlichen  Gesellschaft  geben  uns  einen  Einblick  in  die 
moderne  Technik,  nennen  breitwürfige  und  andere  Säemaschinen, 
Walzen,  Drill-  und  Dibbel-,  Mäh-,  Hack-,  Dampf dresch-,  Motor- 
dresch-  und  andere  Dreschmaschinen,  Häckselzerstäuber,  Häcksel- 
schneide-, Kartoffelpflanz-,  Häufel-  und  Erntemaschinen,  Dünger- 
streuer, Strohbinder,  Sackheber,  Heuaufzüge.    Eine  Menge  Einrich- 


IV.  Die  Landwirtschaft. 


453 


tungen  und  Handwerkszeuge  gibt  es  noch  zur  ersten  Verarbeitung 
der  Erzeugnisse:  Knochen-,  Trester-  und  Schrotmühlen,  Milch- 
kühler und  -Separatoren,  Rübenschneider,  Stroh-,  Obst-  und  Wein- 
pressen, Obstdörrer  und  -Schäler,  Apfelzerteiler,  Kartoffel-  und 
Getreidesortierer,  Reb-,  Obstbaum-,  Hederichspritzer,  Ölpressen, 
Knochenbrecher,  Kartoffeltrockner,  Scheermaschinen,  Viehfutter- 
dämpfer, Strohleinenspinner,  Brutöfen,  Kipp-,  Waldbahn-,  Platt- 
form-, Stockwerk-,  Jauchewagen,  Jauchepumpen,  -Verteiler  und 
-Fässer. 

Die  Vereinheitlichung  der  Betriebsweise  wird  durch  alle  diese 
Hilfsmittel  hervorgebracht,  wenn  auch  die  Nivellierung  innerhalb 
der  Industriezweige  niemals  erreicht  werden  kann.  Wie  verbreitet 
die  Maschinen  sind,  zeigt  die  Betriebsstatistik  von  1907,  die  zwölf 
Arten  von  ihnen  zusammenfaßt.  Von  den  Großbetrieben  über 
100  ha  waren  97,4  0/0  mit  solchen  ausgestattet,  von  den  Mittelbe- 
trieben zu  20—100  ha  92,8  0/0,  von  denen  mit  5—20  ha  72,5  0/0.' 

Von  den  sich  haltenden  landwirtschaftlichen  Nebengewerben, 
der  Spiritusbrennerei,  der  Zuckerfabrikation,  der  Stärke- 
erzeugung, der  Bierbrauerei,  der  Getreidemüllerei,  Sägemüllerei, 
Ziegelei,  Kartoffeltrocknung,  ist  die  erste  sehr  verbreitet.  Sie  ge- 
stattet ein  schwer  versendbares  Rohmaterial,  die  Kartoffel,  an 
Ort  und  Stelle  zu  einem  Fernabsatzprodukt  zu  verarbeiten.  Die 
Kartoffeltrocknung  zu  Schnitzeln,  Scheiben,  Flocken,  Mehl  geht 
aus  demselben  Bedürfnis  hervor.  Der  Anbau  ist  durch  beide  Ver- 
arbeitungen besonders  im  östlichen  Deutschland  stark  angeregt 
worden.  Die  großen  Rückstände  an  Schlempe  in  der  Brennerei 
werden  der  örtlichen  Viehernährung  erhalten.  Die  Getreidebrennerei, 
die  vornehmlich  im  Westen  des  Reiches  ihren  Sitz  hat,  sowie  die 
Kartoffelbrennerei  werden  auch  losgelöst  von  der  Landwirtschaft 
vorgenommen,  doch  trittt  die  Zahl  dieser  Großbetriebe  zurück. 
Die  landwirtschaftlichen  Nebenbetriebe  werden  steuerlich  begün- 
stigt und  haben  sich  in  der  Spirituszentrale  eine  wirksame,  monopol- 
artige Verkaufsorganisation  geschaffen.  Der  Alkoholverb  rauch  zum 
Trinken  ist  seit  1906  etwa  um  1/4  zurückgegangen,  der  zu  gewerb- 
artige  Verkaufsorganisation  geschaffen.  Der  Alkoholverbrauch  zum 
Trinken  ist  seit  1906  etwa  um  1/4  zurückgegangen,  der  zu  gewerb- 
lichen Zwecken  im  denaturierten  Zustande  ist  seitdem  auf  der  glei- 
chen Höhe  geblieben  und  nimmt  mehr  als  1/3  der  Produktion  in 
Anspruch  (1910— 1911  1407000  hl,  1906/07  664000  =  1/4)-  ^^^ 
Obstbrennerei,  mit  ihrem  Hauptsitz  in  Südwestdeutschland,  ist  fast 
durchweg  ein  Nebengeschäft  der  Kleinlandwirtschaft.  Die  Steuer- 
statistik gibt  seit  1906  über  50000  solcher  Betriebe  an,  denen 
1 5  000  mit  der  Verarbeitung  mehlhaltiger  Rohstoffe  gegenüberstan- 


A'^d.  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 19 14. 

den.  Um  die  Technik  der  Spiritusfabrikation  hat  sich  vor  allem 
Max  Märcker  verdient  gemacht. 

Die  Kartoffelernte  hat  man  in  den  letzten  Jahren  vor  dem 
Krieg  auf  etwa  450000000  dz  durchschnittlich  veranschlagt.  Davon 
kamen  163  auf  die  Viehfütterung,  130  auf  den  menschlichen  Ver- 
brauch, 65  auf  die  Saat,  46  auf  die  gewerbliche  Verwendung.  Der 
große  Rest  von  45  ging  jährlich  bei  der  Aufbewahrung  durch 
Schwund,  Fäulnis  usw.  zugrunde.  Die  Ausfuhr  in  das  Ausland 
konnte  diesem  Verluste  nicht  abhelfen,  da  sie  nur  aus  dem  Westen 
Deutschlands  in  mäßigem  Umfange  stattfindet,  der  gewerbliche 
Bedarf  ließ  sich  nur  langsam  steigern,  da  der  Alkohol  schon  öfters 
im  Zeichen  der  Überproduktion  gestanden  und  die  Herstellung  von 
Kartoffelstärke  und  Stärkezucker  sich  von  1890 — 191 3  verdoppelt, 
d.  h.  auf  3  000  000  dz  gehoben  hatte. 

Um  die  Jahrhundertwende  begann  man  mit  Versuchen,  die 
Kartoffel  zu  trocknen,  sowohl  um  den  Abgang  zu  vermeiden,  als 
auch,  um  einen  Ausgleich  von  guten  und  schlechten  Jahren  durch 
das  haltbare  Produkt,  das  in  Schnitzeln,  Flocken,  Mehl  der  tieri- 
schen und  menschlichen  Ernährung  zu  dienen  geeignet  ist,  zu  ge- 
winnen. Die  Erfolge  mit  dauernd  verbesserten  Einrichtungen 
waren  günstige,  in  vollem  Maße  wurden  sie  erst  nach  19 14  in  der 
Nahrungsmittelnot  unter  der  feindlichen  Blockade  ausgenutzt. 

Die  Entstehung  des  Zuckerrübenanbaues  und  der  ver- 
arbeitenden Fabriken  haben  wir  in  einem  früheren  Abschnitt  kennen 
gelernt.  Das  gesamte  Gewerbe  ist  weiterhin  fortgeschritten  und 
stellte  auch  eine  wertvolle  Ausfuhrware  her.  Die  Technik  der  Ge- 
winnung von  Rohzucker  ging  weiter  unter  Anwendung  des  Strontian- 
verfahrens,  den  Erfindungen  von  Carl  Scheibler,  voran,  mit 
denen  es  gelang,  die  Melasse  zum  guten  Teil  zu  entzuckern,  und 
unter  Bildung  von  Großbetrieben  mit  den  stets  neuesten  maschi- 
nellen Einrichtungen.  Auch  in  der  hier  beschriebenen  Zeit  glückte 
die  vollkommenere  Ausnutzung  der  Rübe.  1901/02  waren  durch- 
schnittlich für  I  kg  Rohzucker  6,96  kg  Rohrüben  erforderlich, 
1910/11  inur  6,08. 

Die  Hauptrübengebiete  sind  die  Provinzen  Sachsen,  Schlesien, 
Hannover,  Schleswig-Holstein,  ferner  Braunschweig  und  Anhalt. 
Die  Zahl  der  Fabriken  war  ehemals  größer.  1886/87  zählte  man 
456,  1908/09  342.  Neben  den  Vorteilen  des  Großbetriebes  hatten 
auch  die  Auslage  der  Steuersummen  und  die  lästige  Steuerkontrolle 
dazu  beigetragen,  die  Zahl  herabzusetzen.  Die  Rohmaterialsteuer 
hatte  zu  dem  System  der  gedeckten  Ausfuhrprämien  geführt,  wo- 
durch dem  Fiskus  Ausfälle  entstanden,  so  daß  der  Übergang  zur 
Fabriksteuer    notwendig    wurde.      Die    Abschaffung    der    Prämien 


IV.  Die  Landwirtschaft. 


455 


wurde  1903  durch  die  internationale  Zuckerkonvention  erreicht, 
auf  der  sich  die  wichtigsten  Zucker  ausführenden  Staaten  zu  der 
gleichen  Maßregel  entschlossen.  In  Deutschland  wurde  gleichzeitig 
die  Steuer  von  20  auf  14  Mark  für  den  Doppelzentner  ermäßigt, 
wonach  der  innere  Verbrauch  rasch  stieg.  Die  ganze  Erzeugung 
an  Rohzucker  betrug  1886/87  971000  Tonnen,  1910/11  2300000. 
Ehedem  war  die  Kultur  über  das  Land  sehr  ungleich  verteilt  ge- 
wesen, da  man  nur  bestimmte  Bodenarten  für  ertragreich  hielt. 
Unter  der  Benutzung  neuer  Düngemethoden  sind  auch  andere  Bö- 
den mit  Erfolg  herangezogen  worden. 

War  bis  in  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  die  Zuckerfabri- 
kation ein  landwirtschaftliches  Nebengewerbe  gewesen,  so  war 
später  mit  den  immer  größeren  Kapitalansprüchen  der  Fabriken 
die  industrielle  Verselbständigung  mehr  und  mehr  geboten.  Die 
Aktiengesellschaft,  die  Gesellschaft  m.  b.  H.,  die  eingetragene  Ge- 
nossenschaft werden  notwendig.  Es  waren  noch  1892/93  52834  ha 
für  landwirtschaftliche  Fabrikunternehmer  angebaut  worden, 
1913/14  nur  noch  24876.  Der  sonstige  bestellte  Boden  war  hin- 
gegen von  299172  auf  507967  angewachsen.  Der  Zusammenhang 
zwischen  Fabrik  und  landwirtschaftlichem  Betrieb,  der  an  der  Rück- 
gabe der  ausgelaugten  Schnitzel  sehr  interessiert  ist,  ist  durch  die 
Gewinnbeteiligung  des  letzteren  an  ersterer  gewahrt  worden.  Die 
Landwirte  sind  die  Aktionäre,  Gesellschafter  oder  Genossenschafter 
mit  der  Verpflichtung,  eine  bestimmte  Zahl  Hektar  mit  Rüben  zu 
bestellen  und  die  Ernte  abzuliefern,  während  sie  an  dem  Gewinn 
teilnehmen,  sei  es  durch  unmittelbare  Ausschüttung  desselben  oder 
durch  Erhöhung  des  vertraglich  festgestellten  Mindestpreises  der 
gelieferten  Rüben.  Da  bei  der  steten  Geschäftsausdehnung  der  letz- 
ten Jahrzehnte  diese  Kontingente  nicht  genügen,  schließen  die  Fa- 
briken Verträge  auch  mit  nicht  beteiligten  Landwirten  zur  Bei- 
bringung der  sogenannten  „Kaufrüben"  ab.  Hier  ist,  die  Interessen- 
gemeinschaft zwischen  Anbauer  und  Verarbeiter  nicht  mehr  vor- 
handen, und  Preisstreitigkeiten  sind  häufig.  Die  kleineren  Land- 
wirte klagen  über  den  Druck  des  Großkapitals.  Teilweise  konnte 
dieser  Zukauf  vermieden  werden,  durch  die  „Überrüben",  die  von 
den  Anteilsinhabern  über  ihr  Kontingent  hinaus  auf  Grund  beson- 
derer Abmachungen  abgegeben  werden.  Die  Kauf-  und  Überrüben 
machen  schon  1892/93  mehr  als  die  Hälfte  aller  gelieferten  aus. 

Die  Arbeitsteilung  hat  sich  in  der  Zuckerfabrikation  in  der 
Weise  durchgesetzt,  als  Rohzuckerfabriken,  Raffinerien,  Melasse- 
entzuckerungsanstalten  und  Weißzuckerfabriken  unterschieden  wer- 
den. Die  letztgenannten  stellen  billige  Verbrauchssorten  ohne  vor- 
hergehende Rohzuckergewinnung  her. 


456  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

Zu  dem  Kapitalbestand  der  Landwirte  gehören  auch  die  A  r  - 
beits-,  Milch-  und  Schlachttiere.  Von  1883— 191 2  ist  die 
Zahl  der  Pferde  von  3  1/2  auf  4  1/2  Millionen  Stück,  des  Rindviehes 
von  153/4  auf  201/4,  der  Schweine  von  9I/4  auf  22,  der  Ziegen  von 
2  1/2  auf  3  1/3  hinaufgegangen.  Der  Verkaufswert  wurde  1883  auf 
51/2?  19 14  gegen  10  Milliarden  Mark  veranschlagt.  Bei  einem  zu 
53,63  kg  Fleisch  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  berechneten  Ver- 
brauch kommen  nur  5  0/0  auf  die  Einfuhr,  die  des  Seuchenschutzes 
wegen  mit  Recht  eingeschränkt  wird.  Es  werden  daher  statt  dessen 
Futtermittel  aus  dem  Auslande  bezogen,  um  den  heimischen  Vieh- 
stand auf  der  nötigen  Höhe  zu  halten.  Nur  die  Schafzucht  ist  um 
13,3  Millionen  Stück  von  1883 — 191 2  zurückgegangen,  die  in  die 
intensiver  werdenden  Betriebsweisen  nicht  paßt.  Wolle  mußte  da- 
her in  steigenden  Mengen  von  außen  beschafft  werden.  Wenn  die 
genannten  erhöhten  Viehziffern  schon  die  Verstärkung  des  Kapitals 
nachweisen,  so  wird  dieselbe  noch  vollständiger  sichtbar  durch  die 
durchschnittliche  Gewichtszunahme  der  Tiere,  zum  Teil  vor  allem 
des  Mastviehes.  Sie  stieg  (Lebendgewicht)  bei  Rindern  in  der  ge- 
nannten Periode  von  321  auf  360  kg,  bei  Schweinen  von  116  auf 
126,  bei  Schafen  von  34  auf  42.  Dabei  war  die  Beschaffenheit  des 
Fleisches  verfeinert  worden,  und,  was  für  die  Viehrente  wichtig  ist, 
das  Verkaufsvieh  wurde  in  weniger  Monaten  schlachtreif.  Die 
besseren  Futtermittel  gestatteten  einen  rascheren  Kapitalsumschlag. 

Die  Umgestaltung  der  Volkswirtschaft,  soweit  sie  mit  der  Ver- 
dichtung der  Bevölkerung  in  der  Großstadt  zusammengeht,  hat  die 
Molkereien,  die  bisher  zu  den  landwirtschaftlichen  Nebenbetrieben 
gehörten,  mehr  und  mehr  in  die  Richtung  gedrängt,  gewerbliche 
Anstalten  zu  werden.  Die  Vielseitigkeit  der  Produkte,  die  sich  neben 
feinster  Milch,  neben  Butter  und  Käse  in  der  pasteurisierten  Dauer- 
milch, der  Kindermilch,  dem  gegorenen  Kefir  und  Joghurt,  der 
kondensierten  Milch,  der  Trockenmilch  und  dem  Milchzucker  kund- 
gibt, war  dazu  ebenso  eine  Veranlassung,  wie  der  Großbetrieb,  der 
durch  die  Sammelmolkereien  der  vielen  kleinen  Lieferungen  vom 
Lande  geboten  war,  oder  wie  die  staatliche  Beaufsichtigung,  die 
zum  Wohle  der  Volksgesundheit  von  der  Wissenschaft  der  Bakterio- 
logie gefordert  wurde.  Auch  die  erhebliche  Einfuhr  von  Butter 
und  Käse  und  deren  Preiserhöhung  —  19 12  wurden  55  553  Tonnen 
Butter,  194  991  dz  Hart-  und  19455  Weichkäse  vor  allem  aus 
Rußland,  Holland,  Dänemark  und  der  Schweiz  bezogen  — ,  ver- 
langten die  äußerste  Ökonomie  in  der  Verwendung  der  Milch,  deren 
Mangel  sich  in  den  Großstädten  zusehends  fühlbar  machte.  Die 
Margarinegesetze  sind  zum  Schutze  der  Butterherstellung  gegeben, 


IV.  Die  Landwirtschaft. 


457 


lagen  aber  auch  im  Interesse  der  Verbraucher,  so  daß  die  anfäng- 
liche Gegnerschaft  gegen  sie  bald  verschwand. 

Über    die    Zunahme    der    vegetabilischen    Roherträge    in    der 
Landwirtschaft  gibt  die  Reichsstatistik  folgenden  Aufschluß: 


Im  Durchschnitt  der  Jahre 
1883— 1887 


Anbau- 
fläche 
Helctar 


Ernte- 
menge 

Tonnen 


Ertrag  p. 

Hektar  in 

Dz. 


Im  Durchschnitt  der  Jahre 
1908 — iqi2 


Anbau- 
fläche 
Hektar 


Ernte- 
menge 
Hektar 


Ertrag  p. 

Hektar  in 

Dz. 


Roggen  ,  . 
Weizen  .  . 
Sommergerste 
Kartoffeln 
Hafer  .  .  . 
Wiesenheu    . 


5  830  200 
1918  000 
I  737  700 
2912  800 
3  785  000 
5  905  100 


5  867  800 
2  585  200 
2  232  800 

25  459  200 
4  291  000 

16  874  600 


10,0 

13.4 
12,8 

87,4 

11,3 

28,5 


6  168  261 
I  911  768 
I  604  1 16 
3315  137 
4317753 
5989237 


1 1  012  171 
3  962  390 
3  220  066 

44  220  213 
8  189  062 

25024865 


17.8 
20,7 
20,1 

133-4 
19,0 
42,1 


Wir  haben  hier  eine  durchschnittliche  Steigerung  von  65  0/0  in 
25  Jahren  vor  uns,  neben  der  diejenige  der  Reichsbevölkerung  um 
41  0/0  erwähnt  sein  mag.  Die  Emteerträgnisse,  auf  den  Hektar  be- 
rechnet, überschreiten  diejenigen  anderer  Länder: 


Emtejahr 

Land 

Weizen 

Ernte  a 
Roggen 

if  den  Hektar  in  Dz. 
Gerste     1      Hafer 

Kartoffeln 

1912 

Deutschland 

22,6 

18,5 

21,9 

19,4 

150-3 

1912 

Rußland 

6,9 

9.0 

8,7 

8,5 

81,7 

1912 

Oesterreich-Ungarn 

f    15,0 
\   12,7 

14,6 
11,6 

i6,o 
13.0 

i3>o 
10,4 

100,2 
84,4 

1911 

Frankreich 

13,8 

14,3 

14.3 

12,6 

74,2 

1912 

Kanada 

13.7 

12,0 

16,7 

15,0 

115,8 

1912 

Ver.  Staaten 

10,7 

10,6 

16,0 

13,4 

76,2 

1912/13 

Argentinien 

9,3 

— 

— 

14,1 

— 

1911/12 

Br.-Indien 

8,7 

— 

— 

— 

— 

Die  großen  Agrarländer  mit  ihren  weiten  Flächen  der  exten- 
siven Wirtschaft  sind  leicht  verständlich,  daß  aber  Frankreich, 
früher  das  typische  Land  intensiven  Mittel-  und  Kleinbetriebes,  und 
Österreich-Ungarn  mit  seiner  wachsenden  Bevölkerung  und  relativ 
wenig  Boden  soweit  hinter  Deutschland  zurückstehen,  zeigt  dessen 
Energie  und  verbesserte  Technik  besonders  auffällig. 

Der  deutsche  Boden  genügte  trotz  der  hohen  Roherträge  der 
Ernährung  nicht,  wie  das  die  Außenhandelstabelle  von  19 13  zeigt: 


Tonnen 


Roggen    Weizen 


Gerste 


Hafer 


Mais 


Hülsen- 
früchte 
Hirse 


Öl- 
früchte 


Roggen- 
mehl 


Weizen- 
mehl 


Einfuhr 
Ausfuhr 


352  542I2545959 
934463I    538349 


3238213 
6  104 


505022 
661  653 


918655 
35 


267  900 
14  619 


1747389 
13574 


1  000 
225  102 


17868 
194756 


4^8  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 1914. 

Weizen  und  Futtermittel  werden  vor  allem  benötigt,  die  Mül- 
lerei ist  so  hoch  entwickelt,  daß  eine  Mehlausfuhr  stattfindet.  Ein- 
geführt werden  zudem  große  Mengen  von  Phosphaten  und  Chile- 
und  Norgesalpeter,  ferner  die  obengenannten  milchwirtschaftlichen 
Erzeugnisse,  Fette,  Federvieh  und  Eier,  die  letzten  vier  ohne  Stei- 
gerung seit  1901.  Der  entscheidende  Grund  der  noch  notwendigen 
Einfuhr  lag  darin,  daß  die  Bevölkerung  reichlicher  und  ausge- 
wählter lebte  als  in  der  Vergangenheit.  Bei  der  Ernährungsweise 
der  Großväter  hätte  die  Generation  vor  dem  Weltkriege  mit  der 
Eigenerzeugung  auskommen  können.  Während  desselben  mußte 
nun  die  Produktion  stark  herabgesetzt  werden. 

„Das  Gesetz  der  sinkenden  Roherträge"  besagt,  daß  die  Mehr- 
erzeugung von  Produkt  auf  einer  gegebenen  Fläche  von  einer  be- 
stimmten Ertragshöhe  an  nur  mit  absoluten  und  relativ  steigenden 
Kosten  möglich  ist  —  wenigstens  im  allgemeinen,  wenn  auch  bei 
einzelnen  Fortschritten  der  landwirtschaftlichen  Technik  vorüber- 
gehend Ausnahmen  zugestanden  werden.  Da  die  Kosten  nebst 
einem  Gewinn  in  den  Preisen  Deckung  finden  müssen,  war  der 
Schutzzoll  geboten,  falls  man  die  Intensifizierung  der  Landwirt- 
schaft erhalten  wollte,  der  die  Konkurrenz  des  auf  reichem  Boden 
billiger  erzeugenden  Auslandes  abschwächen  sollte. 


Die  Schulze-Delitzschen  Genossenschaften  und 
ihre  gesetzliche  Regelung  sind  früher  besprochen  worden.  Blieb 
auch  ihr  Schwerpunkt  in  dem  Kreise  der  Handwerker  und  kleinen 
Handelsleute,  so  griffen  sie  doch  auch  auf  die  Kleinlandwirtschaft 
über.  Grundsätzlich  landwirtschaftlich  ist  die  von  Fr.  W i  1  h. 
Raiff eisen  (1818 — 1888)  begründete  Genossenschaftsbewegung. 

Im  Hungerjahr  1847  begann  Raiffeisen  mit  einem  Kon- 
sumverein zur  Beschaffung  von  Brot  und  Getreide,  1849  in  Flam- 
mersfeld  auf  dem  Westerwald  mit  dem  Hilfs verein  für  unbemittelte 
Landwirte,  1854  mit  dem  Heddesdorfer  Wohltätigkeitsverein.  Die 
christliche  Nächstenliebe  ist  die  Ethik  seiner  Vereine  von  Anfang 
an  gewesen.  Die  Vereinsführer  sollen  leben  wie  die  Apostel,  und 
ihr  erster  ist  für  sein  Lebenswerk  ein  leuchtendes  Vorbild  an  Ge- 
meinnützigkeit und  Selbstlosigkeit  gewesen. 

Die  Genossenschaften  sind  ihrer  Entstehung  nach  ländliche 
Darlehnskassenvereine,  die  den  Mitgliedern  billigen,  lang-  und 
kurzfristigen  Kredit  geben,  zugleich  als  Sparkassen  dienen,  deren 
Einlagen  der  Klasse  der  Sparer  im  Darlehen  wieder  zugeführt 
wird.  Sie  sollen  dem  kleinen  Landwirt  die  Tilgung  seiner  Schulden 
sowohl  ermöglichen,  als  auch  die  Mittel  gewähren,  seinen  Betrieb 


IV.  Die  Landwirtschaft. 


459 


zu  heben.  Ihr  ökonomisches  Rückgrat  ist  wie  bei  Schulze  die 
Solidarhaft.  Die  Gemeinnützigkeit  tritt  u.  a.  dadurch  hervor,  daß 
keine  Dividenden  gezahlt,  daß  Überschüsse  zum  Reservefonds  ge- 
schlagen werden,  und  die  meisten  Ämter  Ehrenämter  sind.  Die 
Vereine  sind  auf  einen  engen  Bezirk,  in  der  Regel  die  Gemeinde, 
beschränkt,  damit  die  Kreditwürdigkeit  sicher  geprüft,  und  die 
Verbesserung  der  wirtschaftlichen  Lage  des  Schuldners  unmittelbar 
beeinflußt  und  dieser  selbst  überwacht  werden  kann. 

Die  Kassen,  die  seit  1864  in  Tätigkeit  sind,  haben  ihren 
Hauptsitz  im  Westen  und  Südwesten  des  Reiches,  wo  sie  eine  ihrer 
ursprünglichen  Aufgaben,  die  Bekämpfung  der  Bewucherung  durch 
jüdische  Kleinhandelsleute,  gelöst  haben.  Man  kann  von  einem 
vollen  Erfolg  hierbei  erst  in  den  letzten  30  Jahren  sprechen,  als  die 
Zahl  der  Genossenschaften  groß  geworden  war.  Das  Wuchergesetz 
von  1880,  das  gegen  die  Ausbeutung  geschäftsunkundiger,  in  Geld- 
not befindlicher  Personen  durch  gewissenlose  Geldverleiher  erlassen 
war,  hatte  die  schlimmsten  Formen  des  Geld-,  Vieh-,  Waren-  und 
Grundstückswuchers  schon  getroffen,  die  erzieherische  Hauptarbeit 
haben  doch  die  Kreditvereine  getan,  indem  sie  die  am  Alten  hän- 
genden und  gegen  Neuerungen  mißtrauischen  Bauern  aufgeklärt 
und  in  die  neuzeitliche  Erwerbswirtschaft  unter  steter  Hilfeleistung 
eingeführt  haben.  Auch  die  Belebung  des  ehemals  in  Dorf-  und 
Markverbänden  gepflegten,  nie  erloschenen  Gemeingeistes  wird 
ihnen  nachgerühmt.  Der  mit  der  Bauernbefreiung  verschwundene 
Schutzverband  war  in  anderer  Form  wieder  entstanden. 

Die  Genossenschaften  haben  sich  keineswegs  mit  dem  Kredit- 
geben genug  getan.  191 4  unterscheidet  man:  Rohstoff-,  Warenein- 
kauf-, Verkaufs-,  Werk-,  Magazin-,  Produktiv-,  Meierei-,  Zuchtvieh-, 
Weide-,  Schlacht-,  Bau-,  Wohnungs-,  Konsum-,  Maschinenbeschaf- 
fungs-,  Brennerei-,  Saatgutverteilungs-,  Winzergenossenschaften. 
Vielfach  sind  aus  den  einmal  befestigten  Verbänden  neue  mit  an- 
deren Zwecken  hervorgegangen,  wie  z.  B.  die  Versicherungs-,  die 
Kuhladen-  und  Sterbekassen.  Im  ganzen  hat  man  das  genossen- 
schaftliche Prinzip  in  50  Anwendungen  nachgewiesen.  Dieneuetsen 
Bestrebungen  gehen  auf  die  Versorgung  mit  Elektrizität,  mit  Le- 
bensmitteln, die  auf  dem  Lande  nicht  hergestellt  werden,  mit  Werk- 
zeugen des  Hausbedarfs  und  des  Betriebes,  endlich  auf  das  Trock- 
nenverfahren der  Kartoffel. 

1876  wurde  die  landwirtschaftliche  Zentraldarlehnskasse  er- 
richtet, eine  Aktiengesellschaft  zur  Regelung  des  Geldausgleichs, 
da  Geldmangel  und  Überschuß  bei  den  einzelnen  Genossenschaften 
unvermeidlich  waren.  Nach  mancherlei  Zwischenfällen  und  Schwie- 
rigkeiten hat  sich  dies  Unternehmen  im  großen  entwickelt  und  in 


460  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890  — 1914. 

den  letzten  Jahren  vor  19 14  durchschnittlich  6  Millionen  Mark  um- 
gesetzt. Die  Zusammenschließung  ist  auch  sonst  geschaffen  wor- 
den. 191 4  zählte  man  28  landwirtschaftliche  Rohstoff-,  62  Kredit- 
und  27  Vereine  für  den  Absatz  landwirtschaftlicher  Produkte,  die 
als  Zentralen  die  angeschlossenen  Ortsverbände  unterstützten  und 
ihre  kaufmännischen  Ziele  im  großen  zu  erreichen  suchten.  Außer- 
dem sind  alle  Genossenschaften  in  allgemeine  Verbände  zur  Vertre- 
tung ihrer  Interessen  zusammengefaßt  worden.  Die  beiden  größ- 
ten waren  der  Offenbacher  und  der  Neuwieder,  die  sich  1905  zu 
einem  Reichsverband  vereinigten,  womit  die  Vereinheitlichung  aus 
sich  heraus  vollendet  war.  Preußen  hat  seit  1895  die  Genossen- 
schaftsbewegung überhaupt,  also  auch  die  ländliche,  durch  die  Er- 
richtung einer  Zentralgenossenschaftskasse  gefördert,  die  mit  einem 
Kapital  von  50  Millionen  Mark  ausgestattet  wurde  und  zinsbare 
Darlehen  nur  an  Vereinigungen  und  Verbandskassen  eingetragener 
Erwerbs-  und  Wirtschaftsgenossenschaften  gewährt. 

Die  Zahl  der  landwirtschaftlichen  Genossenschaften,  die  im 
Jahr  nach  dem  Erlaß  des  Genossenschaftsgesetzes  von  1889  3006 
betrug,  war  Ende  19 13  auf  27675  angewachsen,  so  daß  die  Periode 
des  landwirtschaftlichen  Aufschwunges  mit  der  der  aufsteigenden 
Raiffeisenschen  Genossenschaften  zusammenfällt.  Die  Mitglied- 
schaft wird  auf  2I/2  Millionen  veranschlagt.  Dazu  kamen  etwa  noch 
I  Million  solcher  Personen,  die  anderen  Organisationen  angehörten, 
den  Schulzeschen  Volksbanken  allein  200000,  den  Deich-  und 
Schutzwaldgenossensohaften,  den  Versicherungs-,  Züchter-,  Kon» 
trollvereinen  und  Ortsbezugvereinen  (Kasinos).  Da  nach  der  Zäh- 
lung von  1907  5  3/^  Millionen  landwirtschaftlicher  Betriebe  ermittelt 
wurden,  von  denen  also  3  1/2  Millionen  Personen  irgendeiner  Ge- 
nossenschaft angeschlossen  waren,  wird  man  ermessen  können,  wie 
weit  das  Gemeinschaftsprinzip  in  Deutschland  bereits  in  die  Praxis 
eingedrungen  ist. 

Die  Raiffeisenkassen  werden  ländliche,  nicht  Bauernvereine 
benannt,  weil  auch  andere  Personen,  die  auf  dem  Lande  leben,  in 
ihnen  mitwirken,  wie  Pfarrer,  Lehrer,  Gutsbesitzer,  staatliche  Ver- 
waltungsbeamte, die  alle  vermöge  ihrer  Bildung  besonders  geeignet 
sind,  die  Geschäfte  zu  leiten.  In  den  genossenschaftlichen  Brenne- 
reien sind  die  Großlandwirte  einflußreich.  Auch  Dorfhandwerker 
und  Landarbeiter  sind,  soweit  sie  Boden  bewirtschaften,  sonstige 
Teilhaber,  womit  ihnen  die  Möglichkeit  gegeben  ist,  zu  sparen  und 
zum  Kleinbauerntum  aufzurücken.  Die  innere  Kolonisation  ist  eben- 
falls nicht  übergangen.  Genossenschaften  haben  in  Bayern  auf 
Grund   der   dortigen   Gesetzgebung   zertrümmerte   Güter   übernom- 


IV.  Die  Landwirtschaft.  46 1 


men,  neue  Stellen  geschaffen  und  durch  ihren  Kredit  zu  Neuansied- 
lungen angeregt. 

Man  wird  daher  mit  Recht  sagen  dürfen,  daß  die  Genossen- 
schaften die  Gesamtheit  der  ländlich-wirtschaftlichen  Aufgaben  in 
den  Kreis  ihres  organisatorischen  Willens  einbezogen  haben.  Doch 
ist  daran  festzuhalten,  daß  sie  ihren  Schwerpunkt  in  der  Bauern- 
schaft finden.  Denn  dieser  sind  durch  den  Zusammenschluß  Vieler 
Vorteile  des  kaufmännischen  Großbetriebes,  preiswert  einzukaufen, 
sicher  zu  verkaufen  und  billiger  Zinssatz  zuteil  geworden. 

Die  Arbeit  des  Neuschaffens  ist  noch  nicht  abgeschlossen. 
Nicht  überall  ist  Befestigung  des  Angestrebten  erzielt  worden. 
Krisen  mannigfacher  Art  sind  nicht  ausgeblieben.  Nicht  immer 
wurden  die  richtigen  Vorstände  gefunden,  nicht  selten  hatte  der 
Verband  seine  Leistungsfähigkeit  überschätzt,  das  Verständnis  für 
geld-  und  banktechnische  Geschäfte  ließ  öfters  zu  wünschen  übrig. 

Wie  das  Genossenschaftswesen  die  Bauernbildung  zum  Ver- 
ständnis der  wirtschaftlichen  Gegenwart  gehoben  hat,  so  wird  man 
auch  dem  öffentlichen  Unterricht  einen  Anteil  daran  zu- 
sprechen müssen.  Die  allgemeine,  mehr  mittelbar  wirkende  Schul- 
bildung von  der  Volksschule  bis  zur  Universität  wurde  durch  die 
Fachausbildung  glücklich  ergänzt.  Eine  Anzahl  der  alten  landwirt- 
schaftlichen Akademien,  wie  Möglin,  Waldau,  Regenwalde,  Eldena, 
wurden  in  den  sechziger  und  siebziger  Jahren,  nachdem  L  i  e  b  i  g 
heftig  gegen  sie  polemisiert  hatte,  aufgelöst,  und  im  Anschluß  oder 
in  Verbindung  mit  den  Universitäten  richtete  man  neue  Anstalten 
ein,  zuerst  in  Jena  durch  Fr.  G.  Schulze,  dann  in  Halle  durch 
Jul.  Kühn.  Die  natur-  und  staatswissenschaftliche  Seite  der  Land- 
wirtschaftslehre  wurde  so  am  besten  gewahrt,  ohne  daß  dabei  die 
das  ganze  Wissensgebiet  umfassende  praktische  Disziplin  zu  kurz 
gekommen  wäre.  Im  Zusammenhang  mit  diesen  Anstalten  oder 
auch  selbständig  wurden  landwirtschaftliche  Versuchsstationen  an- 
gelegt, deren  Zahl  um  1900  70  betrug.  Sie  haben  sich  zu  einem 
Reichsverband  zusammengeschlossen  und  verfügen  über  eine  Zeit- 
schrift zum  Austausch  ihrer  Erfahrungen. 

Der  Zustand  in  der  hier  besprochenen  Epoche  ist  nun  der 
einer  Zweiteilung  geblieben.  An  Universitäten  und  technische  Hoch- 
schulen sind  in  Deutschland  9  Institute  für  die  höhere  Fachbildung 
angegliedert  worden,  während  noch  3  Akademien,  Poppeisdorf, 
Hohenheim  und  Weihenstephan  und  die  Landwirtschaftliche  Hoch- 
schule als  selbständige  Einrichtungen  fortbestehen  und  in  Preußen 
dem  landwirtschaftlichen  Ministerium  unterstellt  sind. 

War  so  für  die  höhere  Bildung  des  Großbetriebes  gesorgt 
worden,    so    wurde    auch    der    Bauernsohn    nicht    vergessen.     Die 


462  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  voti   1890 — 1914. 

früheren  Ackerbauschulen  —  die  erste  war  1818  neben  der  Hohen- 
heimer  Akademie  errichtet  worden  —  hatten  sich  nur  an  die  prak- 
tische Ausbildung  der  Schüler  gehalten.  Der  zweijährige  Kursus  war 
zu  zeitraubend.  Man  führte  daher  später  zur  ausschließlichen  Beleh- 
rung in  der  Theorie  Winterschulen  ein,  die  sich  so  bewährt  haben, 
daß  man  1908  im  Reich  279  zählte.  Daneben  bestehen  die  200  nie- 
deren Fachschulen  mit  kürzeren  oder  längeren  Lehrzeiten,  wie  für 
Wiesen-,  Obst-,  Wein-,  Baum-  und  Gartenbau,  für  Molkerei,  Haus- 
haltung und  Hufbeschlag,  die  für  solche  jungen  Leute,  die  für  die- 
selben keine  Zeit  haben,  durch  Spezial-  und  Wanderkurse  ergänzt 
werden.  Einen  anderen  Charakter  tragen  die  43  Landwirtschafts- 
schulen (Mittelschulen)  —  die  erste  entstand  in  Hildesheim,  beson- 
ders den  Bedürfnissen  der  Großbauernsöhne  angepaßt  — ,  welche 
die  allgemeine  Schulbildung  fortsetzen,  zugleich  die  Landwirtschafts- 
und Naturlehre  pflegen  und  die  Berechtigung  zum  Einjährig-Frei- 
willigendienst  ausstellen,  nachdem  sie  der  staatlichen  Aufsicht  unter- 
worfen sind.  Schließlich  sind  die  bei  weitem  zahlreichsten,  1908 
3224,  ländlichen  Fortbildungsschulen  zu  nennen,  die  in  den  Winter- 
monaten die  gleichen  Ziele  verfolgen.  Während  der  höhere  Unter- 
richt, auch  der  der  Kolonialschule  in  Witzenhausen,  in  der  Hand 
des  Staates  ruht,  ist  der  mittlere  und  untere  von  Gemeinden,  Ver- 
einen und  neuerdings  von  den  Landwirtschaftskammern  übernom- 
men worden. 

Die  landwirtschaftliche  Belehrung  in  Deutschland,  die  von  kei- 
nem Staat  übertroffen  wird,  verdankt  man  einer  dem  Streit  der  Par- 
teien entrückten  Agrarpolitik,  für  die  hohe  Finanzmittel  überall 
bewilligt  werden  konnten.  Staat  und  Landwirtschaft  sind  in 
Preußen  seit  der  Zeit  Friedrichs  des  Großen  in  enger  Füh- 
lung gewesen.  Wenn  auch  die  Grundsätze  manchen  Wechsel  erlebt 
haben,  so  fehlte  es  nie  an  der  Bestrebung,  die  technischen  Fort- 
schritte durch  öffentliches  Eingreifen  zu  verallgemeinern.  Das 
1842  von  Friedrich  Wilhelm  IV.  errichtete  Landesökonomie- 
Kollegium,  das  zugleich  als  Vermittler  zwischen  dem  Ministerium 
und  den  landwirtschaftlichen  Vereinen  diente,  die  durch 
Belehrung,  Versuche  und  Unterstützungen  landwirtschaftliche  Ver- 
besserungen anbahnten,  war  zu  diesem  Zwecke  entstanden.  Die 
vielen  örtlichen  Vereine  haben  sich  nach  und  nach  zusammenge- 
schlossen. Überall  gab  es  Zentralverbände,  die  sich  in  den  großen 
Staaten  auf  Provinzen,  in  den  kleineren  auf  das  Landesgebiet  er- 
streckten, 1872  erhielten  sie  in  dem  deutschen  Landwirtschaf tsrat_, 
in  dem  alle  Einzelstaaten  und  die  großen  Provinzen  vertreten  sind, 
eine  Spitze,  die  für  das  Reich  das  war,  was  das  Kollegium  in 
Preußen  ist.    Er  tagt  jährlich  mit  seinen  74  Mitgliedern  in  Berlin, 


IV.  Die  Landwirtschaft.  /163 


die  von  den  Hauptvereinen,  später  wesentlich  von  den  Landwirt- 
schaftskammern, gewählt  wurden.  Diese  sind  nach  dem  Gesetze 
von  1894  obligatorisch  für  Preußen,  dem  andere  Bundesstaaten 
nachgefolgt  sind.  Sie  haben  Zielen  ähnlich  denen  der  Handelskam- 
mern nachzugehen,  besitzen  das  Recht  zu  Initiativanträgen  bei  der 
Regierung,  haben  also  nicht  bloß  auf  Befragen  Gutachten  zu  er- 
statten. Sie  bilden  Ausschüsse  für  einzelne  Fragen  und  besitzen  die 
Befugnis,  zur  Deckung  ihrer  Kosten  Steuerzuschläge  zu  der  Grund- 
steuer zu  erheben,  und  da  sie  auch  staatliche  Zuschüsse  erhalten, 
ist  ihre  Tätigkeit  immer  umfassender  geworden.  Indem  die  Mit- 
glieder auf  den  Kreistagen  gewählt  werden,  ist  die  Kammer  eine 
ganz  ausschließliche  Vertretung  der  Landwirtschaft  nicht,  zumal 
auch  die  Regierung  einen  unmittelbaren  Einfluß  ausübt.  1898  wur- 
den sie  mit  einer  Zentralstelle  zur  Erledigung  gemeinsamer  Auf- 
gaben ausgestattet.  Die  landwirtschaftlichen  Vereine  sind  zwar  als 
provinziale  mit  den  Kammern  überflüssig  geworden,  im  ganzen  ist 
aber  ihre  Zahl  bei  dem  Eifer,  Neues  zu  leisten,  nicht  zurückge- 
gangen. Die  unter  ihnen  besonders  hervorzuhebende,  1885  von 
M.  Eydt  gegründete  Deutsche  Landwirtschafts-Gesellschaft,  in  der 
Praktiker  und  Theoretiker  ihre  Gedanken  austauschen,  findet  neben 
der  Herausgabe  eines  Jahrbuches  ihre  Betätigung  in  den  perio- 
disch wiederkehrenden,  großen  Wanderausstellungen,  deren  26. 
1913  in  Straßburg  i.  E.  stattfand. 

So  sehr  nun  auch  das  Genossenschafts-  und  Vereinswesen  und 
der  staatliche  Unterricht  den  deutschen  Landwirten  anregend  ge- 
holfen haben,  ihr  Gewerbe  intensiver  und  gewinnreicher  zu  machen, 
so  blieb  doch  dem  einzelnen  Wirt  noch  immer  genug  zu  über- 
denken, da  fast  jedes  Gut  nach  natürlicher  Beschaffenheit,  Ver- 
kehrslage und  sozialer  Umgebung  eine  Individualität  ist.  So  ist 
das  Verantwortlichkeitsgefühl  trotz  aller  öffentlich  rechtlichen  Für- 
sorge den  Landwirten  geblieben,  auch  unter  dem  Schutzzoll,  unter 
dem  die  Konkurrenz  und  das  Schwanken  der  Preiskonjunktur 
keineswegs  beseitigt  wurden.  Daher  ist  die  Entwicklung  zu  der 
Höhe,  die  191 3  erreicht  worden  war,  eine  durchaus  gesunde  ge- 
wesen. Eine  Rückwirkung  von  dem  kapitalistischen,  industriellen 
und  kaufmännischen  Geist,  der  seit  1890  Deutschland  imprägnierte, 
machte  sich  auch  in  der  Landwirtschaft,  besonders  der  im  großen 
betriebenen,  geltend  und  zwang  den  einzelnen,  sich  neuzeitlich  zu 
verhalten,  womit  manche  unerwarteten  Anforderungen  an  seine 
Selbstbestimmung  gestellt  wurden. 

Die  kapitalistische  Betriebsweise  ergreift  die  Landwirte  um  so 
tiefer,  je  mehr  sie  verkehrsmäßig  Waren  produzieren.  Die  Eigen- 
versorgung ist  aber  noch  überall  bestehen  geblieben,  wie  das  die 


464  ^^'  Absclinitt.     Die  Zeit  von  1890 — 19 14. 

Kriegszeit  recht  deutlich  vor  Augen  geführt  hat,  anders  als  in  der 
Industrie  im  weiteren  Sinne  und  setzt  der  Gewinnrechnung  eine 
Grenze. 

Industriell  kaufmännisch  verfahren  diejenigen  Gutsbesitzer  am 
meisten,  die  sich  in  freier  Konjunkturwirtschaft  dem  Warenspezia,- 
lismus  zuwenden  und  die  Arbeitskraft  rein  ökonomisch  bewerten, 
d.  h.  unter  arbeitsteiliger  Anstellung  von  Saisonarbeitern,  unter 
Akkordarbeit  und  unter  Einschränkung  des  festen  Bestandes  an 
Gesinde.  Im  ganzen  ist  dies  Verfahren  noch  selten  geblieben,  was 
für  den  sozial-konservativen  Charakter  des  Gewerbes  spricht,  so 
sehr  dies  auch  technisch  umgestaltet  sein  mochte. 


Über  die  Veränderung  der  Eigentums-Verteilung  des 
zur  Landwirtschaft  benutzten  Bodens  seit  der  Zeit  der  neuen  Han- 
delspolitik von  1879  bis  zur  weltwirtschaftlichen  Größe  von  In- 
dustrie und  Handel  sind  wir  durch  die  Betriebsstatistiken 
von  1882,  1895  ^^^  1907  einigermaßen  unterrichtet.  Es  fehlen  die 
Angaben  der  neuesten  handelspolitischen  Periode,  so  daß  wir  hier 
auf  die  Schlußfolgerung  aus  Tatsachen  der  ähnlichen  technisch- 
ökonomischen Entwicklung  wie  in  den  Vorjahren  angewiesen  sind. 
Diese  Betriebs-  ist  keine  Eigentumsstatistik.  Es  gibt  Besitzer,  die 
über  mehrere  Betriebe  verfügen,  ferner  kann  ein  Betrieb  mehreren 
Eigentümern  zustehen,  weiter  sind  in  die  Betriebe  auch  die  Pach- 
tungen eingerechnet,  wobei  es  vorkommt,  daß  ein  Besitzer  mehrere 
Pächter  hat,  wie  umgekehrt  auch  ein  Pächter  mehrere  Güter  zu- 
sammen pachten  kann,  die  verschiedenen  Eigentümern  gehören. 
Die  hierdurch  gegebenen  Abweichungen  der  Betriebs-  von  den  Be- 
sitzgrößen sind  auf  Grund  verschiedener  Untersuchungen  bei  dem 
Klein-  und  Mittelbetrieb  und  bei  der  Abgrenzung  beider  vom  Groß- 
betrieb als  unbedeutend  anzusehen,  nur  innerhalb  der  verschiedenen 
Abteilungen  der  Großbetriebe  werden  sie  eine  gewisse  Beachtung 
verdienen,  so  daß  wir  die  Zahl  der  großen  Besitzungen  geringer 
als  diejenige  der  Betriebe  annehmen  müssen.  Da  jedoch  in  Deutsch- 
land ^n  gleicher  Weise  bei  den  Betriebszählungen  festgestellt  wurde, 
daß  die  Selbstbewirtschaftung  die  Regel,  die  Pacht  andauernd  nur 
bei  13  0/0  des  Bodens  vorkommt,  außerdem  die  Zahl  der  Betriebs- 
leiter (Administratoren)  sich  nicht  verschoben  hat,  so  wird  man  die 
genannten  Abweichungen  bei  den  Zählungen  von  1882,  1895,  ^9^7 
gleichsetzen,  also  diese  letzteren  auch  miteinander  vergleichen 
dürfen.  In  sieben  Größenklassen  ergibt  sich  die  folgende,  prozen- 
tuale Verteilung: 


IV.  Die  Landwirtschaft. 


465 


Größenklassen 

Von 

100  Betrieben 

Von 
landw.  benutzter  Fläche 

100  ha 
der 

Sesamtfläche 

1907 

1895 

1882 

1907 

1895 

1882 

1907 

1895 

1882 

unter  0,5  ha  . 
0.5—     2        „    .     . 

36.3 
22,6 

33.3 
24.9 

)58.o 

1,1 

4.3 

4.5 

}s. 

1.4 

4,3 

1.2 
4.4 

}.4 

2—5       ..    •     . 

17.5 

18,3 

18,6 

10,4 

10,1 

[0,0 

10,0 

9.5 

9.5 

5—20       „    .     . 

18,6 

18,0 

17.6 

32,7 

29.9 

28,8 

32.0 

29,0 

28,6 

20    — 100       ,,    .     . 

4.6 

5.0 

5.3 

29.3 

30.3 

31. 1 

29,3 

30.4 

30.9 

100  und  darüber  .     . 

0,4 

0,5 

0.5 

22,2 

24,1 

24.4 

23.0 

25.5 

25,6 

Darunter: 

200  ha  und   darüber . 

0,2 

0,2 

0.3 

17.5 

19.4 

19,6 

17.8 

20,1 

20,8 

Gehen  wir  von  1882  aus,  so  ist  die  Zahl  der  Kleinbetriebe  bis 
zu  2  ha  58  0/0,  absolut  3061  831,  die  der  mittleren,  kurz  bäuerliche 
genannt,  von  2 — 100  ha,  41,50/0  oder  2189522,  die  der  Großbe- 
triebe über  100  ha,  0,50/0  oder  38949.  Dieser  Aufbau  erscheint 
durchaus  gesund.  Die  große  Zahl  der  kleinen  ist  einem  Stadt-  und 
industriereichen  Lande  selbstverständlich  und  erwünscht.  B  i  s  - 
marck  hat  sich  1882  so  ausgesprochen,  daß  er  die  Besorgnis  für 
grundlos  halte,  daß  die  Beförderung  von  Grundstücksteilungen  zur 
Vermehrung  des  Proletariats  beitragen  könne.  Der  Besitzer  eines 
noch  so  kleinen  Grundeigentums  sei  immer  besser  und  unabhängiger 
gestellt  als  der  besitzlose  Proletarier.  Die  dann  folgende  Quote 
der  Mittelbetriebe  ist  so  hoch  gegenüber  der  der  Großbetriebe, 
83mal  so  stark,  daß  jedenfalls  von  einer  Überzahl  der  großen 
Herren  nicht  gesprochen  werden  kann.  1895  hat  sich  in  der  Be- 
triebszahlverteilung kaum  etwas  geändert,  1907  ist  die  Kleinbe- 
triebsquote auf  Kosten  der  übrigen  um  0,9  0/0  gewachsen. 

Es  haben  sich  von  1882 — 1907  Industrie  und  Handel  sehr  ver- 
stärkt. Die  gehobene  Lage  der  gewerblichen  Lohnarbeiter  und 
vieler  Kleingewerbetreibenden  findet  einen  Ausdruck  darin,  daß 
die  Zahl  der  landwirtschaftlichen  Kleinbetriebe  um  316678  ge- 
stiegen ist.  Die  kleinsten  Besitzer  gehören  überwiegend  der  land- 
wirtschaftlichen Bevölkerung  nicht  an.  Bei  den  Zwergbetrieben  unter 
0,5  ha  wurden  96  0/0,  bei  den  etwas  größeren  Kleinstellenbetrieben 
72  0/0  als  nebengewerbliche  ermittelt.  Die  Zunahme  der  ganzen  Be- 
triebszahl kann  nicht  als  eine  durchschnittliche  Verschlechterung 
der  Lage  der  Besitzer  gedeutet  werden,  weil  die  Intensität  der  Be- 
wirtschaftung zugenommen  hat.  Da  die  kleinsten  Inhaber  fast  nur 
für  den  eigenen  Bedarf  produzieren,  sind  sie  reichlicher  versorgt 
als  ehedem.  Die  in  den  städtischen  Gewerben  vielfach  abgekürzte 
Arbeitszeit  hat  für  den  Nebenbetrieb  in  Gärten,  Laubenkolonien, 
Kartoffelparzellen  manche  Stunde  erübrigt,  deren  Verwendung  eine 
Quelle  ökonomischen  und  gesundheitlichen  Wohlbefindens  ist.  1907 

A.  Sartorius  v.  Waltershausen    Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        30 


466  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

wurden  mehr  als  eine  Million  Arbeiter  und  sonstige  unselbständige 
Personen  in  der  Industrie  mit  landwirtschaftlicher  Nebenarbeit 
angeschrieben.  Auch  die  Arbeiterschaft  im  Verkehrsgewerbe,  die 
Gast-  und  Schankwirte,  Rentner  der  Arbeiterversicherung  und 
Kleinkaufleute  haben  sich  mehr  mit  Landstückchen  versehen.  Da- 
gegen haben  die  selbständigen  Personen  im  Verarbeitungsgewerbe 
eine  Einbuße  erlitten,  was  mit  dem  Rückgang  des  Handwerks  auf 
dem  Lande  erklärt  wird. 

Die  soziale  Beurteilung  nach  Betriebszahlen  ist  individualistisch 
und  daher  nicht  ausreichend.  Wählt  man  den  Standpunkt  der  land- 
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit,  wird  man  die  Flächenmengen 
heranziehen  müssen,  die  von  den  einzelnen  Größengruppen  gehalten 
werden.  Nach  der  Aufnahme  von  1882  waren  Acker-  und 
Gartenland,  Wiesen,  Weiden  und  Weinberge  nur  zu  5,7  0/0  in  der 
Hand  von  Kleinbesitzern,  69,9  in  der  Hand  der  mittleren  und  24,4 
in  der  von  großen.  Die  deutsche  Wissenschaft  vertritt  seit  langem 
eine  Mischung  aller  drei  unter  der  Voraussetzung,  daß  die  mittlere 
Klasse  die  stärkste  ist.  Der  Wert  des  tatkräftigen  Bauernstandes 
beruht  auf  der  Tatsache  konservativer  Gesinnung,  ohne  die,  wie 
die  Geschichte  zeigt,  ein  Staatswesen  nicht  gedeihen  kann.  Er  ist 
für  die  Wehrhaftigkeit  nicht  gering  zu  veranschlagen,  wie  die  Er- 
gebnisse des  Heeresergänzungsgeschäftes  gezeigt  haben,  ist  ferner 
der  Vermittler  der  technischen  Fortschritte  zwischen  großen  und 
kleinen  Anwesen,  der  Jungbrunnen  für  die  Menschen  verzehrenden 
Städte.  Das  wußte  schon  Goethe,  als  er  Eckermann  gegen- 
über äußerte:  „Unser  Landvolk  hat  sich  freilich  fortwährend  in 
guter  Kraft  erhalten  und  wird  hoffentlich  noch  lange  imstande 
sein,  uns  nicht  allein  tüchtige  Reiter  zu  liefern,  sondern  uns  auch 
vor  gänzlichem  Verfall  und  Verderben  zu  sichern.  Es  ist  als  ein 
Depot  zu  betrachten,  aus  dem  sich  die  Kräfte  der  sinkenden 
Menschheit  immer  wieder  ergänzen  und  auffrischen".  W.  H.Riehl 
erörtert  in  seinem  Buche  über  die  bürgerliche  Gesellschaft,  wie 
Bauernsitten  und  Anschauungen  in  der  Gesundheit  der  Landleute 
wurzeln:  „Es  ist  darum  gut,  wenn  viele  nachgeborene  Bauernsöhne 
zum  Gewerbestand  übergehen,  weil  solchergestalt  der  städtischen 
Bevölkerung  neue  Nervenkraft  zugeführt,  die  Landgemeinde  selbst 
aber  vor  übermäßiger  Güterzersplitterung  und  der  damit  untrenn- 
bar verbundenen,  die  Nerven  abschwächenden  Kartoffelexistenz 
bewahrt  wird". 

Der  Kleinbesitz  ist  oben  schon  gewürdigt  worden.  Der  große 
ist  ebenfalls  der  Erhalter  von  Staat  und  Gesellschaft,  hat  insbe- 
sondere in  Preußen  aus  den  nachgeborenen  Söhnen  die  Offizier- 
korps und  den  Beamtenstand  immer  wieder  aufgefüllt.    Er  ist  der 


IV.  Die  Landwirtschaft.  467 


Führer  des  landwirtschaftlichen  Fortschrittes,  hat  Zeit,  ihn  zu 
studieren,  die  Mittel,  die  künftigen  Besitzer  auf  die  Universitäten 
zu  schicken.  Er  ist  der  geborene  Vertreter  der  landwirtschaft- 
lichen Interessen  in  den  Parlamenten  und  der  Gründer  des  Vereins- 
wesens. 

Von  1882— 1907  zeigt  die  Verteilung,  daß  die  Fläche  der 
Kleinbetriebe  etwas  verringert,  der  Mittelbetriebe  von  69,9  auf 
72,4  0/0  erhöht  worden  ist,  recht  auffällig  bei  5—20  ha,  etwas  we- 
niger bei  2 — 5  und  unter  Abnahme  bei  20—100.  Der  Betrieb  von 
über  100  ha  ist  von  24,4  0/0  auf  22,2,  über  200  ha  von  19,6  auf  17,5 
gesunken.  Seine  Bedeutung  wird  sozial  noch  etwas  gewichtiger, 
wenn  statt  der  landwirtschaftlich  benutaten  die  Gesamtfläche,  d.  h. 
mit  Einschluß  der  besessenen  Waldfläche,  berücksichtigt  wird. 

Unter  den  Verhältnissen  der  sinkenden  Quote  der  großen  Be- 
sitzungen gewinnt  die  Erhaltung  der  Landfideikom misse 
eine  neue  Beleuchtung.  Denn  bisher  wurde  auch  von  denen,  die 
große  Landgüter  neben  anderen  volkswirtschaftlich  für  erwünscht 
hielten,  behauptet,  daß  diese  Flächen  sich  auch  ohne  die  rechtliche 
Gebundenheit,  Unveräußerlichkeit,  Unteilbarkeit,  Unverschuldbar- 
keit  und  ohne  gesetzliche  Individualsukzession  halten  könnten. 
Unter  der  Agrarkrise  und  dem  wachsenden  Kapitalreichtum  der 
letzten  30  Jahre  ist  das  nicht  der  Fall  gewesen,  und  niemand  weiß, 
wie  es  weiter  gehen  wird.  Die  Gesamtfläche  der  gebundenen 
Großgüter  in  Preußen  betrug  1895  2102000  ha,  1906  2239100, 
1912  2449225.  Diese  Vermehrung  ist  nur  i/g  von  dem,  was  der 
Großbetrieb  nach  der  vorgenannten  Statistik  verloren  hat,  ist  stär- 
ker im  Osten  als  im  Westen  des  Staates.  Östlich  der  Elbe  hat 
Schlesien  die  größte  Ziffer  der  Fideikommisse,  westlich  derselben 
Westfalen.  Bürgerliche,  die  in  Bayern  fehlen,  bestanden  191 2  136. 
Jedoch  ist  nicht  zu  übersehen,  daß  die  bürgerlichen  Begründer  mit 
der  Stiftung  öfters  den  Adel  erhalten  haben.  Man  wird  nicht 
fehlgehen,  wenn  man  die  Neubildung  mit  dem  wachsenden  Reich- 
tum Deutschlands  verbindet.  Familien,  die  mit  mobilen  Vermögen 
viel  verdient  haben,  erwerben  ohne  volle  Berücksichtigung  der  Er- 
tragsfähigkeit, d.  h.  zu  ausnahmshohen  Preisen,  ihnen  bequem 
gelegene,  landschaftlich  schöne  Güter.  Man  hat  diese  Schaffung  von 
Luxusgütern  beklagt  und  ihren  Besitzern  die  Übernahme  der  so- 
zialen und  ökonomischen  Pflichten  abgesprochen,  ohne  welche  das 
Privilegium  keinen  Sinn  habe.  Nicht  mit  vollem  Recht.  Diejenigen, 
die,  durch  hohen  Preis  angelockt,  verkaufen,  beweisen,  daß  sie  dem 
Individualismus  verfallen  sind  und  ihre  bisherigen  sozialen  Pflich- 
ten nicht  erfüllen  wollen.  Mögen  die  Neuerwerber,  die  ihren  Reich- 
tum ihrer  Familie  zu  erhalten  bemüht  sind,  den  Geist  des  großen 

30* 


^68  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

Landbesitzes  auch  nicht  erfassen,  obwohl  sie  wenigstens  dem  Be- 
triebe große  Kapitalien  zuführen,  ihre  Söhne  und  Enkel  sehen  ihn 
in  sich  lebendig  werden.  Die  Erbesteilung  des  Gesamtvermögens 
führt  schon  dahin,  das  Gut  streng  als  Erwerbsquelle  zu  werten.  Die 
Beziehungen  zu  Bauernnachbarn  und  Arbeitern  entstehen  langsam, 
aber  sicher,  mit  der  Ansässigmachung.  Eine  Landaristokratie  hält 
sich  auch  von  Einseitigkeiten  fern,  wenn  sie  sich  aus  anderen 
Schichten  des  Volkes  ergänzt.  Man  kann  jedoch  den  preußischen 
Gesetzentwurf  von  191 3  verstehen,  nach  dem  die  Bindung  einem 
Gute  nur  dann  gewährt  werden  soll,  wenn  es  30  Jahre  in  dem  Be- 
sitz der  Familie  gewesen  ist.  Vom  Standpunkt  der  richtigen  Wirt- 
schaftsführung dürfte  es  geboten  sein,  die  Fideikommisse  bis  zu 
einer  mäßigen  Höhe  hypothekarisch  belasten  zu  können,  wobei 
unter  Haftung  der  Gesamterträge  neben  der  Zinszahlung  eine 
Amortisation  durchgeführt  wird,  und  daß  begrenzte  Teilverkäufe 
zulässig  sind. 

Die  eigentliche  Gegnerschaft  der  Fideikommisse  ist  die  poli- 
tische Demokratie,  die  die  Sonderstellung  einer  Gruppe  von  Mit- 
bürgern nicht  dulden  will.  Um  ihrem  Glaubenssatz  ein  ökono- 
misches Relief  zu  geben,  wird  die  ungenügende  Produktivität  be- 
hauptet, ohne  daß  sie  erwiesen  ist.  Unter  Zulassung  des  genannten 
Meliorationskredits  ist  der  Vorwurf  noch  weniger  haltbar.  Gerade 
dann  wird  sich  zeigen,  daß  dauernde  Verbesserungen  am  ehesten 
vorgenommen  werden,  falls  die  Sicherheit  besteht,  daß  ihre  Früchte 
den  Nachkommen  des  Aufwenders  zufallen  werden. 

Bei  der  ökonomischen  Bewertung  ist  nicht  zu  übersehen,  daß 
in  dem  gebundenen  Boden  viel  Waldbesitz  steckt,  in  Preußen  1905 
46,40/0,  in  Bayern  54,8.  Der  Waldbetrieb  gedeiht  am  besten  im 
großen  nach  festen  Lehren,  die  die  Forstwissenschaft  aufstellt.  Da 
die  Erhaltung  des  Waldes  im  Dienste  der  Volksgesundheit,  des 
Klimas,  des  Schutzes  gegen  Überschwemmung,  Flugsand,  Lawinen 
gefordert  wird,  ist  die  Entziehung  des  Waldbodens  aus  dem  frei 
verfügbaren  Privateigentum  begründet. 

In  Deutschland  bedeckt  der  Wald  nach  der  letzten  Aufnahme 
27,7  0/0  der  Reichsfläche,  im  Vergleich  zu  Süd-  und  Westeuropa  eine 
günstige  Quote,  die  um  so  mehr  Beachtung  zu  finden  hat,  als  sie 
vorzugsweise  solchen  Boden  einschließt,  der  wegen  seiner  Höhen- 
lage, Gestaltung  der  Oberfläche  oder  Feuchtigkeit  für  die  Land- 
wirtschaft wenig  tauglich  ist.  Die  Forsten  sind  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten ungefähr  auf  dem  gleichen  Flächenstand  gehalten  worden. 
Abholzungen  der  Privaten  sind  durch  Neuanforstungen,  vor  allem 
auf  öffentlichem  Land,  ausgeglichen  worden.  Nach  der  Statistik 
von  1900  waren  36,1  0/0  der  Forsten  d^r  privat  wirtschaftlichen  Ver- 


IV.  Die  Landwirtschaft.  460 


waltung  unterstellt,  31,9  waren  Staatsforsten,  die  sich  langsam  ver- 
mehrten, 16,1  gemeindliche,  1,8  Krön-,  1,5  Stiftungs-,  2,2  Genossen- 
schaftsforsten, 10,4  gehörten  zu  Fideikommissen.  Von  den  Bundes- 
staaten hat  Baden  den  relativ  größten  Waldbesitz  mit  36,5  0/0  der 
Gesamtfläche,  es  folgen  Bayern  mit  31,6,  Hessen  mit  3 1 ,  i ,  Württem- 
berg mit  30,4,  Sachsen  mit  25,1,  Preußen  mit  23,7.  Waldarm  sind 
die  Gebiete  an  der  Nordsee,  Schleswig-Holstein,  Hannover,  Olden- 
burg, die  Hansestädte,  wodurch  die  verhältnismäßig  niedrige  preu- 
ßische Ziffer  miterklärt  wird. 

Die  Waldfläche  der  preußischen  Fideikommisse  ist  von  1895 
bis  1912  um  164  813  ha  gewachsen,  d.  h,  16,9  0/0,  die  landwirtschaft- 
liche nur  14,1.  In  146  Kreisen  des  Staates  haben  diese  Güter  einen 
höheren  Waldbestand  als  50  0/0  ihres  Areals. 

Die  Bauern  machen  ihr  Holz  gern  zu  Geld,  wenn  die  Preise 
rasch  steigen,  wie  es  z.  B.  im  Schwarzwald  mit  der  Anlage  der 
Zellulosefabriken  seit  1890  beobachtet  wird.  Obwohl  dort  gesetz- 
liche Vorschriften  zum  Aufforsten  in  Kraft  sind,  so  begegnet  doch 
deren  energischen  Ausführung  manches  Hemmnis  der  Trägheit 
oder  des  üblen  Willens.  Die  Fideikommisse  hingegen  werden  der 
Erhaltung  des  Waldes  die  gleiche  Sorgfalt  zuwenden  wie  die  öffent- 
lichrechtliche Bewirtschaftung,  da  ihr  Interesse  nicht  in  der  Gegen- 
wart aufgeht.  Sie  haben  zugleich  noch,  wie  Verhandlungen  im 
bayerischen  Parlament  ergeben  haben,  eine  besondere  Aufgabe  zu 
erfüllen.  Die  Gefahr  der  bürokratischen  Verknöcherung,  die  dem 
Staatsbetrieb  drohen  kann,  ist  bei  dem  Fideikommiß,  das  Neue- 
rungen und  Systemänderungen  der  Rente  wegen  zugänglich  ist, 
ausgeschlossen,  so  daß  die  von  hier  herstammenden  Anregungen 
auch  der  öffentlichen  Waldbewirtschaftung  von  Nutzen  sein  werden. 

Es  ist  auch  daran  zu  erinnern,  daß  die  Fideikommisse  des 
nationalpolitischen  Einflusses  nicht  entbehren.  In  den  Provinzen 
Posen,  Oberschlesien,  Westpreußen  sind  sie  ein  Schutzmittel  gegen 
das  Vordringen  der  Polen  gewesen,  und  ihre  dortige  Vermehrung 
der  letzten  25  Jahre  wird  schon  allein  damit  gerechtfertigt.  Die 
deutsche  Ansiedelungspolitik  in  den  Ostmarken  geht  auf  Schaffung 
von  mittleren  und  kleinen  Gütern,  die  großen  werden  durch  die 
Gebundenheit  sicher  in  deutscher  Hand  gehalten.  Der  Ankauf 
großer  Güter  durch  die  polnischen  Volksbanken  zum  Zweck  der 
Parzellierung  ist  z.  B.  in  den  Kreisen  Gleiwitz,  Pleß,  Tarnowitz  und 
Militsch  wirkungslos  gewesen,  während  im  Kreise  Glogau,  wo  die 
Fideikommisse  nicht  so  wie  in  den  vorgenannten  Kreisen  vor- 
handen sind,  die  Seßhaftmachung  polnischer  Leute  rasch  fortge- 
schritten ist. 


470  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 


Der  den  Fideikommissen  eigene  Gedanke,  ein  Landgut  in  der 
Familie  ungeteilt  zu  erhalten,  gerechtfertigt  durch  den  Ansporn  zu 
dauernden  Betriebsverbesserungen,  ist  in  den  Kreisen  der  Groß- 
und  mittleren  Bauern  durch  ganz  Deutschland,  wenn  auch  stärker 
oder  schwächer,  verbreitet.  Ausnahmen  machen  die  Rheinprovinz, 
der  Regierungsbezirk  Wiesbaden,  Hohenzollern  und  Teile  des  frän- 
kischen Bayerns.  Um  ihn  zu  erhalten,  ist  das  testamentarische  Ver- 
fügungsrecht, die  Übergabe  seitens  des  alternden  Besitzers  an  einen 
Sohn  und  das  Intestaterbrecht,  soweit  es  als  Anerbenrecht  ge- 
ordnet ist,  dienlich.  Auch  die  Geschlossenheit  oder  Unteilbarkeit 
der  Güter,  wie  sie  im  Königreich  Sachsen,  in  thüringischen  Staaten 
und  auf  dem  badischen  Schwarzwald  besteht,  kommt  dieser  bäuer- 
lichen Rechtssitte  entgegen.  Die  neuere  Agrarpolitik  seit  den 
achtziger  Jahren  geht  darauf  hinaus,  das  Anerbenrecht  entsprechend 
den  örtlichen  Anschauungen  zu  befestigen  und  weiterzubilden.  Das 
Einführungsgesetz  des  B.G.B.  läßt  dementsprechend  der  Landes- 
gesetzgebung freie  Hand,  setzt  jedoch  hinzu,  daß  die  Testierfreiheit 
durch  sie  nicht  beeinträchtigt  werden  kann.  In  Preußen  ist  eine 
Ordnung  für  die  einzelnen  Provinzen  Gesetz,  für  Hannover  seit 
1880  und  1884,  das  Herzogtum  Lauenburg  1881,  Brandenburg  1882, 
Schlesien  1884,  Schleswig-Holstein  1886,  den  Regierungsbezirk 
Kassel  1887,  Westfalen  1895.  Außerdem  sind  in  gleicher  Weise 
tätig  gewesen  Oldenburg,  Lübeck,  Bremen,  Waldeck,  Altenburg, 
Schaumburg-Lippe  und  Lippe.  Die  Einrichtung  des  Anerbenrechts 
mit  Vorzugsbehandlung  des  Anerben  ist  eine  Abkehr  vom  römischen 
Recht  der  gleichen  Erbesteilung.  Sie  bedeutet  die  Einsicht,  daß 
die  Landwirtschaft  die  Aufgabe  der  Volksversorgung  hat,  die  man 
dem  Händlertum  nicht  überlassen  kann,  und  daß  die  Gesellschaft 
den  Stand  unabhängiger  Bauern  nicht  preisgeben  darf.  Die  Er- 
haltung der  hergebrachten  Gutsgrößen  wird  daher  angestrebt.  Das 
Anerbenrecht  begünstigt  den  übernehmenden  Erben,  ohne  dessen 
Geschwister  zu  stark  zu  schädigen.  Untersuchungen  über  West- 
falen haben  ergeben,  daß  dort  von  einer  Herabdrückung  der  Ab- 
gefundenen in  das  Proletariat  nicht  gesprochen  werden  kann.  Ver- 
breitet ist  in  ganz  Deutschland  die  Sitte,  daß  die  Töchter,  soweit 
sie  sich  auf  dem  Lande  nicht  verheiraten,  gern  in  die  Stadt  ab- 
wandern, wo  sie  die  besten  Dienstboten  werden.  Schon  wegen  ihrer 
Ausbildung  in  dieser  Stellung  zur  Führung  des  Haushalts  haben  sie 
die  besten  Aussichten  zur  Verheiratung,  wie  das  zahlenmäßig  nach- 
gewiesen ist,  und  dies  um  so  mehr,  falls  sie  ein  Kapital  oder  eine 
Rente  von  ihrem  bäuerlichen  Bruder  zu  beziehen  haben.  Von  den 
abgefundenen  Söhnen  waren  in  dem  Deutschland  des  wirtschaft- 
lichen  Aufschwunges   nach    1895    nach   der   westfälischen   Enquete 


IV.  Die  Landwirtschaft. 


471 


nur  1/4  in  die  Lohnarbeit  bzw.  das  Gesinde  eingetreten,  gegen  3/^ 
waren  in  selbständiger  Unternehmerstellung,  die  liberalen  Berufe 
und  das  Beamtentum  eingerechnet. 

Das  Anerbenrecht  in  seinen  einzelnen  Bestimmungen,  wie  der 
Gutsübernahmepreis,  die  Abfindungsquote,  die  Abschätzung  des 
Inventars,  ist  vielseitig.  Es  im  übrigen  obligatorisch,  d.  h.  nicht 
bedingt  durch  eine  freiwillige  Eintragung  in  eine  Höferolle,  zu 
lassen,  ist  die  Tendenz  der  neuesten  Gesetzgebung,  wie  sie  die- 
jenige von  1896  für  Westfalen  und  für  die  ostdeutschen  Ansiede- 
lungs-  und  Rentengüter  erkennen  läßt.  Das  Anerbenrecht  ist  kein 
Mittel  gegen  übermäßige  Verschuldung  und  zwangsweisen  Verkauf. 
Um  hier  zu  helfen,  hat  die  preußische  Regierung  einen  Entwurf 
der  Stammgutordnung  vorgelegt.  Es  können  mit  staatlicher  Ge- 
nehmigung Stammgüter  gestiftet  werden,  von  deren  Ertrags- 
wert 1/3  nicht  verschuldet  werden  darf.  Sie  sind  nur  bis  zu  einer 
bestimmten  Ertragshöhe  gestattet,  müssen  eine  selbständige  Fa- 
mihennahrungsstelle  ausmachen.  Sie  können  mit  Zustimmung  der 
Stammeserben  abgesondert  und  aufgehoben  werden.  Mit  der  Erb- 
folge hat  diese  Einrichtung  nichts  zu  tun. 

Man  hat  nachgewiesen,  daß  sich  eine  strengere  kapitalistische 
Rechnungsweise  in  den  letzten  Jahrzehnten  bei  der  deutschen 
Landwirtschaft  durchgesetzt  hat,  mehr  in  der  großen  als  der  kleinen 
Unternehmung.  Geldwirtschaft,  Steuerzahlung,  Marktkonjunktur, 
Verschuldung  drängen  in  diese  Richtung.  Nach  Marx  wird  die 
Vollendung  des  Kapitalismus  in  der  Landwirtschaft  durch  das 
Pachtsystem  gegeben,  wobei  er  engHsche  Erfahrungen  verall- 
gemeinert. Denn  der  Pächter  sei  ein  Unternehmer,  der  durch  Fa- 
milientradition und  andere  seelische  Beziehungen  weniger  als  der 
Eigentümer  mit  dem  Boden  verwachsen  sei  und  daher  die  Natur- 
kraft nur  als  Einnahmequelle  werte.  In  Deutschland  sitzen  jedoch 
die  Landwirte,  wie  das  die  Aufnahme  von  1907  wiederum  bestätigt 
hat,  ganz  überwiegend  auf  eigenem  Boden.  Die  Großbauern 
stehen  an  der  Spitze,  75  0/0  ihrer  Betriebe  sind  in  ihrem  ausscMieß- 
lichen,  93  0/0  im  vornehmlichen  Besitze.  Auch  von  den  Großen 
haben  74  0/0  die  letztere  Lage  inne.  Nur  im  Klein-  und  Parzellen- 
betrieb ist  die  Verpachtung  häufiger.  In  der  Gesamtmasse  des 
Landes  tritt  sie  sehr  zurück.  Denn  es  entfallen  86  0/0  desselben  auf 
eigenes,  13  0/0  auf  Pacht-,  i  0/0  auf  sonstiges  Land  (Deputat-,  Dienst- 
halbpachtland, Besitz  von  Geistlichen,  Förstern  und  anderen 
Beamten) . 

Die  gesamten  volkswirtschaftlichen  Verhältnisse  des  Reiches 
haben  also  auf  die  Verteilung  des  Agrarbodens  nicht  ungünstig 
eingewirkt.      Örtliche    Ausnahmen    werden    zugegeben.     So    ist    in 


An 2  VI.  Abschnitt.     Die     Zeit  von   i8go — 191 4. 

Bayern  über  die  Güterzertrümmerung  geklagt  worden,  weshalb  sich 
eine  neuere  Gesetzgebung  veranlaßt  gesehen  hat,  in  doppelter 
Form  einzugreifen,  erstens  den  Verkäufer  gegen  die  Überredungs- 
machenschaften der  Güterschlächter  durch  den  Rücktritt  vom  Ver- 
kauf zu  schützen,  zweitens  Gemeinden  und  Genossenschaften  ein 
Vorkaufsrecht  zuzugestehen. 

Der  Handel  mit  Gütern,  die  ungeteilt  durch  Kauf,  Tausch, 
Zwangsversteigerung  den  Besitz  wechseln,  ist  nach  preußischer 
Statistik  nicht  in  dem  Umfange  wie  mit  Güterstücken  vorhanden. 
Die  Stückverkäufe  sind  namentlich  in  der  Nähe  der  Städte  und  in 
industriellen  Gegenden  häufig,  aber  auch  durch  Änderung  der 
Wirtschaftsweise,  zweckmäßige  Arrondierungen  u.  dgl.  bedingt. 
Immerhin  ist  der  Besitzübergang  ganzer  Güter  durch  Kauf  ein 
recht  ansehnlicher,  da  er  von  1908 — 191 2  den  Prozentsatz  solcher 
durch  Erbgang  überlassener,  der  14,5  0/0  ausmachte,  um  4,4  0/0 
überschritt.  In  Mecklenburg,  von  dem  behauptet  wird,  daß  bald 
die  Hälfte  des  ritterschaftlichen  Grundbesitzes  in  die  Hand  reicher 
Hamburger  gelangt  sei,  in  Ost-Westpreußen  und  Posen  wird  der 
Reichsdurchschnitt  erheblich  übertroffen. 

Daß  die  agraren  Schutzzölle  dem  Besitzwechsel  entgegenge- 
arbeitet haben,  wird  man  dort  zugeben,  wo  sie  den  Reinertrag  er- 
höht haben.  Allein  gerade  über  diese  Bewegung  ist  schwer  ein  Ur- 
teil zu  fällen.  Im  allgemeinen  wird  der  Großbetrieb  des  Körner- 
baues von  dem  Zoll  größeren  Vorteil  haben  als  der  Kleinbetrieb, 
weil  er  auf  den  Hektar  größere  Mengen  erzielt  —  also  für  die 
Volksernährung  mit  Getreide  besonders  wichtig  ist,  wie  das  der 
Krieg  nach  191 4  gezeigt  hat  —  und  eine  erhöhte  Quote  zum  Ver- 
kauf über  den  eigenen  Bedarf  zur  Verfügung  hat.  Allein  das  heißt 
nur,  daß  er  die  Roherträge  steigert,  über  die  Höhe  der  Rentabilität 
ist  nichts  ausgesagt,  da  es  auf  das  Verhältnis  der  Kosten  ankommt. 
Wenn  ein  Großgrundbesitzer  durch  einen  Zoll  10  000  Mark  mehr 
einnimmt  als  bisher,  ein  Bauer  nur  1000,  so  kann  dem  letzteren 
bei  seinen  relativ  geringen  Geldausgaben  mehr  genützt  sein  als 
dem  ersteren.  Denn  der  Bauer  wirtschaftet  vor  allem  arbeits- 
intensiv und  mit  Familienangehörigen  in  der  Hauptsache,  während 
der  Gutsbesitzer  von  der  Kapitalintensität  und  der  fremden  Ar- 
beitskraft, also  Geldaufwendung,  abhängig  ist.  Dazu  kommt  der 
verschiedene  Nutzen  des  Geldverbrauchs  bei  dem  Vergleich  der 
qualitativ  differenzierten  üblichen  Lebenshaltung.  Der  Bauer  hat 
z.  B.  bei  der  Erziehung  und  Unterstützung  seiner  Kinder  verhält- 
nismäßig geringere  Ausgaben  als  der  große  Nachbar,  dessen  Söhne 
im  Staats-  oder  Militärdienst  stehen.  Jener  braucht  in  der  Stadt 
weniger  einzukaufen,  da  er  an  seiner  alten  Lebensweise  mehr  fest- 


IV.  Die  Landwirtschaft. 


473 


halten  kann  als  dieser,  der  bei  seinen  kulturellen  Wechselbezie- 
hungen zu  der  luxuriösen,  industriellen  oder  kommerziellen  Stadt 
der  steten  Konkurrenz  in  der  Steigerung  der  Bedürfnisse  aus- 
gesetzt ist. 

Die  Handelspolitik  erstreckt  sich  nun  auch  auf  Vieh,  Handels- 
gewächse, Milchprodukte,  Geflügel,  Obst  und  Gemüse.  Hier  ist 
der  Kleinbetrieb  der  vorwiegende  Produzent,  meist  im  Roh-,  wohl 
immer  auch  im  Reinertrag  dem  größeren  überlegen.  Der  Vieh- 
bestand ist  bei  Betrieben  von  2—100  ha  für  Pferde,  Kühe, 
Schweine,  der  Bestand  von  Ziegen  und  Federvieh  in  den  Zwerg- 
wirtschaften am  größten,  während  die  rückgängige  Schafzucht  nur 
für  recht  große  Güter  paßt.  Doch  hat  der  Großbetrieb  auch  beim 
Vieh  seine  besondere  Aufgabe  zu  erfüllen,  da  er  vermöge  der  bes- 
seren Fütterung  die  besten  Qualitäten  Ochsenfleisches  erzielt.  Eine 
Arbeitsteilung  besteht  auch  insofern  unter  den  Betriebsgrößen,  als 
der  Bauer  die  Zuchtstuten  vorwiegend  hält,  der  Großbesitzer  ihm 
die  Fohlen  abnimmt  und  sie  auf  seinen  Koppeln  aufzieht.  Um- 
gekehrt werden  die  Ferkel  bei  der  zweckmäßigen  Eber-  und  Sau- 
haltung auf  großen  Gütern  produziert,  während  die  Mästung  und 
der  Marktverkauf  vom  kleinen  Landwirt  gern  besorgt  wird. 

Für  1890 — 1900  wurde  die  Notlage  der  großen  Landwirtschaft 
auch  von  Gegnern  der  Getreidezölle  zugegeben.  Nach  J.  Conrad 
ist  sie,  wenn  auch  eine  Zunahme  der  Zwangsversteigerungen  nicht 
nachweisbar  sei,  da  freiwillige  Verkäufe  ihnen  vorbeugen  konnten, 
auch  die  Güterpreise  nicht  sinken,  da  viele  Käufer  durch  die  Renta- 
bilität nicht  allein  bestimmt  würden,  sowohl  aus  dem  Rückgang  der 
Pachtpreise  als  auch  aus  der  Zunahme  der  unproduktiven  Verschul- 
dung zu  folgern.  Der  von  den  Besitzern  häufig  ausgesprochene 
Satz,  daß  die  Produktionskosten  nicht  mehr  gedeckt  worden  seien, 
würde  damit,  wenn  auch  nicht  allgemein,  so  doch  teilweise  be- 
wiesen igewesen  sein. 

Die  Arbeiterfrage  auf  dem  Lande  verlangt  zunächst, 
wie  die  in  der  Stadt,  eine  Antwort  darauf,  wie  die  ökonomische 
Lage  einer  Klasse  zu  heben  ist,  ohne  daß  die  Produktivkraft  in  der 
Volkswirtschaft  leidet.  Die  Forderung  geht  auf  Lohnerhöhung, 
Abkürzung  der  Arbeitszeit,  bessere  Bildung,  geräumigere  Woh- 
nung, auf  eigenen  Landbesitz.  Die  industriellen  Arbeiter  greifen 
zur  Koalition,  zum  Streik,  zur  politischen  Bewegung,  um  ihren 
Zielen  näherzukommen,  die  Landarbeiter  leben  zerstreut  und  sind 
keine  Schicht  von  gleichen  Einheiten.  Es  bestehen  noch  mancher- 
lei patriarchalische  Beziehungen  zu  den  Gutsbesitzern,  Interessen- 
verbindungen mit  dem  Landbesitz,  Nebenbeschäftigungen,  so  daß 


474  ^^'  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

das  sozialdemokratische  Gleichheitsideal  ihnen  nicht  zusagt.  Erst 
unter  der  beispiellosen  Aufhetzung  nach  der  Revolution  von  191 8 
wurden  Ausstände  im  agrarischen  Osten  bei  den  Landarbeitern  in 
Szene  gesetzt.  Die  Unzufriedenen  reagierten  bis  dahin  bei  der  ge- 
statteten Freizügigkeit  gegen  ihre  Lage  durch  Fortzug  vom  Lande. 
Bis  1895  war  das  Wanderziel  vieler  noch  das  Ausland,  dann  fast 
nur  die  Stadt  und  der  Industriebezirk. 

Die  Landwirte  waren  M-ehrlos  gegen  diese  Bewegung,  sie 
konnten  wesentlich  erhöhte  Löhne  nicht  zahlen,  die  Arbeit  nicht 
erleichtern,  nicht  durchweg  an  feste  Stunden  binden,  Vergnügungen 
der  städtischen  Ungebundenheit  nicht  auf  das  Land  verpflanzen. 
Sie  vermochten  die  optimistischen  Nachrichten  über  die  Annehm- 
lichkeiten der  Stadt,  das  billige  Reisen  zu  ihr,  die  Presse  mit  ihrer 
städtischen  Arbeitsnachfrage,  den  Militärdienst  in  den  Garnisonen 
nicht  abzuändern.  Die  Freizügigkeit  zu  beschränken,  würde  nur 
dahin  geführt  haben,  die  Abneigung  gegen  den  bestehenden  Zu- 
stand ^u  verschärfen. 

Von  1885  — 1890  sind  840000  Menschen  aus  dem  deutschen 
Agrikulturgebiet  abgewandert.  500000  davon  haben  das  Industrie- 
gebiet, vor  allem  Berlin,  Brandenburg,  die  Hansestädte,  das  König- 
reich Sachsen,  die  Rheinprovinz,  Westfalen  aufgenommen,  der  Rest 
entfiel  auf  die  Auswanderung.  Von  der  Gesamtsumme  kamen  rund 
600000  auf  den  Osten,  80000  auf  die  Mitte,  160000  auf  den  Süden 
des  Vaterlandes.  Die  statistische  Aufnahme  nach  dem  Geburtsorte 
von  1907  ergab  für  Ostdeutschland  einen  Wanderungsverlust  von 
865107  Personen,  für  Mitteldeutschland  von  177438,  von  Süd- 
deutschland 38  191.  Das  Rheinland  gewann  356000,  Westfalen 
288000,  die  Stadt  Hamburg  allein  316000,  ganz  Westdeutschland 
über  eine  Million.  Unter  den  Wanderern  befinden  sich  vor  allem 
Leute  in  den  besten  Arbeitsjahren,  Männer  wie  Frauen,  die  die  Ar- 
beitskraft der  sie  aufnehmenden  Gebiete  gewaltig  steigern. 

Der  Zug  nach  dem  Westen  hat  noch  dadurch  eine  besondere 
Färbung  bekommen,  daß  in  dem  rheinisch-westfälischen  Industrie- 
gebiet starke  polnische  Kolonien  entstanden  sind.  Es  waren  Polen 
vorhanden  in  den  Kreisen: 

1890  1905 

Recklinghausen  Stadt  .     .     .     716  9250 

Recklinghausen  Land   .     .     .  4541  28672 

Dortmund  Land 1699  18423 

Bochum  Land 4^59  17  575 

In  demselben  Zeitraum  stieg  die  Zahl  der  Polen  im  Regie- 
rungsbezirk Düsseldorf  von  4672  auf  45623,  Arnsberg  von  20131* 


IV.  Die  Landwirtschaft. 


475 


auf  97703,  im  Münsterlande  von  5490  auf  40723.  Auch  Berlin 
und  seine  Vororte  erwiesen  sich  von  großer  Anziehungskraft  für 
die  Polen,  wo  man  eine  Verdoppelung  bis  auf  24000  zählte,  wäh- 
rend Potsdam  es  von  9000  auf  30000  brachte.  In  der  herabge- 
setzten Vermehrung  der  polnischen  Bevölkerung  im  Osten  Deutsch- 
lands machte  sich  diese  Abwanderung  für  das  Deutschtum  an- 
genehm fühlbar,  von  einer  Germanisierung  im  Westen  ließ  sich 
hingegen  nicht  viel  merken,  da  die  Polen  ihre  nationale  Eigenart 
in  Sprache,  Sitte  und  Glauben  aufs  zäheste  behaupten  konnten, 
was  sowohl  aus  ihrem  niedrigen,  sich  abschließenden  Kulturzustand 
erklärt  wurde,  als  auch  dadurch,  daß  die  deutschen  Sozialdemo- 
kraten keine  Neigung  zeigten,  sich  auf  diesem  vaterländischen 
Wirkungsgebiete  zu  betätigen,  und  schließlich  auch  aus  der  bunt 
nationalen  Zusammenwürfelung  der  Industriebevölkerung  dieser 
Orte,  in  denen  das  Deutschtum  oft  gar  nicht  überwog.  Die  Kultur- 
losigkeit  solcher  Gegenden,  wie  Hamborn,  wo  Thyssens  Reich  ist, 
war  191 9  eine  günstige  Voraussetzung  für  spartakistische  Umtriebe 
und  Umstürze. 

Die  Arbeitsverfassung  auf  dem  Lande  zeichnet  sich  dadurch 
aus,  daß  sie  vielartig  und  in  einer  fortdauernden  Umwandlung  be- 
griffen ist.  Die  Kontrakte  werden  sowohl  für  das  Jahr  als  auch 
für  Monate,  Wochen,  Tage,  Stunden  abgeschlossen,  die  tägliche 
Arbeitszeit  ist  gemessen  oder  ungemessen,  der  Lohn  besteht  aus 
Geld,  Naturalien,  Nutzungen  von  Wohnung,  Land,  Arbeitstieren, 
Stallungen  und  in  Pachtvergünstigungen.  Der  Arbeiter  ist  zu 
Nebendiensten  verpflichtet,  die  sich  auch  auf  die  Familie  erstrecken 
können  oder  nicht.  Als  Haupttypen  lassen  sich  unterscheiden: 
I .  Die  Verwalter  oder  Inspektoren,  denen  die  Rechnungs- 
führung und  die  Oberaufsicht  eines  großen  Betriebes  obliegt.  Sie 
erhalten  neben  Wohnung  und  Geld  meist  auch  Naturalien.  Sie 
haben  halb-  oder  vierteljährliche  Kündigung.  Die  meisten  (1907 
74  0/0)  sind  unverheiratet.  Wer  von  ihnen  es  vermag,  macht  sich  in 
reiferen  Jahren  selbständig,  pachtet  oder  kauft  sich  an.  Zugleich 
mit  dem  Rückgang  des  Großbetriebes  ist  ihre  Zahl  im  Abnehmen. 
Die  Wirtschafterinnen,  Mamsells  oder  wie  sie  sonst  heißen,  haben 
sich  von  1895 — 1907  um  2000  vermindert,  was  aus  der  Vermehrung 
der  Molkereigenossenschaften  erklärt  wird,  mit  denen  sie  über- 
flüssig werden.  An  die  höheren  schließen  sich  die  meist  verhei- 
rateten unteren  Aufsichtsbeamten  an,  Hofmeister,  Baumeister, 
Vögte  genannt,  die  großenteils  aus  dem  Gesinde  hervorgegangen 
sind,  nach  dessen  Kontrakt  leben,  jedoch  bessere  Löhne  und  Woh- 
nung erhalten.  Sie  kommen  auch  auf  mittleren  Gütern  vor,  deren 
Besitzer  ein  selbstwirtschaftender  Bauer  nicht  ist.    Auf  ganz  großen 


A^Ö  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

Gütern  gibt  es  besonderes  Rechnungs-  und  Büropersonal,  Ziegel- 
meister, Brauereibeamte,  auch  Förster,  alles  Leute,  die  sich  unter 
der  zunehmenden  Arbeitsteilung  von  dem  oberen  Aufsichtspersonal 
losgelöst  haben.  2.  Das  Gesinde,  die  Knechte  und  Mägde,  ge- 
wöhnlich auf  I  Jahr  gedungen,  haben,  wie  die  Dienstboten,  zu 
jeder  Zeit  dem  Arbeitgeber  zur  Verfügung  zu  stehen,  falls  es  die 
Natur  der  übernommenen  Obliegenheit  fordert.  Sie  haben  es  vor 
allem  mit  der  an  bestimmte  Stunden  nicht  gebundenen  Pflege  der 
Tiere  zu  tun,  haben  auch  sonst  mit  zuzugreifen,  bei  Aussaat  und 
Ernte  und  bei  der  Bedienung  der  Maschinen,  werden  auch  im  in- 
neren Haushalt  verwendet.  Sie  erhalten  Geldlohn,  Wohnung  und 
Beköstigung.  In  bäuerlichen  Wirtschaften  nehmen  sie  am  Fa- 
milientisch teil,  auf  dem  Gutshof  essen  die  Unverheirateten  in  der 
Gesindestube.  Die  Verheirateten,  wie  Hirten,  Schäfer,  der  Quote 
nach  gering,  führen  eigenen  Haushalt  und  bekommen  Naturalien, 
auch  wohl  Garten-  und  Ackerland  zur  Nutzung.  Das  Gesinde  ist 
im  bäuerlichen  Betrieb  am  häufigsten,  da  hier  die  Viehhaltung 
relativ  groß  ist,  und  wird  auch  leidlich  festgehalten,  da  die  Bezie- 
hungen zu  der  Bauernfamilie  eng  sind.  Im  ganzen  hat  sich  ge- 
zeigt, daß  es  in  der  Abnahme  begriffen  ist.  In  den  12  Jahren 
nach  1895  verminderte  sich  die  Zahl  der  Knechte  um  360558,  der 
Mägde  um  25610.  Erster  Grund  ist  Abneigung  gegen  die  persön- 
liche Abhängigkeit,  wie  beim  Dienstboten.  Die  steigenden  Lohnan- 
sprüche und  die  nicht  volle  Beschäftigung  im  Winter  macht  dem 
Großbetriebe  das  Gesinde  recht  teuer.  Daher  —  dies  der  zweite 
Grund  —  die  Versuche,  es  durch  andere  Arbeitskraft  zu  ersetzen, 
die  mehr  im  Westen  als  im  Osten  Deutschlands  Erfolg  gehabt 
haben.  3.  Die  kontraktlich  auf  Monate,  meist  i  Jahr  gebundenen 
Gutstagelöhner,  die  Instleute  des  Ostens,  auch  Halb-  oder 
Feldgesinde  genannt,  da  sie  zwischen  dem  Hofgesinde  und  den 
freien  Tagelöhnern  in  der  Mitte  stehen,  sind  oben  in  der  Periode 
von  1833 — 1848  geschildert  worden.  Im  ganzen  ist  diese  Kategorie 
rückgängig,  da  die  alte  Anteilswirtschaft  in  die  kapitalistische 
Geldrechnung  nicht  mehr  paßt.  Natural-  und  Geldlohn  sind  im 
Vordringen.  Die  Statistik  hat  ihre  Zahl  nicht  erfaßt.  1907  ergab 
sich,  daß  die  Summe  der  auf  Deputatland  angewiesenen  Arbeiter, 
in  der  sie  enthalten  sind,  201  462  Personen  umfaßte,  während 
50  Jahre  vorher  das  Instenverhältnis  im  Osten  die  entscheidende 
Arbeitsform  gewesen  war.  Etwas  besser  hat  sich  die  Heuer- 
lingsverfassung  in  Westfalen,  die  auch  in  Hannover  und 
Oldenburg,  in  etwas  abweichender  Art  auch  im  Elsaß,  vorkommt, 
gehalten,  nach  der  die  Arbeiter  auf  dem  Hof  des  Großbauern 
wohnen  und  von  ihm  ein  Stück  Land  billig  pachten,  wofür  sie  als 


IV.  Die  Landwirtschaft. 


477 


Entgelt  zu  einem  niedrigeren  als  dem  ortsüblichen  Lohn  dauernde, 
festgesetzte  Arbeit  leisten.  Der  Bauer  unterstützt  den  Heuerling 
in  dessen  Sonderbetrieb  mit  seinem  Gespann,  das  diesem  fehlt. 
Diese  Zeitpacht  geht  auch  auf  den  Sohn  über,  ist  historisch  ge- 
worden, beruht  von  altersher  auf  einem  Vertrauensverhältnis  und 
ist  daher  nicht  leicht  nachzuahmen. 

4.  Die  freien  Arbeiter  werden  für  jeden  geleisteten  Ar- 
beitstag wie  in  der  Industrie  vornehmlich  in  Geld  bezahlt.  Die 
Sitte  bringt  es  vielfach  mit  sich,  daß  auch  dieses  Verhältnis  ein 
dauerndes  ist.  In  der  Nähe  der  Stadt  befinden  sich  auch  städti- 
sche Leute  darunter,  die  gelegentlich  aushelfen.  Die  sozialökono- 
mische Lage  dieser  Arbeiter  ist  verschieden,  je  nachdem  sie  Land 
oder  Wohnung  zu  eigen  besitzen,  eine  Parzelle  gepachtet  haben 
oder  ganz  proletarisch  leben.  Die  Summe  der  Tagelöhner  mit 
einem  irgendwie  eigenen  Besitze  oder  Betriebe  hat  sich  von  1895 
bis  1907  um  115  305  vermindert.  Im  Westen  und  in  den  Marsch- 
gebieten der  Nordsee  wurden  diese  Leute  noch  häufiger  als  öst- 
lich der  Elbe  angetroffen. 

Die  rein  proletarischen  Arbeiter  sind  durch  die  Wander- 
arbeiter ergänzt  worden.  In  den  achtziger  Jahren  wurden  sie 
Sachsengänger  genannt,  das  waren  solche  aus  dem  deutschen  Osten, 
besonders  aus  den  polnischen  Landesteilen,  die  den  Westen,  zu- 
erst die  Provinz  Sachsen,  aufsuchten,  wo  die  Löhne  höher  als 
daheim  standen.  Da  sie  bald  nicht  mehr  ausreichten,  traten  Aus- 
länder hinzu.  Am  häufigsten  treffen  wir  sie  in  der  Provinz  Sachsen, 
in  Braunschweig  und  Anhalt,  in  den  beiden  Mecklenburg,  Branden- 
burg und  Pommern  an.  Die  Nationalfremden  stammen  meist  aus 
Russisch-  und  Österreichisch-Polen,  weiter  sind  sie  Ruthenen, 
Kroaten,  geringere  Zahlen  kommen  aus  Belgien,  den  Niederlan- 
den, Dänemark,  der  Schweiz,  wenige  auch  aus  Italien,  Luxemburg 
und  Frankreich.  1907  wurden  257329  Ausländer  in  der  Landwirt- 
schaft nachgewiesen,  für  191 2/1 3  durch  die  Deutsche  Feldarbeiter- 
zentrale, die  die  Arbeit  vermittelt  und  die  Vermittelten  legitimiert, 
41 1706.  Dazu  kamen  noch  rund  100  000,  die  direkt  oder  durch 
Privatagenten  angeworben  worden  waren,  so  daß  das  Ergebnis 
war,  daß  1/2  Million  ausländischer  3  Millionen  einheimischer  Land- 
arbeiter gegenüberstand.  Daß  sich  ein  Lohndruck  durch  diese 
ausländische  Konkurrenz  für  die  Einheimischen  ergeben  hat,  ist 
bei  der  gleichmäßigen  und  dauernden  Nachfrage  in  den  Sommer- 
und  Herbstmonaten,  während  derer  diese  Wanderarbeiter  beschäf- 
tigt werden,  nicht  anzunehmen,  wenn  auch  das  weitere  Steigen 
der  Löhne  durch  sie  hier  und  da  aufgehalten  sein  mag.  Anders 
soll  es   in   der   Industrie  gewesen   sein,    die  auch   1/2   Million   Aus- 


AyS  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

länder  im  Dienst  hatte  und  bei  der  die  Arbeiter  zeitweise  mit 
sinkender  Konjunktur  zu  rechnen  haben,  in  welcher  das  Angebot 
der  Ausländer  mit  ihrem  niedrigen  Bedürfnisstand  zur  ünterbie- 
tung  führen  kann. 

Die  ausländischen  Feldarbeiter  kommen  im  Frühjahr  und 
müssen  im  Spätherbst  Deutschland  verlassen,  da  man  das  Deutsch- 
tum vor  dauernder  Polen-  und  Russenansiedelung  schützen  will. 
Unter  B  i  s  m  a  r  c  k  wurde  die  Kontrolle  streng  geübt,  später  wurde 
man  laxer,  je  nachdem  die  Polenpolitik  im  Lande  überhaupt  ge- 
handhabt wurde.  Hauptsächlich  werden  die  Leute  bei  der  Hack- 
frucht gebraucht,  ein  Teil  auch  bei  der  Heu-  und  Getreideernte.. 
Sie  erhalten  Geld,  Naturalien  und  Wohnung  auf  dem  Gute.  Es 
sind  viel  Frauen  unter  ihnen.  Die  Reisekosten  werden  ihnen  vor- 
geschossen. Sie  stehen  meist  unter  Aufsicht  eines  ihrer  Sprache 
mächtigen  Anwerbers.  Akkordarbeit  ist  nicht  selten,  die  in  den 
letzten  Jahren  vor  dem  Kriege  gut  bezahlt  wurde,  namentlich  dann, 
wenn  die  Industrie  ihre  Ansprüche  auf  diese  Arbeitskraft  geltend 
machte. 

Es  sind  mancherlei  Versuche  und  Vorschläge  gemacht  wor- 
den, dem  trotz  dieser  Zuwanderung  bestehenden  Arbeitermangel 
auf  dem  Lande  zu  begegnen.  Wertvoll,  wenn  auch  nur  innerhalb 
bestimmter  Grenzen,  ist  der  Arbeitsnachweis  gewesen,  der  von 
Provinzen,  Großstädten  und  der  erwähnten  Zentrale  eingerichtet 
worden  ist.  Uta  die  Jugendlichen  auf  dem  Lande  festzuhalten, 
hat  man  das  Alter  des  Eintrittes  in  die  Fabrik  heraufzusetzen  emp- 
fohlen. Im  Anschluß  daran  denkt  man  an  das  Aufziehen  unehe- 
licher städtischer  Kinder  auf  dem  Lande,  soweit  sie  der  Armen- 
pflege anheimfallen.  Die  Verlegung  von  Industrien  auf  das  Land, 
um  Winterarbeit  zu  ermöglichen,  die  Vermehrung  von  Maschinen, 
die  ja  schon  reichlich  dem  Bedarf  entsprechen,  sind  zu  entfernt 
liegende  oder  wirkende  Mittel,  um  etwas  Praktisches  für  die  Gegen- 
wart zu  leisten. 

Der  durchgreifendste  Gedanke,  der  die  vorgenannten  Wege 
nicht  ausschließt,  lehnt  sich  an  die  Ursache  der  Abwanderung 
an.  Es  soll  die  Lage  der  Landarbeiter  so  gestaltet  werden,  daß  sie 
den  Willen  zum  Fortzug  verlieren.  Zu  dem  Zwecke  wird  vielerlei 
miteinander  vereint  und  nach  Gegenden  individualisiert  werden 
müssen.  Zu  den  kleinen  Mitteln  rechnet  man:  den  Schulunterricht 
nach  städtischem  Muster,  Einrichtungen  von  Spielen  für  Schul- 
kinder, Belehrung  und  Unterhaltung,  zweckmäßige  Vergnügungen 
für  alle  Landbewohner  in  der  Freizeit,  besonders  im  Winter, 
Einführung  von  Fortbildungsschulen,  Leseräumen  u.  a.  m.  Die 
Kosten    sollen    von    den    Großlandwirten    mit    Unterstützung    des 


IV.  Die  Landwirtschaft. 


479 


Staates  und  der  Gemeinden  aufgebracht  werden.  Auf  einem  an- 
deren Gebiete  liegen  gesetzliche  Eingriffe  in  die  Arbeitszeit  und 
andere  Arbeitsbedingungen.  Als  wichtig  erkannte  man  die  Ver- 
besserung des  Wohnungswesens,  insbesondere  für  die  Einlieger 
oder  Einmieter.  So  ist  in  Mecklenburg  mit  dem  Bau  von  Miet- 
wohnungen in  den  Domanialdorfgemeinden  begonnen  unter  Auf- 
wendung öffentlicher  Gelder,  und  die  übrigen  Gemeinden  wurden 
gehalten,  dem  nachzueifern.  Eine  solche  Maßregel  würde,  wenn 
ein  Stück  Gartenland  und  ein  Stall  mit  vermietet  wäre,  der  inneren 
Kolonisation  zugerechnet  werden  müssen. 


Die  innere  Kolonisation,  die  vor  allem  das  Land  öst- 
lich der  Elbe  angeht  —  im  Westen  kommen  eigentlich  nur  die 
Moorgründe  in  Frage  — ,  ist  eine  an  sich  weitgehende,  den  Staat 
und  die  Gesellschaft  angehende  Reform,  die  die  Fürsorge,  länd- 
liche Arbeiter  zu  gewinnen,  in  sich  einschließt.  Sie  muß  in  groß- 
zügiger Weise  als  eine  der  wichtigsten  volkswirtschaftlichen  und 
sozialpolitischen  Aufgaben  der  Zeit  aufgefaßt  werden.  Sie  war  im 
17.  Jahrhundert  durch  den  Großen  Kurfürsten,  im  18.  von  den 
preußischen  Königen  mit  Eifer  unter  Ansetzung  von  Bauern-, 
Häusler-  und  Arbeiterstellen  betrieben  worden,  schlief  aber  mit 
dem  Liberalismus,  der  alles  Heil  von  seiner  Rechtsordnung  er- 
wartete, ein.  Doch  blieben  die  ehemaligen  Erfolge  unvergessen, 
so  daß  man  an  Bewährtes  theoretisch  anknüpfen  konnte. 

Eine  gesunde  Schichtung  der  Ansiedler  wird  angestrebt. 
Bauerngüter  verschiedener  Größe,  Kleinstellen  und  Bauplätze, 
Eigentum,  Rentengut  und  Pacht,  Heranziehen  von  Dorfhandwer- 
kern mit  etwas  Landbesitz,  Schulen,  Gemeindehäuser,  Kirchen, 
Gemeindewald  und  Weiden,  alles  zusammen  wird  einem  gemein- 
samen Plan  unterstellt.  In  einem  solchen  Dorf  oder  zugleich  in 
vielen  Dörfern  muß  die  Möglichkeit  gegeben  sein  für  ein  Auf- 
steigen nach  oben,  vom  Häusler  zum  Kleinbauern,  von  diesem 
zum  Großbauern,  vom  proletarischen  Arbeiter  zum  Besitzer,  vom 
Vollbauern  zum  Gutsbesitzer.  Die  beiden  wichtigsten  Vorbedin- 
gungen sind  der  Erwerb  des  nötigen,  technisch  nicht  schwer  zu 
bestellenden  Bodens  und  das  Heranziehen  von  geeigneten  Per- 
sonen. Die  erstere  ist  wesentlich  mit  großen,  nicht  in  befestigtem 
Familienbesitz  befindlichen  Gütern  und  ungenügend  produktiv  be- 
wirtschafteten Latifundien,  und,  wenn  dies  nicht  ausreicht,  aus 
Domänen  zu  erfüllen.  Sie  hat  eine  Grenze  zu  finden  in  der  Erhal- 
tung der  Großbetriebe,  soweit  sie  volkswirtschaftlich  und  sozial 
geboten  ist.  Die  geeigneten  Personen  werden  zunächst  auf  dem 
Lande  gefunden  werden,  womit  ihrer  Abwanderung  vorgebeugt  wird, 


480  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

gedienten  Unteroffizieren  könnte  statt  der  Zivilversorgung  im  Amt 
der  Landerwerb  erleichtert  werden.  Die  Rückwanderung  aus  der 
Stadt  muß  immer  wieder  ins  Auge  gefaßt  werden,  selbst  wenn 
man  sich  zunächst  nur  wenig  von  ihr  verspricht.  Die  Auswahl  der 
geeigneten  Person  ist  schwierig.  Sie  erfordert  viel  Menschen- 
kenntnis und  Takt. 

In  Preußen  hat  man  seit  30  Jahren  von  neuem  begonnen.  Die 
Erfolge  sind  nicht  glänzend,  aber  doch  in  einigen  Landesteilen  zu- 
friedenstellend. Im  Jahre  1886  wurde  für  die  Provinzen  Posen 
und  Westpreußen  das  Ansiedelungsgesetz  erlassen.  Sein  Ausgangs- 
punkt war  ein  nationalpolitischer.  Der  Staatsregierung  wird  ein 
Betrag  von  100  Millionen  Mark  zur  Verfügung  gestellt,  um  durch 
die  Ansässigmachung  deutscher  Bauern  und  Arbeiter  dem  vor- 
drängenden Polentum  einen  Damm  entgegenzusetzen.  Durch  die 
Gesetze  von  1898,  1902  und  1908  wurde  die  Summe  bis  auf 
550  Millionen  Mark  erhöht.  Nach  dem  letzten  sollen  ferner  50  Mil- 
lionen Mark  zur  Schaffung  von  Rentengütern  verwandt  werden  und 
75  Millionen  Mark  zur  Umgestaltung  bäuerlicher  Güter  in  An- 
siedelungsrentengüter und  zur  Seßhaftmachung  von  Landarbeitern. 

Bei  jeder  auf  Erhaltung,  Ausdehnung  und  Vertiefung  des 
nationalen  Wesens,  lals  einer  kulturellen  Einheit,  gerichteten  Politik 
ist  die  Stetigkeit  das  wichtigste  Prinzip.  Denn,  wenn  irgendwo, 
ist  hier  die  Hoffnung  allein  auf  die  Summierung  von  kleinen  Er- 
folgen zu  setzen,  wenn  etwas  Großes  erreicht  werden  soll.  Wäre 
die  deutsche  Ostmarkenpolitik,  mit  der  Friedrich  der  Große  ent- 
schlossen begonnen  hatte,  nicht  zuerst  von  181 5 — 30,  dann  wieder 
nach  1840,  weiter  unter  Caprivi  durchbrochen  worden,  nachdem 
sie  B  i  s  m  a  r  c  k  so  kräftig  aufgenommen  hatte,  die  Polenbedro- 
hung, in  der  sich  Sprache,  Rasse,  Konfession,  nationales  Emp- 
finden zu  einer  festen  Einheit  verschmelzen,  würde  in  Deutschland 
einen  Teil  ihrer  Gefahr  verloren  haben.  Wir  haben  es  hier  nur 
mit  der  Germanisierung  der  von  Polen  bewohnten  Reichsteile  zu 
tun,  soweit  sie  in  die  Wirtschaftsgeschichte  hineinragt.  Das  ist  in 
doppelter  Weise  der  Fall.  Erstens  lähmt  der  Gegensatz  von  Deut- 
schen und  Polen  die  die  Landwirtschaft  fördernden  Einrichtungen. 
Eine  innere  Kolonisation  würde  erleichtert  worden  sein,  wenn  nicht 
Deutsche  und  Polen  in  steter  Konkurrenz  um  die  aufzukaufenden 
und  zu  zerlegenden  Güter  befangen  gewesen  wären.  Die  Land- 
banken, die  landwirtschaftlichen  Genossenschaften,  die  Vereine  wür- 
den leistungsfähiger  gewesen  sein,  wenn  der  nationale  Riß  nicht 
durch  sie  hindurch  ginge.  Die  kommunalen  Bestrebungen  und  das 
Parteiwesen,  das  sich  in  den  Dienst  der  agraren  Interessen  ge- 
stellt  hat,   würden   kräftiger   dastehei>.    Zweitens   ist   die   nationale 


IV.  Die  Landwirtschaft. 


481 


Sorge  um  das  Deutschtum  eine  Veranlassung  geworden,  die  länd- 
liche Ansiedelung  in  bestimmten  Gegenden  besonders  in  Angriff  zu 
nehmen. 

Die  Ansiedelungskommission,  der  das  Werk  übertragen 
wurde,  sah  sich  bald  mancher  Schwierigkeit  von  polnischer  Seite 
gegenüber.  Die  ausgekauften  Polen  kamen  in  den  Besitz  großer 
Kapitalien,  die  sie  zum  Neuerwerb  von  Land  benutzten.  Gleich- 
zeitig entstanden  polnische  Landbanken,  die  ihrerseits  sich  be- 
mühten, deutsche  Grundstücke  zur  Ansiedelung  der  Polen  zu  er- 
werben. Es  ist  ihnen  das  in  solchem  Maße  gelungen,  daß  seit 
1886  die  Polen  81  000  ha  mehr  aus  deutscher  Hand  als  umgekehrt 
erworben  haben.  Durch  die  starke  Nachfrage  nach  Land  wurde 
dessen  Preis  emporgeschnellt  und  damit  die  Ansiedelung  verteuert. 
Dennoch  sind  die  agrarpolitischen  Erfolge  der  Ansiedelungskom- 
mission dadurch  gekennzeichnet,  daß  bis  Ende  1907  13  617  An- 
siedler als  Rentengutsinhaber,  Eigentümer  und  Gutspächter  ange- 
setzt worden  sind.  Die  wichtigsten  Rechtsformen  waren,  national- 
politisch gedacht,  die  erste  und  die  dritte,  da  die  Kommission  das 
Wiederverkaufsrecht  bei  dem  Tode  oder  bei  Subhastation  des 
Landwirtes  bzw.  die  Neu  Verpachtung  nicht  aus  der  Hand  gibt,  also 
dem  Erwerb  durch  einen  Polen  vorbeugt.  Es  waren  616  Güter 
von  Großbesitzern  mit  314484  ha  und  422  Bauerngüter  mit  20  899  ha 
gekauft  worden,  zum  erheblichen  Teile  auch  aus  deutscher  Hand, 
um  den  Übergang  an  Polen  zu  verhindern.  Es  kam  gleichzeitig 
darauf  an,  die  Ansiedler  so  zu  stellen,  daß  sie  der  Marktkonkur- 
renz der  Polen  beim  Verkauf  der  Produkte  gewachsen  waren.  Zu 
dem  Zwecke  waren  deutsche  Vereine  und  Genossenschaften  zu  er- 
richten, der  Vieh-  und  der  Maschinenbestand  zu  heben.  Der  Dorf- 
ansiedelung wurde  besonderes  Gewicht  beigelegt.  Bis  1907  ent- 
standen 242  evangelische  und  1 1  katholische  Dörfer  und  77  bzw. 
8  waren  im  Bau. 

Der  Erfolg  der  Parzellierung  polnischer  Großgüter  würde  ein 
günstigerer  gewesen  sein,  wenn  man  nicht  nach  Bismarcks  Ent- 
lassung für  einige  Jahre  die  Zügel  der  Ostmarkenpolitik  wieder 
nachgelassen  hätte.  Von  1890 — 95  war  die  Lage  der  Landwirt- 
schaft eine  äußerst  bedrängte,  so  daß  der  Gutserwerb  relativ  leicht 
war.  Statt  dessen  leistete  C  a  p  r  i  v  i  der  polnischen  Landbank  Bei- 
stand, um  die  polnischen  Reichstagsabgeordneten  für  seine  Militär- 
vorlage zu  gewinnen  und  verhalf  den  deutschfeindlichen  Besitzern 
zum  Durchhalten  in  der  Agrarkrise.  Unter  Miquel  und  Bülow 
wurde  der  entgegengesetzte  Kurs  zwar  wieder  eingeschlagen,  und 
einige  Ergebnisse  blieben  nicht  aus.  Da  man  fürchtete,  daß  der 
freihändige  Erwerb  polnischer  Güter  nicht  weiter  zu  erwarten  sei, 

A.Sartorius  v.  Walters  hausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        Bl 


a82  vi.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

wurde  ein  Enteignungsgesetz  für  notwendig  erachtet,  das  freilich, 
da  es  sich  auf  70000  ha  beschränkte,  nur  als  eine  halbe  Maßregel 
gelten  konnte.  Man  glaubte,  daß  die  Möglichkeit  der  Enteignung 
ein  genügendes  Motiv  für  Gutsverkäufer  sein  werde,  der  Kom- 
mission gegenüber  nicht  zu  zurückhaltend  zu  sein.  Allein  man 
hatte  sich  getäuscht.  Dazu  kam,  daß  die  Regierung  Bethmann- 
H  o  1 1  w  e  g  nur  in  zwei  untergeordneten  Fällen  von  der  Enteignung 
Gebrauch  gemacht  hat,  da  sie  vor  allen  Konflikten  zurückscheute 
und  auf  momentane  Ausgleiche,  nur  um  Ruhe  zu  haben,  bedacht 
war.  Ein  Parzellierungsgesetz,  das  für  das  Enteignungsgesetz  eine 
notwendige  Ergänzung  war,  wurde  zwar  angekündigt,  ist  aber 
nicht  vorgelegt  worden.  Obwohl  sich  in  Posen  und  Westpreußen 
von  1900 — 1905  die  Polen  um  188000,  die  Deutschen  um  97000 
Köpfe  vermehrt  hatten,  ließ  man  es  zu,  daß  der  Ansiedelungseifer 
erkaltete.  19 13  wurde  von  den  sich  meldenden  Ansiedlern  nur  das 
zehnte  Gesuch  berücksichtigt,  während  man  bei  richtiger  Politik 
allen  hätte  Genüge  tun  können. 

Die  innere  Kolonisation  ohne  nationales  Beiwerk  ist  mit  den 
Rentengutsgesetzen  von  1890  und  91  für  den  ganzen  preußischen 
Staat  aufgenommen  worden.  Die  Übertragung  von  privatem  Grund- 
besitz gegen  eine  feste  Geldrente  wird  ohne  Beschränkung  recht- 
lich gestattet  und  für  die  Errichtung  von  Rentengütern  mittleren 
und  kleinen  Umfanges  der  staatliche  Rentenbankkredit  verfügbar 
gemacht.  Mit  der  Vermittlung  und  Überwachung  der  neuen  Ge- 
bilde werden  staatliche  Behörden,  die  Generalkommissionen,  be- 
auftragt. Die  Kolonisation  ist  verkaufslustigen  Grundbesitzern 
überlassen,  der  Kaufpreis  wird  in  börsenmäßig  absetzbaren,  bis 
3/4  des  Wertes  der  Stelle  bemessenen  Staatsschuldverschreibungen 
entrichtet,  die  der  Staat  den  Rentengutsbauern  unter  der  Bedingung 
zu  dem  Zweck  zur  Verfügung  stellt,  daß  sie  mit  ihren  Einnahmen 
für  Zinszahlung  und  Amortisation  aufkommen.  Die  ehemalige  Ab- 
lösungsgesetzgebung für  die  Bauern  ist  das  Vorbild  gewesen.  Auch 
gewährt  die  Rentenbank  den  Kolonisten  zur  erstmaligen  Einrichtung 
des  Hofes  und  zum  Hausbau  unter  ähnlichen  Bedingungen  Darlehen. 

Da  sich  nun  bald  herausstellte,  daß  es  Leute  genug  gab,  die 
Land  herzugeben  geneigt  waren,  aber  im  Vergleich  dazu  nur  wenige; 
die  den  ernstlichen  Willen  und  die  Fähigkeit  besaßen,  zu  koloni- 
sieren, so  gelangte  die  eigentliche  agrar-soziale  Tätigkeit  in  die 
Hand  der  Generalkommissionen.  Sie  ordneten  die  Grundbuch-, 
Hypotheken-,  Schul-  und  Kirchenangelegenheiten,  unterstützten  den 
Verkäufer  bei  der  Verwaltung  des  ausgeschiedenen,  jedoch  noch 
nicht  abgetretenen  Bodens  mit  Zwischenkrediten  vor  der  endgül- 
tigen Aushändigung  der  Rentenbriefe,  überwachten  den   Bau   der 


IV.  Die  Landwirtschaft.  ^^83 


neuen  Gehöfte,  betrieben  die  Anlage  von  Straßen,  Gräben  u.  a.  m. 
Bisweilen  stockte  das  Werk,  und  der  Kolonisator,  der  das  Gut 
aufgeteilt  hatte,  verlor  die  Nutzung  und  wenn  er,  wie  so  oft,  ver- 
schuldet war,  sein  Vermögen.  Umgekehrt  fehlte  es  örtlich  bis- 
weilen an  Landangebot,  während  die  Nachfrage  vorhanden  war. 
Dazu  kamen  manche  Geldanforderungen,  die  die  Generalkommission 
nicht  übernehmen  oder  der  Verkäufer  nicht  leisten  konnte.  Um 
diese  Mängel  zu  beseitigen,  sind  provinzielle  Ansiedelungsgesell- 
schaften gegründet  worden,  die  berufsmäßig  sich  mit  der  Koloni- 
sation befaßten,  aber  das  Geschäftsinteresse  zurücktreten  ließen. 
Der  Staat,  andere  öffentliche  Korporationen,  wie  die  Provinzial- 
und  Kreisverbände,  die  Seehandlung,  Genossenschaftskassen,  Spar- 
kassen, die  Landwirtschaftskammern,  landwirtschaftliche  Vereine, 
auch  Private,  die  gemeinnützige  Zwecke  verfolgen,  waren  die  Teil- 
haber. Nicht  alle  diese  Gesellschaften  haben  fortbestanden,  doch 
ist  das  ganze  Werk,  dessen  Schwierigkeiten  immer  mehr  sichtbar 
wurden,  unter  ihrer  Initiative  fortgeschritten.  Einigen  Erwerbs- 
gesellschaften, die  sich  ebenfalls  mit  der  Kolonisation  befaßt  ha- 
ben, war  ein  Erfolg  nicht  beschieden.  Bis  zum  Schlüsse  des  Jahres 
1908  waren  im  ganzen  2259  Grundstücke  zur  Rentengutsbildung 
verwendet  worden.  Die  Gesamtfläche  des  noch  verfügbaren,  zur 
Aufteilung  vorgesehenen  Bodens  betrug  165316  ha.  Der  Größe 
nach  waren  1837  Güter  unter  21/2  ha,  2188  von  2I/2 — 5,  379 1  von 
5 — 10,  4620  von  10 — 25  und  1228  über  25  ausgeteilt  worden.  Um 
die  Möglichkeit  eines  Mangels  an  Landangebot  zu  beseitigen,  hat  man 
ein  staatliches  Vorkaufsrecht  bei  Landverkäufen  vorgeschlagen, 
neben  dem  jede  Art  der  Enteignung  unnötig  werde.  Die  Renten- 
gutbildung  führt  wieder  zu  Zuständen  zurück,  die  vor  der  liberalen 
Epoche  ähnlich  vorhanden  waren.  Allerdings  ist  insofern  ein 
Unterschied,  als  ehedem  ein  Privater  der  Grundherr  war,  jetzt  der 
Staat  es  ist,  und  als  das  Gesetz  den  Bauern  vor  Willkür  schützt 
und  die  Ablösung  zuläßt.  Man  sieht  daraus,  daß  man  dem  Radika- 
lismus bei  wirtschaftlich-sozialen  Reformen  immer  eine  Dosis 
Skepsis  entgegenzubringen  hat,  da  das  langsam  geschichtlich  Ge- 
wordene in  der  Regel  ein  sehr  vielseitiges  Ding  ist  und  nicht  ein- 
seitig beurteilt  werden  darf. 

Als  Gesamtresultate  können  wir  bis  19 10  festhalten:  In  den 
östlichen  Provinzen  sind  im  ganzen  32  175  neue  Stellen  angesetzt 
worden  auf  438150  ha,  womit,  wie  Sering  bemerkt,  viermal  so 
viel  Land  von  dem  mittleren  und  kleineren  Besitz  gewonnen  wor- 
den ist,  als  von  1816—59  von  ihm  durch  freien  Verkauf  an  den 
Großen  verloren  war.    Eine  Fortsetzung  des  Werkes  ist  durchaus 

geboten. 

31* 


484  ^^"  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

Von  den  übrigen  deutschen  Staaten  hat  Mecklenburg- 
Schwerin  schon  seit  1846  auf  dem  Domanialboden  Ansiede- 
lungen, namentlich  von  Kleinbauern,  Büdnereien  von  5 — 7  ha, 
außerdem  auch  (s,  oben)  Arbeiterheimstätten  begründet.  Neuer- 
dings sind  auch  von  Gemeinden  und  Gesellschaften  teils  auf  ritter- 
schaftlichem, teils  auf  großbäuerlichem  Grundbesitz  unter  Vermitt- 
lung des  öffentlichen  Kredits  der  Landbank  Stellen  von  ähnlicher 
Größe  geschaffen  worden.  Sie  sind  Einzelhöfe,  die  an  neuen 
Straßen  in  nicht  zu  weiter  Entfernung  voneinander  angelegt  sind, 
so  daß  sie  die  Nachteile  der  Vereinsamung  ausschließen.  Wohn- 
haus, Stall  und  Scheune  liegen  unter  einem  Dach.  Göpel,  Dresch- 
und  Schneidemaschine  findet  man  bei  diesen  Ansiedlern  durchweg, 
die  meist  über  zwei  Pferde,  drei  Kühe  und  einige  Schweine  ver- 
fügen. Die  Arbeit  wird  von  der  Familie  fast  allein  geleistet.  Die 
Wirtschaft  ist  meist  intensiver  als  bei  den  alten  Erbpächtern,  den 
dortigen  Großbauern,  die  heute  noch  die  alte  Koppelwirtschaft 
mit  sieben  Schlägen  ausüben.  Bei  den  Büdnern  ist  die  Brache 
meist  ausgeschaltet  und  durch  Hack-  und  Futterfrucht  ersetzt  wor- 
den. Dort,  wo  die  Absatzverhältnisse  der  Produkte  günstig  sind, 
wie  z.  B.  an  den  Badeorten  der  Ostsee,  hat  sich  die  Neugründung 
dieser  Bauernstellen,  bei  zugleich  mäßiger  Verzinsung  und  Amorti- 
sierung des  geliehenen  Kapitals  bewährt.  Doch  ist  in  Mecklen- 
burg der  raschen  Ausdehnung  der  Rentengüter  das  Interesse  des 
ritterschaftlichen  Großgrundbesitzes  abträglich  gewesen.  Auch  hat 
die  Preissteigerung  des  Landes  in  dem  letzten  Jahrzehnt,  hervor- 
gerufen durch  die  Nachfrage  reicher  Kapitalisten,  wiederholt,  auch 
bei  bestem  Willen,  Hindernisse  bereitet. 

In  Bayern  sind  durch  die  Gesetzgebung  von  1908  Staats- 
gelder für  die  Gemeinden  flüssig  gemacht  worden,  die  Boden  er- 
werben und  Bauten  ausführen  wollen,  um  Arbeiter  ansässig  zu 
machen.  Es  werden  Parzellen  bis  zu  2  ha  Größe  aufgeteilt,  auf 
denen  ein  Wohn-  und  Wirtschaftsgebäude  errichtet  wird.  Der 
öffentliche  Kredit,  der  in  Scheinen  der  Landeskulturrentenbank 
gewährt  wird,  wird  auch  gemeinnützigen  Vereinen  und  Privaten, 
wenn  auch  etwas  beschränkter  als  den  Gemeinden,  zugänglich  ge- 
macht, falls  sie  Ansiedelungen  vornehmen  wollen.  Die  Ergebnisse 
sind  noch  gering,  da  das  Werk  erst  einige  Jahre  betrieben  wird. 

Für  die  Lösung  der  Landarbeiterfrage  ist  die  Ansetzung  von 
Arbeiterheimstätten  in  den  deutschen  Staaten  bisher  in  keiner 
Weise  ausreichend  gewesen.  Erst  seit  1907  wurden  die  General- 
kommissionen in  Preußen  angewiesen,  auch  kleinste  Rentengüter 
für  landwirtschaftliche  und  gewerbliche  Arbeiter  zu  errichten.  Auch 
die  Forstverwaltung  hat  mit  der  Seßhaf  tmachung  von  Waldarbeitern 


IV.  Die  Landwirtschaft.  485 


einige  Versuche  gemacht.  Endlich  sind,  ebenfalls  mit  Unterstützung 
des  Staates,  Genossenschaften  und  Gesellschaften  in  Preußen  und 
anderen  Bundesstaaten  gebildet  worden,  die  in  den  Landgemeinden 
Arbeiterwohnungen  auf  Landparzellen  zu  bauen  bezwecken. 

Alle  diese  Bestrebungen  bieten,  auch  wenn  man  von  der  Ge- 
ringfügigkeit des  Geleisteten  absieht,  noch  keine  Garantie  dafür, 
daß  die  Arbeiter  sich  dem  Großbetrieb  zur  Verfügung  geben. 
Leben  die  angesetzten  Arbeiter  in  der  Nähe  der  Stadt,  so  besteht 
die  Gefahr,  daß  sie  dorthin  tägHch  zur  Arbeit  gehen  und  abends 
zurückkehren.  Ist  die  Entfernung  groß,  so  kann  die  Familie  auf 
dem  Lande  bleiben  und  den  eigenen  Boden  bestellen,  während  die 
jungen  kräftigen  Männer  für  Monate,  selbst  für  Jahre  in  der  fernen 
hochzahlenden  Industrie  Arbeit  nehmen.  Verdienen  solche  Leute, 
und  sind  sie  sparsam,  so  kaufen  sie  gern  später  eine  etwas  größere 
Landstelle  oder  werden  Rentenbauern.  Dann  vergrößert  sich  die 
Schicht  der  Kleinbauern,  was  mit  Freuden  zu  begrüßen  ist.  Der 
Arbeitermangel  auf  dem  Lande  ist  nicht  verringert  worden.  Kein 
anderes  Ergebnis  dürfte  die  von  dem  Bund  der  Landwirte  ge- 
gründete Prämiensparkasse  haben,  die  den  Arbeiter  in  die  Lage 
bringt,  in  verhältnismäßig  frühen  Jahren  über  ein  Kapital  zu  ver- 
fügen, das  zum  kleinen  Landerwerb  ausreichend  ist. 

Die  Verlegung  von  Industrien  auf  das  Land,  die  aus  hygieni- 
schen und  politischen  Gründen  empfohlen  worden  ist,  würde,  wenn 
nicht  sehr  vorsichtig  ausgewählt  wird,  den  Arbeitermangel  auf 
dem  Lande  nicht  beseitigen,  eher  vermehren.  Großbetriebe  mit 
großem  Kapital  würden  in  dieser  Richtung  unfehlbar  wirken.  An- 
ders ist  es  mit  kleinen  Unternehmungen,  die  ohne  Verluste  im 
Sommer  stillgelegt  werden  können,  also  nur  Winterarbeit  kennen, 
und  die  in  der  Umformung  landwirtschaftlicher  Erzeugnisse  an 
Ort  und  Stelle  einen  Vorteil  gegenüber  dem  entfernten  städtischen 
Betrieb  haben.  Die  so  hoch  entwickelte  Werkzeugmaschinerie  und 
die  Überlandzentralen  gewähren  ihnen  günstige  Vorbedingungen, 
die  sogar  in  den  Bauernhäusern  ausgenutzt  werden  könnten,  so  daß 
sich  die  ehemalige,  durch  die  städtische  Fabrik  aufgelöste  Winter- 
heimarbeit in  neuer  Form  wieder  aufnehmen  ließe. 

Die  Bedeutung  der  deutschen  Landwirtschaft  innerhalb  der 
Volkswirtschaft  ist  in  den  letzten  Jahren  vor  dem  Kriege  eine 
andere  geworden.  Einerseits  ist  das  Ausland  nicht  mehr  mit  bil- 
ligen Nahrungsmitteln  so  stark  auf  dem  Weltmarkt  als  vor  der 
Jahrhundertwende  vertreten  gewesen,  da  es  immer  mehr  davon 
selbst  gebrauchte,  und  der  Raubbau  an  den  Naturkräften  dem 
Ende  zuneigt.  Andererseits  ist  mit  der  intensiveren  Betriebsweise 
in   Deutschland  immer  mehr   Kapital  in   den   Feld-,   Wiesen-   und 


486 


VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   I890 — 19 14. 


Gartenbau  gesteckt  worden.  Die  erhöhten  Produktenpreise  haben 
die  Einkommensquote  des  Landes  im  Vergleich  zu  der  Stadt  ver- 
bessert. Hält  diese  Tendenz  dauernd  an,  so  wird  der  Zuzug  zur 
Stadt  gehemmt  werden  und  dies  um  so  mehr,  als  sich  weltwirt- 
schaftliche Absatzschwierigkeiten  für  ihre  Industrie  auftürmen.  Die 
Löhne  der  Landarbeiter  werden  sich  vergleichsweise  zu  denen  der 
Industriearbeiter  höher  stellen,  weil  sie  bezahlt  werden  können. 
Unter  dieser  günstigen  Konjunktur  ist  die  innere  Kolonisation  erst 
recht  zu  pflegen,  da  sie  darin  eine  Erleichterung  finden  wird. 

V.  Die  Industrie.  Der  Industrie-  und  Handelsstaat  im 
Sinne  L  i  s  t  s  ist  ein  um  Großindustrie  und  großen  Außenhandel 
bereicherter  Agrarstaat.  Die  heutige  Auffassung  des  Industrie- 
staates lehnt  sich  an  die  zwischenstaatliche  Produktionsverteilung 
an.  Wie  man  ehemals  im  kleinen  zwischen  Land  und  Stadt  unter- 
schied, die  sich  gegenseitig  versorgend  ergänzten,  ebenso  ist  das 
Verhältnis  heute  zwischen  großen  Staaten  gedacht,  von  denen  ein 
Teil  Rohstoffe  und  Lebensmittel  hergibt,  um  von  dem  anderen 
Fabrikate  zu  empfangen. 

Es  ist  die  Frage,  inwieweit  Deutschland  von  1890 — 191 5  ein 
solches  einseitiges  Gebilde  eines  Industriestaates  geworden  ist.  Die 
Berufsgliederung  ist  für  Deutschland  in  drei  Zählungen  erfaßt 
worden: 


Berufe 


Absolute 

Zahl  der  Personen 

Auf  1000  Einwohner 

1907 

1895 

1882 

1907 

1895 

1882 

17  681  176 

18  501  307 

19225455 

28,6 

35,8 

42.5 

26386537 

20  253  141 

16058  080 

42,8 

39.1 

35-5 

8  278  239 

5  966  846 

4  531  080 

13.4 

".5 

10,0 

792  748 

886  807 

938  294 

1.3 

T.7 

2,1 

3  407  126 

2835014 

2  222  982 

5,5 

5.5 

4,9 

5  174703 

3327069 

2  246  222 

6,4 

6,4 

5.0 

A.  Landwirtschaft    einschl.    Vieh- 
zucht, Forstwirtschaft,  Fischerei 

B.  Industrie  einschl.  Bei^bau  und 
Baugewerbe 

C.  Handel    und   Verkehr    einschl. 
Schank-  und  Gastwirtschaft     . 

D.  Häuslicher   Dienst,   Lohnarbeit 
wechselnder  Art 

E.  Öffentlicher   Dienst,    freie    Be- 
rufsart      

F.  Ohne  Beruf  und  Berufsnennung 

Über  den  Rückgang  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung  ist 
in  dem  vorigen  Kapitel  das  Nötige  gesagt  worden.  Im  Zusammen- 
hange des  Ganzen  bringt  die  Tabelle  die  Tatsache  der  starken  ab- 
soluten und  relativen  Zunahme  von  Industrie  und  Handel. 

Die  Statistik  des  Außenhandels  ergibt,  wenn  man  die  Jahre 
1895 — 1899  mit  denen  von  1910— 1913  vergleicht,  daß  die  Einfuhr- 
quote der  Rohstoffe  zur  Bearbeitung  um   etwa  40/0   gestiegen  ist. 


V.  Die  Industrie. 


487 


während  diejenige  für  Nahrungs-  und  Genußmittel  um  50/0  ge- 
ringer geworden  ist.  Gleichzeitig  hat  sich  die  Ausfuhr  von  letz- 
teren um  etwa  2  0/0,  von  Rohstoffen  um  etwa  60/0  vermindert,  was 
freilich  nicht  ganz  genau  zu  stimmen  braucht,  da  die  Grenze  zwi- 
schen reinem  Natur-  und  leicht  angearbeitetem  Stoff  nicht  immer 
sicher  zu  ziehen  ist.  Die  ungemeine  Erhöhung  der  absoluten  Ziffern 
des  Außenhandels  —  die  Einfuhr  hat  sich  von  1895 — 1913  von 
4246  auf  10770,  die  Ausfuhr  von  3424  auf  10096  Millionen  Mark 
gehoben  —  erweist  die  gewaltige  Teilnahme  Deutschlands  an  der 
Weltwirtschaft.  Daß  das  Reich  im  Bezug  von  Lebensmitteln  we- 
niger vom  Auslande  abhängig  geworden  ist,  und  daß  seine  indu- 
strielle Leistungsfähigkeit  so  zugenommen  hatte,  brachte  während 
des  Weltkrieges  das  Ergebnis,  daß  es  4  1/4  Jahre,  von  außen  ab- 
geschnitten, sich  auf  sich  selbst  verlassen  konnte.  Das  genügte 
zwar  schließlich  nicht,  aber  zeigte  doch,  daß  es  die  höchst  ein- 
seitige Entwicklung  zum  Industriestaat,  wie  sie  England  und  Bel- 
gien kennen,  nicht  mitgemacht  hatte. 

Die  Hauptzentren  der  Industrie  liegen  um  191 4  dort,  wo  sie 
sich  schon  zur  Zeit  der  Reichsgründung  befunden  hatten:  im 
Rheinland  und  in  Westfalen,  in  Elsaß-Lothringen,  Württemberg, 
Baden,  Hessen,  in  Bayern  bei  Nürnberg,  Augsburg,  Ludwigshafen 
a.  Rh.,  München,  in  Schlesien  westlich  der  Oder,  im  Königreich 
Sachsen  und  einigen  thüringischen  Staaten,  in  Berlin,  Magdeburg, 
Hannover,  Hamburg,  Altona,  Harburg,  Bremen,  Frankfurt  a.  M. 
und  Umgebung,  jedoch  überall  in  viel  größerer  Ausdehnung  als 
damals  und  mit  vermehrter  Vielseitigkeit.  Auch  in  anderen 
Gegenden,  die  vor  50  Jahren  rein  agrarisch  waren  und  nur  das 
Handwerk  kannten,  sind  erfolgreiche  Ansätze  zu  Großunterneh- 
mungen vorhanden,  wie  in  Preußens  Ostprovinzen,  in  Unterfranken, 
in  der  Provinz  Hessen,  Hannover  und  Schleswig-Holstein.  In  der 
Montanindustrie  haben  Umgruppierungen  Platz  gegriffen.  Der 
alte  Ruhrbezirk  hat  sich  nördlich  der  Lippe  erweitert  und  ist  auch 
im  Osten  und  Westen  ausgedehnt  worden.  Der  Schwerpunkt  der 
Eisen-  und  Stahlwerke  verschob  sich  mehr  und  mehr  in  das  Mi- 
nettegebiet  des  Reichslandes.  19 13  brachte  es  das  Ruhrgebiet  auf 
8,2,  das  westdeutsche  auf  7,8  Millionen  Tonnen  Roheisen.  Beide 
zusammen  bestimmten  die  deutsche  Ausfuhr  an  Eisenfabrikaten 
jeder  Art,  während  Schlesien  sich  vorzugsweise  an  den  deutschen 
Markt  hielt,  nur  für  Rußland  einiges  bedeutete.  Ein  Teil  der  west- 
lichen Montanindustrie  ist  zum  Rhein  gewandert,  wo  die  schwedi- 
schen und  spanischen  Erze  leicht  beziehbar  sind,  und  auf  dem  die 
Kohle  und  Koks  talaufwärts  nach  Süddeutschland,  der  Schweiz, 
Italien,  talabwärts  nach  Belgien  und  Holland  verfrachtet  werden. 


^88  VI-  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

In  Oberschlesien  haben  sich  Eisenverarbeitung  und  Kohle,  die  hier 
nahe  beieinander  liegen,  hingegen  an  keiner  Stelle  getrennt. 

Die  Halbfabrikatindustrie  ist  von  dem  Ort  der  Rohstoffgewin- 
nung immerhin  noch  in  Abhängigkeit  verblieben.  Soweit  sie  eine 
Massenproduktion  übt,  zieht  sie  Arbeiter  aus  allen  Teilen  Deutsch- 
lands und  auch  des  Auslandes  heran,  wobei  sie  nicht  gerade  wähle- 
risch verfahren  kann.  Das  wichtigste  ist  ihr  die  nötige  Quantität 
an  Kräften.  Für  die  Fertigindustrie  ist  am  gleichen  Ort  kein 
Platz,  obwohl  die  Ersparung  von  Transportkosten  der  Vorprodukte 
ihr  dort  ein  Vorteil  sein  müßte.  Auch  ist  keine  Arbeiterschaft  für 
sie  vorhanden,  die  am  besten  eine  alteingesessene,  gleichmäßig  in- 
telligente, dicht  gesiedelte,  an  steten  Wechsel  der  Produkte  sich 
leicht  anpaßbare  sein  muß.  So  finden  wir  z.  B.  in  Württemberg 
und  Sachsen  unter  Benutzung  aus  Preußen  bezogenen  Verarbei- 
tungsmaterials die  Entwicklung  eines  weitgehenden  Industriespezia- 
lismus überwiegend  in  Mittelbetrieben,  von  denen  die  meisten  aus 
kleinen,  oft  handwerksmäßigen  Betrieben  der  ersten  großen  Pe- 
riode des  deutschen  Aufschwunges  1850- 1873  herausgewachsen  sind. 
In  Württemberg  gehören  hierher  die  Metall-,  Messer-,  Uhren-^ 
Trikot-,  Korsettindustrie  und  verschiedene  Zweige  des  Kunstge- 
werbes; die  Metallindustrie  wieder  gliedert  sich  in  die  der  Edel- 
metallwaren, der  Legierung,  der  lackierten  Blechwaren,  der  chirur- 
gischen Instrumente,  der  eisernen  Gartenmöbel,  der  Feilen,  der 
Kassenschränke.  Andere  Spezialbetriebe,  wie  die  vorgenannten 
meist  örtlich  getrennt,  erzeugen  Bettfedern,  Linoleum,  Verband- 
stoffe, Eierteigwaren,  Zichorie,  Konserven,  Kraftfahrzeuge,  che- 
mische Produkte,  Holzmöbel,  Kinderwagen,  Klaviere,  Harmonikas, 
Stiefel,  Wichse,  Gelatine,  Briefordner,  Geschäftsbücher. 

Ebenso  ist  der  sächsische  Schwerpunkt  das  Verfeinerungs- 
gewerbe, das  vielfach  nicht  bloß  in  Städten,  sondern  bis  in  Dörfer 
hinab  seine  Sonderexistenz  führt.  Nach  der  Zählung  von  191 1 
waren  im  Königreich  30623  Fabriken  mit  757518  Arbeitern.  Be- 
triebe mit  mehr  als  500  waren  147,  die  128303  Arbeiter  beschäf- 
tigten. Die  Textilindustrie  ist  weitgehend  der  beruflichen  Arbeits- 
teilung unterstellt,  dann  folgt  die  der  Maschinen,  Instrumente, 
Apparate,  weiter  der  Metallverarbeitung,  der  Bekleidung,  der 
Steine  und  Erden,  der  Nahrungs-  und  Genußmittel,  der  Holz-  und 
Schnitzstoffe.  Es  gibt  Fabriken,  die  so  spezialisiert  sind,  daß  ein 
Werk  für  Deutschland,  selbst  für  den  Erdball,  ausreicht,  wie  z.  B. 
dasjenige,  welches  die  Druckknöpfe  für  Damengarderobe  oder  ein- 
zelne Maschinenteile  für  den  Mühlenbau  herstellt. 

Das  Machtverhältnis  in  der  Preisgestaltung  zwischen  Haib- 
und Fertigindustrie  hat  sich  seit   1890  verschoben.     Während  vor- 


V.    Die  Industrie. 


489 


dem  die  erstere,  unter  sich  in  starker  Konkurrenz  befangen,  sich 
von  ihren  Abnehmern  den  Preis  vorschreiben  lassen  mußte,  den 
diese  aus  ihrem  Verkehr  mit  den  letzten  Verbrauchern  heraus  kal- 
kulierten, wurde  sie  jetzt  exportfähig,  in  Kartellen  organisiert  und 
Herrin  auf  dem  deutschen  Markt.  Das  hatte  für  die  Verteilung 
des  örtlichen  Reichtums  die  Konsequenz  großer  Verschiebungen, 
die  auch  politisch  als  eine  zunehmende  Abhängigkeit  von  Preußen 
.gedeutet  ^wurden. 

Die  Statistik  unterscheidet  16  große  industrielle  Gruppen,  die 
1907  abgestuft  nach  den  in  ihnen  beschäftigten  Personen 
diese  Reihenfolge  gaben:  Baugewerbe,  Bekleidungsgewerbe,  In- 
dustrie der  Nahrungs-  und  Genußmittel,  der  Maschinen,  Instru- 
mente und  Apparate,  Textilindustrie,  Metallverarbeitung,  Bergbau, 
Hütten-  und  Salinenwesen,  Industrie  der  Steine  und  Erden,  der 
Holz-  und  Schnitzstoffe.  Diese  9  Gruppen  beginnen  mit  i  576  804 
Personen  und  gehen  herab  bis  773  624.  Die  folgenden  7  Gruppen 
bewegen  sich  zwischen  256  511  und  29325.  Sie  sind  die  Reini- 
gungs-,  die  Papier-,  die  polygraphische,  die  Leder-,  die  chemische 
Industrie,  die  der  Leuchtstoffe,  Seifen,  Fette,  Firnisse  und  das 
künstlerische  Gewerbe.  Einen  anderen  Einblick  gewinnt  man  in 
die  volkswirtschaftliche  Struktur  der  einzelnen  Abteilungen,  wenn 
man  die  Zahl  der  Betriebe  in  jeder  einzelnen  untersucht.  Im 
Berg-  und  Hüttenwesen  sind  z.  B.  nur  4220  Betriebe  vorhanden  bei 
879600,  im  Bekleidungsgewerbe  hingegen  680140  Betriebe  bei 
1305  871  Beschäftigten.  Der  Zusammenhang  zwischen  Betriebs- 
und Personenzahl  ist  geschichtlich  interessant,  weil  er  auf  die  Zu- 
nahme des  Großbetriebes  ein  Licht  wirft.  Für  die  16  Industrie- 
gruppen zusammen  liegt  folgendes  Ergebnis  vor: 


Zahl  der  Gewerbebetriebe  und  der  darin  beschäftigten  Personen 


Jahre 


I.  Kleinbetriebe 

I — 5  Personen 

Betriebe     Personen 


II.  Mittelbetriebe         III.  Großbetriebe 
6  —  50  Personen      i  51  u.  mehr  Personen 
Betriebe     Personen      Betriebe  1  Personen 


IV.  Gewerbebetriebe 

überhaupt 
Betriebe  |  Personen 


1907 
1895 


I  870  261 

1  989572 

2  175857 


3  200  282 
3  191  125 
3  270404 


187074 

139459 
85  001 


2  714  664 
I  902  049 
I  109  128 


29033 

17  941 

9481 


4937927 
2  907  329 

I  554  131 


2086368 
2  146  972 
2270339 


10852873 
8  000  503 
5  933  663 


Aus  Spalte  IV,  welche  die  ganze  Industrie  zusammenfaßt,  er- 
sieht man  eine  mäßige  Abnahme  der  Betriebe,  aber  eine  starke 
Zunahme  der  beschäftigten  Personen.  Diese  Tatsache  der  Konzen- 
tration zeigt  sich  im  einzelnen  in  der  Verminderung  der  Zahl  der 
Kleinbetriebe  und  deren  Personen  (Spalte  I),  dann  in  der  Vermeh- 
rung der  Personen  in  den  Mittel-  und  vor  allem  in  den  Großbe- 


AQO  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

trieben  (Spalte  II  und  III).  Wenn  auch  in  diesen  beiden  die 
Summe  der  Betriebe  anwächst,  so  wird  doch  damit  der  Verlust  an 
solchen  in  der  ersten  Spalte  nicht  aufgewogen.  Während  die  Be- 
völkerung des  Reiches  um  2i3  %  von  1882 — 1907  anwuchs,  zeigt  die 
Industrie  eine  Vermehrung  um  183  0/0.  Wir  werden  daraus  auf 
eine  Zuwanderung  aus  anderen  Berufszweigen  schließen  müssen, 
und  daß  hier  vor  allem  die  Landwirtschaft  gemeint  sein  muß, 
haben  wir  im  vorhergehenden  Kapitel  gesehen. 

Es  gibt  viele  Unternehmungen  gerade  in  der  Industrie,  die 
mehrere  Betriebe  verschiedener  Art  in  sich  vereinigen  oder  Zweig- 
geschäfte betreiben.  Daher  ist  die  mitgeteilte  Konzentration  der 
Betriebe  nicht  ausreichend,  um  diejenige  der  großen  Unterneh- 
mung zu  erklären.  Die  Statistik  hat  auch  für  1895  und  1907  eine 
Zusammenzählung  von  „Gesamtbetrieben"  vorgenommen,  die  zwar 
als  nicht  vollkommen  gelten  kann,  aber  doch  einen  ergänzenden 
Einblick  gewährt.  Die  Zahl  der  Gesamtbetriebe  für  1907  ermäßigt 
die  angeführte  Betriebszahl  auf  2025542,  also  um  30826,  in  den 
Großbetrieben  um  1828,  in  den  Mittelbetrieben  um  10973. 

Aus  den  Summen  der  festgestellten  Gesamtbetriebe  von  1907 
erfährt  man,  wie  die  Kleinbetriebe  mit  etwa  90 0/0  überwiegen.  Die 
mittleren  machen  8,7,  die  großen  1,3  aus.  Berücksichtigen  wir  die 
tätigen  Personen,  so  verschiebt  sich  das  Bild  derart,  daß  in  den 
Großbetrieben  47,7  0/0,  in  den  Mittelbetrieben  23,2,  in  den  Klein- 
betrieben 29,1  tätig  sind.  Die  Leistungsfähigkeit  der  großen  Unter- 
nehmungen tritt  noch  mehr  hervor,  wenn  man  die  Stärke  der  moto- 
rischen Kräfte  zu  den  menschlichen  hinzurechnet.  Auf  die  großen 
kamen  73,90/0  der  Dampf-Pferdestärken  und  770/0  der  elektrischen 
Kraft,  auf  die  mittleren  18,4  und  15,5,  auf  die  kleinen  7,7  und  7,5. 
Der  Schwerpunkt  der  deutschen  Industrie  liegt  nach  dem  Gesagten 
in  den  großen  Werken. 

Aus  der  Statistik  erfahren  wir,  daß  die  Hausindustrie 
in  der  Abnahme  begriffen  ist.  Die  Zahl  der  Betriebe  ist  zwischen 
1882 — 1907  von  386416  auf  315620,  der  darin  beschäftigten  Men- 
schen von  544  980  auf  482  436  zurückgegangen.  Kenner  der  Ver- 
hältnisse halten  noch  an  einer  halben  Million  fest,  da  die  ziffern- 
mäßige Erfassung  nicht  ganz  vollständig  sei.  Besonders  auffällig 
ist  der  Rückgang  in  der  Leinen-,  Woll-,  Baumwoll-,  Seidenindustrie, 
der  Drechslerei,  Schlosserei,  Strohflechterei,  bei  der  Anfertigung 
von  Nägeln,  Uhren,  Strumpfwaren.  Fast  ganz  siegreich  ist  die 
Fabrik  in  der  Schuhmacherei  und  Tischlerei  gewesen.  Der  Ausfall 
der  Heimarbeiter  überhaupt  würde  noch  größer  gewesen  sein, 
wenn  nicht  gleichzeitig  eine  Anzahl  Hausindustrien,  an  deren  Er- 
haltung und  Weiterbildung  der  kapitalistischen  Großunternehmung 


V.  Die  Industrie. 


491 


gelegen  ist,  eine  Zunahme  an  Betrieben  und  Arbeitern  besäße, 
wie  in  der  Glasbläserei,  der  Kleineisenarbeit,  der  Spitzenklöppelei, 
in  der  Anfertigung  von  Spiel-  und  Korbwaren,  Strohhüten,  künst- 
lichen Blumen,  Federschmuck  und  Tabakfabrikaten,  in  der  Schnei- 
derei, der  Kleiderkonfektion,  der  Handschuhmacherei.  In  den 
meisten  dieser  als  modern  bezeichneten  Hausindustrien  ist  die  ge- 
lernte, verfeinerte  Handarbeit  ausschlaggebend,  die  sich  an  viel- 
artigen Rohstoffen  betätigt,  während  Kraftmotoren  unanwendbar 
sind,  und  die  Vereinigung  der  ineinander  greifenden  Spezialarbeiten 
in  großen  geschlossenen  Räumen  nicht  geboten  ist.  Somit  spart 
der  Unternehmer  den  Arbeitsraum  und  die  Beaufsichtigung  der 
Arbeit.  Die  Großunternehmung  findet  auch  zuweilen  darin  ihre 
Rechnung,  daß  sie  in  der  Fabrik  ihren  Mittelpunkt  hat  und  Heim- 
arbeiter ergänzungsweise  beschäftigt.  Eine  Gummi-  und  Zelluloid- 
fabrik gibt  Puppen  zum  Bemalen  aus,  oder  eine  Korsettfabrik  hat 
Heimnäherinnen  zum  Fertigmachen. 

Auf  der  Seite  der  Arbeiter  wirkt  die  Heimarbeit  erhaltend 
auf  den  Fortbestand  ihrer  kleinen  landwirtschaftlichen  Betriebe,  was 
dann  allerdings  dahin  führen  kann,  daß  ein  an  sich  nicht  mehr 
teeitgemäßes  Werk  schlecht  bezahlt  wird. 

Die  großen  Zentren  der  Hausindustrie  sind  das  Königreich 
Sachsen,  das  Rheinland,  Schlesien  und  die  Stadt  Berlin,  aber  auch 
in  Süddeutschland,  wie  in  Baden  treffen  wir  in  mehr  räumlichem 
Auseinanderliegen  Tausende  von  Heimarbeitern  an.  Die  Groß- 
städte schließen  etwa  ein  Drittel  aller  Stätten  in  sich  ein,  unter 
denen  das  Bekleidungsgewerbe  obenan  steht.  Wie  ehedem  ist  auch 
heute  noch  das  Gebirge  ein  Hauptsitz  dieser  Betriebsart,  wo  die 
Landwirtschaft  auf  kleiner  Fläche  die  Familie  nicht  zu  ernähren 
vermag  und  unter  den  gegebenen  Waldverhältnissen  nicht  er- 
weitert werden  kann. 

Im  allgemeinen  ist  die  Lage  dieser  Arbeiterschaft  keine  be- 
neidenswerte. Ein  Teil  steht  unter  dem  Druck  der  Fabriken,  die 
Frauen-  und  Kinderarbeit  unterbietet  diejenige  der  sich  zu  anderer, 
geeigneter,  besser  bezahlter  Arbeit  nicht  immer  leicht  entschließen- 
den Männer.  Auf  100  Hausindustrielle  entfielen  1907  54,4  Frauen, 
während  1882  und  1895  noch  die  Männer  mehr  als  die  Hälfte  aus- 
machten. Das  Einkommen  vieler  wird  gedrückt  durch  die  geringe 
Festigkeit  einzelner  Gewerbsarten.  Einige  entstehen  für  kurze  Zeit, 
andere  vergehen.  Der  Zusammenschluß  zur  Verteidigung  ihrer 
Ansprüche  ist  erschwert  wegen  der  Dezentralisation  der  Arbeits- 
räume. Heimarbeiter,  bemerkt  L.  Po  hie  (Die  Entwickelung  des 
deutschen  Wirtschaftslebens),  werden  deshalb  schlecht  bezahlt,  weil 
sie  eine  gewöhnliche  ungelernte  Arbeit  verrichten,  an  Orten  sich 


AQ2  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

befinden,  wo  ein  Überangebot  an  Arbeitskräften  Platz  gegriffen 
hat,  weil  sie  in  untergehenden  Produktionszweigen  beschäftigt 
sind  oder  die  Hausindustrie  als  Nebenerwerb  ausüben.  Eine  um- 
fassende Sonderbehandlung  durch  den  Staat  läßt  sich  für  die 
Hausindustrie,  abgesehen  von  der  Gewerbeaufsicht,  dem  Register- 
zwang und  dem  Aushangwesen,  nicht  recht  durchsetzen,  weil  das 
Gewerbe  eine  Schematisierung  nicht  verträgt,  so  daß  die  Vorlagen 
im  Reichstag  zu  keinem  Ergebnis  führten.  Die  allgemeine  Sozial- 
versicherung ist  auch  auf  diese  Leute  ausgedehnt  worden,  bietet  in 
der  Praxis  manche  Schwierigkeit.  Das  gleiche  gilt  für  den  Kinder- 
schutz und  andere  Bestimmungen  der  Gewerbeordnung,  wie  z.B.  für 
die  Anmeldung  des  Betriebes,  die  Lohnbücher,  die  Motorwerk- 
stätten und  das  Trucksystem. 

Nach  P.  Arndts  Untersuchungen  im  rhein-mainischen  Wirt- 
schaftsgebiet hat  sich  zwischen  1895  ^^i^  191 4  das  Einkommen  der 
Hausindustriellen  gehoben,  soweit  ihm  eine  gesteigerte  Leistungs- 
fähigkeit unter  dem  allgemeinen  Aufschwung  der  deutschen  Volks- 
wirtschaft vorausgegangen  war.  Wenn  es  auch  noch  Gruppen  von 
Leuten  gab,  die  wenig  verdienten,  so  entsprach  dem  die  technische 
Minderwertigkeit  ihrer,  in  Fabriken  unverwendbarer  Arbeit.  Von 
einer  Entbehrlichkeit  der  Heimarbeit  kann  jedoch  trotz  ihrer  ge- 
ringen Produktivität  im  ganzen  nicht  gesprochen  werden,  da  für 
die  billigen  Produkte  Abnehmer  vorhanden  sind,  deren  Bedarf 
hicht  anders  gedeckt  werden  kann. 


Wenn  wir  hören,  daß  1907  in  der  Industrie  987  403  Allein- 
betriebe, 687832  mit  bis  zu  drei  Personen,  146999  mit  von  drei 
bis  zu  fünf  vorhanden  waren,  so  wird  der  Schluß  gerechtfertigt 
sein,  daß  das  Handwerk  in  Deutschland  ziffernmäßig  noch 
große  Bedeutung  hat.  Begrifflich  ist  der  Handwerker  ein  Mann, 
der  als  Verarbeiter  von  Rohstoff en  und  Halbfabrikaten  für  die  indu- 
striellen Bedürfnisse  seiner  festen  Kunden  Gegenstände  herstellt  oder 
ihnen  auch  persönliche  Leistungen  anbietet  und  von  dem  Verdienst 
sich  und  seine  Familie  erhält.  Allein  die  vielen  kleinen  Gewerbe- 
treibenden der  Statistik  werden  nur  zu  einem  mäßigen  Teil  in  diese 
geschichtlich  gerechtfertigte  Definition  hineinpassen.  Viele  sind 
zugleich  Händler  mit  fabrikmäßig  angefertigter  Ware;  Schuh- 
macher, Buchbinder,  Schneider,  Spengler,  Sattler,  Friseure  ver- 
wenden zum  Umsatz  ein  kleines  Kapital,  das  ihnen  gestattet,  das 
Handwerk  auch  bei  ungünstiger  Konjunktur  fortzusetzen.  Manche 
Metzger  finden  ihre  besten  Einnahmen  bei  dem  Einkaufen  des 
Viehes  bei  den  Bauern.  Andere  Personen,  wie  Bäcker,  Schreiner, 
sind   häufig   im   Dienst   eines   kaufmännischen   Unternehmers   und 


V.  Die  Industrie,  403 


leisten  die  Kundenproduktion  nur  nebenbei,  wieder  andere,  wie 
Tapezierer,  Schlosser,  Glaser,  Schuhmacher,  Schneider,  Kürschner, 
Goldschmiede,  Uhrmacher,  Ofensetzer,  suchen  den  Schwerpunkt 
ihrer  Tätigkeit  in  Reparaturen,  die  etwas  individuelles  und  unent- 
behrliches sind,  wieder  andere  treten  in  den  Dienst  großer  Unter- 
nehmungen als  Fabrikhandwerker.  Eine  nicht  geringe  Anzahl  übt 
einen  neuen  Beruf  aus,  so  im  Baugewerbe,  bei  Gas-  und  Wasser- 
leitungen, bei  elektrischen  Schwachstromanlagen.  Von  vielen  kann 
man  sagen,  daß  sie  sich  in  die  Fabrikkonkurrenz,  die  Gewerbefrei- 
heit, die  Kapitalverwendung  eingelebt  haben,  wobei  ihnen  die  Ar- 
beiterversicherung, das  Genossenschaftswesen,  die  Benutzung  von 
Kleinkraftmaschinen,  die  Kredit-  und  Zahlungseinrichtungen  zu 
Hilfe  gekommen  sind. 

Die  neuzeitlich  denkenden  Handwerker,  und  das  dürfte  die 
große  Mehrzahl  seit  der  Jahrhundertwende  sein,  blicken  nicht  mit 
romantischer  Sehnsucht  auf  den  „goldenen  Boden"  der  guten  alten 
Zeit  zurück,  verlangen  nicht,  daß  der  Staat  sie  unter  seine  Fittiche 
nimmt.  Mit  Selbsthilfe  und  Zusammenschluß  wollen  sie  Fuß  fassen, 
die  heutige  Volkswirtschaft  als  solche  nicht  bekämpfen. 

Die  Gruppen  und  Zahlen  dieser  modernen  Handwerker  zu 
vergrößern,  ist  eine  Mittelstandspolitik.  Auslese  und  Anpassung 
glücken  nicht  immer.  Manche  Personen  erliegen  dem  Umwand- 
lungsprozeß und  sinken  in  die  Lohnarbeiterschaft.  Von  1882  bis 
1907  sind  die  Alleinbetriebe  zurückgegangen.  Die  Betriebe  mit 
I — 5  Personen  sind  zwar  um  50000  vermehrt  worden.  Doch  er- 
scheint dieses  Plus  innerhalb  der  Bevölkerungsvermehrung  als 
eine  relative  Abnahme.  Die  Mittelbetriebe,  die  eine  relative  Ver- 
stärkung der  Zahl  noch  aufweisen,  enthalten  in  ihren  unteren 
Klassen  mit  ihren  6  oder  7  Mithelfenden  auch  besser  gestellte 
Handwerker.  Ihnen  war  es  gelungen,  ihr  Geschäft  zu  erweitern, 
insbesondere  auch  Gas-,  Heißluft-  und  elektrische  Motoren  aufzu- 
stellen. 

Die  Konkurrenz  der  Fabrik  oder  der  Großunternehmung  über- 
haupt wirkt  auf  das  Handwerk  in  verschiedener  Weise  ein.  Am 
gefährlichsten  ist  der  unmittelbare  Druck  auf  den  Markt,  wie  beim 
Textilge  werbe,  der  Färberei,  der  Schuhmacherei,  der  Seilerei,  Uhr- 
macherei,  Zieglerei,  Möbelschreinerei,  bei  den  Eisen-,  Blech-, 
Kupferwaren.  Hier  setzt  der  arbeitsteilige  Großbetrieb  den  Preis 
einseitig  fest.  Ein  anderer  mehr  mittelbarer  Angriff  erfolgt  durch 
die  Umgestaltung  der  Technik.  Die  Töpfer  und  Glaser  leiden 
durch  das  Angebot  von  Geschirren  aus  Emaille,  Blech,  Nickel, 
Aluminium,  die  Schuhmacher  durch  das  von  Gummischuhen,  die 
Hanfseiler  durch  das  von  Drahtseilen  und  Metallketten,  die  Zimmer- 


^g^  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890— 1914. 

leute  durch  die  Eisenkonstruktion  beim  Hausbau.  Das  Kunsthand- 
werk sieht  seinen  Feind  in  der  billigen  Massenware  des  Zimmer- 
schmuckes aus  Metallguß,  Stein,  Gips  und  Holz,  mit  seinen  nach 
der  Mode  wechselnden  Formen. 

Ungünstig  beeinflußt  ist  das  Handwerk  durch  die  Zahl  und 
die  Zahlungsfähigkeit  der  Kunden,  In  alter  Zeit  lieferte  es  für 
reich  und  arm,  je  nach  dem  Bedürfnis,  meist  auf  Bestellung  von 
Stadt  und  Land.  Heute  lebt  in  den  Großstädten  und  Industrie- 
zentren eine  Massenbevölkerung  von  Lohnarbeitern,  kleinen  Be- 
amten, Kleinkaufleuten  und  sonstigen  Kleingewerbetreibenden, 
deren  Bedarf  das  Handwerk  nur  sehr  teilweise  befriedigen  kann, 
da  er  billig  und  rasch  gedeckt  werden  muß.  Aber  auch  bei  den 
steigenden  Ansprüchen  der  Wohlhabenden  ist  der  billige  Einkauf 
oft  entscheidend,  weil  man  sich  bei  der  wiederholten  Anschaffung 
besser  stehen  kann,  als  wenn  das  alte  Stück  öfters  zur  Reparatur 
gegeben  wird.  Man  denke  an  Teppiche,  Gardinen,  Lampen, 
Wäsche  und  Küchengerät.  In  den  Mittel-  und  Landstädten  sorgte 
der  leichte  Warentransport  für  die  Nachahmung  des  großstädti- 
schen Geschmacks.  Verwöhnte  und  zahlungsfähige  Verbraucher 
halten  sich  freilich  an  ihren  Schuhmacher  und  Schneider,  die  be- 
sonders gutes  leisten  müssen.  Die  mittelbefähigten  Meister  haben 
daher  auf  solche  dauernde  Beschäftigung  nicht  zu  rechnen  und 
müssen  sich  Nebenverdienst  suchen. 

Seit  dem  Erlaß  der  Gewerbeordnung  bis  in  die  neunziger 
Jahre  haben  die  Handwerker  nicht  aufgehört,  diese  für  ihre  ge- 
drückte Lage  verantwortlich  zu  machen,  und  die  konservativen 
Parteien  haben  ihnen  sekundiert.  Die  Regierungen  haben  sich  vor 
dem  Notschrei  die  Ohren  nicht  zugehalten  und  haben  es  an  zahl- 
reichen Gesetzentwürfen  nicht  mangeln  lassen. 

Nebenbei  bemerkt:  Den  Anspruch,  allein  den  gewerblichen 
Mittelstand  zu  repräsentieren,  kann  das  Handwerk  nicht  mehr  er- 
heben. Es  gehören  zu  ihm  auch  die  Privatangestellten, 
deren  1882  99076,  1907  686007  in  der  Industrie  gezählt  wurden, 
neben  welcher  im  Handel  und  Verkehr  505  909  sich  in  gleicher 
sozialer  Stellung  befanden.  Diese  beträchtliche  Menge,  die  mit 
ihren  Familien  etwa  1/^2  der  deutschen  Bevölkerung  ausmachten, 
kann  man  nicht  damit  sozialpolitisch  abtun,  daß  man  sie  als  besser 
bezahlte  Lohnarbeiter  im  Dienst  der  kapitalistischen  Unterneh- 
mung wertet.  Viele  sind  durch  die  Möglichkeit  des  Stellenwechsels 
unabhängiger  als  solche  Handwerker,  die  sich  gegen  die  Fabrik- 
konkurrenz schwer  wehren  müssen,  und  obwohl  es  gelernte  Lohn- 
arbeiter geben  kann,  die  mehr  als  einzelne  Gruppen  von  ihnen  ver- 
dienen,  so   haben   sie   doch   wegen   ihrer  Eigenschaft   als   geistige 


V.  Die  Industrie. 


495 


Arbeiter  eine  mittelständische  Ansicht  von  sich  und  fühlen  sich 
den  ähnlich  wie  sie  bezahlten  Staats-  und  Gemeindebeamten  ver- 
wandt. 

Die  deutsche  Gewerbeordnung  von  1869  duldete  die  Innungen 
nur  als  rein  private  Vereine.  Eine  Umformung  bringen  die  Ge- 
setze von  1881,  1884,  1887,  die  den  neu  gegründeten  Innungen 
wiederum  öffentliche  Rechtsbefugnisse  einräumen  und  die  beste- 
henden veranlassen,  sich  in  diesem  Sinne  zu  reorganisieren.  Diese 
Gewährung  genügte  den  Wünschen  des  Handwerks  nicht.  Die  No- 
velle von  1897  hat  ihnen  mehr  Rechnung  getragen  und  in  der 
Gründung  von  Handwerkskammern  den  Kleingewerbetreibenden 
eine  Vertretung  geschaffen,  wie  sie  auch  in  anderen  Berufsklassen 
üblich  ist. 

Diese  Gesetzgebung  war  durch  die  atgitatorischen  Bestre- 
bungen der  Handwerker  tage  vorbereitet  worden.  Schon  1873  war 
der  „Verein  selbständiger  Handwerker  und  Fabrikanten"  ge- 
gründet worden,  dem  ein  Jahrzehnt  lang  in  seinen  Versammlungen 
eine  gemäßigte  Richtung  genügte,  wie  sie  in  der  Gesetzgebung 
von  1 881  — 1887  einen  Ausdruck  fand.  1882  wurde  in  Magdeburg 
eine  allgemeine  deutsche  Handwerkerversammlung  einberufen,  die 
sich  das  weitergehende  Programm  der  Zwangsinnung,  des  obliga- 
torischen Befähigungsnachweises  und  der  Legitimationspflicht  für 
die  Gehilfen  zu  eigen  machte.  Der  ältere  Verein  ging  in  dem  „All- 
gemeinen deutschen  Handwerkerbund"  auf,  neben  dem  seit  1884 
der  in  Berlin  gegründete  „Zentralausschuß  vereinigter  Innungs- 
verbände" tagte,  der,  obwohl  anfangs  maßvoll,  sich  der  radikaleren 
Richtung  unterwarf.  Beide  Vereinigungen  wandten  sich  1890  an 
den  Kaiser  mit  dem  erfolgreichen  Gesuch,  eine  Enquete  über  die 
Lage  der  Handwerker  veranlassen  zu  wollen. 

Nach  der  neuen  Gesetzgebung  sind  die  freien  Innungen  selb- 
ständiger Meister  noch  der  Ausgang  zur  Erreichung  gemeinsamer 
Zwecke.  Es  werden  ihnen  öffentlich  rechtliche  Aufgaben  zuge- 
sprochen, daher  bedarf  ihr  Statut  der  Genehmigung,  und  sie  stehen 
unter  Staatsaufsicht.  Sie  erheben  Beiträge  und  können  zwangs- 
mäßig einziehbare  Ordnungsstrafen  erlassen,  haben  für  ein  gedeih- 
liches Verhältnis  zu  den  Gesellen,  für  das  Herbergewesen  der- 
selben, für  den  Arbeitsnachweis,  für  die  Ausbildung  der  Lehrlinge 
zu  sorgen  und  Streitigkeiten  zwischen  diesen  und  den  Meistern  zu 
entscheiden.  Durch  statutarischen  Beschluß  kann  darüber  hinaus- 
gegangen werden  in  der  Verwaltung  von  Fachschulen  für  Meister, 
Gesellen,  Lehrlinge,  in  der  Errichtung  von  Gesellen-  und  Meister- 
prüfungen, von  Kranken-  und  anderen  Unterstützungskassen,  von 
Schiedsgerichten  für  Streitigkeiten  aus  dem  Gesellenverhältnis,  von 


4.q6  vi.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 1914. 

gemeinschaftlichem  Geschäftsbetrieb  zur  Förderung  des  Gewerbes. 
Da  die  Bildung  solcher  Innungen  nicht  recht  vorwärts  kam,  wurde 
1897  zugestanden,  daß  unter  der  Voraussetzung  einer  genügenden 
Zahl  von  Meistern  eines  Handwerks  und  der  Mehrheitszustimmung 
derselben  in  einem  gut  abgrenzbaren  Bezirke  die  höhere  Verwal- 
tungsbehörde Innungen  errichten  kann,  denen  sich  alle  Meister  des 
gleichen  Gewerbes  anzuschließen  haben.  Diese  Zwangsinnun- 
gen können  auf  Antrag  der  Beteiligten  wieder  aufgehoben  werden. 
Ihre  Aufgaben  stehen  im  allgemeinen  denjenigen  der  freien  gleich, 
doch  sind  Rechte  und  Pflichten  in  beiden  Organisationen  nicht 
dieselben.  In  die  Zwangsinnung  werden  alle  Handwerker  eines  Be- 
rufes oder  mehrerer  verwandter  einbezogen,  in  der  freien  nur  ein 
Teil  in  der  Regel.  Die  Mitglieder  jener  dürfen  nicht  zur  Teil- 
nahme an  anderen  Unterstützungskassen  als  Innungskrankenkassen 
verpflichtet  werden,  was  den  freien  gestattet  ist,  auch  keine  ge- 
meinsamen Geschäftsbetriebe  errichten,  noch  die  Preise  von  Waren 
und  Leistungen  festsetzen.  Die  Vermögensverwaltung  und  Erweite- 
rung und  der  Etat  der  Zwangsinnung  unterliegen  der  Kontrolle 
der  Aufsichtsbehörde,  Vorstände  und  Ausschüsse  werden  von  oben 
genehmigt. 

Die  von  dem  Landesministerium  geschaffenen  Handwerks- 
kammern, aus  Mitgliedern,  die  von  den  Innungen  und  solchen 
Gewerbevereinen,  welche  sich  mindestens  zur  Hälfte  aus  Handwer- 
kern zusammensetzen,  gewählt  werden,  und  einem  Staatskommissar 
bestehend,  haben  die  gesetzliche  Obliegenheit  der  näheren  Rege- 
lung und  Überwachung  des  Lehrlingsverhältnisses,  der  Erstattung 
von  Gutachten,  Mitteilungen,  Jahresberichten  über  die  Lage  des 
Handwerks  an  Staat  und  Gemeinde,  der  Bildung  von  Prüfungs- 
ausschüssen zur  Abnahme  der  Gesellenprüfung,  der  Kommissions- 
bildung zur  Entscheidung  über  Beanstandungen  der  Innungsaus- 
gchüsse  für  diese  Prüfung. 

Die  63  bestehenden  Kammern  sind  über  diese  Pflichten  , hin- 
ausgegangen und  haben  sich  gerade  deshalb  bewährt.  Sie  haben 
die  Forderungen  der  Handwerker  zeitgemäß  gesichtet  und  Streitig- 
keiten mit  anderen  Erwerbsgruppen  beseitigt,  zur  technischen  und 
sittlichen  Ausbildung  aller  Beteiligten  beigetragen,  Fachschulen, 
Dauerausstellungen,  Zeitschriften  zu  gründen  veranlaßt  und  mit 
alledem  das  Zusammengehörigkeitsgefühl  der  Handwerker  gestärkt. 

Die  Forderung  des  obligatorischen  Befähigungs- 
nachweises, d.  h.  die  Ausübung  selbständigen  Gewerbes  von  der 
Erbringung  eines  Nachweises  abhängig  zu  machen,  ist  mit  gutem 
Grunde  dem  Handwerk  nicht  gewährt  worden.  Schon  die  Erfah- 
rungen, die  seit  1883  in  Österreich  gemacht  worden  sind,  sprachen 


V.  Die  Industrie. 


497 


dagegen,  dies  alte  Zunftprivilegium  wieder  aufleben  zu  lassen.  Bei 
der  Vielgestaltigkeit  des  Wirtschaftslebens  und  der  Unsicherheit 
der  Abgrenzung  des  Handwerks  von  der  kleinen  Fabrik  wirkt  ein 
solcher  Zwang  hemmend  auf  den  Fortschritt.  Die  Gesetzgebung 
von  1908  bringt  jedoch  den  sogenannten  kleinen  Befähigungsnach- 
weis, wonach  die  Befugnis  zur  Anleitung  von  Lehrlingen  nur  den- 
jenigen Personen  von  mindestens  24  Jahren  zusteht,  die  die  Meister- 
prüfung bestanden  haben,  die  ihrerseits  eine  Gesellenprüfung  und 
drei  Gesellenjahre  in  einem  bestimmten  Gewerbe  voraussetzt.  Der 
Gefährlichkeit  dieses  Rechtes,  womit  den  Meistern  allein  gestattet 
ist,  die  wohlfeilen  Lehrlingskräfte  auszunutzen  —  angeblich  ein 
Hauptmotiv  für  die  Forderung  des  Nachweises  — ,  ist  dadurch  be- 
gegnet worden,  daß  die  höhere  Verwaltungsbehörde  auch  Per- 
sonen, die  den  genannten  Anforderungen  nicht  entsprechen,  die  Be- 
fugnis, Lehrlinge  zu  halten,  verleihen  kann. 

Die  Zwangsinnungen  haben  den  erwünschten  Erfolg  nicht  ge- 
habt. Die  Statistik  von  1907,  also  10  Jahre  nach  Erlaß  des  Ge- 
setzes, beweist  mit  der  Gegenüberstellung  der  3447  obligatorischen 
und  der  8548  freien  Innungen,  daß  die  Handwerker  anerkannten, 
daß  ihre  allgemeine  Festhaltung  in  der  Innung  keineswegs  tunlich 
sei.  Außerdem  sind  zahlreiche  Zwangsverbände  aufgelöst  worden, 
wohl  auch  deshalb,  weil  die  obrigkeitliche  Aufsicht  der  freieren  er- 
wünschten Bewegung  hinderlich  war. 

Die  Innung  der  alten  Zeit  hatte  gerade  darin  ihre  Festigkeit, 
daß  die  Meister  ökonomisch  ziemlich  gleichgestellt  und  andauernd 
bemüht  waren,  eine  eintretende  Ungleichheit  wieder  einzuebnen. 
Bei  der  raschen  Umwälzung  der  Technik,  dem  Kapitalismus  mit 
seinen  Gewinnen  und  Verlusten  und  der  Gewerbefreiheit  ist  solche 
Nivellierung  nicht  angängig.  Die  Abgrenzung  eines  Handwerks 
von  dem  anderen,  vom  Kleinverleger,  vom  Kleinfabrikanten,  vom 
Händler  bringt  Schwierigkeiten.  Manche  Personen  treiben  meh- 
rere Gewerbe,  die  sich  ergänzen,  nebeneinander.  Nicht  alle  Meister 
haben  ein  Interesse  daran,  Lehrlinge  auszubilden.  Es  gibt  Spezia- 
listen mit  feinster  Arbeit,  die  nur  von  den  besten  Gesellen  geleistet 
werden  kann.  Tüchtige  Köpfe  fühlen  sich  leicht  beengt  und  drängen 
aus  der  Innung  heraus.  So  richtig  es  ist,  daß  der  Zusammenschluß 
gepflegt  wird,  ebenso  stimmt  es  daher,  daß  die  freie  Beweglichkeit 
das  geeignetste  Mittel  dazu  gewesen  ist. 

Die  freien  Innungen  klagen  zwar  auch  über  den  Mangel  an 
Solidaritätsgefühl,  die  Unlust,  die  Ehrenämter  anzunehmen,  die 
Säumigkeit  in  der  Beitragszahlung,  die  Gleichgültigkeit  gegen  die 
Versammlungsvorschläge.  Im  ganzen  haben  sie  sich  doch  bewährt 
bei  der  Ausbildung  der  Lehrlinge,  den  Verhandlungen  mit  den  in 

A.  Sartoriusv.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        32 


4ü8  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 1914. 

Gewerkschaften  vereinten  Gesellen,  dem  Arbeitsnachweis,  den  ge- 
meinsamen Unternehmungen,  der  Anregung  zu  Genossenschaften, 
der  Aufklärungsarbeit  bei  technischen  und  anderen  Neuerungen. 
Für  diejenigen  Kleingewerbetreibenden,  die  nicht  in  den  Verband 
hineinpassen,  sind  öffentliche  Einrichtungen,  wie  der  städtische  Ar- 
beitsnachweis, die  Lehranstalten,  Ausstellungen  von  Motoren  und 
Werkzeugmaschinen,  die  Kunstgewerbehäuser,  die  planmäßige  Be- 
rücksichtigung bei  Lieferungen  an  die  Gemeinde  von  Nutzen  ge- 
wesen. 

Die  Schulze-Delitzschen  Genossenschaften  hatten  bis  i9i4noch 
nicht  die  Verbreitung  gewonnen,  die  für  den  gewerblichen  Mittel- 
stand erwünscht  war.  Nach  einer  Schätzung  gehören  ihnen  nur 
etwa  1/5  seiner  Mitglieder  an.  Die  Kreditgenossenschaft,  die  die  so 
dringend  gebotene  Barzahlung  im  Gefolge  hat,  ist  ihm  ebenso 
wichtig  wie  die  Einkauf-,  Rohstoff-  und  Lieferungsgenossenschaft. 
Auch  Verbindungen  zu  Zentralgenossenschaften,  wie  sie  für  Schuh- 
macher und  Schneider  schon  da  sind,  um  Rohstoffe  und  Halbfabri- 
kate einzukaufen,  harren  der  Verallgemeinerung,  und  das  um  so 
mehr,  als  die  Syndikate  der  Fabrikanten  auf  die  Preisbildung  ent- 
scheidenden Einfluß  gewonnen  haben. 

Von  dem  von  Staat  und  Gemeinde  gebotenen  Unterricht 
hat  die  gewerbliche  Fortbildungsschule,  die  ursprünglich  als  Fort- 
setzung der  Volksschule  gedacht  war,  im  Verlaufe  der  Jahre  immer 
mehr  geworden  ist,  dem  Handwerk  unschätzbare  Dienste  geleistet. 
Sie  ist  zu  einer  Vermittlerin  von  Schul-  und  Werkstattbelehrung  ge- 
worden. Sie  hat  die  Fachausbildung  durch  Zeichenunterricht,  Ge- 
schmacksverfeinerung, durch  Kenntnisgabe  der  gewerbetechnischen 
Geschichte  ebenso  gehoben,  wie  die  kaufmännische  durch  Fort- 
setzung der  Rechnen-  und  der  Buchführungskurse.  Neben  ihr  gibt 
es  noch  Anstalten  höherer  Ordnung,  die  Fach-  und  Kunstgewerbe- 
schulen, solche  für  Maschinenwesen  und  Baugewerbe,  die  den  be- 
mittelten jungen  Gewerbetreibenden  zugänglich  sind  und  ebenfalls 
Tüchtiges  erbracht  haben. 

Die  heutigen  Innungen  unterscheiden  sich  nicht  bloß  von  den 
alten  dadurch,  daß  sie  der  monopolistischen  Rechtsform  entkleidet 
sind,  sondern  auch  durch  den  ganz  anderen  Geist,  der  in  ihnen 
waltet.  In  der  Blütezeit  der  Zünfte  und  auch  lange  darüber  hinaus 
fühlte  sich  der  Meister  als  der  Träger  eines  Ganzen.  Der  Gemein- 
schaftssinn fand  in  festen  Sitten  und  alten  Gebräuchen  seine  äußere 
Form.  Die  wirtschaftliche  Lebensaufgabe  war  von  der  persön- 
lichen Lebensanschauung  fest  umklammert.  Heute  besteht  nur  der 
wirtschaftliche  Verband,  der  bisher  nicht  versucht  hat,  die  Ange- 
hörigen   über    seine    eigenen    nächsten    Ziele    hinaus    zusammenzu- 


V.  Die  Industrie. 


499 


schweißen.  Der  eine  Handwerker  ist  Sozialdemokrat,  der  andere 
gleichen  Berufs  wählt  konservativ,  der  eine  findet  seine  geselligen 
Abende  im  Kriegerverein,  der  andere  im  politischen  Klub.  Der  In- 
dividualismus als  das  Residuum  der  Auflösung  durchzieht  wie  hier, 
so  das  ganze  Leben  der  Nation  oder  richtiger  der  europäischen  Ge- 
sellschaft; freilich  nicht  derjenige  einer  starken  Persönlichkeit,  der 
alles,  was  er  tun  und  lassen  muß,  in  ein  zielbewußtes  Wollen  und 
Können  zusammenfaßt.  Eine  solche  Synthese  des  Charakters  und 
der  Intelligenz,  wenn  auch  auf  beschränktem  Umkreise,  findet  sich 
eher  bei  dem  Zunftmeister  innerhalb  der  Mauer  einer  alten  deut- 
schen Reichsstadt  als  in  einer  vorstädtischen  Massenansiedelung 
eines  neuzeitlichen  industriellen  Mittelpunktes. 


Der  statistisch  erfaßte  Großbetrieb,  dessen  Zunahme  wir 
von  1882 — 1907  kennen  gelernt  haben,  schließt  auch  den  Bergbau 
und  das  Baugewerbe  ein,  also  nicht  allein  Fabriken,  wenn  diese 
auch  seinen  Hauptbestand  ausmachen.  Die  Unternehmungen  lassen 
sich  für  1907  des  weiteren  zerlegen  in: 


Betriebe  mit 
tätigen  Personen 

Gesamtpersonen- 
zahl 

Angewandte 
P.  S. 

Elektrische  Kraft 
in  Kilowatt 

Zahl 
der  Betriebe 

51—   200 
201  — 1000 
über   1000 

2  034020 
I  869  023 

I  277  288 

1  706  441 

1  891  978 

2  289  064 

205  057,9 
406  354,0 
436711,1 

21  782 

4875 
548 

Stellen  wir  uns  die  Summe  der  Betriebe  als  eine  Pyramide 
vor,  so  wächst  die  motorische  Kraft  absolut  und  relativ,  je  mehr 
wir  uns  der  Spitze  nähern,  relativ  auch  die  Arbeitskraft.  Die  so- 
ziale Gliederung  hängt  damit  zusammen.  Sie  ist  in  der  Industrie 
überhaupt  ganz    anders  als  in  der  Landwirtschaft: 


Auf   100  Personen  entfallen 

I.  Soziale  Stellung 

2.  Landwirtschaft 

3.  Industrie 

Selbständige  ohne  Hausgewerbetreibende. 

25.30 

15.37 

Selbständige  Hausgewerbetreibende 

0,00 

2,20 

Angestellte 

1,00 

6,01 

Mitarbeitende  Familienangehörige    .     .     . 

39.41 

1,18 

Gelernte  und  angelernte  Arbeiter    .     .     . 

14.25 

43.79 

Ungelernte  Arbeiter 

19,00 

31.24 

Die  Zahl  der  Selbständigen  in  der  Landwirtschaft  ist  der- 
jenigen in  der  Industrie  überlegen,  die  der  mitarbeitenden  Fa- 
milienangehörigen in  dieser  gering,  in  jener  groß,  der  Angestellten 

in  Spalte  III  sechsmal  so  groß  als  in  Spalte  II,  der  Arbeiter  erheb- 

32* 


500 


VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 


lieh  mehr  als  doppelt  so  groß.     Vergleichen  wir  die  drei  Berufs- 
zählungen, so  haben  wir  für  die  Industrie  diese  Veränderung: 

Zählungsjahr  Betriebsleiter  Angestellte  Arbeiter 

1907                     18,3                     5,7  76,0 

1895                     25,8                     3,3  70,9 

1882                     37,2                     2,0  60,8 

Der  relative  Rückgang  der  selbständigen  Unternehmungen 
wird  in  den  Betriebsleitern  sichtbar,  ebenso  wie  die  Zunahme  der 
Angestellten  und  Arbeiter  in  ihrer  Ziffer. 

Untersuchen  wir  die  Betriebe  um  1907  allein  nach  Größen- 
klassen, so  gewinnen  wir  einen  weiteren  Einblick  in  die  soziale 
Gliederung  der  einzelnen  Berufsarten  der  Industrie: 


Betriebe  mit 


Bergbau 


Metall- 


Industrie 
der   Steine 
und  Erden        Verarbeitung 


Maschinen 


Chemische 
Industrie 


I —  5  Personen  .     . 

6 — 50  Personen  .     . 

50  und  mehr  Personen 


4  "7 

21  352 

794  449 


41  047 
^11  532 
382974 


146  231 
194023 
405  094 


61  310 
159374 
693  997 


5  557 

23  230 

105  800 


Betriebe  mit 

Fette,  öle 

Papier- 
industrie 

Lederindustrie 

Holzindustrie 

Nahrungs- 
und 
Genußmittel 

I —  5  Personen  .     , 

6 — 50  Personen  .     . 

50  und  mehr  Personen 

4765 
26  093 
41  176 

14527 

58790 

122  978 

39148 
41  164 
65578 

155938 
236  480 
156  699 

370  820 
287  207 
238  211 

Betriebe  mit 

Bekleidung 

Reinigung 

Bau- 
gewerbe 

Poly- 
graphisches 
Gewerbe 

Künstl. 
Gewerbe 

Textil- 
industrie 

1 —  5  Personen 
6 — 50  Personen 
50  und  mehr  Personen 

266684 
174354 
147565 

67082 
39618 
20  564 

153677 
540957 
588097 

14504 
74963 
80755 

4098 
9583 
2953 

54084 
156  132 
677  190 

Wir  haben  noch  eine  sozialstatistische  Ergänzung  der 
Frauenarbeit  zu  geben.  Die  steigende  Nachfrage  nach  indu- 
striellen Arbeitskräften,  wie  sie  der  schärfer  ausgebildete  Industria- 
lismus  mit  sich  brachte,  hat  das  Reservoir  der  Frauenkräfte  zu- 
sehends ausgepumpt,  und  die  Verkehrswirtschaft,  oft  zum  Schaden 
des  Familienlebens,  an  die  Stelle  der  Hauswirtschaft  mehr  als  nötig- 
gesetzt.  Als  ein  Ideal  hat  man  es  hingestellt,  daß  nur  die  in  der 
letzteren  überflüssigen  Frauen,  das  sind  vor  allem  unverheiratete, 
von  der  Industrie  aufgenommen  werden  sollten,  und  zwar  in  den- 
jenigen Berufsstellungen,  für  die  die  Frauenarbeit  sich  besonders 
arbeitsteilig    eignet.     Davon    ist    aber    die    Wirklichkeit    weit    ent- 


V.  Die  Industrie. 


501 


fernt,  indem  sowohl  die  im  Vergleich  zu  der  Männerarbeit  nied- 
rigen Löhne  die  Unternehmer  veranlaßt,  ihnen  Ausreichendes  lei- 
stende Frauenhände  zu  suchen,  als  auch  die  privatwirtschaftliche 
Not  viele  Frauen  zwingt,  durch  ihr  Geldeinkommen  die  Haushai- 
ausgaben zu  entlasten.  Die  Zählung  von  1907  ermittelte  451007 
verheiratete    oder   verheiratet   gewesene    Industriearbeiterinnen. 

In  der  Periode  1882— 1895  vermehrte  sich  die  Zahl  der  in 
der  Industrie  erwerbstätigen  Frauen  um  394  142,  in  der  folgenden 
bis  1907  um  582806.  In  diesem  Jahre  war  die  Gesamtziffer 
2103924  gegen  9152330  Männer,  d.  h.  18,70/0,  während  25  Jahre 
früher  der  Prozentanteil  17,6  betragen  hatte.  Die  selbständigen 
Frauen  verminderten  sich  gleichzeitig  von  10,4  auf  5,30/0,  ein  Satz, 
der  sich  noch  auf  3  0/0  ermäßigt,  wenn  die  Hausindustriellen  ab- 
gezogen werden.  Der  zunehmende  Großbetrieb,  die  komplizierte 
Technik  und  die  verschärfte  Konkurrenz  mit  ihren; Geschäftskniffen 
und  Rechtsfragen  machte  die  Frauen  immer  weniger  geeignet,  der 
Betriebsleitung  vorzustehen. 

Die  genannten  2  Millionen  Frauen  waren  22,2  0/0  aller  im 
Hauptberuf  erwerbstätigen.  Die  Land-  und  Forstwirtschaft  hatte 
48,4  0/0,  der  Handel  und  Verkehr  9,8  0/0  ergriffen.  Der  Rest  entfällt 
auf  13,2  0/0  Dienstboten,  3,4  0/0  häusliche  Dienste  und  3  %  öffent- 
liche Dienste  und  freie  Berufe. 

Die  Frauen  als  Angestellte  in  der  Industrie  haben  seit  1882 
ihren  Anteil  von  0,04  auf  0,67  0/0  erhöht.  Die  Grundziffer  betrug 
1907  63936  Personen,  unter  denen  sich  nur  711  technisch  gebildete 
Beamte  befanden.  Fast  die  ganze  Zunahme  ist  auf  das  Büroperso- 
nal zu  setzen,  der  Rest  ist  Aufsichtspersonal,  das  9515  Frauen  um- 
faßte. Die  natürliche  Anlage  gibt  also  auch  in  dieser  ganzen 
Gruppe  die  Richtung  an. 

Die  Hauptsumme  der  selbständig  Erwerbenden  machen  die 
Arbeiterinnen  aus,  1562698,  mit  einer  Vermehrung  von  570396 
von  1895 — "907-  Hausindustrielle,  im  etwaigen  Betrage  von  150 
bis  200000,  sind  der  Mehrzahl  dieser  Gruppe  hinzuzurechnen,  also 
von  den  Selbständigen  abzuziehen.  Jene  zwölfjährige  Zunahme 
enthält  354  124  ungelernte  Arbeiterinnen,  außerdem  eine  große 
Zahl  mithelfender  Familienangehöriger,  während  diejenige  der  Ge- 
lernten nur  in  9  Berufen  nachgewiesen  ist,  d.  h.  noch  nicht  in  der 
Hälfte  der  eigentlichen  Domäne  der  industriellen  Frauenarbeit. 

Fassen  wir  zusammen,  so  ist  die  qualitative  Beurteilung  der 
weiblichen  Tätigkeit  in  der  Gesamtindustrie  keine  günstige.  Da- 
mit hängt  es  zusammen,  daß  die  Löhne,  obwohl  sie  auch  für  die 
Frauen  eine  Erhöhung  gebracht  haben,  doch  nicht  die  Besserung 
gewährten,  wie  sie  die  Männer  zu  verzeichnen  haben. 


502  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 1914. 

Die  Vermehrung  der  weiblichen  Angestellten  und  Arbeiter 
überhaupt  geht  zusammen  mit  einer  Abnahme  der  im  Haushalt 
der  Herrschaft  lebenden  Dienstmädchen.  Die  letzteren  machten 
1882  noch  23,140/0  aller  erwerbsfähigen  Frauen  aus,  1907  nur  noch 
13,6.  Für  das  Familienleben  des  Mittel-  und  Arbeiterstandes  ist 
dieser  Ausfall  an  hauswirtschaftlich  vorgebildeten  Ehekandida- 
tinnen nicht  ohne  bedenken,  da  die  Fabrikarbeiterin  nichts  Ent- 
sprechendes lernt,  und  da  ihre  versuchte  Erziehung  in  Volks-  und 
Fortbildungsschulen  keinen  Ersatz  bietet. 

Die  Verteilung  der  Frauen  über  die  industriellen  Berufe  ist 
sehr  verschieden.  Bekleidung  und  Textilindustrie  beanspruchen 
1907  mehr  als  eine  Million,  Nahrung  und  Genußmittel  1/4  davon, 
darunter  113  799  allein  in  der  Tabakindustrie.  Dann  folgt  das 
Reinigungsgewerbe  mit  161  739  Personen.  Mehr  als  60000  finden 
wir  in  der  Metallverarbeitung,  der  Industrie  von  Steinen  und  Erden 
und  in  der  Papierindustrie;  mehr  als  30000  in  dem  Gewerbe  der 
Holz-  und  Si  hnitzstoffe,  der  Maschinenherstellung,  der  Poly- 
graphie; mehr  als  20000  in  der  chemischen  und  Lederindustrie. 
Eine  Zunahme  ist  seit  1882  durchweg  vorhanden.  Gering  ist  sie 
im  Bergbau,  im  künstlerischen  und  auch  im  Baugewerbe,  bedeu- 
tend in  den  Beschäftigungen,  die  die  größten  absoluten  Zahlen 
besitzen,  d.  h.  in  solchen,  in  denen  die  körperliche  Kraft  weniger 
als  die  geschickte,  geduldige  Hand  geschätzt  wird  oder  die  sich 
mit  der  alten  Übung  in  der  Hauswirtschaft  berühren.  Aber  auch 
in  der  letzteren  Abteilung  hat  die  umgestaltende  Technik  einge- 
griffen, wie  z.  B.  in  der  Wäscherei  mit  ihren  maschinellen  An- 
stalten, die  der  Männer  zur  Bedienung  nicht  entbehren  können. 
Indem  sich  die  Frauenarbeit  in  bestimmten  Gebieten  konzentriert, 
kann  ihr  Angebot  den  Bedarf  zeitweilig  übertreffen,  so  daß  der 
Erwerb  geschmälert  wird.  Das  gilt  auch  dort,  wo  die  gelernten 
Arteiterinnen  überwiegen,  wie  z.  B.  in  der  Kleiderkonfektion,  der 
Putzmacherei,  der  Verfertigung  künstlicher  Blumen. 

Den  sozialwirtschaftlichen  Wünschen  der  Fabrikarbeiterinnen 
hat  sich  eine  größere  Anzahl  wohl  unterrichteter,  in  Wort  und 
Schrift  befähigter  Frauen  aus  anderen  Gesellschaftsschichten  an- 
genommen. Auch  haben  „Konferenzen  zur  Förderung  von  Ar- 
beiterinnen-Interessen" wiederholt  stattgefunden,  in  deren  Pro- 
grammen weitergehender  Schutz  in  den  Fabriken,  Unterricht,  aus- 
gedehnte Versicherung  und  Kinderschutz  begründet  wurden.  Hier 
wurde  zugleich  neben  der  Staatshilfe  der  Zusammenschluß  in  be- 
sondere Frauengewerkschaften  betont,  der  aber  nur  ausnahms- 
weise geglückt  ist.  So  bei  den  Heimarbeiterinnen  im  Rahmen  der 
christlichen  Gewerkschaften  und  in  dem  der  Hirsch-Dunckerschen 


V.  Die  Industrie. 


503 


Vereine  bei  dem  „Gewerkverein  der  Frauen  und  Mädchen".  Beide 
verfügten  nur  über  geringe  Ziffern.  Die  großen  Gewerkschafts- 
verbände der  Männer  sahen  diese  Organisationen  nicht  gern  und 
empfahlen  den  Eintritt  der  Frauen  in  die  ihrigen.  Auch  hierbei 
sind  die  Ergebnisse  nur  bescheidener  Art  gewesen,  so  daß  man 
den  sozialpoHtischen  Sinn  der  Frauen  nicht  höher  als  ihre  Lust 
an  rein  politischer  Betätigung  eingeschätzt  hat. 

Abschheßend  brauchen  wir  nach  dem  bisher  Gesagten  kaum 
auf  die  Vertiefung  der  Arbeitsteilung  unter  den  Betrieben  hinzu- 
weisen. Daneben  geht  diejenige  innerhalb  der  Betriebe.  1882  hat 
man  die  Summe  der  verschiedenen  Sonderleistungen  in  der  deut- 
schen Industrie  auf  5000  geschätzt,  191 3  auf  die  Hälfte  mehr,  und 
dies  jst  gering  gerechnet. 


Wir  wenden  uns  jetzt  zu  den  Ergebnissen  des  Produktions- 
fortschrittes. Die  Stein-  und  Braunkohle  ergab  von  1886— 191 1 
ein  wachsendes  Jahresprodukt  von  73,7  auf  218,1  Millionen  Tonnen, 
dessen  Zunahme  erst  dann  ganz  ermessen  wird,  wenn  wir  ihr  das 
englische  Wachsen  auf  72,6,  das  französische  auf  97,5,  das  bel- 
gische auf  35,5  gegenüberstellen.  Die  Erzeugung  von  Kali  und 
sonstigen  Salzen  erhöhte  sich  von  187 1  — 19 10  um  das  22fache. 
1888  betrug  die  Kaliförderung  1,2  Millionen  Tonnen,  1912  über  10. 
Die  Eisenerzerzeugung  reichte  mit  Einschluß  Luxemburgs  seit  1887 
nicht  mehr  trotz  großer  Steigerung  für  den  Bedarf.  Zu  29  879  000 
Tonnen  heimischen  Produktes  des  Jahres  191 1  war  die  Ergänzung 
einer  Mehreinfuhr  von  9810500  Tonnen  erforderlich.  In  den 
40  Jahren  nach  der  Reichsgründung  war  der  Wert  der  jährlich  ge- 
wonnenen deutschen  Eisenerze  von  30,8  auf  106,8,  der  Zink-,  Blei- 
und  Kupfererze  von  27,7  auf  82,7  und  der  sonstigen  mineralischen 
Bergbauprodukte  von  8,6  auf  16,2  Millionen  Mark  gestiegen. 

Der  Eisenhochofenbetrieb  vollzog  sich  um  1887  in  212,  19 13 
in  313  Öfen,  deren  Belegschaft  sich  mehr  als  verdoppelte  und  deren 
jährliches  Erzeugnis  sich  fast  vervierfachte.  Unter  ihnen  gibt  es 
Riesen  bis  zu  30  m  Höhe,  die  völlig  mechanisch  bedient,  von  Wind- 
hitzern,  Mischern  und  anderen  Hilfswerken  umgeben  sind  und  es 
im  Maximum  auf  65  000  Tonnen  jährlich  gebracht  haben.  Deutsch- 
land hatte  mit  seiner  Roheisenvermehrung  von  3,991  auf  17,85 
Millionen  Tonnen  in  den  letzten  25  Jahren  vor  191 4  sogar  die  Ver- 
einigten Staaten  überholt,  während  England  es  nur  auf  zwei  Drittel 
der  deutschen  Menge  brachte.  Noch  gewaltiger  ist  die  Stahlgewin- 
nung nach  oben  geschnellt.  Sie  zeigte  von  1886— 191 2  eine  prozen- 
tuale Zunahme  um  1335,  während  es  England  auf  154,1,  Frank- 
reich auf  692,9,  die  nordamerikanische  Union  auf  910,  Belgien  auf 


cOA  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890— 1914. 

783,60/0  brachten.  Das  schon  erwähnte  Siemens-Martin-Verfahren 
hatte  sich  derart  ausgedehnt,  daß  1912  370/0  der  gesamten  Fluß- 
eisenproduktion auf  dasselbe  gerechnet  wurden  gegen  250/0  um 
1887.  Vor  allem  hatte  sich  die  Thomas-Gilchrist-Methode  ierweitert, 
die  die  phosphorreichen  Erze  in  Lothringen  und  Luxemburg  zu 
verarbeiten  gestattete. 

Aus  der  sonstigen  Produktionsstatistik,  die  im  ganzen  noch 
wenig  ausgebaut  ist,  erfahren  wir,  daß  die  Herstellung  von  Koks 
in  den  Coppeöfen  unter  Gewinnung  von  Teer  und  Ammoniaksulfit 
sich  von  1888 — 19 13  verfünffachte,  auf  29,14  Millionen  Tonnen 
wuchs,  die  von  Zement  (1897 — 1910)  von  2499  Millionen  Kilogramm 
auf  6000,  die  Produktion  von  Schwefelsäure  wurde  1913  auf  1,3  Mil- 
lionen Tonnen  geschätzt,  von  denen  800  000  bei  der  Fabrikation  künst- 
lichen Düngers  Verwendung  fanden.  In  der  Elektrizitätsindustrie  ver- 
anschlagte man  im  gleichen  Jahre  die  Arbeiterzahl  auf  rund  250000, 
und  den  Wert  der  Produkte  auf  1250  Millionen  Mark.  Die  Leistung 
der  in  einem  Jahre  von  deutschen  Werken  hergestellten  Strom- 
erzeugern wird  für  1906  auf  ca.  500000  Kilowatt,  191 1  auf  i  100  100 
angegeben,  die  Zahl  der  zur  zentralen  Versorgung  dienenden  Elek- 
trizitätswerke 1891  auf  30,  191 3  auf  4100.  Diese  Zentralen  ver- 
sorgten anfangs  nur  den  Ort,  wo  sie  erbaut  waren,  und  entwickelten 
sich  mit  der  Zeit  zu  den  sogenannten  Überlandzentralen  für  meh- 
rere Orte.  Die  Zahl  der  mit  Elektrizität  versehenen  Orte  betrug 
1891  nur  35,  191 3  zählte  man  17  500,  was  bedeutete,  daß  etwa 
50  Millionen  der  Bevölkerung  daran  teilnahmen.  Das  Ziel  der 
Technik  ist  die  einheitliche  Ausstattung  Deutschlands  von  wenigen 
großen  Kraftwerken  aus.  Schließlich  sei  noch  erwähnt,  daß  die 
Automobilfabriken  von  1901  — 19 10  von  12  auf  56  vermehrt  wurden, 
in  denen  25000  Angestellte  und  Arbeiter  beschäftigt  wurden. 

Nach  K.  Helfferichs  Schätzung  wird  man  eher  zu  niedrig 
als  zu  hoch  greifen,  wenn  man  für  das  letzte  Vierteljahrhundert 
eine  Verdreifachung  der  industriellen  Leistung  in  der  deutschen 
Volkswirtschaft  ansetzt. 

Die  politischen  Eingriffe  zugunsten  des  industriellen  Auf- 
schwunges Deutschlands  sind,  so  wichtig  sie  waren,  ihrer  Wirkung 
nach  nur  zu  verstehen  durch  das  Zusammentreffen  mit  einer 
Summe  mehr  oder  minder  offensichtlicher,  natürlicher  und  ge- 
schichtlich gewordener  Energien,  die  der  Nation  eigen  waren.  Als 
„Volk  der  Denker"  ist  das  deutsche  im  Ausland  einst  zugleich  be- 
wundert und  verspottet  worden.  Die  wissenschaftliche  Durchdrin- 
gung der  Erfindungen  und  Methoden  hat  man  anerkannt.  Sie  als 
Selbstzweck  im  Leben  des  Erfinders  behandelt  zu  sehen,  hat  man 
nicht  begreifen  können,  sich  aber  gern  gefallen  lassen.   Nun  hatten 


V.  Die  Industrie. 


505 


auch  die  Deutschen  eingesehen,  daß  man  in  der  Naturwissenschaft 
das  produktionstechnische,  angewandte  Denken  nicht  zu  vernachläs- 
sigen brauchte,  ohne  die  Theorie  preiszugeben.  Man  ist  um 
1890  längst  darüber  hinaus,  die  Neuerungen  aus  dem  mechanischen 
Ausprobieren  zu  gewinnen.  Das  systematische  Verfahren  der 
Theorie  tritt  an  die  Stelle.  Es  ist  eine  Methode  der  Technik,  daß 
alles  vorher  bis  ins  Kleinste  berechnet,  vorgeprüft,  wissenschaftlich 
bewiesen  ist,  eine  andere  die,  daß  das,  was  in  den  Stätten  der 
Wissenschaft  erdacht  wurde,  von  den  Fabrikleitern  völlig  aufge- 
nommen wird,  ehe  zu  der  Verwendung  für  den  Markt  geschritten 
wird.  In  den  Instituten  und  Laboratorien  sind  die  ökonomischen 
Erwägungen  sehr  genau  geworden,  man  fragt  sich,  ob  und  wieweit 
man  mit  heimischen  Produkten  die  ausländischen  verdrängen  kann, 
was  schon  vor  dem  Krieg  bei  vielen  chemischen  Produkten  ent- 
scheidend wurde.  Berühmt  ist  die  Farbenindustrie  mit  ihren  vielen 
hundert  akademisch  Gebildeten  —  auf  einen  Beamten  kommen  hier 
6 — 7  Arbeiter,  in  einer  Spinnerei  16—18  — ,  in  der  die  natürlichen 
Farbstoffe  Krapp,  Indigo,  Cochenille,  Waid,  Blauholz,  Rotholz  durch 
mineralische  oder  künstlich  organische  Verbindungen  einen  Ersatz 
fanden.  Die  großen  Fabriken  liegen  an  der  Wasserstraße,  auf  der 
die  billige  Zufuhr  von  Rohstoffen,  und  wo  genug  Wasser  zur  Küh- 
lung nach  der  Destillation,  zum  Lösen  und  Waschen  der  Farb- 
stoffe gegeben  ist:  Die  badische  Anilin-  und  Sodafabrik  bei  Lud- 
wigshafen a.  Rh.,  Fr.  Bayer  bei  Leverkusen,  das  Farbenwerk  Mühl- 
heim, Meister  Lucius  und  Brüning  bei  Höchst  a.  M.,  Kalle  &  Co. 
bei  Bieberich,  Leop.  Casella  in  Frankfurt  a.  M.  Um  die  Farben- 
industrie haben  sich  besonders  verdient  gemacht  A.  W.  Hof- 
mann, der  Entdecker  des  Benzols  im  Steinkohlenteer,  Ad. 
Bayer,  Emil  und  Otto  Fischer  um  die  Anilinprodukte.  Im 
Anschluß  sei  auch  die  Riechstoffchemie  der  synthetischen  Aroma- 
tika  erwähnt  mit  Vanillin,  Jonon  und  Kumarin  und  die  Erfin- 
dungen der  Arzneistoffe,  wie  der  Salizyl-  und  Karbolsäure  und  des 
Antipyrins,   und  der  Sprengstoffe,  der   Pikrinsäure. 

Durch  die  Verbindimg  von  wissenschaftlicher  Exaktheit  und 
technischer  Vollendung  zeichneten  sich  auch  die  feinoptischen  und 
feinmechanischen  Betriebe  der  Zeisswerke  in  Jena  aus  unter 
Carl  Zeiss  und  Ernst  Abbes  Führung,  die  mit  ihren  Mikro- 
skopen, Projektionsapparaten,  Prismenfernrohren,  den  Ziel-  und 
Scherenfernrohren  usw.  einen  Weltruf  besitzen.  Viel  genannt  ist 
das  Arbeitsvergütungssystem,  das  zu  höchst  sorgfältiger  Arbeit 
und  zu  Verbesserungen  reizen  soll.  Der  Urheber  neuer  brauch- 
barer Erfindungen  wird  besonders  belohnt,  die  Akkordarbeit  mög- 
lichst   durchgeführt,    eine    Gewinnbeteiligung    aller    Beamten,    mit 


co6  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 1914. 

Ausnahme  der  Mitglieder  der  Geschäftsleitung,  da  sie  die  Höhe  zu 
berechnen  haben,  und  der  Arbeiter  als  Gehalt-  und  Lohnnach- 
zahlung gewährt.  Da  die  Gewinnbeteiligung  der  Arbeiter  nicht 
sonderlich  hoch  ausfiel  —  9  o/o  1896 — 1903  — ,  wurden  weitere  sozial- 
ökonomische Maßregeln  zur  Anwendung  gebracht,  die  bei  dem  Ab- 
satz des  Unternehmens  mit  seinen  vorzüglichen,  vom  Ausland  nicht 
erreichten  Fabrikaten  und  dem  Einsetzen  einer  Persönlichkeit  wie 
die  Abbes  dafür  auch  Erfolg  hatten:  ein  Mindestlohn,  Verkürzung 
der  Arbeitszeit,  Urlaub  in  Zeitlohn  und  Hilfskassen. 

Voraussetzung  der  Erfolge  war  die  allgemeine  und  die  Fach- 
ausbildung auf  Volksschule,  Gymnasium,  Universität.  Die  elf  tech- 
nischen Hochschulen,  die  sechs  Handelsschulen,  die  vier  landwirt- 
schaftlichen, die  drei  Bergakademien,  die  Forstakademien,  die  tier- 
ärztlichen Schulen  waren  von  vornherein  auf  das  Praktische  ge- 
richtet, ohne  die  „voransetzungslose"  reine  Wissenschaft  zu  ver- 
nachlässigen. Die  Vermehrung  der  technischen  Flochschulen  hatte 
Kaiser  Wilhelm  II.  mit  richtigem  Blick  erfaßt,  als  er  1904 
sich  für  sie,  als  dem  künftigen  Wohle  des  Vaterlandes  dienend,  aus- 
sprach. Die  Begründung  neuer  Anstalten  in  Danzig  und  Breslau 
folgte,  wie  die  der  Kaiser  Wilhelm-Gesellschaft,  die  sich  bald  durch 
wissenschaftlich-technische   Entdeckungen   auszeichnete. 

Von  den  großen  produktiven  Neuerungen  ist  an  erster  Stelle 
die  Ausnutzung  von  Motoren  zu  nennen,  der  Dampf-  und  Ex- 
plosionskraft und  der  Elektrizität.  Die  erstere  mit  Kolbenbetrieb 
hatte  zwar  schon  das  ganze  Jahrhundert  ihre  umwälzende  Macht 
betätigt,  ist  aber  in  ihrer  Anwendung  mit  der  Turbine,  eines  durch 
Dampfstrom  bewegten  Schaufelrades,  und  der  Dampfüberhitzung 
vervollkommnet  worden.  Die  Turbine  erwies  sich  bei  der  Erzeu- 
gung elektrischer  Energie  und  für  die  Schiffahrt  besonders  wert- 
voll. Die  Explosionsmotoren  treten  zuerst  praktiscch  bedeutsam 
in  der  Gaskraftmaschine  hervor,  bei  der  auch  Torf  und  Braun- 
kohle erfolgreich  benutzt  werden.  Sie  werden  in  stehenden  Be- 
trieben mit  annähernd  voller  Betriebszeit  verwendet.  Die  Benzin- 
und  Petroleumkraftmaschinen,  die  von  den  genialen  Erfindern 
Daimler  und  Benz,  von  Gebr.  Körting  usw.  fabriziert  wer- 
den, haben  sich  wegen  des  leicht  transportierbaren  Explosivstoffes, 
bei  ihrer  augenblicklich  verfügbaren  Betriebskraft  und  der  Leichtig- 
keit der  Unterbrechung  rasch  in  der  Lokomobil-,  Motorboot-^ 
Motorpflug-,  Automobil-,  Luftschiff-  und  Flugzeugindustrie  einge- 
bürgert. Der  Gebrauch  des  Benzols  und  anderer  Produkte  des 
Steinkohlenteers  wird  z,  B.  in  den  höchst  wertvollen,  Brennstoffe 
durch  Einspritzung  hochkomprimierter  Luft  sparenden  Diesel- 
motoren mit  Nutzen  vorgenommen. 


V.  Die  Industrie. 


507 


Der  elektrische  Strom  wurde  in  dem  zweiten  und  dritten 
Viertel  des  19.  Jahrhunderts  bei  Telegraphen,  I.äuteapparaten, 
später  bei  dem  Telephon,  in  der  Schwachstromtechnik  schon  ge- 
braucht. Mit  der  von  Werner  von  Siemens  konstruierten 
Dynamomaschine,  bei  der  der  Magnetismus  als  Vermittler  auftritt, 
indem  sich  Strom  und  Magnetismus  in  Drehungen  fortwährend  bis 
zu  einem  Maximum  verstärken,  beginnt  die  Starkstromtechnik, 
unter  der  die  Kraft-  und  Arbeitsmaschinen  eine  neue  Richtung 
einschlugen.  Aber  erst  seit  dem  Anfang  der  neunziger  Jahre  wird 
die  elektrische  Energie  als  Betriebsmotor  und  Lichtquelle  im 
großen  möglich.  1891  wurde  der  elektrischen  Ausstellung  in  Frank- 
furt a.  M.  der  Starkstrom  aus  der  Entfernung  von  175  km  zuge- 
führt, der  in  Lauffen  aus  dem  Gefälle  des  Neckars  erzeugt  worden 
war.  Eine  große  Ersparung  gegen  die  Erzeugung  durch  galva- 
nische Elemente  bei  dem  teuren  Zink  war  gewonnen  worden. 

Die  Elektrizität,  deren  wertvolle  Ausnutzung  darin  beruht, 
die  Energie  auf  weite  Entfernungen  zu  übertragen  und  den  Strom 
in  beliebig  kleine  Teile  zu  zerlegen,  bedarf  einer  selbständigen 
Kraftquelle.  Das  fallende  Wasser  ist  in  Mittel-  und  Süddeutsch- 
land zwar  lange  nicht  so  gewaltig  wie  in  Frankreich,  Italien,  Öster- 
reich und  der  Schweiz,  läßt  sich  aber  nach  dem  Prinzip  der 
Höchstausbeute  durch  praktische  Formen  in  den  Turbinen,  Tal- 
sperren und  Stauweihern  bedeutsam  steigern.  Der  Braun-  und 
Steinkohlenverbrauch  bei  der  Elektrizitätserzeugung  wird  dadurch 
gemindert,  daß  die  Kohle  nicht  mit  ihrer  eigenen  Kraft  soweit 
wie  ehedem  verfrachtet  zu  werden  braucht. 

In  der  neuesten  Zeit  bedient  man  sich  auch  der  Gaskraft- 
maschine zur  Gewinnung  der  Elektrizität.  Das  bei  der  Koksherstel- 
lung entweichende  Gas  wird  an  Ort  und  Stelle  aufgenommen,  das 
auch  unter  Benutzung  des  Glühstrumpfes  zur  intensiven  Beleuch- 
tung dient.  Der  Gasmotor  ist  auch  Gasen  von  geringerem  Heiz- 
wert, wie  sie  den  Hochöfen  entströmen,  zugänglich  gemacht  wor- 
den, so  daß  die  ihnen  angeschlossenen  Werke  ihre  elektrischen 
Zentralen  selbst  zu  versorgen  vermögen.  Da  die  Nutzbarmachung 
dieser  Gase,  z.  B.  auch  in  den  Walzwerken,  bei  Dampfkesseln  und 
Wärmeanlagen  gelungen  ist,  gibt  es  große  Eisen-  und  Hütten- 
werke, wie  das  Kruppsche,  die  die  unmittelbare  Steinkohlenver- 
brennung nicht  mehr  nötig  haben.  Eine  große  Ersparnis  an  Heiz- 
kraft wurde  seit  der  Mitte  der  neunziger  Jahre  in  der  Weise  ge- 
wonnen, daß  das  flüssige  Roheisen  „in  einer  Hitze"  dem  Stahlwerk 
und  von  da  ohne  Erkaltung  dem  Walzwerk  zugeführt  wurde  (vgl. 
oben,  V,  2). 


eo8  VI-  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

Eine  Rückwirkung  der  neuen  Krafterzeugung  ist  auf  die 
Landwirtschaft  eingetreten,  dadurch,  daß  bei  der  Torfvergasung 
nicht  nur  Ammoniak  zu  Dungzwecken  gewonnen,  sondern  auch  der 
Abbau  der  Moore  beschleunigt  wird,  wodurch  nutzbares  Land  ver- 
fügbar wird.  Schon  früher  war  der  Rückstand  des  Thomasver- 
fahrens, die  gemahlene  Thomasschlacke,  zu  einem  wertvollen  Phos- 
phordungmittel geworden,  jetzt  kam  auch  die  Gewinnung  des 
schwefelsauren  Ammoniaks  aus  der  Ruhrkohle  dem  Boden  zugute. 

Während  man  im  Hüttenwesen  als  den  wichtigsten  Fortschritt 
die  Einführung  der  Nebenproduktengewinnung,  also  etwas  ganz 
Neues,  anerkannte,  hatte  man  im  Bergbau  an  Bestehendes  überall 
anzuknüpfen,  wenn  man  auch  zu  wesentlichen  Vervollkommnungen 
gelangte.  Neben  dem  alten  Verfahren  der  Schuttabteufung  zur 
Erschließung  der  Lagerstätten  wurde  das  der  Zementierung  mit 
Erfolg  angewandt.  Bei  der  Gewinnung  der  Kohle  stellte  sich  die 
allgemeine  Einführung  des  Bergversatzes  und  des  Spülversatzes 
als  eine  bedeutende,  auf  20  Milliarden  geschätzte  Erweiterung  des 
Volksvermögens  dar,  da  man  die  mächtigen  bisher  unabbaubaren 
Sicherheitspfeiler  aus  Kohle  in  den  Gruben  nicht  stehen  zu  lassen 
brauchte.  Im  Grubenausbau  wurde  das  Holz  durch  Eisen  vieler- 
orts ersetzt.  Die  Handarbeit  wurde  unter  Tag  durch  neue  Bohr- 
maschinen, im  oberirdischen  Braunkohlenbetrieb  durch  Tief-,  Hoch- 
und  Löffelbagger  erleichtert.  Die  Förderung  wird  durch  die  elek- 
trische Gleichstromfördermaschine,  durch  die  verbesserte  Dampf- 
maschine, durch  Anlagen  mit  endlosem  Seil  bei  der  Abbau-  und 
Streckenförderung,  durch  die  elektrische  und  Preßluft-Grubenloko- 
motive schneller  und  weniger  gefahrbringend.  Zu  der  mittels 
brauchbareren  Waschmaschinen  erzielten  Naßaufbereitung  der  Erze 
ist  die  magnetische  getreten.  Große  Bedeutung  hat  die  Aufberei- 
tung der  Braun-  und  Steinkohlen  in  der  Brikettindustrie  gefunden, 
die  mit  ihren  mehrfach  verbesserten  Pressen  nicht  bloß  allgemein 
Staubabfälle  zu  einem  wertvollen  Produkt  umgestaltet,  sondern 
auch  die  wegen  ihres  hohen  Wassergehaltes  transportschwere 
Braunkohle  zu  einem  Fernprodukt  mit  verdoppeltem  Heizwert  ge- 
macht hat. 

Ebenso  wie  die  neuen  Motoren,  haben  die  Werkzeug- und  Ver- 
arbeitungsmaschinen in  immer  vollkommeneren  Arten  den  indu- 
striellen Groß-  und  Kleinbetrieb  belebt.  Dazu  kamen  zahllose 
Apparate,  die  mit  den  Maschinen  verbunden  wurden  oder  ihnen 
vorarbeiteten,  wie  die  mechanischen  Innentransportmittel,  die 
Rollen  in  den  Walzwerken,  die  Greifer,  Zangen,  Krahne.  Die  Ver- 
einigten Staaten  waren  besonders  reich  in  der  Erfindung  der  Ar- 
beit unmittelbar  sparenden  Maschinen,  die  als  landwirtschaftliche 


V.  Die  Industrie.  cqq 


zuerst  ihren  Weltruf  begründet  haben.  Der  hohe  Preis  der  Ar- 
beitskraft wurde  als  das  Motiv  dieses  Fortschrittes  erkannt,  und 
es  ist  für  die  achtziger  Jahre  noch  richtig  zu  sagen,  daß  die  Spar- 
samkeit an  Rohstoffen  eine  europäische,  an  Arbeitskraft  eine  ameri- 
kanische Sonderheit  der  Industrie  gewesen  ist.  Seit  der  Mitte  der 
neunziger  Jahre  ist  in  Deutschland  die  menschliche  Arbeitsleistung 
so  verteuert  worden,  daß  auch  hier  das  dringende  Bedürfnis  nach 
maschinellem  Ersatz  auf  der  Tagesordnung  blieb. 

Nur  einige  Beispiele  des  technisch-maschinellen  Fortschritts: 
Um  1900  wird  die  Papierindustrie  als  so  leistungsfähig  ge- 
priesen, daß  sie  besonders  nach  der  Gewinnung  des  Fichtenholz- 
zellstoffes durch  das  von  Mitscherlich  in  München  entdeckte 
Sulfitverfahren  soviel  Papier  herstellen  kann,  als  7  Milliarden  Ar- 
beiter mit  der  alten  Handarbeit  fertig  gebracht  hätten.  Mit  dem 
verbesserten  Tonwalzverfahren  und  der  Errichtung  großer 
Öfen,  wie  des  kontinuierlich  brennenden  Ringofens,  entsteht  die 
massenhaft  leistende  Ziegel-,  Chamotte-,  Majolika-,  Steingut-  und 
Porzellanfabrikation  in  Thüringen,  Bayern,  Sachsen,  dem  Elsaß, 
im  Schwarzwald,  in  der  Pfalz,  an  der  Saar  und  am  Niederrhein. 
Neben  den  alten  Holz-  und  massiven  Tafeluhren  und  Regulatoren 
werden  die  sogenannten  Amerika-Uhren  in  Baden  und  Württem- 
berg fabrikmäßig  auf  mechanischem  Wege  hergestellt.  Selbst  die 
Spielwarenindustrie,  soweit  sie  in  Nürnberg  eine  fabrik- 
mäßige ist,  ist  der  maschinellen  Metallverarbeitung  zugewandt. 
Die  Glasindustrie  machte  große  Fortschritte  durch  den  von 
Fr.  Siemens  erfundenen  regenerativen  Gasofen.  Die  Leder- 
industrie, obwohl  durch  das  ganze  Jahrhundert  vervielfältigt 
und  vergrößert,  ändert  ihre  Technik  erst  in  den  achtziger  Jahren, 
als  die  Bewegung  der  Häute  in  rotierenden  Fässern  von  Italien 
übernommen  wurde,  nachdem  die  zunehmende  Verwendung  aus- 
ländischer, durch  Zölle  zum  Schutz  der  Eichenschälwälder  ver- 
teuerter, daher  rationell  auszunutzender  Gerbstoffe,  besonders  des 
Quebrachoholzes,  sowie  die  überseeische  Einfuhr  von  Flauten  den 
Großbetrieb  begünstigt  hatte.  Die  Rindenzerkleinerungs-,  Aus- 
wasch-, Spalt-,  Lederschliff-,  Ledermeßmaschinen,  die  Lohpresse 
und  die  Extraktionsanlage  werden  üblich.  Eine  Zweiteilung  kommt 
in  das  Gewerbe  durch  die  von  den  Vereinigten  Staaten  übernom- 
mene mineralische  Gerbung,  die  zahlreiche  neue  Maschinen  nach 
sich  zieht  und  der  alten  vegetabilischen  neue  Anregung  gibt.  Seit 
1900  hat  die  Chromgerbung  in  Deutschland  einen  gewaltigen  Auf- 
schwung genommen,  sowohl  durch  Einstellung  von  Gerb-,  Walk-, 
Schmier-,  Farbfässern  und  Gefäßen  zum  Äschern,  Beizen,  Wässern, 
als  auch  durch  die  chemisch-wissenschaftliche  Durchdringung  des 


ejo  VI.  Abschnitt     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 


Produktionsvorganges,  womit  immer  neue  Methoden  gefordert 
wurden. 

Die  Nähmaschinenfabriken  arbeiten  mit  Spezialhilfs- 
maschinen,  die  nur  von  ihnen  gebraucht  werden  können  und  die 
äußerst  exakte  Anfertigung  der  einzelnen  Teile  bezwecken,  mit 
Meßinstrumenten,  wie  die  „Lehre",  Einspannvorrichtungen,  Hobel-, 
Fräs-,  Bohr-,  Stoß-,  Schleifmaschinen  und  automatischen  Dreh- 
bänken. Mit  ähnlichen  Präzisionsvorrichtungen  ist  die  Fahrrad-, 
die  Automobil-,  die  Motorfahrrad-,  Schreibmaschi- 
nenindustrie ausgestattet,  und  ebenso  bedürfen  wieder  alle 
hierbei  erforderlichen  Werkzeugmaschinen  bei  ihrer  Herstellung 
selbst  entsprechende  Instrumente  und  Maschinen.  In  der  Bijou- 
terie wird  die  Handarbeit  ergänzt  durch  Pressen  und  Feinwalzen, 
Drahtzieher,  Poliermotoren,  Polierbänke,  Exhaustoren.  In  den 
Kakaowerken  wird  die  Aufgabe,  die  Masse  zu  unfühlbarer 
Feinheit  zu  zerreiben  und  mit  anderen  Stoffen,  z.  B.  der  künstlichen 
Vanille,  zu  verbinden,  aufs  beste  gelöst.  Auch  die  Zigarren- 
und  Zigarettenfabrikation,  in  der  die  Handarbeit  fast  das 
ganze  Jahrhundert  vorherrschte,  hat  sich  durch  Trocknenvorrich- 
tungen, Nebelpumpe,  Rippenwalzwerk,  Wickelmaschine,  Kordel- 
apparat, Präzisionsfeinschnitt-,  Stopf-,  Hülsen-,  Mundstückmaschine 
vervollkommnet.  Das  Buchdruckergewerbe  ist  ebenfalls 
durch  Spezial-  und  Hilfsmaschinen  für  die  einzelnen  Drucksachen- 
arten von  der  alten  Setz-  und  Preßmethode  abgegangen.  Die  Zy- 
linder-, Tiegeldruckschnell-,  die  Rotationpressen  wirken  zusammen 
mit  den  automatischen  Bogeneinlegern,  den  Zeilenguß-  und  der 
Setzmaschine  mit  einer  Klaviatur  wie  bei  der  Schreibmaschine. 
Es  gibt,  namentlich  in  der  chemischen  Industrie,  Fabrikräume,  in 
denen  nur  Maschinen  tätig  sind,  und  man  keinen  Arbeiter  mehr 
sieht,  während  von  einer  Zentrale  aus  ein  Mann  mit  zahlreichen 
Handgriffen  an  Hebeln,  Kurbeln,  Druckknöpfen  allein  operiert. 

Um  noch  ein  Wort  über  die  Maschinenindustrie  im 
allgemeinen  zu  sagen,  so  wird  ihre  große  Selbständigkeit 
dem  Auslande  gegenüber  dadurch  charakterisiert,  daß  191 1  an 
Maschinen,  elektrotechnischen  Erzeugnissen  und  Fahrzeugen  für 
114  691  000  Mark  ein-  und  für  920902000  Mark  ausgeführt  wurde, 
in  welcher  Statistik  nicht  einmal  alle  Maschinen,  wie  Schreib-  und 
Sprechmaschinen,  Kontrollkassen,  Läutewerke,  Gasmesser  und  man- 
cherlei Maschinenteile  enthalten  sind.  Sie  beschäftigte  1907 
I  120282  Personen,  das  Doppelte  wie  1895. 

Die  Arbeitsteilung  unter  den  stark  im  Großbetrieb  tätigen 
Maschinenfabriken  ist  außerordentlich  fortgeschritten.  Die  be- 
kanntesten   Hauptgruppen    mit    vielen     selbständigen     Unterabtei- 


V.  Die  Industrie. 


511 


lungen  bilden  die  Elektrizitäts-,  Dampf-,  Verbrennungskraft-,  Heiß- 
luft-, Wasserkraft-,  Werkzeug-,  Faserstoff-,  Zerkleinerungs-,  Mahl-, 
Misch-,  Sichtmaschinen,  solche  zum  Heben  und  Bewegen  von 
Lasten,  zur  Erzeugung  von  Kälte,  zur  Gewinnung  von  Erden, 
Steinen,  Erzen,  zum  Zweck  der  Hygiene  und  des  Wohnungs- 
schutzes, für  die  Landwirtschaft,  Müllerei,  Brauerei,  Zuckerindu- 
strie und  den  Transportverkehr. 

Alle  Maschinenfabriken  stellen  wiederum  maschinell  die  ein- 
zelnen Teile  her,  deren  Genauigkeit  in  der  Herstellung  auf  Grund 
vorzüglichen  Materials,  feinster  Meßinstrumente  und  ausgezeichnet 
vorgebildeter  Arbeiter  eine  so  weitgehende  ist,  daß,  wie  man  mit 
einiger  Übertreibung  gesagt  hat,  die  einzelnen  Stücke  zum  fertigen 
Ganzen  von  selbst  zusammenfallen  müssen.  So  ist  es  denn  auch 
immer  mehr  möglich  geworden,  nicht  bloß  die  Typen  von  Teilen, 
wie  z.  B.  Kugellager,  Gleitlager,  Schneckengetriebe,  Zahnräder, 
Kurbeln,  in  Massen  zu  produzieren,  sondern  auch  von  fertigen 
Maschinen,  obwohl  hier  das  amerikanische  Vorbild  nicht  erreicht 
wurde  und  bei  der  notwendigen  Vielseitigkeit  des  deutschen  Ex- 
portes auch  zunächst  nicht  erreicht  werden  konnte. 

Im  Vergleich  zu  den  vorausgehenden  beiden  Jahrzehnten  ist 
unter  der  Ausbildung  der  Ingenieure  auf  den  Hochschulen  die  kon- 
struktive Berechnung  und  Formgebung,  die  Verwirklichung  einer 
bis  ins  Kleinste  durchdachten  Idee  der  Maschine  an  die  Stelle  des 
praktischen  Ausprobierens  unter  vielen  Fehlversuchen  getreten.  Die 
steigende  Nachfrage  aus  der  Industrialisierung  der  Welt  drängte 
dazu,  die  die  Maschinenindustrie  ihrerseits  immer  durch  ihre  Neue- 
rungen vorwärts  trieb.  Die  Industrialisierung  Deutschlands  wird 
dadurch  gekennzeichnet,  daß  sie  auch  Landesteile  im  großen 
ergreift,  die  bisher  über  Handwerk  und  Kleinbetriebe  nicht  wesent- 
lich hinausgekommen  waren.  Rein  agrarisch  sind  noch  die  Mecklen- 
burgs, in  Preußen  Pommern,  West-  und  Ostpreußen  und  Posen, 
in  Bayern  Oberpfalz,  Niederbayern  und  Unterfranken.  München 
tat  den  Schritt  zur  Großstadt  unter  dem  Prinzregenten  L  u  i  t  - 
pold,  hatte  1871  169693,  19 10  aber  596467  Bewohner.  Dem 
entspricht  die  Vielseitigkeit  imd  Größe  der  Industrie.  1904  zählte 
man  9725  gewerbliche  Anlagen,  darunter  588  Fabriken  mit  28439 
Arbeitern.  Die  wichtigsten  Gewerbe  nach  der  Brauerei  bezogen 
sich  auf  Leder,  Handschuhe,  künstliche  Blumen,  Maschinen,  Loko- 
motiven, Gummiwaren,  Malzkaffee,  Möbel,  öl,  Spiritus,  Papier, 
Fässer,  Metallwaren,  optische,  photographische,  lithographische 
Waren,  Glasmalerei,  Buchdruckerei,  Gold-  und  Silberstickerei,  Erz- 
guß, Kunstmühlen  und  Ziegeleien.  Entsprechend  wird  München 
Handels-,    Bank-    und    Geldplatz.     Die    Ausnutzung    der   Gebirgs- 


ei2  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 1914. 

Wasserkräfte  zur  Gewinnung  elektrischer  Energie  wird  geplant, 
aber  erst  nach  1920  in  die  Wege  geleitet,  da  die  Gegenzüge  der 
Bürokratie  und  der  Gegeninteressenten  nicht  zu  überwinden  sind. 
Die  Peripherie  der  Stadt  erweitert  sich,  Vororte  werden  einge- 
gliedert. Dann  setzt  mit  einem  Ruck  die  Bautätigkeit  aus,  als  der 
Krieg  beginnt.  Die  bisherige  Entwicklung  hört  auf.  Erst  1922  be- 
ginnt wieder  der  Neubau  von  Wohnhäusern,  während  die  Industrie 
sich  in  ihren  alten  Räumen  weiter  behilft. 

Die  großen  Fortschritte  der  industriellen  Technik  in  Verbin- 
dung mit  dem  Kapitalreichtum  erzeugten  eine  solche  Produktivität, 
daß  die  Anordnung  des  Absatzes  zu  einer  immer  komplizierteren 
Aufgabe  wurde.  Je  mehr  Kostenersparung,  Arbeitsteilung  und 
Zusammenfassung,  Einschränkung  oder  Beseitigung  der  Konkur- 
renz dem  Markte  angepaßt  werden  mußten,  um  so  mehr  bedurfte 
es  des  ethischen  Öls,  um  die  ungezählten,  möglichen  Friktionen  zu 
vermeiden.  Indem  die  Zweckstellung  der  Organisation  von  jedem 
Einzelnen  anerkannt  wird,  entwickelt  sich  in  ihr  das  verantwort- 
liche Befehlen  ebenso  wie  das  bewußte  Gehorchen.  Der  militärische 
Dienst  hatte  diese  Tugenden  großgezogen,  die  sich  auf  einem 
neuen  Gebiete  der  Disziplin  zu  betätigen  hatten.  Die  Post  und  das 
Eisenbahnwesen,  der  transatlantische  Riesendampfer,  die  Groß- 
bank, das  Warenhaus,  das  kombinierte  Großeisenwerk  umfassen 
Kompagnien  und  Regimenter,  die  von  Offizieren  und  Unteroffi- 
zieren geführt  werden  und  dem  einzelnen  Mann  nichts  Willkür- 
liches gestatten.  Scheinbar  ist  das  Individuum  nur  ein  Rädchen  in 
einer  Gesamtmaschinerie,  aber  bei  genauerer  Betrachtung  ist  es 
doch  eher  einer  beseelten  Zelle  vergleichbar,  die  zwar  jedem  Wink 
von  oben  zu  folgen  hat,  aber  im  Bewußtsein  ein  unentbehrlicher 
Teil  eines  Ganzen  zu  sein,  den  eigenen  W^illen  zu  der  Gesamt- 
leistung haben  und  dazu  erzogen  werden  muß.  Verschwindet  der 
Wille  zur  sozialen  Ordnung,  so  kommt  das  ganze  Werk  ins 
Stocken,  wie  wir  das  in  furchtbarer  Weise   191 9  erleben  sollten. 

Die  Großunternehmer  und  Direktoren  der  Gesellschaften  kön- 
nen bei  einer  solchen  feinen  Großbetriebsweise  gar  nicht  so  unter 
der  Profitsucht  stehend  gedacht  werden,  wie  die  sozialdemokra- 
tische Theorie  es  annimmt.  Das  Gedeihen  des  ganzen  Kunstwerkes 
ist  es,  was  ihnen  am  Herzen  liegt,  die  lebendige  Vorwärtsbewegung 
wird  ihnen  zur  Pflichterfüllung.  Gerade  weil  die  Ausstände  die 
Ordnung  der  Technik,  die  Betriebsgestaltung,  die  Marktanpassung 
bedrohen,  werden  die  Kämpfe  von  selten  der  Arbeitgeber  so  er- 
bittert geführt. 

Der  Kapitalismus  soll  die  ihm  innewohnende  Kraft  haben, 
die  Unternehmungen  zu  immer  größeren  Einheiten  zu  verdichten. 


V.   Die  Industrie. 


513 


Allein  bei  der  Industrie,  so  sehr  sie  sich  auch  konzentrieren 
mochte,  ist  es  immer  eine  offene  Frage,  ob  die  Technik,  die  Markt^- 
gewinnung,  die  Handels-  und  Steuerpolitik,  die  Kostenersparung 
oder  die  Konkurrenz  den  eigentlichen  Antrieb  dazu  hergibt.  Der 
Staats-  und  Kommunalbetrieb  kann  nach  außen  nicht  anders  als 
der  privatkapitalistische  vorgehen.  Übrigens  decken  sich  großer 
Betrieb  und  Besitz  keineswegs,  welche  Tatsache  in  die  Marx  sehe 
Entwicklungslehre  nicht  hineinpaßt.  Ebenso  wie  Tausende  von 
Arbeitern  in  einen  Betrieb  zusammengefaßt  werden,  so  oft  auch 
Hunderte  von  Kapitalisten.  Arbeiter  und  Kapitalgeber  haben  in 
dem  Aktiengeschäftsbetrieb  eine  ähnliche  Stellung.  Der  Arbeiter 
kann  auf  Grund  seiner  Freizügigkeit  austreten,  der  Kapitalist  seinen 
Anteil  verkaufen.  Bei  der  Leitung  der  Arbeit  haben  die  Arbeiter, 
bei  der  Verwaltung  die  Aktionäre  nicht  mitzusprechen.  Die  er- 
fahrenen technischen  Beamten  und  die  Großkapitalisten  iiaben  das 
Wort.  Sachkenntnis  und  Persönlichkeit  entscheiden  bei  ihnen, 
nicht   die   bewußtlose   Tendenz   des   aufgespeicherten    Geldkapitals. 

Marx  setzt  geschichtlich  auseinander,  wie  sich  Besitz  und 
Arbeit  trennen.  Die  neue  Zeit  zeigt,  wie  der  Arbeiter  wieder  Be- 
sitzer wird.  Der  Besitz  in  der  Sparkasse,  der  Anteil  an  der  Kon- 
sumgenossenschaft, die  gekaufte  Staatsschuldverschreibung,  das 
eigene  Haus  haben  zwar  nichts  zu  tun  mit  der  Unternehmung,  in 
der  er  sein  Brot  verdient.  Aber  jeder  Besitz  trägt  in  sich  die  Mög- 
lichkeit der  Erweiterung  und  macht  gesellschaftserhaltend.  Damit 
war  das  nach  außen  verdeckte  Motiv  für  die  soziale  Spaltung  der 
Sozialdemokratie  in  besitzende  und  besitzlose  Genossen  gegeben. 

Die  Gesellschaftsform  tritt  mehr  und  mehr  an  die  Stelle  der 
Privatuntemehmung,  da  das  Kapital  des  Einzelnen  nicht  mehr 
hinreicht.  Das  Risiko  des  schwer  übersehbaren  Marktes  wird  auf 
die  breiteren  Schultern  der  vielen  Kapitalisten  gelegt.  Die  Spezia- 
lisierung auf  eine  Warengruppe,  z.  B.  auf  Garne  bestimmter  Num- 
mer, Halbfabrikate  der  Stahlindustrie,  Einzelteile  von  Maschinen, 
Schrauben,  Scharniere,  Schuhleisten,  Uhrzeiger,  Nadeln  und  auf 
die  Typenbildung  innerhalb  derselben  gedeiht  am  besten  im 
großen,  ist  aber  wegen  leicht  möglicher  Überproduktion  geschäft- 
lich gefährdet.  Hier  ist  also  die  Gesellschaft  geboten.  Wo  hin- 
gegen die  konsumfähigen  Fertigfabrikate  zusammengesetzt  werden 
oder  nach  der  Mode  rasch  wechseln  oder  viel  Spezialaufsicht  er- 
fordern, ist  die  Privatunternehmung  noch  geblieben. 

Auf  der  Aktiengesellschaft  beruht  das  große  gemischte  Werk, 
das  wir  in  den  letzten  Jahrzehneten  so  auffällig  sich  bilden  sehen. 
Erzgruben,  Hütten-  und  Hammerwerke,  auch  mit  Anschluß  von 
Holz-  und  Kohlenbesitz,   waren  schon  vor  hundert  Jahren  kombi- 

A.Sartoriiisv.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.         ,93 


CI4  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

niert.  Die  neuzeitliche  Zusammenfassung,  ohne  die  technische  Ar- 
beitsteilung damit  preiszugeben,  kennt  daneben  auch  Koksereien 
und  Kalksteinbrüche,  alles  jedoch  im  Stile  des  Großbetriebes  und 
der  besten  Einrichtung.  Sie  stellt  Roheisen,  Rohstahl,  Platten, 
Bleche,  Röhren,  Träger,  zuweilen  auch  Fertigfabrikate,  wie  Schie- 
nen, her.  Besitzer  von  Kohlengruben  werden  auch  Rheinschiffer. 
Die  Lokomotivenfabrik  z.  B.  von  Henschelund  Sohn  in  Kassel 
deckt  ihren  wesentlichen  Bedarf  aus  eigenen  Fabriken.  Die  Gute- 
Hoffnungshütte  hat  sich  eine  Brückenbauanstalt  und  eine  Ma- 
schinenfabrik angegliedert.  Die  führenden  rheinischen  Montan- 
werke sind  durchweg  keine  reinen  mehr,  die  schlesischen  haben 
ihren  „gemischten"  Charakter  niemals  aufgegeben.  Wir  haben 
oben  das  Kruppsche  Werk  bis  in  die  siebziger  Jahre  kurz 
verfolgt.  1873  standen  71  Dampfhämmer,  286  Dampfmaschinen 
und  16000  Personen  in  seinem  Dienst.  Für  die  neukonstruierten 
Schnellfeuergeschütze  wurden  eigene  Schießplätze  erworben.  1888 
wurden  neue  Martinwerke  errichtet,  in  Lothringen  Erzgruben  er- 
worben. Für  1890— 1893  werden  24000  Beschäftigte  angegeben, 
das  Grusonwerk  in  Magdeburg  wird  gekauft,  1896  die  Schiffsbau- 
aktiengesellschaft Germania  in  Kiel  übernommen.  Im  folgenden 
Jahre  beginnt  der  eigene  Hochofenbetrieb.  Um  die  Jahrhundert- 
wende sind  45000  Mann  in  Stellung,  191 2  68300,  als  die  50000. 
Gußstahlkanone  abgeliefert  wurde. 

Die  Werkkombination  setzt  ungeheuere  Kapitalien  voraus,  wie 
sie  die  Aktiengesellschaft  mit  Obligationenausgabe  allein  bietet. 
Die  Jahresdividenden  können  hochgehalten  und  ausgeglichen  wer- 
den, das  Leihkapital  strömt  willig  herbei,  die  Verbindung  mit  der 
Großbank  ist  gesichert.  Die  Vielseitigkeit  entsteht  auch  aus  ver- 
schiedenen Motiven  heraus.  Teils  wie  bei  Thomas  werken  ent- 
scheidet die  Technik,  Hochofen,  Stahlbirne  und  Walzwerk  in  einer 
Hitze  auszunutzen;  teils,  wie  bei  den  großen  Kohlen  werken,  der 
sichere  Verbrauch  des  Produktes  über  die  Aufnahmefähigkeit  des 
Marktes  hinaus,  was  auch  von  den  Koksereien  mit  deren  wichtigen 
Nebenprodukten  gilt;  teils  die  Unabhängigkeit  vom  Einkaufsmarkt, 
die  zum  Erwerb  von  Kohlen-  und  Erzgruben  drängt;  teils  die  Siche- 
rung auf  dem  Verkaufsmarkt,  die  die  Halbfabrikate  wieder  ver- 
arbeiten läßt,  wie  in  den  Walzwerken.  Die  Marktabhängigkeit  er- 
zeugt das  Streben,  die  Vor-  und  Nachstufen  der  alten  Produktion 
immer  weiter  hinauszuschieben.  Man  rückt  an  den  letzten  Konsu- 
menten näher  heran  und  schaltet  die  zwischenliegenden  Markt- 
schwankungen aus. 

1886/87  gab  es  in  Deutschland  2143  Aktiengesellschaften  und 
Kommanditgesellschaften  auf  Aktien  mit  einem  Nominalkapital  von 


V.  Die  Industrie. 


515 


4876  Millionen  Mark,  1909  5222  mit  14737,3.  In  diesem  Jahre 
kamen  auf  Bergbau,  Hütten  und  Salinen  243,  dazu  40,  die  damit 
zugleich  die  Metall-  und  Maschinenindustrie  verbanden;  auf  Steine 
und  Erden  366,  die  Metallverarbeitung  160,  die  Maschinen  547, 
auf  die  chemischen  Werke  150,  die  textilen  357,  auf  Nahrungs- 
und Genußmittel  936,  die  sonstigen  Gruppen  575. 

Die  Gesellschaftszahl  überhaupt  ist,  seit  dieser  statistischen 
Aufnahme,  1910  um  186,  191 1  um  169,  1912  um  182,  1913  um  175 
weiter  gewachsen.  Die  Zunahme  der  großen  Unternehmungen 
tritt  dadurch^  hervor,  daß  1886/87  74  Gesellschaften  mit  einem 
Kapital  von  mehr  als  10  Millionen  Mark  vorhanden  waren,  1909 
229.  In  den  gemischten  Werken  betrug  während  des  gleichen 
Jahres  das  Durchschnittskapital  gegen  25  Millionen  Mark,  womit 
alle   sonstigen  Durchschnitte  übertroffen  wurden. 

Die  leichter  zu  begründenden  Gesellschaften  mit  beschränkter 
Haftung,  die  als  ein  Mittelding  zwischen  offener  Handelsgesell- 
schaft und  Aktiengesellschaft,  als  eine  Art  Kommanditgesellschaft 
ohne  persönlich  haftende  Mitglieder,  gemäß  dem  Reichsgesetz  von 
1892  gegründet  worden  sind,  waren  bei  ihrer  freieren  Verfassung 
1909  viermal  so  zahlreich  als  die  Aktiengesellschaften,  verfügten 
zusammen  nur  über  ein  Viertel  des  Kapitals  von  diesen.  Sie  haben 
ihren  Schwerpunkt  in  weit  kleineren  Unternehmungen  mit  einem 
durchschnittlichen  Stammvermögen  von  214000  Mark  und  sind 
daher  für  die  große  Industrie  nicht  geeignet. 

Eine  ganz  andersartige  Kapitalassoziation  hat  sich  die  deut- 
sche Industrie  in  den  Unternehmerverbänden,  den  Kartellen, 
geschaffen.  Man  versteht  darunter  die  für  eine  längere  Zeit,  ge- 
wöhnlich für  einige  Jahre,  geltenden  Verabredungen  von  Groß- 
unternehmern des  gleichen  Geschäftszweiges  in  ganz  Deutschland, 
oder  wenigstens  in  einem  weiteren  Industriebezirk,  um  unter  der 
Beschränkung  oder  Beseitigung  der  Konkurrenz  untereinander  den 
Reinertrag  der  Angeschlossenen  zu  behaupten  oder  zu  erhöhen  — 
ohne  den  selbständigen  Produktions-  bzw.  auch  den  Einkaufs-  und 
Verkaufsvorgang  aufzuheben,  wenn  er  auch  unter  Kontrolle  ge- 
stellt wird.  Das  Motiv  zur  Gründung  ist  also  privatwirtschaft- 
licher Art,  aber  volkswirtschaftliche  Folgen  sind  unausbleiblich. 
Daher  kann  der  Staat  die  Kartelle  nicht  ignorieren,  wenn  auch  sein 
Eingriff  in  der  hier  beschriebenen  Zeit  im  Vergleich  zu  derjenigen 
des  Weltkrieges  gering  war,  während  welcher  ihn  die  ganz  ver- 
änderte Wirtschaftsweise  auf  seine   Pflichten  hinwies. 

Die   Kartelle   gehen   in   die    Periode   von    1871  — 1890   zurück, 

ihre    örtlich    beschränkten    ersten    Anfänge,    wie    bei    Weißblech, 

Kohlen,  Salz  sogar  noch  auf  frühere  Jahre.    Während  des  Nieder- 

33* 


ei6  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 


ganges  nach  der  Krise  von  1873  kartellierten  sich  unter  anderem 
Kohlenzechen,  auch  Roheisenwerke,  so  daß  damals  die  voreilige 
Theorie  aufkam,  daß  diese  Verbände  Kinder  der  Not  seien  und  mit 
dieser  verschwinden  würden.  x\ber  der  Geschäftsaufschwung  von 
1888 — 1890  und  der  nach  1895  und  1903  wollten  davon  nichts 
wissen.  Die  Anschauung  wurde  die  allgemeine,  daß  die  Unter- 
nehmerverbände in  der  heutigen  Wirtschaftsordnung  tief  begründet 
liegen,  wenn  sie  auch  erst  in  Erscheinung  traten,  als  sich  Verkehr 
und  Kapitalmassen  im  ganz  großen  regten.  Schon  die  Tatsachen, 
daß  vor  allem  in  England  und  Nordamerika  die  Privatbahnen  und 
die  Ozeankabelgesellschaften  mancherlei  Fusionen  eingegangen 
waren,  um  den  Wettbewerb  auszuschließen,  daß  es  „Ringe"  von 
Kaufleuten  und  Börsenspekulanten  gab,  die  gegen  die  Einkäufer 
zusammenstanden,  daß  der  Assoziationsgedanke  von  altersher  das 
Kleingewerbe  durchzogen  hat,  mußten  es  nahelegen,  daß  auch  die 
Großindustrie  denselben  Weg  beschreiten  werde. 

Nach  einer  Veröffentlichung  der  Reichsregierung  von  1905 
wurden  in  Deutschland  366  Industriekartelle  ermittelt,  von  denen 
sich  200  mit  einer  gemeinsamen  Verkaufsstelle  ausgestattet  hatten. 
Als  wichtigste  kamen  9  auf  Kohlenbergwerke,  20  auf  die  Eisen-, 
7  auf  die  Metall-,  17  auf  die  chemische,  5  auf  die  Zementindustrie. 
Vor  dem  Kriege  waren  mehr  oder  minder  fest  kartelliert:  Die 
Unternehmungen  in  Kohle,  Koks,  Steinkohlenbriketts,  Roheisen 
und  Stahl,  soweit  hier  die  sogenannten  A-Produkte,  Halbzeug, 
Träger,  Schienen  usw.  in  Frage  stehen,  in  Zink,  Blei,  Kupfer,  bei 
chemischen  Produkten  in  Soda,  Essigsäure,  Chlorkalk,  Benzol, 
Teer,  Brom,  Jod,  Karbol,  Borax,  Bleiweiß,  Glyzerin,  Farbstoffen; 
bei  den  Dungmitteln  in  Kali,  Thomasmehl,  Superphosphat  und 
schwefelsaurem  Ammoniak;  ferner  die  Geschäfte  in  Pulver-  und 
Sprengstoffen,  Baumaterialien,  wie  Zement,  Gips,  Ziegeln,  Asphalt, 
Wasserkalk,  Verblendsteinen,  Porphyrsteinen,  in  Druckpapier  und 
Spiritus. 

Die  in  den  Vereinigten  Staaten  maßgebende  Form  der 
Unternehmerverbände,  die  Trusts,  haben  in  dem 
Deutschland  vor  dem  Kriege  nur  wenig  Boden  gewonnen.  Die 
Trusts  sind  zeitlich  unbegrenzte  Dauererscheinungen,  sei  es  in 
dem  Gewände  der  Aktiengesellschaft,  in  die  Einzelunternehmungen 
und  Gesellschaften  eingeschmolzen  werden,  sei  es,  was  die  Regel 
ist,  holding  companies,  in  denen  alle  Mitglieder,  eventuell  erst  aus 
Privatunternehmungen  zu  schaffende  Aktiengesellschaften  sind,  die 
sich  in  einer  Zentralleitung  dadurch  zusammenfassen  lassen,  daß 
diese  gegen  die  Ausgabe  von  Trustzertifikaten  die  Aktien  in  die 
Hand   bekommt   und    damit   einen    Landesindustriezweig    „kontrol- 


V.   Die  Industrie. 


517 


liert",  ohne  für  ihre  monopolistischen  Maßnahmen  der  Öffentlich- 
keit nach  dem  Rechte  voll  verantwortlich  zu  sein.  Vor  allem  sind 
es  Inhaber  von  Börsenfinanzkräften,  oft  einzelne  Personen,  die  als 
Gründer  an  der  Spitze  stehen  und  den  angeschlossenen  oder  ein- 
gezwungenen Mitgliedern  nur  so  viel  Selbständigkeit  lassen,  als 
es  ihrer  Willkür  beliebt.  Die  kleinen  Werke  erhalten  sie,  solange 
es  ihnen  paßt,  während  die  deutschen  Kartelle  diese  soziale  Auf- 
gabe der  Erhaltung  anerkannt  haben.  Der  Staat  hat  in  Amerika 
keinen  nennenswerten  Einfluß  auf  die  Trusts  bei  der  mangelhaften 
Gesetzgebung  und  der  bedenklichen  Einwirkung  der  Kapitalmag- 
naten auf  die  Staatsorgane  gewonnen.  Das  Ziel  der  Trusts  ist  die 
volle  Beherrschung  des  Marktes,  die  sich  auch  auf  das  Ausland  zu 
erstrecken   sucht. 

In  Deutschland  bestand  nur  die  Vertrustungsgefahr  im  Braun- 
kohlenbergbau, die  von  einem  tschechischen  Großkapitalisten 
J.  Petschek  mit  Unterstützung  deutscher  Großbanken  ausge- 
gangen ist.  Es  sind  allerdings  auch  Braunkohlensyndikate  vor- 
handen, wie  das  Niederlausitzer  und  das  mitteldeutsche,  allein  ihr 
Bestand  ist  nicht  gesichert,  seitdem  die  Kapitalmacht  des  Trusts  in 
sie  eingedrungen  ist  und  sich  bereits  einen  Teil  der  Kohlenhandels- 
firmen unterworfen  hat.  Die  einzelstaatlichen  Regierungen  konnten 
diese  Entwicklung,  die  ein  großes  Gewerbe  in  die  Pfand  eines  Aus- 
länders zu  bringen  imstande  war,  nicht  ruhig  hinnehmen.  Sachsen 
und  Altenburg  haben  eingeriffen. 

Die  deutschen  Kontrollgesellschaften,  wie  die  Reis-  und 
Handelsaktiengesellschaft,  die  Konzerne  in  der  Waffen-  und  Elek- 
trizitätsindustrie, der  Dynamittrust,  die  Europäische  Petroleum- 
gesellschaft, sind  ihrer  Entstehung  und  Bestrebung  nach  harm- 
losere Gebilde  als  die  amerikanischen  Trusts  und  haben  nicht  eine 
das  ganze  Gewerbe  umfassende  Eigenschaft.  Andere  mit  weiter- 
gehenden Plänen,  wie  die  Tapetenindustrie-A.-G.,  haben  sich  nicht 
halten  können. 

Aus  der  Reihe  der  eigentlichen  Kartelle  sind  auch  die  I  n  - 
teressengemeinschaften  auszunehmen,  die  nur  einige  we- 
nige Firmen  zu  umschließen  pflegen.  Sie  haben  gar  nicht  den 
Willen,  einen  ganzen  Geschäftszweig  zusammenzufassen,  sondern 
dienen  einzelnen  Großunternehmern,  die  sich  minder  starke  Be- 
triebe nicht  bloß  der  eigenen,  sondern  auch  einer  ergänzenden  Pro- 
duktion durch  Austausch  von  Aktien  oder  Aufsichtsräten  lose  anglie- 
dern. Die  Mitglieder  schließen  unter  sich  den  Wettbewerb  aus  und 
verfolgen  auch  andere  Zwecke,  z.  B.  wenn  widerstrebende  Patent- 
schwierigkeiten zu  überwinden  sind  oder  eine  Arbeits-  oder  Absatz- 
verteilung durchgeführt  werden  soll.   Bekannt  sind  ähnliche  Gemein- 


ci8  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

Schäften,  die  Großbanken  mit  kleineren  Bankfirmen  vereinbart  haben, 
woraus  nicht  selten  Verschmelzungen  hervorgegangen  sind.  Von  den 
industriellen  dieser  Art  sei  die  von  Siem.ens  &  Halske  mit 
Schuckert  &  Bergmann  genannt,  ferner  die  der  Höchster  Farben- 
werke mit  Casella,  der  Badischen  Anilin-  und  Sodafabrik  mit  den 
Elberfelder  Farbwerken  und  der  A.-G.  für  Anilinfabrikation  und 
die  von  Griesheim  Elektron  mit  den  elektro-chemischen  Werken 
Bitterfeld. 

Die  eigentlichen  deutschen  Kartelle  werden  immer  nur  auf 
Zeit  verabredet,  weil  die  Teilhaber,  die  sehr  verschiedene  Persön- 
lichkeiten, sowohl  Privatunternehmer  als  auch  Direktoren  sind  und 
über  verschiedene  Kapitalkraft  verfügen,  nicht  zu  viel  von  ihrer 
individuellen  Selbständigkeit  preisgeben  wollen.  Man  band  sich 
anfangs  durch  Konventionalstrafen,  um  die  festgesetzten  Verkaufs- 
preise aufrecht  zu  erhalten,  oder  um  die  ausgemachte  Kontingen- 
tierung der  Produktion  nicht  zu  überschreiten.  Bald  fand  man 
eine  festere,  die  Freiheit  des  Einzelunternehmers  weit  mehr  be- 
schränkende Form  derart,  daß  man  das  Verkaufsgeschäft  von  der 
Erzeugung  loslöste,  eine  Verkaufsstelle  als  Aktiengesellschaft  oder 
Gesellschaft  m.  b.  H.  einrichtete,  die  die  Aufträge  der  Käufer  an- 
nahm und  erledigte.  Man  nannte  sie  Syndikat,  das  bis  191 4  bei 
vielen  großen,  wichtigen  Verbänden  die  Regel  wurde,  wenn  es  auch 
die  Mehrzahl  der  Kartelle  nicht  besitzt.  Die  bewährtesten  Syndikate 
sind  das  rheinisch-westfälische  für  Steinkohlen,  1893  gegründet,  das 
für  Kali  und  der  deutsche  Stahlwerks  verband. 

Der  Inhalt  der  Verträge  ist  beschränkt  bei  den  K  o  n  d  i  - 
t  i  o  n  s  -  und  Preiskartellen,  bei  denen  man  sich  nur  über 
Zahlungsbedingungen,  Bestellzeiten,  Musterberechnungen,  Kredite 
der  Kunden  usw.  geeinigt  hat.  Namentlich  in  der  Textilindustrie 
hat  diese  Form  Anklang  gefunden.  Die  Gebietskartelle,  z.B. 
in  der  Zementindustrie,  haben  die  Aufgabe,  den  Absatz  örtlich  von- 
einander abzugrenzen.  Sie  kommen  auch  als  internationale,  wie  bei 
dem  den  Weltmarkt  verteilenden  Schienenkartell,  vor,  die  zu 
engeren  Zusammenschlüssen,  schon  wegen  der  Zollpolitik  der  ein- 
zelnen Länder,  nicht  zu  gelangen  vermögen. 

Diese  letzteren  Arten  des  Zusammenschlusses  sind  auch  im 
Groß-  und  Kleinhandel  anwendbar,  die  beide  von  ihr,  wenn  auch 
nicht  ausgiebig,  Gebrauch  gemacht  haben. 

Die  Produktionskartelle,  die  wir  vor  allem  bei  den 
mineralischen  Rohstoffen  und  deren  Verarbeitung  zu  Halbfabri- 
katen antreffen,  lassen  die  Technik  und  die  bestehende  innere  Lei- 
tung   der    Unternehmungen   unangetastet.     Ihre    Aufgabe   ist,    die 


V.  Die  Industrie. 


519 


Erzeugung  je  nach  der  Marktlage  einzuschränken  oder  auszuweiten. 
Für  jedes  Werk  wird  die  oft  nicht  leicht  als  billig  zu  bemessenda 
Quote  der  Gesamterzeugung  festgelegt,  und  von  Zeit  zu  Zeit  findet 
eine  neue  Kontingentierung  statt,  die  nicht  überschritten  werden 
darf  und  deren  Menge  geliefert  werden  muß.  Die  Form  des  Syndi- 
kates ist  hier  die  passendste,  wenn  sie  auch  nicht  die  alleinige  ist. 
Der  Grund  des  Zusammenschlusses  ist  folgender:  Die  Großunter- 
nehmer überhaupt  haben  immer  den  künftigen  Bedarf  nach  ihren 
Produkten  abzuschätzen  und  sich  demgemäß  einzurichten.  Es  wird 
dies  ihnen  immer  schwieriger,  je  größer  der  Markt  wird.  Dazu 
kommt,  daß  jeder  mit  der  Konkurrenz  des  anderen  zu  rechnen  hat, 
die  alle  Preiskalkulationen  über  den  Haufen  werfen  kann.  In  dem 
Kartell  fällt  die  letztere  Gefahr  fort,  die  erstere  besteht  zwar 
weiter,  aber  wenn,  wie  bei  den  Syndikaten,  in  der  Verkaufsstelle 
ein  besonderes  Organ  Sachverständiger  zum  Studium  der  Konjunk- 
tur geschaffen  ist,  so  werden  auch  hier  manche  Irrungen  beseitigt 
werden.  Die  Produktion  wird  planvoller,  und  das  Geschäftsinter- 
esse, als  Motiv  Fehler  zu  vermeiden,  ist  gewahrt.  Doch  soll  man 
diese  günstige  Tatsache  nicht  überschätzen.  Denn  Deutschland 
hat  um  1900,  1907  und  191 3/1 4  einen  starken  Rückgang  des  Ge- 
schäftes erlebt  und  ihnen  vorausgehend  drei  Hochkonjunkturen. 
Der  industrielle  Zyklus  ist  also  durch  die  Kartelle  nicht  abgeändert 
worden.  Dies  scheint  darin  begründet  zu  sein,  daß  sie  bis  jetzt 
nur  einen  Teil  der  Produktion  umspannen,  daß  jedes  von  ihnen 
nur  für  seinen  Geschäftszweig  arbeiten  kann,  und  daß  die  unkar- 
telüerte  Internationalität  des  Wirtschaftslebens  doch  nur  mangel- 
haft zu  übersehen  ist.  Hingegen  wird  man  zugestehen,  daß  manche 
Kartelle  der  sprunghaften  Ausdehnung  und  Einengung  der  Güter- 
erzeugung entegengewirkt  haben,  ein  Ergebnis,  welches  die 
Jahresgewinne  auszugleichen  und  den  Durchschnittsstand  der  Pro- 
duktion zu  erhöhen  gestattete.  Die  dauernde  Betriebsmöglichkeit 
und  die  Konzentration  des  Absatzes  waren  Kostenersparungen  und 
zudem  von  sozialpolitischem  Wert. 

Wenn  die  Verbraucher  der  Kartellwaren  im  Wettbewerb  sind, 
so  pflegen  sie  sich  zu  überbieten.  Aus  dieser  Erfahrung  der  Be- 
troffenen ergibt  sich  das  Bestreben,  sich  ebenfalls  zu  vereinigen. 
Die  Glas-  und  Tonwarenfabrikanten  z.  B.  reagieren  gegen  die  che- 
mischen Industrien,  die  Maschinenfabrikanten  gegen  die  Stahl- 
werke.   So  zieht  ein  Kartell  das  andere  nach  sich. 

Die  Kartelle  entstehen  und  gedeihen  um  so  sicherer,  je  ge- 
ringerer die  Zahl  der  Konkurrenten  ist.  Im  Stahlwerkverband 
sind  nur  28  Mitglieder,  im  rheinisch-westfälischen  Kohlensyndikat 
schon  98,   das   daher  auf  weniger  Einhelligkeit   als  jener  zurück- 


C20  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

blicken  kann.  Die  Art  des  Produktes  beeinflußt  ebenfalls  die 
Kraft  des  Monopols,  Wenn  die  Hauptfundstätten  der  minerali- 
schen Rohstoffe  in  der  Hand  des  Verbandes  sind,  so  können 
Außenseiter  nur  bei  neuen  Erschließungen  erfolgreich  auftreten. 
Das  ist  selten,  und  das  Kartell  —  noch  schneller  der  Trust  —  wird 
als  Käufer  der  Gruben  bald  am  Platze  sein.  Auch  die  ersten  Ver- 
arbeiter  der  Rohstoffe  sind  leicht  zusammenzuhalten,  wie  die  Tho- 
maswerke es  gezeigt  haben.  Je  feiner  und  vielseitiger  die  Fabri- 
kation wird,  um  so  schwerer  ist  die  Kontingentierung  durchzu- 
führen, um  so  leichter  entsteht  eine  kartellfreie  Konkurrenz.  Die 
Verbände  werden  immer  lockerer,  je  weiter  sie  an  das  Fertig- 
fabrikat heranrücken,  bis  sie  bei  dem  letzten  Konsumenten  auf- 
hören. Die  Konsumvereine  müßten  sämtliche,  wenigstens  die  über- 
wiegende Mehrzahl  der  Konsumenten  erfassen,  was  nicht  denkbar 
ist,    wenn   sie    erfolgreich   gegen    die   Verkäufer   auftreten    wollten. 

Die  Ausbeutung  der  Abnehmer  ist  der  Haupteinwand  gegen 
den  Verband  der  Produzenten.  Sie  ist  nicht  immer  vorhanden,  da 
es  im  einzelnen  Falle  von  dem  Monopol  entschieden  wird,  ob  ge- 
ringerer Absatz  zu  erhöhtem  oder  größerer  zu  ermäßigtem  Preise 
das  Vorteilhaftere  ist.  Doch  ist  das  eine  willkürliche  Behandlung 
des  Marktes,  die  als  wechselreiche  dem  Interesse  der  Käufer  nicht 
entspricht.  Die  mangelnde  Selbsthilfe  der  Verbraucher  hat  die 
Anrufung  des  Staates  nahegelegt,  aber  was  von  ihm  im  einzelnen 
zu  verlangen  sei,  blieb  strittig.  Mit  Zivil-  oder  strafrechtlichen 
Eingriffen  vorzugehen,  hat  zu  keinem  Ergebnis  geführt  und  ist 
auch  verkehrt,  solange  man  die  Kartelle  an  sich  gutheißt,  was  sei- 
tens der  Mehrzahl  der  Theoretiker  und  Staatsmänner  der  Fall  war. 
Denn  vier  Lichtseiten  hat  die  Geschichte  der  letzten  zwei  Jahr- 
zehnte hervortreten  lassen:  Die  Krisenabmilderung,  die  Erhaltung 
manches  kleineren  Betriebes  gegenüber  dem  Aufsaugen  der  großen, 
die  Stärkung  des  eigenen  Landes  auf  dem  Weltmarkte  und  die 
regelmäßigere   Arbeiterbeschäftigung. 

Die  Festsetzung  der  Höchstpreise  bei  den  Kartellen  hielt  man 
vor  dem  Kriege  für  utopisch.  Während  desselben,  der  sogar  die 
Zwangskartelle  entstehen  ließ,  hat  man  mit  ihr  keine  durchweg 
guten  Erfahrungen  gemacht,  man  hat  aber  doch  erwiesen,  daß  sie 
wenigstens  bei  einer  geschlossenen  Volkswirtschaft  für  einfache 
Produkte  der  Großproduktion,  wie  Kohlen,  Roheisen,  Salz,  Kali, 
Gas,  Elektrizität,  möglich  ist.  Bei  freiem  nationalen  Verkehr 
würde  man  zu  gestaffelten  Preisen  greifen  müssen,  und  weil  man 
gegen  sie  verwaltungstechnische  Bedenken  hat,  betonte  man  den 
alten,  bisher  niemals  ernstlich  verwirklichten  Vorschlag,  der  Staat 
solle,  soweit  er  Besitzer  von  mineralischen  Naturschätzen  sei  oder 


V.  Die  Industrie. 


521 


werden   könne,    in    das    Kartell   eintreten   und    hier   zugunsten    der 
Volkswirtschaft  die  Preispolitik  beeinflussen. 


Wenn  in  den  Kartellen  das  individuelle  Unternehmertum 
unterdrückt  wird  und  ehemalige  selbständige  Geschäftsleute  nicht 
viel  mehr  als  Beamte  in  ihnen  sind,  so  ist  doch  von  dahin  bis  zum 
Sozialismus  ein  weiter  Weg.  Denn  der  Reinertragsstandpunkt  ist 
nicht  ausgeschaltet,  wird  nur  anders  vertreten  als  bisher,  indem 
wichtige  freie  Entscheidungen  einer  Zentrale  unterstellt  werden. 
Die  Kartelle  bringen  die  Unternehmer  einander  näher  und  können 
dadurch  zu  einer  Sozialverstärkung  den  Lohnarbeitern  gegenüber 
werden.  In  Nordamerika  ist  sie  von  den  Trusts  auch  ausgenutzt 
worden.  In  Deutschland  war  das  Syndikat  mit  seinen  fest  um- 
grenzten Aufgaben  wenig  zu  einem  solchen  Verhalten  geeignet.  Es 
sind  vielmehr  zu  diesem  Zwecke  besondere  Arbeitgebervereine 
entstanden,  die  nach  ersten  nur  geringen  Versuchen  in  den  sieb- 
ziger und  achtziger  Jahren  den  nach  Beseitigung  des  Sozialisten- 
gesetzes rasch  erstarkten  Gewerkschaften  gegenüber  mit  Abwehr- 
tnaßregeln  auftraten. 

1890  wurde  der  Gesamtverband  deutscher  Metallindustrieller 
gegründet.  Kleinere  Vereine  folgten.  Streiks  in  der  sächsischen 
Textilindustrie  führten  zu  umfassenden  Verständigungen  der  Ar- 
beitgeber um  1904,  und  seitdem  hat  sich  diese  Art  der  Unter- 
nehmerverbände rasch  über  das  ganze  Reich  ausgedehnt.  Bis  1900 
gibt  das  Reichsarbeitsblatt  die  Gründung  von  19  Reichs-,  58  Lan- 
des- und  Bezirks-  und  121  Ortsverbänden  an.  Die  drei  Jahre  1904, 
1906,  1907  bringen  38  der  ersten,  120  der  zweiten,  530  der  dritten 
Art.  Sie  sind  in  der  Hauptsache  beruflich  voneinander  abgeson- 
dert, einige  entfallen  auch  auf  Landwirtschaft,  Gärtnerei,  Fischerei, 
Handel,  Verkehr  und  freie  Berufe,  die  meisten  auf  die  Industrie. 
Die  Statistik  von  1913  zeigt  ein  weiteres  Anwachsen.  Es  gab  im 
ganzen  109  Reichs-,  494  Landes-  und  Bezirks-  und  2692  Ortsvereini- 
gungen, zu  denen  136  gemischte,  d.  h.  nicht  berufliche  hinzu- 
kamen. Ermittelt  wurde  eine  Mitgliedschaft  von  145  207  Unterneh- 
mern, die  es  mit  4641  361  Arbeitern  zu  tun  hatten,  eine  Summe, 
die  derjenigen  der  organisierten  Arbeiter  von  19 12  ungefähr  ent- 
spricht. 

Die  Aufgabe  dieser  Unternehmerverbände  ist  das  Zusammen- 
halten bei  Streitigkeiten  mit  der  Arbeiterschaft.  Das  wichtigste 
Kampfmittel  gegen  erhöhte  Ansprüche,  Streikdrohungen  und  aus- 
gebrochene teilweise  Ausstände  ist  die  Aussperrung,  an  der 
nach  vorschriftsmäßiger   Untersuchung   des   Streitfalles   und   sorg- 


C22  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

fältig  erwogenen  Beschlüssen  je  nach  der  Sachlage  die  Vereinsmit- 
glieder teilzunehmen  haben.  Mit  hohen  Konventionalstrafen  soll 
dem  Abfall  Einzelner  vorgebeugt  werden.  Es  wird  auch  die  „Ma- 
terialsperre" gegen  diese  gehandhabt,  d.  h.  vorher  verpflichtete 
Roh-  und  Hilfsstofflieferer  haben  den  Abtrünnigen  die  benötigten 
Waren  vorzuenthalten.  Die  Heranziehung  von  Ersatzleuten  wird 
der  Aussperrung  vorgezogen.  Daher  die  Arbeitsnachweise,  die  in 
friedlichen  Zeiten  auch  der  Arbeiterschaft  wertvoll  geworden  sind. 
Der  Zechenverband  von  Essen  besetzte  z.  B.  1913  284777  Stellen, 
der  der  Eisenindustrie  Hamburgs  59692.  1910  wurden  189  Arbeit- 
gebernachweise gezählt,  von  denen  die  meisten  auf  das  Textil-, 
Metall-  und  Baugewerbe  kamen.  Nach  dem  nicht  sehr  verbrei- 
teten Berliner  System  erhält  der  für  die  Arbeit  geeignet  Be- 
fundene einen  für  4  Wochen  geltenden,  zu  erneuernden  Arbeits- 
nachweisschein, mit  dessen  Vorlegung  er  sich  bei  den  Verbands- 
unternehmern nach  Stellung  umsieht.  Nach  dem  allgemeineren 
Hamburger  weist  die  Vermittlungsstelle,  die  über  den  Bedarf 
unterrichtet  ist,  die  offene  Stelle  dem  Arbeitsuchenden  an,  dessen 
Befähigung  aus  der  Personalkarte  ermittelt  ist.  Die  Unternehmer 
haben  auch  nach  dem  genossenschaftlichen  Prinzip  „alle  für  einen, 
einer  für  alle"  den  durch  willkürliche  Arbeitsunterbrechung  ent- 
standenen Schaden  abzumildern.  Dahin  gehören  die  bei  den 
Warenkäufem  durchgesetzte  Streikklausel,  nach  der  die  Lieferungs- 
fristen um  die  Streik-  oder  Aussperrungszeit  hinausgeschoben  wer- 
den, und  der  Kundenschutz,  demgemäß  die  nicht  im  Kampf  befind- 
lichen Werke  die  Kundschaft  der  Betroffenen  zu  befriedigen  ab- 
lehnen. Auch  Entschädigungen  werden  gezahlt,  wenn  nur  ein  Teil 
der  Arbeitgeber  stillegt,  sei  es,  daß  der  Verband  durch  Umlagen 
für  ihn  aufkommt,  sei  es,  daß  besondere  Versicherungsgesell- 
schaften begründet  werden. 

Von  1882— 1907  hat  die  Arbeiterschaft  in  der  Indu- 
strie von  64,04  bis  zu  76,340/0  aller  in  ihr  Beschäftigten  zugenom- 
men. Die  Ungelernten  wurden  1895  auf  24,73,  1907  3^3A^/<^)  die 
Gelernten  auf  46,11  und  43,790/0  ermittelt.  Der  soziale  Gegensatz 
gegen  den  Besitz  ist  demnach  verschärft  worden,  nur  gemildert 
durch  die  größere  Quote  des  Zwischengliedes  der  Angestellten,  die 
von  1882 — 1907  von  1,55  auf  6,010/0  stieg. 

Die  Lage  der  Lohnarbeiter  ist  andauernd  verbessert  worden, 
so  daß  die  Sozialisten  ihre  Lohnlehre  von  dem  natürlichen  Exi- 
stenzminimum nicht  aufrecht  erhalten  konnten.  Abgesehen  von  der 
Sozialversicherung  und  den  Löhnen  ist  die  Tatsache  auch  an  der 
abgekürzten  Arbeitszeit  meßbar.  Von  der  langen,  der  zwölf-  oder 
vierzehnstündigen  Arbeitszeit  um  1870  sind  nur  wenige  Ausnahmen 


V.  Die  Industrie. 


523 


Übrig  geblieben.  Die  Gesetzgebung  von  1891  zugunsten  der  Frauen 
wurde  oben  erwähnt.  1902  arbeiteten  53,30/0  von  813  560  Arbeite- 
rinnen weniger  als  10  Stunden,  10,69  9  Stunden  oder  weniger,  die 
übrigen  10 — 11.  In  solche  Gewerbe,  in  denen  durch  übermäßige 
Arbeitsdauer  die  Gesundheit  gefährdet  wird,  hat  der  Bundesrat 
gemäß  §  i2oe  der  Gewerbeordnung  auch  für  die  erwachsenen 
Männer  eingegriffen,  z.  B.  bei  den  Bäckereien,  Dampf mühlen, 
Steinbrüchen,  Bleihütten,  Akkumulatorenfabriken.  Die  Einzel- 
staaten, wie  Preußen,  Hessen,  Bayern,  haben  in  den  fiskalischen 
Werken  die  Stundenzahl  herabgesetzt.  Die  Gewerkschaften  haben 
den  Zehnstundentag,  wie  aus  den  Tarifverträgen  ersichtlich  ist, 
häufig,  man  glaubt  bis  zu  90 0/0,  erreicht.  Bau-  und  Holzarbeiter 
sind  meist  nur  9  oder  9I/2  Stunden  tätig,  die  Buchdrucker  öfters 
noch  unter  diesem  Satz.  Bei  der  allgemein  steigenden  Produkti- 
vität und  dem  guten  Warenabsatz  in  der  langen  Friedenszeit  ver- 
mochte die  Industrie  diese  Abkürzungen  ebenso  zu  ertragen  wie 
die  Lohnsteigerungen.  Daher  bildeten  sich  die  Arbeiter  ein,  sie 
könnten  ihre  Forderungen  immer  weiter  steigern.  Von  dem  „Mehr- 
wert", den  sie  keineswegs  allein  geschaffen  hatten 
und  der  ihnen  als  Raubvorstellung  in  die  Gehirne  eingemeißelt 
worden  war,  glaubten  sie  immer  weitere  Teile  beanspruchen  zu 
können.  Sie  hielten  es  für  selbstverständlich,  wozu  die  Theorie 
„des  Kapitals"  sie  verführt  hatte,  daß  immer  genügend  zu 
verteilen  da  sei,  während  doch  schließlich  der  Lohn  so  hoch 
und  die  Arbeitszeit  so  kurz  werden  können,  daß  nichts  mehr  für 
den  Unternehmer  übrig  bleibt,  selbst  wenn  der  Warenverkauf  ein 
glänzender  ist.  Das  Mehrwertsophisma  mußte  dann  auch  unter 
der  herabgesetzten  Produktivität  bei  dem  Kapital-  und  Rohstoff- 
mangel und  dem  unterbrochenen  Außenhandel  während  der  Revo- 
lution 19 18  eine  verhängnisvolle  Rolle  spielen.  Die  Arbeitszeit 
hätte  jetzt  verlängert  werden  müssen,  um  eine  Volksversorgung  zu 
ermöglichen.     Statt  dessen  wurde  sie  verkürzt. 

Im  Durchschnitt  von  15  Gewerbegruppen  hat  sich  von  1895 
der  Jahreslohn  nach  R.  Calwer  (Handel  und  Wandel  1900  und 
1901)  bis  1900  von  673  auf  795  Mark  gehoben.  Auf  die  einzelnen 
Gruppen  entfallen  folgende  Beträge  in  Mark,  wobei  der  Vergleich 
mit  dem  letzten  Jahre  nicht  ganz  einwandfrei  ist;  da  die  Lohn- 
nachweisung nach  einer  neuen  Methode  vorgenommen  wurde: 

(Tabelle  s.  folgende  Seite.) 

Hier  haben  wir  eine  Periode  großen  volkswirtschaftlichen  Auf- 
schwunges vor  uns,  wir  treffen  auf  eine  ähnliche  Entwicklung, 
wenn  wir  die  Untersuchung  auf  mehrere  Auf-  und  Niedergangs- 
zeiten  zugleich  erstrecken.    Der  sozialistische  Maurerverband  weist 


524 


V.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 


Gewerbegruppe 


1900 


1899 


1898 

1897 

1896 

1035 

Ioo6 

967 

961 

929 

910 

1020 

1014 

999 

888 

867 

854 

896 

845 

842 

871 

787 

815 

888 

844 

787 

824 

804 

795 

728 

710 

649 

727 

708 

682 

685 

650 

664 

636 

590 

560 

641 

628 

621 

633 

630 

617 

460 

439 

429 

1895 


Bergbau,  Hüttenwerke  usw. 

Maschinen 

Industrie  der  Leuchtstoffe  . 
Chemische  Industrie   .    .    . 

Metallindustrie 

Lederindustrie 

Polygraphisches  Gewerbe  . 
Verkehrsgewerbe  .... 
Holz-  und  Schnitzstoffe    . 

Papierindustrie 

Nahrungs-  und  Genußmittel 

Baugewerbe 

Textilindustrie 

Bekleidung 

Steine  und  Erden  .... 


1132       1 
1012        j 

988       ä 

929        j 

914 

895 


761 

744 
726 
682 
668 
641 
479 


1072 
982 
968 
906 
904 
874 
869 
829 

753 
727 
701 
655 
655 
638 
469 


924 
900 
890 

843 
816 
826 
820 

775 
664 

654 
623 

534 
609 
602 
411 


bei  190000  Maurern  von  1895  — 1905  eine  Erliöhung  von  236  Mark 
nach.  Die  Dresdener  Bank  (Die  wirtschaftlichen  Kräfte  Deutsch- 
lands 191 3)  gibt  diese  Tabelle: 


Jahr 

^rark 

Jahr 

Mark 

Schichtlohn     der     Steinkohlenbergarbeiter     ira 
Bezirk  Dortmund 

1890 

1882 
1888 
1883 
1887 
t88o 

3.98 

3.00 
3.50 
3,50 
3,00 

3-19 

1910 

1908 
1908 
1908 

1905 
1906 

5.37 

6,75 
5,85 
5.85 
5.00 
5.33 

Durchschnitts  tagelöhne 

für  Maurer  und  Zimmerer  in  Berlin  .    .    . 
„     Maler  in  Berlin 

,,     Installateure  in  Berlin 

„     Bautischler  in  Berlin 

Die  Arbeiter  bei  Krupp  in  Essen 

Nach  dem  Reichsarbeitsblatt  hat  sich  der  Durchschnittslolm 
der  Montanindustrie  Oberschlesiens  (Steinkohlen,  Erzgruben, 
Zink-,  Blei-,  Silberhütten,  Koksanstalten,  Zinderfabriken,  Darstel- 
lung von  Schwefel-  und  schwefliger  Säure)  so  verändert: 

Lohn  in  M. 

1887               589,39  1902  950.24 

1891                790,54  1905  1009,16 

1895               774,9^  1909  1146,22 

Wenn  auch  mit  der  zeitweise  sinkenden  Konjunktur  ein 
Rückschlag  nicht  ausbleiben  konnte,  so  blieb  das  gesteigerte  Ein- 
kommen doch  im  ganzen  behauptet,  wie  der  Stand  der  Volkswirt- 
schaft überhaupt,  um  dann  bei  neuen  guten  Zeiten  von  neuem  zu 
steigen.    Das  zeigt  auch  die  sächsische  Statistik: 


V.  Die  Industrie. 


525 


Durchschnittliche  Bergarb 

eiterlöhne 

Jahr 

in  Sachsen  in  M. 

Steinkohlen 

Braunkohlen 

Erzbergwerk 

1902 

1084 

890 

806 

1903 

1093 

906 

790 

1904 

1094 

960 

801 

1905 

1128 

1005 

804 

1906 

1234 

1062 

818 

1907 

1341 

1117 

849 

1908 

1348 

1130 

865 

1909 

1327 

1164 

876 

1910 

1323 

1175 

893 

1911 

1363 

1215 

925 

K.  Helfferich  (Deutschlands  Wohlstand  1888— 191 5)  teilt 
mit,  daß  der  durchschnittliche  Nettolohn  der  Kohlenbergbau- 
arbeiter im  Oberbergamtsbezirk  Dortmund  1888  863  Mark,  191 2 
1586  Mark  betragen  habe.  Die  entsprechenden  Sätze  für  Ober- 
schlesien seien  516  und  1053  Mark.  Hierzu  kämen  noch  die  Aus- 
gaben für  die  Versicherung,  die  204  Mark  auf  den  Kopf  aus- 
machten. Über  den  Arbeitslohn  für  Arbeiter  über  21  Jahren  in 
Württemberg  sei  zur  Ergänzung  beigefügt: 


Königliche  Hütten- 
werke 

Königliche  Salinen 

Eisenbahnarbeiter 
überhaupt 

M. 

M. 

M. 

I90I 

947 

971 

927 

1905 

1134 

1120 

978 

1909 

1217 

1232 

"75 

I9I2 

1317 

1329 

1304 

Wie  die  Arbeiter  von  niederen  in  höhere  Lohnklassen  über- 
gegangen sind,  ersieht  man  aus  den  Mitteilungen  über  die 
Krankenkassenmitglieder  des  Allgemeinen  Knappschaftsvereins  zu 
Bochum : 


Verteilung  in  den  Lohnklassen  in  "/^ 
1,40 — 2,60  M.        2,61 — 3,80  M.    I    3,81  —  5,00  M.     5,01  bis  über  5,80  M. 


1900 

1905 
1909 


5.9 
6,7 
5.1 


17.7 
16,4 


24.4 
32,4 
21,4 


52,0 
44.5 
64.7 


Bei  einem  Vergleich  von  1900  und  1909  —  1905  herrschte 
eine  ungünstige  Konjunktur  —  sehen  wir  in  der  höchsten  Lohn- 
klasse eine  Zunahme  von    12,70/0   der  Mitglieder  und  dementspre- 


C26  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890— 19 14. 

chend  eine  Abnahme  in  den  drei  anderen.     Daneben  sei  eine  ba- 
dische Veröffentlichung  gegeben: 

Die   vom   Bezirksrat    gemäß    §    8    der   Krankenversicherungs- 
gesetzgebung  festgestellten   Tagelöhne   gewöhnlicher   Tagearbeiter 

in  Pfennigen: 

1884  1893  1902  1912 

130 — 250  150 — 230  170 — 270  180 — 370 

Für  Preußen  ist  von  G,  Neuhaus  in  der  Zeitschrift  des 
königlichen  statistischen  Büros  1904  für  die  ortsüblichen  Tage- 
löhne ein  ähnlicher  Nachweis  erbracht  worden. 

Die  vorgeführten  Lohnsätze  sind  nominelle,  daß  aber  auch 
der  Reallohn  in  die  Höhe  schnellte,  haben  zahlreiche  Vergleiche 
der  Ltihne  mit  den  Lebensmittelpreisen  ergeben.  Einige  An- 
gaben: Für  Berlin  hat  man  ermittelt,  daß  von  1894 — 1904  die  Er- 
höhung der  Löhne  doppelt  so  hoch  als  diejenige  der  Lebensmittel 
gewesen  ist.  R.  Calwer  bringt  1908  in  den  „Sozialistischen  Mo- 
natsheften", daß  der  Nominallohn  des  in  be ruf s genossenschaft- 
lichen Betrieben  beschäftigten  Vollarbeiters  seit  1895  ^"^  rund  35 
bis  380/0  gestiegen  sei,  das  Warenpreisniveau  um  250/0,  so  daß  fnan 
1 0/0  Steigerung  des  Reallohnes  von  Jahr  zu  Jahr  ansetzen  könne. 
Solchen  Zuwachs  können  nicht  viele  Staats-  und  Kommunalbeamte 
von  sich  behaupten. 

Die  Verbesserung  der  Lebenshaltung  durch  die  ganze  Ar- 
beiterklasse wird  mit  den  vorgeführten  Zahlen  nicht  annähernd 
zum  Ausdruck  gebracht.  Erstens  kommen  zu  dem  Lohn  alle  die- 
jenigen gesetzlichen  Versicherungsbeiträge,  die  nicht  aus  ihm,  son- 
dern von  anderen  Personen  bezahlt  werden;  zweitens  die  mancher- 
lei Leistungen  der  Gemeinde,  billige  Volksbäder  und  andere  unent- 
geltliche hygienische  Vorsorgen,  die  Abgabe  von  billigen  Nah- 
rungsmitteln, die  unentgeltliche  Volksschule;  drittens  die  im  Preis 
ermäßigten  Fahrgelegenheiten,  die  IV.  Wagenklasse,  die  Arbeiter- 
züge, die  Vorortabonnements;  viertens  der  Bau  von  Arbeiterwoh- 
nungen seitens  der  Gemeinde  und  gemeinnützigen  Baugenossen- 
schaften; fünftens  die  Leistungen  der  Privaten,  der  Vereine  — 
man  denke  an  Krupp  —  für  Wohnung,  Altersfürsorge,  Invalidität, 
Wöchnerinnen-,  Säuglingsheime,  Kindergärten,  Erholungsheime 
usw.;  sechstens  die  Entlastungen  bei  direkten  Steuern  und  anderen 
öffentlichen  Abgaben;  siebentens  die  abgekürzte  Arbeitszeit,  die 
gründlicherer    körperlicher   und    geistiger   Erholung    gleichkommt. 

Die  Verteilung  zwischen  Arbeit  und  Unternehmung  aus  deren 
gemeinsamen  Produkt  hat  R.  Calwer  untersucht  aus  Nachwei- 
sungen  der   gewerblichen   Berufsgenossenschaften   und   den   Rech- 


V.  Die  Industrie. 


527 


nungsergebnissen  deutscher  Aktiengesellschaften,  womit  die  sozial- 
demokratische Behauptung,  daß  der  Gewinn  den  Löwenanteil  an 
sich  reiße,  widerlegt  wird: 


1905 

Millionen  M. 

% 

1906 
Millionen   M.        % 

1907 
Millionen  M. 

0/ 
/o 

Lohnanteil 

Kapitalanteil 

4933.57 
1932.43 

71.9 
28,1 

5464,44 
2176,26 

71,2 

28,8 

6018,54 
2116,85 

74.0 
26,0 

Zusammen 

6866,00 

100,0 

7640,70 

100,0 

8135.39 

100,0 

Die  zehn  Gewerbegruppen,  für  welche  er  die  Untersuchungen 
vornahm,  ergeben  im  einzelnen  folgendes  Bild: 


Lohnanteil 

Kapitalantei 

1905 

1906 

1907 

1905 

1906 

1907 

Chemische  Industrie.    . 

60,2 

59.6 

59,0 

39,8 

40,4 

41,0 

Papiergewerbe  .... 

66,3 

65,9 

63,9 

33.7 

34.1 

36,1 

Textilgewerbe   .... 

73.1 

72,4 

70,7 

26,9 

27,6 

29.3 

Ledergewerbe    .... 

69.9 

68,3 

73.0 

30,1 

31,7 

27,0 

Verkehrsgewerbe  .     .    . 

67,7 

68,7 

74.4 

32,3 

31.3 

25,6 

Holz-  und  Schnitzstoffe 

71,2 

69,0 

74.6 

28,8 

31,0 

25.4 

Steine  und  Erden     .    . 

76.7 

73.0 

75,2 

23.3 

27,0 

24,8 

Maschinenindustrie    .     . 

76,0 

74>4 

75,9 

24,0 

25,6 

24,1 

Metallverarbeitung    .    . 

78,0 

74,8 

76,8 

22,0 

25,2 

23.2 

Montanindustrie    .    .    . 

73.1 

72,3 

76,9 

26,9 

27,7 

23.1 

Die  vorgeführten  Jahre  sind  solche  sehr  günstiger  Konjunktur, 
in  der  das  Plus  an  Einkommen,  umgekehrt  wie  die  Marx  sehe 
Verelendungstheorie  es  behauptet,  keineswegs  nur  in  die  Tasche 
der  Arbeitgeber  geflossen  ist.  Die  Nachfrage  nach  Arbeit  war  dem 
Angebot  dauernd  voraus,  und  von  einem  Druck  der  „industriellen 
Reservearmee"  ließ  sich  nicht  sprechen.  Vielmehr  mußte  die  In- 
dustrie, wie  schon  erwähnt,  noch  Ausländer  aus  Rußland,  Öster- 
reich, Italien,  Belgien  und  den  Niederlanden  heranziehen,  die  sich 
auf  Hunderttausende  beliefen. 

Die  Gewerkschaften  haben  bei  der  Erhöhung  der  Le- 
benshaltung der  Lohnarbeiter  mitgeholfen,  sei  es,  daß  der  Anteil 
am  Produktionsertrag  gesteigert,  sei  es,  daß  ein  Ausgleich  der 
Löhne  in  demselben  Gewerbe  durchgesetzt  wurde.  Wir  haben  sie 
oben  bis  nach  der  Aufhebung  des  Sozialistengesetzes  geschildert. 
Für  die  freien,  d.  h.  unter  der  Sozialdemokratie  stehenden,  wird 
1891  die  Mitgliederzahl  auf  277659  angegeben,  1900  auf  680427, 
1912  auf  2  553  162.  Die  Hirsch-Dunckerschen  vermehrten  sich  in 
der  ganzen  Periode  von  65  588  auf  109  225  Teilnehmer.  Zu  diesen 
beiden  Gruppen  sind  um  die  Mitte  der  neunziger  Jahre  verschieden- 
artige  Christliche   Gewerkschaften   hinzugekommen,   die   sich    1899 


C28  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 19 14. 

auf  ihrem  ersten  gemeinsamen  Kongreß  interkonfessionell  einigten. 
Ihrem  Programm  gemäß  gehören  sie  zu  keiner  politischen  Partei, 
erstreben  Hebung  der  Mitglieder  auch  auf  geistigem  und  mora- 
lischem Gebiete  und  eine  von  dem  Christentum  getragene  Versöhn- 
lichkeit den  Arbeitgebern  gegenüber.  Der  Ausstand  soll  nur  als 
letztes  Mittel  bei  berechtigten  Forderungen  gebraucht  werden,  der 
friedliche  Vergleich  wird  vorgezogen.  Sie  erkennen  die  geschicht- 
lich gegebene  Gesellschaft  und  das  vaterländische  Gesamtinteresse 
über  den  Klassen  an.  1900  zählten  sie  76744,  191 2  schon  344687. 
Neben  ihnen  bestehen  besondere  katholische  Gesellschaften,  die 
nicht  sozialprinzipielle,  sondern  konfessionelle  Anschauungen  von 
den  übrigen  christlichen  Gewerkvereinen  abtrennen.  Politisch  stan- 
den sie  dem  Zentrum  nahe.  Weiter  gibt  es  noch  die  wirtschafts- 
friedlichen Verbände,  die  den  Ausstand  ablehnen,  eine  Organisation 
jedoch  für  nötig  halten,  da  sie  durch  den  Ausstand  anderer  oder 
die  Aussperrung  ihre  Arbeit  verlieren  können  und  daher  auf  eine 
Unterstützung  eventuell  unter  dem  Beistand  der  Arbeitgeber  be- 
dacht sein  wollen.  Neben  diesen  „gelben  Gewerkschaften",  die 
sich  1907  in  einem  Bunde  verschmolzen,  kennt  man  noch  isoliert 
stehende  vaterländische,  national  reichstreue  Arbeitervereine,  die 
außer  der  Verbesserung  der  Arbeitsbedingungen  politische  Ziele, 
insbesondere  di'^  Bekämpfung  der  Sozialdemokratie,  verfolgen. 
Diese  wirtschaftsfriedlichen  Vereine,  die  1907  59000,  19 12  231048, 
19 13  —  nach  Schätzung  —  300000  Genossen  zählten,  sind  ein 
Kuriosum,  das  aus  einer  Reaktion  gegen  die  Übertreibung  des 
Arbeiterklassenstandpunktes  entsprungen  ist  und  von  allen  übrigen 
Gewerkschaften  als  Verrätereinrichtung  befehdet  wurde. 

Noch  in  den  neunziger  Jahren  wurde  die  Meinung  gehört, 
daß  in  Deutschland  das  freie  Koalitionswesen  keinen  Boden  habe. 
Durch  die  staatliche  Versicherung  sei  das  Interesse  an  ihm  erstickt 
worden.  Andere  schoben  die  damalige  Rückständigkeit  auf  die 
direkte  Abhängigkeit  von  den  politischen  Parteien,  wodurch  nicht 
bloß  Zersplitterung,  sondern  auch  Gegensatz  in  die  Verbände  hin- 
eingetragen worden  sei.  Solche  Bedenken  waren  191 2  längst  wider- 
legt, als  eine,  auf  Mitteilungen  der  internationalen  christlichen  Ge- 
werkschaftskommission beruhende  Statistik  bewies,  daß  kein  Land 
Deutschland  an  organisierten  Arbeitern  übertreffe.  Nach  dem  sta- 
tistischen Jahrbuch  für  das  Deutsche  Reich  wird  England  um  1/2, 
Frankreich  um  2,7,  die  nordamerikanische  Union  um  1,2  Millionen 
überholt. 

Wie  ist  dieser  auffallende  Fortschritt  seit  1892  zu  verstehen? 
Der  Zunahme  des  Großbetriebes  und  der  damit  verbundenen 
Massenansammlung  der  Arbeiter  wird  man  einen  ausschlaggebenden 


V.  Die  Industrie. 


529 


Einfluß  nicht  einräumen  können.  Denn  das  Verbandswesen  ist 
ebenso  über  die  Mittel-  und  Kleinbetriebe  verbreitet,  und  gerade 
von  den  Handwerksmeistern  wird  am  meisten  über  den  Terroris- 
mus der  koalierten  Gesellen  geklagt.  Eher  läßt  sich  der  vortreff- 
liche Aufbau  der  Verbände  als  Ursache  ihrer  raschen  Ausweitung 
begreifen.  Überall  ist  in  Deutschland  das  Wirtschaftsleben  organi- 
siert worden,  und  ein  Verein  lernte  von  dem  anderen.  Die  vielen 
Zwangsvereine  der  Arbeiterversichenmg  machten  den  Arbeitern 
das  Nutzbringende  der  Assoziation  recht  anschaulich,  für  die  man 
um  so  eher  geneigt  war,  auch  pekuniär  beizusteuern,  als  die  Löhne 
hierfür  etwas  übrig  ließen.  Auch  die  Erstarkung  der  Arbeitgeber- 
vereine wirkte  zurück,  wie  diese  durch  die  Gewerkschaften  ange- 
regt worden  waren. 

Die  meisten  Gewerkschaften  sind  als  Berufsgemeinschaften 
über  ganz  Deutschland  einheitlich  verbreitet,  und  außerdem  werden 
sie  je  nach  ihrer  Richtung,  so  die  freien  durch  die  ,, Generalkom- 
mission", die  christlichen  durch  den  „Gesamtverband"  zusammen- 
gefaßt. Auch  dem  Ansporn  befähigter  Führer  —  in  der  General- 
kommission war  dessen  langjähriger  Vorsitzender  der  aus  dem 
Drechslerhandwerk  hervorgegangene,  auch  als  Schriftsteller  er- 
folgreiche, 191 4  beim  Kriegsausbruch  patriotisch  gesinnte  und 
fähige  Mann,  Karl  Legien,  zu  den  besten  zu  rechnen  —  wird 
man  einen  Anteil  an  dem  raschen  Vordringen  des  freien  Koalitions- 
gedankens zuschreiben  können.  Das  reiche  Kassenwesen  sorgte 
für  die  Erhaltung  des  Bestehenden.  Das  Vermögen  aller  Gewerk- 
schaften wurde  1891  auf  425845  Mark,  1912  auf  99956186  Mark 
berechnet,  bei  einer  Einnahme  von  94,9,  einer  Ausgabe  von  72,7 
Millionen  Mark.  Seit  1907  werden  bedeutende  Überschüsse  kapi- 
talistisch angelegt.  Die  Depositen  bei  deutschen  Großbanken  wur- 
den so  umfangreich,  daß  mehrere  von  diesen  in  der  Sorge  um 
Kündigung  und  in  dem  Wunsch  um  Vermehrung  sich  veranlaßt 
sahen,  diese  Kapitalmacht  der  Besitzlosen  dadurch  anzuerkennen, 
daß  sie  befriedigende  und  bindende  Erklärungen  über  das  Koa- 
litionsrecht ihrer  Angestellten  abzugeben  für  zeitgemäß  erachteten. 
Daß  der  Arbeitslohn  überhaupt  kapitalbildend  geworden  ist,  wird 
auch  aus  den  Sparkass  eneinlagen  wahrscheinlich  gemacht. 
Öffentliche  und  private  Sparkassen  gab  es  nach  einer,  wenn  auch 
nicht  ganz  einwandfreien  Statistik  im  Reich  (ohne  Braunschweig) 
um  1901  2715  mit  einem  Guthaben  der  Einleger  von  9I/2  Milliarden 
Mark,  191 2  3127  mit  18,6.  Zu  welcher  Quote  die  gewerblichen 
Arbeiter  beteiligt  sind,  konnte  nicht  ermittelt  werden,  daß  aber 
die  kleinen  Einzahlungen  sehr  bedeutend  sind,  wird  überall  hervor- 
gehoben, und  der  große  summierte   Betrag  der  kleinen  Einlagen 

A.  Sartorius  v.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        34 


530  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

Überhaupt  wird  dadurch  charakterisiert,  daß  in  wirtschaftlich  kri- 
tischen Zeiten  nur  mäßige  Gelder,  d.  h.  die  von  Geschäftsleuten 
gebrauchten,   abgehoben  werden. 

In  die  immer  feineren  und  allgemeineren  Organisationen  der 
Volkswirtschaft  gehört  der  Gewerkverein  als  ein  wichtiges  Stück 
und  Bindeglied  hinein,  um  den  kollektiven  oder  Tarifvertrag  immer 
mehr  zu  verwirklichen  und  schließlich  ein  dauerndes  Verständnis 
zwischen  den  Parteien  anzubahnen.  In  den  Tarifen  sind  Löhne, 
Arbeitszeit,  Bezahlung  für  Überstunden  und  für  Nacht-  und  Sonn- 
tagsarbeit, Lohnzahlungsfristen  imd  Arbeitsnachweise  festgelegt 
In  dem  Reichsarbeitsblatt  von  1907 — 19 12  ist  die  Zunahme  von 
5324  auf  12437  Tarifverträge  berichtet,  wobei  Doppelzählungen  als 
möglich  zugegeben  werden.  Die  hohe  Entwicklungstendenz  steht 
aber  außer  Zweifel.  Im  letztgenannten  Jahre  wurden  208  307  Be- 
triebe von  dieser  Einrichtung  erfaßt,  und  81,20/0  derselben  haben 
sich  Schlichtungs-  und  Einigungsämtern  unterworfen.  Auch  für 
die  Arbeitgeber  sind  die  Tarifabkommen  von  Wert,  wenn  sie  auf 
freier   Übereinkunft   beruhen   und  damit   Dauer   versprechen. 

Mit  dem  korporativen  Arbeitsvertrag  entsteht  die  Grundlage 
für  ein  neues  Arbeitsrecht.  Der  individuelle  Vertrag  verschwindet 
und  der  der  Gruppe  schreitet  vom  Ort  zu  weiteren  Bezirken  und 
schließlich  bis  zum  Reichsgebiet  für  ein  Gewerbe  fort.  Immer 
mehr  dehnt  sich  der  Inhalt  der  Abmachungen  auch  auf  Neben- 
fragen des  Arbeitsverhältnisses  aus.  Er  steht  unter  der  Macht  der 
Gewohnheit  und  drängt  auf  gesetzliche  Anerkennung  und  Ordnung 
—  wenn  nicht  Arbeiterrevolutionen  alles  mühsam  Geschaffene  hin- 
fällig machen  werden. 

Die  Ausstände  waren  freilich  damit  nicht  aus  der  Welt  ge- 
schafft. Ihre  Zahl  ist  immerhin  ziemlich  stabil  geblieben  trotz  der 
fortschreitenden  Industrialisierung.  Von  1904 — 1908  war  sie,  so- 
weit sie  beendigt  waren,  2242,  von  1909— 19 13  2170,  bei  476284 
bzw.  536522  Arbeitern.  In  der  ersten  Periode  wurden  117  627,  in 
der  zweiten  174  179  Arbeiter  ausgesperrt.  Sieht  man,  daß  für  den 
friedlichen  Ausgleich  noch  genug  zu  tun  ist,  so  ist  doch  hinzuzu- 
fügen, daß  die  friedlich  geschlichteten  Bewegungen  die  Kämpfe 
um  das  Doppelte  überwogen  haben. 

Die  Masse  der  Arbeiter  wird  nach  der  sozialistischen  Lehre 
als  eine  einheitliche  proletarische  ausgegeben.  In  Wahrheit  ist 
sie  differenziert  nach  gelernten  und  ungelernten,  Kopf-  und  Hand- 
arbeitern, Privatangestellten  und  kleinen  Beamten,  ferner  nach  Be- 
ruf, Sprachangehörigkeit  und  Lebensalter,  nach  organisierten  und 
unorganisierten.  1907  wurden  in  der  Industrie,  Handel  und  Ver- 
kehr   10,4    Millionen    Arbeiter    gezählt,    von    denen    über    vier    den 


V.  Die  Industrie. 


531 


Verbänden  angehörten.  Die  letztere  Gruppe  steht  also  noch  zu- 
rück, was  insofern  selbstverständlich  ist,  weil  man  in  ihr  von  jeher 
eine  Oberschicht  zu  sehen  gewohnt  ist.  Die  Gewerkvereine  sind 
eine  soziale  Auslese.  Sind  sie  einmal  gebildet,  werden  ihre 
Mitglieder  durch  zahlreiche  Wechselwirkungen  zusammengehalten 
und  werden  eine  Körperschaft,  die  sich,  um  sich  materiell  und 
geistig  zu  heben,  von  anderen  sozialen  Verbänden  und  von  außen- 
stehenden Einzelpersonen  absondert. 

Die  individuelle  Auslese  vollzieht  sich  innerhalb  der 
Arbeiterklasse  wie  in  der  Gesellschaft  überall.  Leute  von  Charakter 
und  Begabung  haben  immer  Aussicht,  vorwärts  zu  kommen.  Sie 
werden  Vorarbeiter  oder  mit  der  Aufsicht  betraut,  bisweilen  Ange- 
stellte in  der  Fabrik,  dem  Warenhaus  usw.  Andere,  die  sparsam 
sind,  erwerben  etwas  Landbesitz,  ein  Haus,  Effekten,  eine  Lebens- 
versicherung oder  ein  Sparkassenguthaben,  das  sie  einmal  nutz- 
bar machen  wollen.  Andere  wieder,  die  sich  Bildung  aneignen, 
reden  können,  politischen  Sinn  haben,  steigen  zum  Arbeiterführer, 
Gewerkschaftsbeamten,  Abgeordneten  herauf.  Bei  allen  ist,  soweit 
die  Lebenshaltung  entscheidet,  das  Ziel  diejenige  der  unteren  be- 
sitzenden Klasse.  Wie  diese  wollen  sie  äußerlich  auftreten,  woh- 
nen, ihre  freie  Zeit  verbringen,  ihre  Kinder  erziehen  und  sich  für 
das  Alter  sichern.  Proletarisch  ihr  Leben  zu  verbringen,  ist  kei- 
nem erwünscht.  In  allen  steckt  ein  Zug  des  bekämpften  Bour- 
geois. Alle,  denen  es  geglückt  ist,  nach  oben  zu  gelangen,  tragen 
den  Zug  des  Sozialkonservativen  in  sich,  da  sie  etwas  zu  behaupten 
haben,  das  mit  Mühe  erworben  worden  ist.  Für  gewaltsamen  Um- 
sturz schwärmen  sie  nicht.  Die  Unruhestifter  und  Radikalen  sind 
andere  Leute,  solche,  denen  das  Leben  ein  Mißerfolg  war,  Kritik- 
lose, Fanatiker,  verführte  Jugendliche  und  das  Residuum  der  Ge- 
sellschaft. Den  gemäßigten  Sozialisten  war  die  deutsche  Revolution 
von  191 8  dauernd  gar  nicht  nach  dem  Herzen,  und  sie  machten 
daher  alsbald  Front  gegen  die  Unabhängigen  und  die  Spartakisten 
iind  Kommunisten. 

Die  sozialdemokratische  Partei,  die  in  früheren  Jahren  die 
Gewerkschaften  nur  als  Propagandavereine  gelten  lassen  wollte, 
hat  nicht  umhin  gekonnt,  deren  Selbstzweck  anzuerkennen  und  die 
soziale  Ethik  der  Organisation  ihnen  zuzugeben,  je  mehr  die  ganze 
Volkswirtschaft  von  dem  Individualismus  abrückte.  Daß  die  Ge- 
werkschaften eine  Mittelschicht  zwischen  Besitz  und  proletarischer 
Masse  darstellen,  konnte  sie  ebensowenig  bestreiten,  als  sie  die 
selbständige  Sozialpolitik  gutheißen  mußte,  die  jene  betrieben.  Sie 
konnte  die  Forderungen,  wie  z.  B.  auf  Bau-  und  Heimarbeiter- 
schutz,  Arbeitslosenfürsorge,    Gewerbeinspektion,    Ausdehnung   der 

34* 


C72  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 19 14. 

Sozialversicherung,  Lebensmittelpreisherabsetzung  nicht  für  nichts 
achten  und  die  Schaffung  von  Rechtsbüros,  Arbeitersekretariaten, 
Kinderschutzkomrnissionen,  Unterrichtskursen  nicht  ablehnen. 

Der  politische  Demokratismus  wurde  durch  die  Differenzie- 
rung der  Arbeiterklasse  in  Deutschland  zunächst  nicht  berührt, 
da  er  für  alle  lebensindividuellen  und  sozialen  Wünsche  dienstbar 
gemacht  werden  konnte.  Er  ist  ein  Kampfmittel  zu  mancherlei 
Zielen  von  jeher  gewesen,  wie  der  Liberalismus  seit  1789  recht 
deutlich  gelehrt  hat.  Selbstzweck,  um  dem  sogenannten,  undefinier- 
baren Volkswillen  zu  einer  dauernden  Führerschaft  zu  verhelfen, 
kann  er  nicht  sein.  In  keinem  Beispiel  im  großen  hat  die  Ge- 
schichte etwas  anderes  als  Majoritätsherrschaft  aufzuweisen.  Ist 
eine  Klasse  siegreich,  so  -behält  sie  vielleicht  den  Namen  der 
Demokratie  noch  bei.  Solange  sie  kämpft,  muß  sie  für  die  Gegen- 
wart arbeiten,  da  der  von  ihr  vertretene  Bürger  nur  das  versteht, 
was  augenblicklichen  Vorteil  bringt.  Hat  sie  die  politische  Macht 
inne,  muß  sie  sich  mit  dem  gesamtstaatlichen  Machtinteresse  iden- 
tifizieren, und  die  nationale  Zukunft  kann  ihr  nicht  mehr  gleich- 
gültig sein.  Der  Internationalismus,  den  sie  früher  auf  ihre  Fah- 
nen schrieb,  ist  ihr  jetzt  nur  so  viel  wert,  als  er  dem  eigenen  natio- 
nalen Dasein  einen  Nutzen  verheißt. 

VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  Das  ge- 
schilderte Vorwärtswollen  und  Vorwärtskommen  von  Landwirt- 
schaft und  Industrie  macht  es  verständlich,  daß  auch  Handel  und 
Transportverkehr  einen  ähnlichen  Gang  wie  •  diese  zurückgelegt 
haben.  Die  Zahlen  für  den  auswärtigen  Handel  sind  bereits  ge- 
geben worden,  hier  haben  wir  uns  sowohl  dem  binnenländischen 
Fortschritt  als  auch  den  Kräften,  Menschenmassen  und  sozialen 
Gruppen  zuzuwenden,  die  in  beiden  Richtungen  tätig  waren. 

Die  Berufszählung  faßte  unter  Handel  und  Verkehr  i.  das 
Handelsgewerbe  mit  10  Berufsarten,  2.  das  Versicherungsgewerbe 
mit  einer,  3.  das  Verkehrsgewerbe  mit  15,  4.  das  Gast-  und  Schank- 
gewerbe  mit  einer  zusammen.  Die  aus  Erwerbstätigen,  Dienenden 
und  Angehörigen  bestehende  Bevölkerung  der  ganzen  Summe  hat 
sich  in  den  uns  bekannten  Zeitabschnitten  wie  folgt  vermehrt: 

Bevölkerung  in        Auf  100  Einwohner   des  Reiches  ent- 
Jahr     Handel  und  Verkehr        fallen  auf  Handel  und  Verkehr 
1882  4  531  080  10,0 

1895  5966846  11,5 

1907  8278239  13,4 

Die  absolute  Zunahme  in  der  Industrie  mit  10,3  Millionen  in 
diesen  25  Jahren  wird  lange  nicht  erreicht,  die  relative,  d.  h.  die- 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport. 


533 


jenige  im  Verhältnis  zur  ersten  Grundzahl  ist  in  Handel  und  Ver- 
kehr überlegen.  Ferner,  während  sich  in  der  zweiten  Periode  die 
Reichsbevölkerung  um  19,220/0  vermehrt,  zeigt  das  Handelsgewerlpe 
eine  Erhöhung  von  26,69,  das  Verkehrsgewerbe  ohne  Post,  Tele- 
graphie,  Eisenbahnen  von  53,06,  das  Versicherungsgewerbe  von 
113,60,  die  Gast-  und  Schankwirtschaft  von  30,62,  die  Post,  Tele- 
graphie,  das  Eisenbahnwesen,  ausschließlich  der  Straßenbahnen, 
von  59,9.  Die  Statistik  von  1907  gewährt  uns  folgenden  Einblick 
in  die  Gliederung  der  Unterabteilungen  nach  Betriebsgrößen  (Ge- 
samtbetriebe als  Einheiten) : 


Betriebszähl 
Zahl 
der  Betriebe 

ung  in 
in  % 

Handel  und  Verkehr  190; 

In  den  Betrieben  tätige 

Personen 

in  % 

429639 

577429 
76379 

36,9 

49.6 

6,6 

429639 

I  178 551 

336387 

13,0 

Betriebe  bis  3  Personen    .     .    . 
mit  4  und  5          „         ... 

35,5 
10,2 

Kleinbetriebe  bis  5  Personen 

I  083  447 

93,1 

1944577 

58.7 

6 — 10  Personen  .    . 
II — 50         „           .    . 

48588 
28  199 

4.2 
2,4 

363587 
542354 

11,0 
16.3 

Mittelbetriebe .    .    . 

76787 

6,6 

905  941 

27,3 

51 —   200  Personen 
201  — 1000          „ 
über  1000          ,, 

2656 

380 

36 

0,3 

0,03 

0,003 

231  684 

136  190 

97658 

7,0 

4,1 
2,9 

Großbetriebe 

3072              0,33 

465  532 

14,0 

Wie  ungemein  der  Kleinbetrieb  überwiegt,  zeigt  sein  prozen- 
tualer Anteil  von  93,1  bzw.  der  beschäftigten  Personen  von  58,7. 
Die  Industrie  wird  mit  der  letzteren  Angabe  um  29,60/0  über- 
troffen. In  den  mittleren  Teilen  der  Industrie  ist  die  Betriebszahl 
prozentual  überlegen,  in  bezug  auf  die  Personen  überwiegt  Handel 
und  Verkehr.  In  den  Großbetrieben  ist  die  Industrie  prozentual 
über  viermal  so  stark,  und  während  die  Zahl  ihrer  tätigen  Per- 
sonen 47,7  ausmacht,  kommen  nur  14 0/0  auf  den  Handel  und  Ver- 
kehr. Es  gibt  548  Riesenbetriebe  mit  über  1000  Personen  in  der 
Industrie,  in  jenen  beiden  nur  36.  Wenn  der  Schwerpunkt  der 
Betriebs-  und  Personenzahl  bei  Handel  und  Verkehr  im  kleinen  und 
in  der  Mitte  liegt,  so  tritt  doch  die  Tendenz  zur  größeren  Unter- 
nehmung auch  hier  hervor,  wenn  auch  nicht  in  dem  Maße  als  bei 
der  Stoffverarbeitung. 

Die  Gruppenbildung  zwischen  Unternehmern  und  Arbeitern 
schließt  sich  an  das  Gesagte  an.  Die  Zahl  der  Selbständigen 
nahm  in  Handel  und  Verkehr  von  1882— 1907  von  44,60/0  auf  29,10 
ab,   die  Zahl  der  Arbeiter  von  46,310/0   auf   56,35,   die  der  Ange- 


CT^A  "VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890— 1914. 

Stellten  von  9,020/0  auf  14,55  zu.  In  der  Industrie  sind  die  beiden 
ersten  Richtungen  schärfer  ausgeprägt,  die  letztere  wird  bei  weitem 
nicht  erreicht.  Die  Ziffer  der  weiblich  industriell  Beschäftigten 
ist  nur  wenig  gestiegen,  in  Handel  und  Verkehr  dagegen  um  80/0. 
Die  Frauenarbeit  ist  hier  gut  am  Platze,  wie  bei  Verkäuferinnen, 
Bürofräulein,  Kassiererinnen,  Telephonistinnen,  Stenotypistinnen, 
Maschinenschreiberinnen  usw.  In  den  letzten  Jahren  vor  dem 
Kriege  finden  wir  sie  hier  und  da  auch  bei  den  Straßenbahnen. 

Eine  oben  gegebene  Statistik  gibt  uns  einen  Einblick  in  die 
Veränderung  des  Auslandsgeschäftes.  Für  das  inländische,  soweit 
es  sich  auf  die  im  Inland  hergestellten  Waren  erstreckt,  fehlen 
direkte  Ermittelungen.  Schätzungsweise  kann  man  vom  Volksein- 
kommen ausgehen,  das  für  1913  auf  40  Milliarden  berechnet  wurde. 
Da  es  die  Summe  wirtschaftlicher  Güter  ist,  die  der  Gesamtheit 
zum  unmittelbaren  Verbrauch  oder  zur  Ersparung  verfügbar  ist, 
die  ersparten  Werte  in  Waren  umgesetzt  werden  müssen,  um  nutz- 
bar gemacht  zu  werden,  und  da  dieser  direkte  und  indirekte  Ver- 
brauch im  gleichen  Jahre  auf  10,7  Milliarden  Mark  Auslandsgüter 
zu  stehen  kam,  müssen  etwa  30  Milliarden  durch  die  innere  Land- 
wirtschaft und  die  Industrie  zum  Verbrauch  produziert  worden 
sein.  Es  würde  also  ein  Verhältnis  von  3  :  i  zwischen  Inlands-  und 
Auslandsprodukt  bestehen.  1895  wurde  das  Volkseinkommen  auf 
22 — 25  Milliarden  veranschlagt,  die  Einfuhr  auf  4,2  ermittelt.  Es 
hätte  demnach  die  inländische  zur  ausländischen  Konsumtionsmenge 
wie  41/2  :  I  gestanden.  Deutschland  hätte  sich  demnach  seitdem 
verstärkt  in  die  Weltwirtschaft  einbezogen. 

Da  die  Eisenbahnstatistik  den  Güterverkehr  bei  dem  Versand 
nach  dem  Ausland,  dem  Empfang  von  dort  und  der  Durchfuhr  von 
Ausland  zu  Ausland  anschreibt,  außerdem  den  Inlandverkehr  zu- 
sammenfaßt, so  könnte  man  aus  diesem  Verkehr  einen  Schluß  für 
das  Verhältnis  von  Außen-  und  Binnengeschäft  zu  ziehen  suchen. 
Indessen  ist  ein  solcher  Vergleich  mit  Vorsicht  aufzunehmen,  da 
dieselben  Güter  bei  wiederholtem  Transport  oft  mehrmals  erschei- 
nen, mögen  sie  im  Handel  umgeschlagen  oder  weiterverarbeitet 
werden,  während  die  Auslandgüter  nur  einmal  in  Rechnung  gestellt 
werden.  Die  hergestellte  inländische  Gütermenge  ist  also  geringer, 
als  sie  im  Verkehr  hervortritt.  In  Tausend  Tonnen  belief  sich  der 
Inlandverkehr  1890  auf  128000,  1900  auf  225000,  191 1  auf 
367  000,  dem  der  ausländische  mit  23  000,  43  000  und  60  000  gegen- 
überstand. Dieses  Verhältnis,  das  den  Auslandsverkehr  auf  we- 
niger als  1/5  ansetzt,  verschiebt  sich  jedoch,  wenn  wir,  was  ge- 
boten ist,  den  Verkehr  auf  Flüssen  und  Kanälen  hinzuzurechnen, 
der  sich   191 1   auf  44000  für  das  Inland,  37000  für  das  Ausland 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  ^j^ 

bezifferte.  Man  kommt  dann  für  dieses  Jahr  zu  dem  Ergebnis,  daß 
der  inländische  Verkehr  viermal  so  stark  als  der  ausländische  ge- 
wesen ist,  was  auch  für  19  lo  und  1909  gilt. 

In  dieser  Erörterung  ist  nach  Mengen  und  nicht  nach  Werten 
gerechnet  worden.  Beachtet  man,  daß  wegen  des  Transportauf- 
wandes der  Auslandsverkehr  im  ganzen  höhere  Werte  in  ein  be- 
stimmtes Volumen  einschließt  als  der  inländische,  so  wird  man  ihm 
eine  entsprechend  höhere  Bedeutung  zuzumessen  haben  und  das 
genannte  Wertverhältnis  von  3  :  i  nicht  wesentlich  beanstanden, 
das  übrigens  für  1913  eingesetzt  wurde,  als  das  Auslandsgeschäft 
besonders  groß  war. 

Während  die  Gesetzgebung  für  den  auswärtigen  Handel  unter 
schweren  parlamentarischen  Kämpfen  und  gegenseitiger  Verärge- 
rung der  Klassen  und  Parteien  ins  Leben  trat,  vollzogen  sich  die 
Neuerungen  für  das  Binnengeschäft,  abgesehen  höchstens  von  der 
Börsen  reform,  viel  ruhiger.  Es  kam  nirgends  auf  prinzipielle  Um- 
gestaltungen, sondern  vor  allem  auf  die  Beschneidung  schädlicher 
Auswüchse,  die  unter  der  Gewerbefreiheit  hervorgeschossen  waren, 
an.  Dahin  gehört  das  Gesetz  von  1896  gegen  den  unlauteren  Wett- 
bewerb, das  dem  Publikum  einen  Schutz  gegen  die  mannigfaltigen, 
auf  Täuschung  hinzielenden  Praktiken  gewährt,  die  Herabwürdi- 
gung der  Konkurrenten  zu  verhindern  und  die  Geschäftsgeheim- 
nisse sicherzustellen  sucht.  Ferner  wurde  der  Handel  mit  Arznei- 
mitteln und  Giften  1901  einer  besonderen  Regelung  unterstellt,  die 
Bestimmungen  über  den  Wanderhandel  erhielten  Zusätze,  1894 
brachte  das  Gesetz  über  die  Abzahlungsgeschäfte  dem  Käufer  einige 
zivilrechtliche  Vorteile,  das  Gesetz  über  die  Handfeuerwaffen  legte 
dem  Handel  die  Verpflichtung  der  amtlichen  Prüfung  der  Läufe 
und  Verschlüsse  auf,  und  die  Margarinegesetze  von  1887  und  1897 
verlangten  die  ausdrückliche  Bezeichnung  der  Ware  als  Ersatz- 
mittel. 

Der  Groß-  und  der  Kleinhandel  unterwarfen  sich  in  den  letzten 
25  Jahren  immer  mehr  der  Spezialisierung.  Der  angewachsene 
nationale  und  Welthandel  in  Massengütern  mit  seinen  Preisbewe- 
gungen und  Überraschungen  verlangt  von  dem  Großhändler, 
daß  er  seine  ganze  spekulative  Findigkeit  einzelnen  Warenarten 
zuwendet.  So  gibt  es  ausschließliche  Einfuhrhändler  für  Kaffee, 
Baumwolle,  Kakao,  Gummi,  Guano,  Tabak,  Südfrüchte,  Tee,  Wein, 
Petroleum,  Getreide,  Holz  usw.  Der  Ausfuhrhändler  ist  vielseitig 
geblieben.  Er  versorgt  z.  B.  eine  süd-  oder  mittelamerikanische 
Stadt  mit  einer  großen  Liste  von  Gegenständen,  statt  daß  er  eine 
Sorte  an  vielen  Orten  verkauft.  Bei  der  Zerstreuung  des  Absatzes 
an    Fertigfabrikaten,    die    bei    ihrer    verschiedenen    Beschaffenheit 


C75  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 191 4. 

keinen  Weltmarktpreis  haben  können,  kommt  ihm  das  billiger  zu 
stehen.  Bei  der  Massenversorgnng  des  nordamerikanischen  und 
russischen  Wirtschaftsgebietes  gewinnt  jedoch  das  arbeitsteilige 
Verfahren  auch  bei  der  Ausfuhr  steigende  Bedeutung. 

Die  importierenden  Großhändler  befassen  sich  mit  der  Ver- 
teilung im  Inlande  in  der  Weise,  daß  sie  entweder  durch  einen 
Makler  am  Ort  oder  durch  Reisende  im  Binnenlande  die  Kund- 
schaft aufsuchen  lassen,  oder  daß  sie  die  gesamte  Ware  an  einen 
Kaufmann  abgeben,  der  aus  dem  Weitervertrieb  ein  Sondergeschäft 
macht.  Es  gibt  noch  Kaufleute,  die  zugleich  ein-  und  ausführen, 
aber  eine  Notwendigkeit  liegt  nur  ausnahmsweise  (s.  unten)  dafür 
vor,  da  der  Schiffstransport  ganz  von  ihnen  losgelöst  ist.  Es  sind 
oft  nur  solche,  die  zu  dem  börsenmäßigen  Handel  im  großen  nicht 
ausreichend  Kapital  haben  und  sich  mit  Geschäften  verschiedener 
Art  durchhelfen  müssen.  Die  Großhändler  lassen  ihre  Finanzie- 
rungen durch  die  Banken  besorgen.  Die  Zeit,  daß  sie  ihre  eigenen 
Bankiers  waren,  ist  längst  vorüber. 

Der  Kleinhandel  mit  den  Verbrauchern  ist  um  so  mehr 
gesondert,  je  größer  die  Stadt  ist,  in  der  der  Laden  gehalten  wird, 
am  auffallendsten  in  den  Hauptverkehrsstraßen,  während  an  der 
Peripherie  sich  noch  der  vielseitige  Kolonialwarenhändler  hält. 
Ist  ein  neues  Quartier  einer  Großstadt  ausgebaut,  so  erscheinen 
auch  hier  alsbald  die  Filialen  der  Spezialgeschäfte  mit  ihrer  Reich- 
haltigkeit an  einer  Warenart,  wie  Kaisers  Kaffee-  oder  Reichards 
Kakaogeschäft.  Die  privatwirtschaftliche  Kostenersparung  solcher 
Betriebe  liegt  in  der  Zentralisation  des  Einkaufs,  in  den  gesicherten 
Bezugsquellen,  in  der  Ausnutzung  der  Börsenkonjunktur,  der  Nach- 
teil darin,  daß  die  Filialenleiter  ohne  eigenes  Kapital  das  Detail- 
geschäft führen  und  die  höchste  Sorgfalt  des  Erwerbes,  wenn  auch 
Gewinnanteil  besteht,  und  damit  der  Versorgung  der  Konsumenten 
vermissen  lassen  können.  Der  spezialisierte  Kleinhandel  bringt  den 
Einkäufern  die  Mühe,  von  einem  Laden  zum  andern  wandern  zu 
müssen,  und  eine  Hausfrau  kann  den  halben  Morgen  damit  ver- 
lieren, „ihre  Kommissionen"  zu  machen. 

Diesem  Zeitverlust  begegnen  die  großen  Warenhäuser, 
die  in  Frankreich,  wie  Louvre  und  Bon  Marche,  zuerst  aufgekom- 
men sind  —  man  lese  E.  Zolas  Roman  „Au  Bonheur  des  Dames" 
—  und  die,  ohne  das  Prinzip  der  Arbeitsteilung  zu  verletzen,  viel- 
mehr unter  seiner  besonderen  Ausgestaltung  in  einem  Gebäude,  oft 
riesenhaften  Umfanges,  eine  Abteilung  Waren  an  die  andere  reihen. 
Das  Warenhaus  Wertheim  in  Berlin  hat  65  Warengruppen,  an 
deren  Spitze  je  ein  gutbezahlter  Chef  steht,  der  Spezialist  in  seiner 
Abteilung  sein  muß  und  für  eute  und  modernste  Beschaffenheit  der 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  ^^j 


von  ihm  auf  Rechnung  des  Hauses  eingekauften  Ware  und  raschen 
Umsatz  verantwortlich  gemacht  wird.  Das  Geschäftsinteresse  des 
selbständigen  Kleinhändlers  wird  hier  durch  die  Sorge  vor  der  Ent- 
lassung und  durch  Gewinnanteil  möglichst  wettgemacht.  Die  Vor- 
züge des  Großbetriebes  äußern  sich  in  der  Ausnutzung  des  Stock- 
werkbaues und  der  von  der  Straße  zum  großen  Teil  abgelegenen 
Verkaufsstellen,  während  der  Kleinbetreibende  das  Erdgeschoß  an 
der  Straßenfront  teuer  mieten  muß;  ferner  in  dem  regelmäßigen 
Einkauf  im  großen,  der  ausschließlichen  Beschäftigung  von  Fa- 
briken für  die  eine  Firma,  in  dem  gelegentlichen  Ankauf  ganzer 
Konkursmassen  zu  billigem  Preise,  in  dem  Ersparen  an  General- 
unkosten, in  der  Ausnutzung  des  Kredits,  in  dem  beschleunigten 
Kapitalumschlag,  der  in  dem  billigen,  raschen  Abstoßen  des  Ver- 
alteten sichtbar  wird.  Großer  Umsatz,  geringer  Gewinn  beim  ein- 
zelnen Verkauf,  bei  relativ  wenig  Kapital  als  Prinzip  der  Waren- 
häuser, das  unter  anderem  die  Barzahlung  der  Kunden  notwendig 
macht,  erinnern  an  die  Entstehungsgeschichte  der  meisten  dieser 
Unternehmungen,  die  mit  kleinen  Mitteln  anfingen  und  rasch  voran 
kamen. 

Die  alten  Kleinhändler,  die  erbitterten  Feinde  des  Waren- 
hauses, schrieben  deren  Anziehungskraft  gern  auf  die  Reklame,  auf 
die  zu  billige  und  daher  angeblich  schlechte  Ware,  die  Anlock- 
artikel, die  Zugaben,  die  Nebengeschäfte,  z.  B.  den  Verkauf  von 
Theater-,  Konzert-  imd  Eisenbahnbillets,  das  Restaurant  mit  Musik, 
in  dem  sich  die  Einkäufer  erholen  können.  Allein  für  die  Jahre 
nach  1900  ist  nicht  zuzugeben,  daß  die  angebotene  Ware  schlechter 
ist.  In  dem  Jahrzehnt  vorher  mag  etwas  Wahres  daran  gewesen 
sein,  eine  solche  Praxis  hatte  sich  nicht  bewährt.  Die  Auswahl  an 
Waren  einer  Gattung  ist  im  Warenhaus  oft  geringer,  aber  gerade 
in  der  Beschränkung  auf  bestimmte  Typen  liegt  eine  Kostenerspar- 
nis, Doch  bleibt  der  Mangel  an  Vielseitigkeit  eine  Schwäche  des 
Warenhauses,  die  Kleinhändler  mit  bedeutendem  Kapital  durch 
Anlage  größerer  Magazine  auch  auszunutzen  verstanden  haben. 

Der  alte  orientalische  Bazar  ist  etwas  anderes.  Er  entspricht 
der  Bauart  der  Städte  mit  engen  Straßen  —  wie  einst  „die  Bänke" 
in  der  mittelalterlichen  Kleinstadt  am  Dom  oder  auf  dem  Markt- 
platz —  und  dem  abgeschlossenen  Familienleben  der  Orientalen, 
das  keine  Raumvermietung  der  Wohnhäuser  zu  Geschäftszwecken 
duldet.  Er  kennt  nicht  die  Geschäftsspezialisierung;  ein  Händler 
mit  allem  Möglichen  ausgestattet,  das  bunt  durcheinander  gewür- 
felt ist,  wie  bei  einem  Althändler,  steht  in  heftiger  Konkurrenz 
neben  dem  andern.  Nur  in  den  Bazarstraßen  ist  ein  Ansatz  zur 
Gliederung   in   weitgespannten   Warenabteilungen    bemerkbar. 


e^xS  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 19 14. 

Die  Warenhäuser  sind  auf  die  Psychologie  des  großstädti- 
schen Publikums  zugeschnitten,  dessen  Einkommen  sehr  abgestuft 
ist.  Viele  wollen  nur  wenig  ausgeben  und  genieren  sich,  in  den 
Spezialgeschäften  als  arme  Schlucker  zu  erscheinen,  andere  lieben 
es  nicht,  daß  ihnen  eine  ganze  Kollektion  von  Gegenständen  vorge- 
führt wird,  weil  sie  dann  einen  Einkauf  nicht  gut  ablehnen  können. 
Im  Warenhaus  kann  man  sich  die  Ausstellung  unentgeltlich  ansehen, 
und  niemand  drängt  zum  Kaufen.  Der  Käufer  ist  nichts  anderes 
als  eine  Nummer  auf  der  Anschreibetabelle  an  der  Kasse,  wo  nur 
die  Priorität  berücksichtigt  wird  wie  am  Eisenbahnschalter.  Außer- 
dem wird  niemand  übervorteilt,  weil  er  wohlhabender  ist  als  ein 
anderer.  Das  Warenhaus  entspricht  dem  demokratischen  Gefühl 
der  Masse,  während  im  Kleinläden  bekannte  Kunden  rascher  be- 
dient und  Ortsfremde  geschädigt  werden  können. 

Eine  Reihe  großer  Häuser,  z.  B.  Tietz,  Knopf,  Barasch, 
Wronker,  Schmoller,  Menow  und  Waldschmidt,  Althoff,  beschränkt 
sich  nicht  auf  eine  Stadt,  sondern  besitzt  ausgedehnte  auswärtige 
Zweigniederlassungen,  denen  häufig  Familienglieder  vorstehen. 
Mancher  Gegenstand,  der  in  der  Residenz  nicht  mehr  verkäuflich 
ist,  wandert  in  die  Provinzialstadt,  was  dem  Gesamtbetrieb  zugute 
kommt.  Einzelne  Firmen  sind  in  Aktiengesellschaften  umgebildet 
worden.  Sie  alle  sind  von  Leuten,  meist  jüdischer  Herkunft,  ge- 
gründet worden,  die  im  Kleinhandel  aufgewachsen  waren  und  sich 
in  dem  Umwandlungsprozeß  der  Volkswirtschaft  unter  der  Ge- 
werbefreiheit rasch  zurecht  fanden. 

Die  Gesetzgebung  ist  ihnen  nicht  hold  gewesen,  und  die  Einzel- 
staaten, an  der  Spitze  Preußen,  haben  sie  mit  einer  hohen  Um- 
satzsteuer von  I — 2  0/0  zu  treffen  gesucht.  Das  hatte  zunächst  die 
Folge,  daß  ihre  Zahl,  die  1901  in  Preußen  109  betrug,  1903  nur 
noch  73  war.  Nach  dieser  Krise  kam  aber  ein  Aufstieg,  so  daß 
1908  die  alte  Ziffer  wieder  erreicht  worden  war.  Um  191 2  war  die 
Zahl  auf  121  gestiegen.  Die  Betriebstechnik  war  verbessert,  und 
die  Steuer  zum  Teil  auf  die  Lieferanten  übergewälzt  worden.  Die 
Gegner  der  Warenhäuser,  Kleinkaufleute,  die  nicht  vorankamen, 
Hausbesitzer  mit  leerstehenden  Läden,  Wirte  mit  schlechtem  Ge- 
schäft, verlangten  sogar,  daß  die  Baupolizei  den  Stockwerkbau 
wegen  angeblicher  Feuersgefahr  verböte,  und  daß  die  Erfrisch- 
ungsräume geschlossen  würden. 

Die  Klagen  der  kleinen  Ladenbesitzer,  besonders  im  Zentrum 
der  Stadt,  sind  daher  nicht  verstummt,  die  sich  gegen  alle  Groß- 
betriebe auch  anderer  Art  richten.  Die  großen  Spezialgeschäfte 
sind  schon  genannt  worden.  Neben  den  eigentlichen  Waren- 
häusern  gibt  es   die   Kaufhäuser,   besonders   im   Bekleidungs- 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  e^g 

und  Ausstattun gsgeschäft,  wie  Hertzog,  Gerson,  Israel  in  Berlin. 
Ferner  besteht  die  Konkurrenz  der  Versandhäuser,  die  den 
Laden  aufgegeben  haben,  und  aus  ihrem  großen  Lager,  meist  mit- 
tels der  Post,  an  die  Kunden  verschicken,  die  sie  durch  Kataloge 
und  Muster  gewonnen  haben.  Endlich  kommen  noch  die  großen 
Konsumvereine,  deren  Kraft  nicht  auf  dem  Kapital,  sondern 
in  der  Haftpflicht  der  vielen  Genossen  und  auf  dem  gesicherten 
Absatz  an  diese  unter  dem  System  der  Barzahlung  beruht.  Eine 
Überlegenheit  ist  ihnen  über  manche  Kleingeschäfte  nur  dann  ge- 
geben, wenn  sie  sich  an  bestimmte  Bevölkerungsschichten,  die  nicht 
zu  große  Ansprüche  machen,  wenden,  und  bei  solchen  Waren 
bleiben,  deren  sichere  Qualität  ohne  zu  große  Schwierigkeiten  in 
großer  Menge  zu  beziehen  ist,  wie  bei  Kolonialwaren,  mancherlei 
Lebensmitteln,  Seife,  Chemikalien,  Brennstoffen.  Die  meisten  sind, 
obwohl  sie  den  Unternehmergewinn  ablehnen,  nicht  billiger  als  die 
Kleinhändler,  bisweilen  sind  sie  teuerer,  weil  ihre  Organisation  auf 
vorzügliche  Leiter  rechnen  muß,  die  so  oft  fehlen.  Dennoch  er- 
freuen sie  sich  der  Blüte.  1899  gab  es  1373  Konsumvereine,  1907 
2006  mit  1037  613,  1912  21 18  mit  1753829  Mitgliedern.  Ihr  Um- 
satz ist  von  1907 — 191 1  von  306  auf  496  Millionen  Mark  gestiegen. 
Bei  weitem  die  meisten  sind  mit  beschränkter  Haftpflicht,  nur  126 
von  denen  des  Jahres  191 2  mit  unbeschränkter,  nur  5  mit  unbe- 
schränkter Nachschußpflicht.  Teilweise  wurde  ihre  Beliebtheit  auf 
das  System  der  Rückvergütung,  d.  h.  des  Kreditierens  und  des  Aus- 
zahlens  des  Rabatts  in  einem  größeren  Betrage  zurückgeführt, 
wichtiger  war  die  Einwirkung  parteipolitischer  Reklame,  nament- 
lich dort,  wo  die  Vereine  von  Sozialdemokraten  gegründet  worden 
waren.  Die  Gesetzgebung  ist  auch  dieser  Institution  wenig  geneigt 
gewesen,  wie  das  Verbot  des  Lebensmittelverkaufes  an  Nichtmit- 
glieder  bezeugt.  Sie  überhaupt  mit  einer  Gewerbesteuer  zu  treffen, 
obwohl  sie  keinen  offensichtlichen  Reinertrag  besitzen,  war  nicht 
ungerechtfertigt,  die  Forderung  ihrer  Gegner,  sie  mit  Sonderab- 
gaben zu  belasten,  ließ  sich  nicht  wohl  begründen. 

Es  war  naheliegend,  daß  der  dezentralisierte  Kleinhandel  den 
genossenschaftlichen  Gedanken  zum  Selbstschutz  aufnahm.  Es  blieb 
bei  Anfängen.  Einkaufsgenossenschaften  der  Kolonialwarenhändler 
sind  seit  1900  in  größerer  Zahl  entstanden,  daneben  werden  die 
Rabattsparvereine  genannt,  um  mit  den  Konsumvereinen  wetteifern 
zu  können. 

Wir  haben  oben  gesehen,  daß  die  Zahl  der  Kleingewerbe- 
treibenden im  Handel  noch  sehr  groß  ist.  Eine  Erdrückung  durch 
den  Großbetrieb  ist  also  nicht  vorhanden.  Man  könnte  eher  ihre 
Zahl  für  übertrieben  hoch  halten  und  das  Ausscheiden  der  kapital- 


CAQ  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 1914. 

schwachen  Zwergbetriebe  wünschen,  die  dem  ganzen  Stand  das  An- 
sehen nehmen  und  ihr  dürftiges,  unsicheres,  oft  unreelles  Geschäft 
nur  den  bequemen  Verbrauchern  verdanken,  die  von  der  Wohnung 
aus  den  nächsten  Kaufmann  am  liebsten  aufsuchen,  dessen  Arbeits- 
kraft so  oft  besser  als  zum  Umherstehen  im  Laden  volkswirtschaft- 
lich verwandt  werden  könnte. 

Bemerkt  sei  noch,  daß  der  stehende  Kleinhandel  von  den 
Hausierern  nicht  viel  zu  besorgen  hat.  Dieses  Gewerbe  ist  im 
Rückgang  begriffen.  In  Preußen  belief  sich  der  Steuerbetrag  vom 
Gewerbebetrieb  im  Umherziehen  1900/01  auf  2,9  Millionen  Mark  und 
191 1  auf  3,3,  welche  letztere  Summe  in  der  Periode  des  allgemeinen 
wirtschaftlichen  Aufschwunges  mehr  als  einen  Stillstand  dieser  Be- 
triebsweise veranschaulicht. 

In  der  hier  beschriebenen  Periode  hat  die  Zahl  der  Hand- 
lungsgehilfen zugleich  mit  der  der  größeren  Betriebe  zuge- 
nommen. Unter  den  Gehilfen  besteht  eine  weitgehende  Abstufung 
der  Beschäftigung.  Zwischen  einem  Disponenten  eines  kaufmän- 
nischen Großbetriebes  und  dem  Verkäufer  in  einem  kleinen  Laden 
ist  ein  gewaltiger  Unterschied.  Daher  ist  dieser  Benifsstand  eine 
ganz  einheitliche  soziale  Klasse  keineswegs,  obwohl  sich  nicht  ver- 
kennen läßt,  daß  sich  die  Tendenz  zur  Herabdrückung  der  Ge- 
hilfen auf  das  Niveau  von  Hilfskräften  durch  die  Vermechanisie- 
rung  kaufmännischer  Arbeiten  verfolgen  läßt.  In  diese  Richtung 
treiben  die  zunehmende  Verbreitung  der  Schreibmaschine,  die 
mannigfachen  Vereinfachungen  der  Kontoreinrichtungen,  die  stei- 
gende Anwendung  der  Kurzschrift  und  der  schematisierten  Buch- 
haltung. Das  ist  eine  Technik,  die  in  einem  halben  Jahre  erlernt 
werden  kann,  so  daß  sich  ihre  Beherrscher  schwerlich  den  aus- 
gebildeten Gehilfen  zurechnen  können.  Für  den  Anfang  der  acht- 
ziger Jahre  nahm  K.  Bücher  an,  daß  die  Aussicht  auf  Selbständig- 
machung  für  alle  Handelsgehilfen  nach  dem  30.  Lebensjahr  eine 
sehr  große  sei,  nach  den  umfangreichen  statistischen  Erhebungen  des 
deutschnationalen  Handlungsgehilfenverbandes  konnte  man  dies  für 
1908  nicht  mehr  behaupten.  Von  seinen  Mitgliedern  gelangten  in 
den  vorausgehenden  5  Jahren  nur  i — 2  0/0  zu  einer  selbständigen 
Stellung,  womit  übereinstimmt,  daß  der  Prozentsatz  der  älteren 
angestellten  Leute  erheblich  gewachsen  und  das  Heiratsalter  hin- 
ausgeschoben ist. 

Wir  haben  im  Anfang  dieses  Buches  in  der  Übersicht  über 
das  deutsche  Wirtschaftsleben  um  181 5  daruf  hingewiesen,  daß 
damals  die  Angestellten  und  Lehrlinge  im  Hause  des  Kaufmannes 
wohnten  und  ernährt  wurden.  Dieser  Zustand  ist  mehr  und  mehr 
verschwunden.    Aber  noch  1893  wurde  amtlich  ermittelt,  daß  45,1  0/0 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  c^I 

der  Ladenangestellten  bei  ihren  Prinzipalen  freie  Station  bezögen, 
wogegen  die  vorgenannte  Enquete  des  deutschnationalen  Verbandes 
für  alle  Gehilfen  nur  noch  10,720/0  feststellte.  Diese  Minderung 
wird  von  dem  Verbände  als  ein  soziales  Unglück  , nicht  betrachtet, 
im  Gegenteil,  er  hofft,  daß  die  Naturalentlohnung  ganz  verschwin- 
den werde,  und  begrüßt  es  als  einen  Fortschritt  zur  besseren 
Lebenshaltung,  daß  die  darauf  hinzielenden  Vorschläge  der  Kauf- 
leute von  den  Stellensuchenden  nach  Kräften  abgelehnt  werden. 
Denn  von  dem  ehemaligen  patriarchalischen  Zustande  mit  seiner 
sozialen  Pflicht  des  Arbeitgebers  sei  nur  noch  wenig  zu  spüren. 
Die  Klage  über  schlechtes  Essen  und  ungenügende  Wohnung  sei 
allgemein,  und  der  Kaufmann  sei  zur  Gewährung  der  freien. Station 
nur  bereit,  weil  er  an  Lohnkosten  zu  sparen  gedenke. 

Wie  bei  den  gewerblichen  Arbeitern,  so  sind  auch  die  Ein- 
kommen bei  den  Handlungsgehilfen  seit  1895  gestiegen,  bei  diesen 
jedoch,  wie  sich  aus  einer  Anzahl  von  Untersuchungen  ergibt,  nicht 
in  dem  Maße  wie  bei  jenen,  so  daß  sich  der  Lohn  nur  an  die  er- 
höhten Lebensmittelpreise  angepaßt  zu  haben  scheint.  Auch  sind 
über  lange  Arbeitszeit  und  lästige  Vertragsbedingungen,  wie  z.B. 
über  die  Konkurrenzklausel,  andauernd  Beschwerden  laut  gewor- 
den. Im  Kleinhandel  geht  es  den  Gehilfen  schlechter  als  im  Groß- 
handel. Beide  Berufe  gelten  von  Stellensuchern  als  überlaufen. 
Der  stärkste  Andrang  ist  in  dem  früher  und  leichter  zu  erlernen- 
den Kleinhandel. 

Von  je   100  Gehilfen  bezogen  ein  Einkommen: 

in  der  Industrie      im  Großhandel      im  Kleinhandel 
bis  zu  2000  M.  69,86  73.71  85.52 

über  2000  M.  30,14  26,29  14,48 

Die  wenig  günstige  Lage  dieser  Angestellten  und  Arbeiter 
wurde  um  1890  auch  aus  ihrem  unzureichenden  Verbandswesen  er- 
klärt, das  alles  in  allem  nach  M.  Quarck  100 000  Personen  um- 
faßt». Ein  erheblicher  Teil  davon  entfiel  auf  die  „kaufmännischen 
Vereine",  die  das  paritätische  Prinzip  vertreten,  also  auch  Prinzi- 
pale einschließen,  was  der  Stellenvermittlung  zugute  kommt.  Um 
1908  sind  weit  über  300000  organisierte  Mitglieder  gezählt  wor- 
den, von  denen  die  meisten  als  gewerkschaftlich  zu  gelten  haben. 
Der  Deutschnationale  Handlungsgehilfen  verband  wies  120  133,  der 
Verein  für  Handlungskommis  86  642,  der  Verband  deutscher  Hand- 
lungsgehilfen in  Leipzig  —  die  beiden  erstgenannten  haben  ihren 
Sitz  in  Hamburg  —  81  705  allein  nach.  Doch  war  auch  diese  Be- 
rufsvertretung im  Vergleich  zu  der  Gesamtzahl  der  Lohnempfänger 
noch    gering.     Der    Gedanke    des    Zusammenschlusses    hatte    viel 


e.A2  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 1914. 

langsamer  um  sich  gegriffen  als  in  der  Industrie,  da  der  Handel, 
besonders  der  Kleinhandel,  über  das  ganze  Land  dezentralisiert 
ist  und  der  Großbetrieb,  wie  oben  erwähnt,  wenn  er  auch  zunahm, 
nicht  so  wie  bei  jener  vorhanden  ist. 


Der  Warenhandel  ist,  wenn  nach  den  beschäftigten  Personen, 
nicht  nach  dem  umlaufenden  Kapital  gemessen  wird,  in  der  Sta- 
tistik von  1907  nur  in  1146  Fällen  Großbetrieb,  d.  h.  mit  über  50 
Beschäftigten.  Wie  viele  davon  auf  den  Großhandel  entfallen,  ist 
nicht  zu  ersehen.  Wir  können  zu  ihm  die  54  Händler  in  Getreide, 
Bau-  und  Nutzholz,  Metallen,  Häuten,  Fellen,  Leder,  Lumpen  und 
Knochen  rechnen.  Hingegen  werden  wir  den  Großbetrieb  mit 
verschiedenen  Waren,  ferner  mit  Bier,  Delikatessen,  Back-  und 
Konditorwaren,  Fleisch  und  Fleischwaren,  Schuhen,  Wäsche, 
Uhren  vornehmlich  dem  Detailhandel  anschreiben  müssen. 

Das  wichtigste  Großhändlertum  wird  man  in  den  mit  6  bis 
50  Personen  arbeitenden  Mittelbetrieben  zu  suchen  haben,  deren 
Zahl  für  den  ganzen  Warenhandel  42073  mit  483919  Personen  aus- 
machte. Der  Großhandel  mit  seinem  eigenen  Kapital  erleidet  einen 
Angriff  durch  die  Kommissionäre  und  Agenten  des  Fabrikanten,, 
die  den  Gewinnaufschlag  des  Kaufmanns  beseitigen  wollen.  Wenn 
dies  glückte,  würde  das  große  im  Handel  angelegte  Kapital  xüber- 
flüssig  und  könnte  in  der  Gütererzeugung  angelegt  werden.  Der 
Ersatz  durch  Beauftragte  wurde  durch  die  rasche  Umformung  der 
Technik  begünstigt.  Wenn  wir  z.  B.  erfahren,  daß  Automobile, 
Motorräder,  wertvolle  landwirtschaftliche  Maschinen  direkt  an  die 
Kunden  von  der  Fabrik  gelangen,  so  wird  das  daraus  begreiflich, 
daß  der  Kaufmann  die  Anhäufung  von  teueren,  rasch  unmodern 
werdenden  Gegenständen  scheut,  während  der  Agent  nichts  ris- 
kiert, zugleich  die  nicht  große  Käuferschicht  zu  übersehen  lernt. 
Er  eröffnet  in  der  Großstadt  den  Laden,  stellt  Arbeiter  für  Repara- 
turen an,  betreibt  Reklame,  versendet  Preisverzeichnisse  mit  Bil- 
dern. Anders  liegt  es,  wenn  Großbrauereien  ihr  Bier  in  selbst- 
gebauten Bierpalästen  ausschenken  lassen,  oder  wenn  sie  Wirte 
unter  Stundung  von  Zahlungen  und  Gewährung  von  Rabatten  nur 
ihr  Bier  zu  vertreiben  verpflichten.  Hier  ist  die  Ausschaltung  des 
Großhandels  sowohl  aus  ihrer  Kapitalkraft  als  auch  daraus  zu  ver- 
stehen, daß  eine  gut  geführte  Restauration  und  die  richtige  Be- 
handlung des  Getränkes  genügen,  die  Gäste  heranzuziehen. 

Auch  ein  nicht  geringer  Teil  des  überseeischen  Exportge- 
schäftes wird  heute  ohne  kaufmännische  Vermittlung  besorgt.  Die 
Verschiffung  der  Waren  war  noch  in  den  siebziger  Jahren  keine 
einfache  Sache.    Die  Umladung  von  der  Bahn  in  den  Hamburger 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  c^a 

Ewer  und  dann  an  Bord  des  aufzusuchenden  Seeschiffes,  eine  wei- 
tere am  Bestimmungshafen,  das  Aufsuchen  der  ausländischen  Kun- 
den, das  Eintreiben  und  Remittieren  der  Zahlung  erforderte  manche 
Spezialkenntnisse  und  Geschäftsverbindungen,  wie  sie  nur  der  Fach- 
mann besaß.  In  der  neuen  Zeit  hat  sich  manches  verändert.  Die 
deutsche  Industrie  hatte  Weltruf  bekommen,  und  ein  Hauptabsatz- 
gebiet wurden  die  Vereinigten  Staaten,  die  von  Weißen  bewohnten 
englischen  Kolonien,  die  großen  Plätze  in  Südamerika,  Westindien, 
Mexiko,  Ostindien,  Ostasien,  Australien.  Die  Dampfschiffverbin- 
dung dahin  ist  eine  häufige  und  regelmäßige  und  imstande,  jede 
Menge  aufzunehmen.  Die  Schiffsgesellschaften  besorgen  die  Ein- 
ladimg der  Frachtgüter  mit  Leichtigkeit,  indem  die  Bahnwagen  bis 
an  das  Schiff  heranfahren  und  der  Dampf-  oder  elektrische  Kran 
nur  eine  halbe  Drehung  zu  machen  hat,  um  die  Kollis  in  den 
Schiffsraum  zu  versenken.  Entsprechend  wird  im  Einfuhrhafen 
von  derselben  Gesellschaft  an  ihrem  eigenen  Quai  verfahren,  von 
dem  aus  die  Sendungen  auf  den  vielen  Bahnlinien  nach  ihrem  Be- 
stimmungsort rollen.  Um  die  direkte  Geschäftsverbindung  anzu- 
knüpfen, werden  massenhaft  Kataloge  an  auswärtige  Geschäfts- 
leute mit  der  Post  verschickt,  deren  Namen  aus  Adreßbüchern  er- 
mittelt werden,  oder  es  werden  Reisende  mit  Musterbüchern  und 
Koffern  auf  Monate,  selbst  auf  Jahre  ausgesandt,  oder  es  betei- 
ligen sich  die  Fabrikanten  an  Submissionen,  welche  fremde  Staaten 
oder  große  Privatuntemehmungen  ausschreiben,  etwa  bei  dem  An- 
kauf von  Rüstungs-  oder  Eisenbahnmaterial.  Unter  diesen  Um- 
ständen wird  das  Exportgeschäft  des  Kaufmannes  eingeschränkt, 
und  er  muß  Gegenden  aufsuchen,  wohin  die  Reisenden  nicht  vor- 
dringen, imd  wo  er  seine  Faktoreien  anlegt.  Die  Fabrikanten 
können  sich  nicht  darauf  einlassen,  viele  Warenarten  zu  vertreiben. 
Das  vielseitige  Geschäft  blieb  daher  noch  jenem  gewahrt.  Erleich- 
tert wurde  es  ihm  durch  die  Exportmusterlager,. Dauerausstellungen 
mit  fortlaufenden  Neuerungen,  im  Innern  Deutschlands  angelegt 
auf  den  Rat  von  H  u  b  e  r  zuerst  in  Stuttgart,  dann  in  Berlin,  Mün- 
chen, Karlsruhe,  Frankfurt  a.  M.  usw.,  weiter  auch  in  den  See- 
städten. Die  Einrichtimg  kommt  auch  anderen  Einkäufern  zugute, 
wie  ausländischen  Agenten  und  Kaufleuten.  Sie  dient  auch  dazu, 
fremde  Konsuln  und  Konkurrenten  über  die  deutsche  Leistungs- 
fähigkeit zu  unterrichten.  Im  Gegensatz  zu  den  Handelsmuseen, 
die  den  Fabrikanten  über  die  Bedürfnisse  der  einzelnen  Export- 
länder aufklären,  dienen  die  Exportmusterlager  auch  der  privaten 
Aufgabe  des  Geschäftsabschlusses. 

Der  Großhandel  setzt  Intelligenz  und  Energie  besonderer  Bil- 
dung voraus.    Er  blieb  dort  unentbehrlich,  wo  weitausschauende  spe- 


caa  vi.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

kulative  Unternehmungen  mit  großer  Selbstverantwortlichkeit  und 
raschem  Entschlüsse  einsetzen  müssen,  wo  der  häufige  Wechsel 
der  Konjunktur  unvermeidlich,  die  Kaufs-  und  Verkaufstechnik  in 
der  Umwälzung  begriffen  ist.  In  der  Einfuhr  von  Rohstoffen  und 
Lebensmitteln  ist  ihm  daher  noch  eine  große  Domäne  geblieben, 
obwohl  auch  hier  Einengungen  beginnen.  Es  ist  ihm  vielfach  ge- 
lungen, den  englischen  Zwischenhandel  zu  beseitigen  und  die  jungen 
Leute  zum  direkten  Verkehr  mit  Übersee  anzulernen.  Die  Hinaus- 
sendung der  Kommis  nach  London  und  Antwerpen,  um  dort  Kennt- 
nisse zu  gewinnen,  ist  nicht  mehr  üblich.  Um  die  Jahrhundert- 
wende wußten  ihre  Väter  ganz  wohl,  daß  sie  diese  Ausgabe  sparen 
konnten,  ließen  ihre  Söhne  lieber  in  die  Berlitzschule  gehen  und 
hielten  es  für  einen  Gewinn,  wenn  der  englische  Sportgeist,  der 
den  jungen  Kaufmann  in  London  einfing,  gebannt  blieb. 

Der  überseeische  Einfuhrhandel  zeigt  eine  Spezialisierung 
auch  nach  Empfangsorten.  Das  Hamburger  Kaffee-  und  das 
Bremer  Baumwollgeschäft  sind  bekannt.  Die  Getreideeinfuhr  wird 
für  West-  und  Süddeutschland  in  drei  Richtungen  zusammengefaßt. 
Zunächst  transportmäßig  auf  der  Wasserstraße  des  Rheins,  zwei- 
tens örtlich  in  den  Städten  Mannheim,  im  quantitativen  Abstand 
davon,  in  Duisburg,  Köln,  Frankfurt  a.  M.,  drittens  geschäftlich 
in  wenigen  kapitalkräftigen  Häusern,  von  denen  eins  in  Mann- 
heim alle  überragt.  Die  Konkurrenz  hat  hier  den  Gewinn  stark 
geschmälert,  so  daß  er  den  kleinen  Firmen  nicht  genügt,  und  durch 
die  Qualitätssonderung  sind  zur  Beurteilung  steigende  technische 
Ansprüche  erwachsen,  denen  nur  durch  Anstellung  sehr  tüchtiger 
und  daher  teuerer  Kräfte  entsprochen  werden  kann.  Die  gestiegene 
Bevölkerung  und  der  Wohlstand  in  den  Städten  verlangten,  daß 
enorme  Mengen  und  mancherlei  Getreidesorten  rasch  und  sicher 
zur  Hand  waren,  was  nur  durch  planmäßige  Versorgung,  wie  sie 
von  einzelnen  Mittelpunkten  ausgeht,  zu  erreichen  war.  Die  hoch- 
ausgebildete Rheinschiffahrt  und  die  großen  Mühlenwerke  ver- 
liehen diesem  wohlgegliederten  Ganzen  den  nötigen  Abschluß. 

Die  Einfuhr  von  industriellen  Rohstoffen  findet  nach  ver- 
schiedenen Methoden  statt.  Daß  das  erwähnte  Faktoreigeschäft 
der  Hansestädte  bei  seinen  hohen  Spesen  lohnend  sei,  ist  in  Ab- 
rede gestellt  worden.  Die  Niederlassung  hat  immerhin  den  Vorteil, 
das  tropische  Importgeschäft  von  Gummi,  Palmöl,  Palmkemen, 
Erdnüssen  in  die  Hand  zu  bekommen,  soweit  diese  Gegenstände 
von  den  eingeborenen  Sammlern  geliefert  werden.  In  den  deut- 
schen Kolonien  und  in  Mittelamerika  haben  Kaufleute  auch  Plan- 
tagen errichtet,  deren  Produkte  sie  ausführen. 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  ca^ 

Überblicken  wir  die  wichtigsten  Importgüter,  so  wird  die 
Baumwolle  aus  dem  nordamerikanischen  Süden,  aus  Ägypten  und 
Indien,  die  Wolle  aus  Argentinien,  Australien,  Südafrika  durch 
den  Handel  eingeführt.  Die  benötigten  auswärtigen  Metalle  hin- 
gegen werden  von  den  Industrien  meist  direkt  bezogen,  die  auch 
in  Nordspanien  und  Algier,  selbst  in  Frankreich  eigene  Bergwerke 
haben  oder  an  ihnen  beteiligt  sind.  Der  Kaffee  wird  durch  den 
deutschen  Kaufmann  eingebracht.  Der  Kakao  wird  zum  guten  Teil 
durch  Holländer,  die  Plantagen  in  Indien  besitzen,  den  deutschen 
Verkaufsstätten  zugeführt.  Ähnliches  gilt  vom  Tabak.  Ganz  aus- 
geschaltet ist  der  deutsche  Kaufmann  bei  dem  amerikanischen 
Petroleum.  Der  amerikanische  Öltrust  verfrachtet  selbst  nach  Eu- 
ropa, und  die  deutsch-amerikanische  Petroleumgesellschaft  ver- 
treibt die  Ware  mit  ihren  Tankwagen  zu  den  Kleinhändlern  und 
Verbrauchern  selbst  bis  aufs  Land.  Auch  der  Verkauf  des  Chile- 
salpeters ist  von  Chile  aus  einheitlich  geregelt.  Obst  und  Fleisch- 
waren aus  Nordamerika  finden  direkten  Absatz  bei  Kleinhändlern 
in  deutschen  Städten,  ebenso  die  italienischen  Südfrüchte,  die  z.  B. 
waggonweise  in  München  eintreffen.  Bei  den  Orangen,  die  auf 
dem  Seeweg  kommen,  ist  das  Konsignationssystem  sizilianischer 
und  spanischer  Exportware  üblich,  an  welches  sich  die  Auktion 
im  Importhafen  anschließt. 

Wollte  man  aus  diesen  Vorgängen  der  sich  umgestaltenden 
internationalen  Wirtschaft  unter  Einschränkung  des  Großhandels 
den  Schluß  ziehen,  daß  Hamburg  und  Bremen  zum  Rückschritt 
verurteilt  gewesen  wären,  würde  man  in  einem  Irrtum  befangen 
sein.  Man  wird  eher  das  Gegenteil  vermuten,  wenn  man  dem  Ge- 
danken der  befestigten  Weltwirtschaft  nachgeht,  in  die  von  Deutsch- 
land aus,  soweit  sie  überseeisch  ist,  die  Hansestädte  als  Tore  hin- 
einführen. Durch  beider  Reichtum  vermittelt  sich  die  rasch  an- 
wachsende Zahl  der  Seeschiffe,  die  Seeversicherung,  der  Schiffs- 
bau, die  Auswanderung,  der  Reisestrom  der  Amerikaner,  das  inter- 
nationale Finanzierungsgeschäft,  der  Bau  neuer  Hafenanlagen  und 
die  durch  die  Einfuhr  und  Ausfuhr  begünstigte  hafennahe  In- 
dustrie. 

Das  Anpassen  an  die  neue  Zeit  hat  den  Hanseaten  manches 
Kopfzerbrechen  gekostet.  Von  altersher  waren  die  Kaufleute  im 
überseeischen  Großhandel  der  erste  Stand  in  der  Gesellschaft,  der 
Fabrikant,  der  Händler,  der  sich  mit  den  Verbrauchern  abgab,  der 
Schiffsbauer,  der  Techniker,  der  Bauunternehmer,  der  Bankier 
selbst  wurden  von  ihnen  etwas  von  oben  angesehen.  Das  verschob 
sich  nicht  ohne  soziale  Mißhelligkeiten,  und  wenn  die  Alten  das 
Versinken  der  schönen  ehemaligen  vornehmen  Zeit  auch  beklagten, 

A.  Sartorius  v.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        o5 


1546  ^I    Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890— 19 14. 

die  junge  Generation  war  zu  praktisch  veranlagt,  um  das  Zugreifen 
zu  verpassen. 

Der  Großhandel  ist  mit  der  Produktenbörse  um  so 
mehr  verknüpft  worden,  je  größer  die  Massen  wurden,  die  über  die 
ganze  Volkswirtschaft  zur  rechten  Zeit  und  an  den  rechten  Ort 
verteilt  werden  mußten.  Die  alten  Märkte  mit  ihrem  Effektiv- 
handel in  Lebensmitteln  und  Rohstoffen  waren  auf  den  örtlichen 
oder  naheverkehrlichen  Absatz  eingestellt.  Mit  den  Eisenbahnen, 
den  Kanälen,  dem  größeren  Schiffsverkehr  wurde  es  möglich,  die 
gestiegene  Bevölkerung  des  ganzen  Landes  aus  der  Ferne  zu  ver- 
sorgen. Das  mußte  von  festen  Mittelpunkten  ausgehen,  und  die 
Qualität  der  Ware  war  sicherzustellen.  Mit  dem  Entstehen  der 
Großindustrie  bedurfte  z.  B.  der  BaumwoU-  oder  Wollspinner  einen 
Markt  mit  einheitlicher  Preisbildung  für  das  Gebiet  des  Zollvereins. 
Der  Geschäftsabschluß  im  großen  zur  Lieferung  in  Gegenwart  und 
Zukunft  wurde  nötig,  damit  die  Anfertigung  des  Garnes  ohne 
Unterbrechung  vorgenommen  werden  konnte.  Die  Waren  wurden 
von  ungezählten  Bauern,  Guts-  und  Plantagebesitzern  und  Berg- 
werken produziert,  dann  von  den  Kaufleuten  aufgesammelt,  ver- 
frachtet und  dem  Verbrauch  zugeführt.  Hätte  nun  alles,  was  nötig 
war,  auf  einem  Markte  aufgestapelt  werden  sollen,  wo  sich  die 
Käufer  die  Ware  aussuchen  konnten,  würde  dies  bei  den  großen 
Entfernungen,  welche  die  Waren  und  Käufer  zu  überwinden  ge- 
habt hätten,  allein  mit  bedeutenden  Kosten  und  Zeitverlusten  zu 
bewerkstelligen  gewesen  sein.  Die  Märkte  hätten  nur  von  Zeit  zu 
Zeit  stattfinden  dürfen,  da  sie  der  vollen  Auffüllung  bedurften, 
und  dann  hätten  die  Waren  von  hier  aus  erst  zur  Verarbeitungs- 
oder Verbrauchsstätte  geführt  werden  müssen.  Dieser  Schwierig- 
keit wird  dadurch  begegnet,  daß  täglich  zentralisiert  an  einem 
Orte  oder  auch  an  mehreren  Geschäftsabschlüsse  von  dort  ansäs- 
sigen Handelspersonen  für  eigene  oder  fremde  Rechnung  getätigt 
werden,  wobei  über  Waren  disponiert  wird,  die  sich  in  Speichern 
am  Ort,  auf  der  Bahn,  auf  dem  Schiffe,  in  irgend  einem  in-  oder 
ausländischen  Hafen  befinden,  worüber  sich  näheres,  wenn  un- 
sicher, telegraphisch  ermitteln  läßt.  Die  Preise  werden  festgestellt 
auf  Grund  der  Nachfrage  und  jedes  erreichbaren,  nahen  oder 
fernen,  gegenwärtigen  oder  künftigen  Angebots.  So  kann  stets  an 
irgend  einem  Ort  oder  an  irgend  einem  Zeitpunkte  geliefert  wer- 
den. Nun  kommt  es  darauf  an,  daß  sich  Käufer  und  Verkäufer 
über  die  Qualität  einigen,  die  nicht  vorgelegt  und  daher  nicht  be- 
gutachtet werden  kann.  Der  erstere  verlangt  Sicherheit,  daß  er 
auch  dasjenige  erhält,  was  ihm  versprochen  worden   ist.    Zu  dem 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  ca-j 

Zweck  mußte  die  Vertretbarkeit  der  Ware  ausgebildet  werden. 
Sie  beginnt  mit  dem  Handel  nach  Probe.  Die  Probe  wird  vorge- 
zeigt, und  der  Verkäufer  verpflichtet  sich,  die  Ware  demgemäß 
zu  liefern,  ohne  daß  er  an  irgendwelche  effektive  Bestände  ge- 
bunden ist.  Das  Geschäft  wird  nun  weiter  erleichtert,  wenn  an  den 
Produktionsorten  oder  in  den  Verschiffungshäfen  bestimmte  Typen 
hergestellt  werden,  auf  die  sich  der  Verkäufer  beziehen  kann.  So 
wird  z.  B.  in  Brasilien  jedes  Jahr  nach  der  Ernte  ein  Durch- 
schnittskaffee festgesetzt  —  Santos  good  average,  bestehend  aus 
2/g  superior,  ^/q  good,  i/g  regulär  Santoskaffee  — ,  der  in  der  gan- 
zen Welt  als  abstrakte  Ware  anerkannt  wird.  Andere  Sorten  blie- 
ben daneben  bestehen  und  werden  nach  Probe  gehandelt.  Bei 
dem  nordamerikanischen  Getreide  werden  in  den  Silos  die  einge- 
brachten Mengen  fachmännisch  behandelt  und  klassifiziert  und 
bleiben  dort  liegen,  bis  der  Besitzer  über  die  verfügbare  Quantität 
entscheidet.  Zum  Verkauf  genügt  die  Übergabe  eines  Zertifi- 
kates, in  Besitz  dessen  der  Käufer  nun  berechtigt  ist,  die  Ware 
abzunehmen  und  dorthin  verfrachten  zu  lassen,  wohin  es  ihm 
gefällt. 

Für  Waren,  die  am  Kaufort  vorhanden  sind,  und  sofort  über- 
geben und  bezahlt  werden  sollen,  dient  das  Kassageschäft  an  der 
Börse,  wo  die  genannten  Geschäfte  abgeschlossen  werden,  für  die 
in  Zukunft  zu  liefernden  und  abzunehmenden  das  Zeitgeschäft, 
das  als  Lieferungsgeschäft,  wobei  die  Frist  der  Nachlieferung  nicht 
ausgeschlossen  ist,  und  als  Fixgeschäft,  bei  dem  der  Verzug  nicht 
zulässig  ist,  zwei  Formen  besitzt.  In  dem  Streben  nach  Verein- 
fachung hat  sich  der  börsenmäßige  Terminhandel  als  vollendetste 
Form  ausgebildet.  Durch  Usancen  der  Börse  sind  wichtige  Teile 
des  Geschäftes  festgelegt  worden,  die  Vertretbarkeit,  die  Mengen- 
einheit, die  Lieferungsfrist  des  Fixgeschäftes,  die  Annahme  und 
Bezahlung  der  Ware.  Findet  die  Lieferung  nicht  statt,  so  kann 
der  Käufer  die  Ware  für  Rechnung  des  Gegenkontrahenten  kaufen 
oder  sich  die  Differenz  auszahlen  lassen;  will  der  Käufer  sie  nicht 
nehmen,  kann  er  sie  für  Rechnung  des  Verkäufers  veräußern, 
eventuell  auch  die  Differenz  bezahlen.  So  entstand  das  Differenz- 
geschäft, das  wirtschaftlich  berechtigt  ist,  aber  auch  zum  Spiel 
entarten  kann.  Im  Anschluß  an  den  Terminhandel  sind  unter  dem 
Prinzip  der  Arbeitsteilung,  wo  er  sich  in  großem  Umfange  ein- 
bürgerte, Liquidationskassen  geschaffen  worden,  die  beiden  Par- 
teien die  Abwicklung  ihrer  Verträge  garantieren.  Sie  gewannen 
besonders   in  Hamburg  für  den  Kaffeemarkt  Bedeutung. 

Die  Termingeschäfte  in  Waren  vollziehen  sich  an  den  Pro- 
duktenbörsen,  die   in   Deutschland   in   den   letzten   Jahrzehnten   an 

35* 


e^8  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

verschiedenen  Orten  entstanden  sind.  Der  Hauptmarkt  für  Zucker 
ist  Magdeburg,  für  Kaffee  und  Tabak  Hamburg,  für  Tabak,  Baum- 
wolle und  Reis  Bremen,  für  Getreide  Berlin  und  Mannheim,  für 
Kammzeug  Leipzig.  Außerdem  gibt  es  zahlreiche  allgemeine  Pro- 
duktenbörsen, an  denen  Getreide,  Mehl,  Hülsenfrüchte,  Kartoffeln, 
Ölsaat,  Spiritus,  Preßhefe,  Eier  u.  a.  m.  gehandelt  werden.  So  in 
Berlin,  Breslau,  Danzig,  Dresden,  Leipzig,  Frankfurt  a.  M.,  Königs- 
berg, Köln,  Stettin,  Stuttgart. 

Die  Effektenbörse  ist  in  früheren  Kapiteln  ihrer  Ent- 
stehung und  Weiterbildung  nach  geschildert  worden.  Hier  war  die 
Fungibilität  in  Gold-  und  Silberbarren,  in  fremden  Münzen,  Wech- 
seln, fremden  Banknoten,  Papiergeld  und  in  Effekten  von  vorn- 
herein gegeben.  Ein  Königsberger  Kapitalist  konnte  schon  im 
Anfang  des  19.  Jahrhunderts  in  Berlin  den  Auftrag  erteilen,  10 
Aktien  der  Seehandlungssozietät  zu  erwerben,  wobei  es  ihm  auf 
die  Nummern  der  Stücke  nicht  ankam.  Bei  den  Waren  mußte  die 
Vertretbarkeit  erst  mühesam  geschaffen  werden.  So  blieb  denn 
die  Warenbörse  noch  lange  rückständig,  als  die  Effektenbörse 
schon  ihre  berechtigten  und  unberechtigten  Triumphe  gefeiert  hatte. 

Der  Getreidemarkt  in  Berlin  z.  B.,  der  im  18.  Jahrhundert  nur 
aus  der  umgebenden  Provinz  versorgt  wurde,  zog  im  ersten  Drittel 
des  19.  Jahrhunderts  mit  der  Verdichtung  der  Bevölkerung  und 
Verbesserung  der  Wasserstraßen  die  östlichen  Provinzen  Schlesien, 
Posen  und  Westpreußen  heran,  deren  Verfrachter  den  Roggen  dem 
Händler  unter  Verkauf  des  Konnossements  überließen.  Mit  dem 
Bau  der  Eisenbahnen  wurde  das  Getreide  aus  weiterer  Entfernung 
zu  jeder  Jahreszeit  lieferbar.  Es  kam  der  Schlußzettel  auf,  der  die 
wichtigsten  Geschäftsbedingungen  enthielt.  Nach  und  nach  ent- 
standen feste  Gewohnheiten,  und  die  Geschäftsabschlüsse  fanden  'an 
einem  bestimmten  Ort,  der  Börse,  statt.  Als  nun  Deutschland  aus 
einem  Getreideexport-  ein  Importland  wurde  und  Hamburg  und 
Stettin  einen  großen  Teil  ihres  Getreidegeschäftes,  namentlich  jn 
Weizen,  einbüßten,  wurde  Berlin  immer  führender  im  Handel  des 
Roggens,  der  deutschen  Hauptfrucht,  nicht  bloß  für  die  deutsche, 
sondern  auch  für  die  europäische  Preisgestaltung  überhaupt,  bis 
das  Reichsbörsengesetz  von  1896  diesen  Aufschwung  zum  Stehen 
brachte. 

Die  rechtliche  Grundlage  aller  Arten  von  Börsen  war,  der 
Sondergesetzgebung  der  Einzelstaaten  entsprechend,  verschieden- 
artig. In  Preußen  mit  seiner  straffen  Staatsverwaltung  war  die 
Errichtung  von  der  Genehmigung  des  Handelsministers  abhängig. 
In  Leipzig  und  Hamburg,  wo  die  Kaufmannschaft  großen  Einfluß 
besaß,  hatten  die  Handelskammern  die  Oberaufsicht,  in  München 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  -40 

und  Dresden  dachte  man  liberal  und  gestattete  die  Börsen  als 
reine  Privatvereine.  Das  deutsche  Handelsgesetzbuch  hatte  kein 
einheitliches  Börsenrecht  gebracht.  So  blieben  die  Zustände  bis 
in  die  neunziger  Jahre  unverändert.  Ein  Umschlag  v^urde  zunächst 
dadurch  veranlaßt,  daß  mit  der  Hochkonjunktur  von  1888 — 1890 
und  der  sich  anschließenden  Krise  wiederum  viele  spekulative  Aus- 
schreitungen im  Effektenhandel  beklagt  wurden,  und  man  sich  die 
Vorgänge  der  siebziger  Jahre  lebhaft  vergegenwärtigte.  Die  nach- 
gewiesene Täuschung  des  Publikums  bei  Emmissionen,  der  Zu- 
sammenbruch von  Schwindelfirmen,  die  die  Börsenengagements  ver- 
mittelt hatten,  auffallende  Depotunterschlagungen  und  Bankerotte 
auch  besserer  Häuser,  das  verbreitete  Börsenspiel  auch  in  Pro- 
dukten veranlaßten  weite  Kreise,  ein  staatliches  Eingreifen  zu 
fordern,  freilich  ohne  daß  man  zulässige  Grenzen  und  brauchbare 
Mittel  zunächst  anzugeben  wußte. 

An  Angriffen  gegen  die  Börse  hatte  es  schon  früher  nicht  ge- 
fehlt, deren  man  sich  jetzt  entsann.  Der  Kongreß  deutscher  Land- 
wirte und  die  Steuer-  und  Wirtschaftsreformer  hatten  sie  zur 
Parteisache  gemacht  und  eine  hohe  Steuer  auf  Börsengeschäfte  be- 
fürwortet. Bald  nachher  fiel  das  Wort  des  Ministers  M  a  y  b  a  c  h 
jjvon  dem  Giftbaum  der  Börse".  Der  Abgeordnete  L  a  s  k  e  r  hatte 
die  Börse  „eine  Akademie  für  straflose  Umgehung  der  Gesetze" 
genannt,  und  sein  Gegenpart  Dr.  Strousberg  wurde  ebensooft 
zitiert:  „Die  Art,  wie  die  Börsenkurse  gemacht  und  notiert  werden, 
bietet  die  nötige  und  bezweckte  Handhabe  für  den  Betrug". 

Unter  dem  Optimismus  der  liberalen  Wirtschaftspolitik  ließ 
man  trotz  der  Mahnungen  alles  weitergehen,  und  auch  die  Einzel- 
staaten waren  dem  Reichseingriff  wenig  geneigt.  1881  brachte 
die  Bismarcksche  Finanzreform  den  Emmissions-  und  Umsatz- 
stempel, der  seine  Entstehung  dem  Geldmangel  des  Reiches  ver- 
dankte, wenn  er  auch  daneben  als  Gegenstück  zu  der  Belastung  des 
Grundbesitzüberganges  für  mobile  Werte  und  zur  Einschränkung 
der  Börsendifferenzgeschäfte  gefordert  wurde.  Die  Steuer  wurde 
in  den  nächsten  Jahren  umgestaltet  und  erhöht,  als  die  Finanznot 
weiter  zunahm.  Ein  neuer  Gegner  erwuchs  der  Börse,  speziell  der 
Produktenbörse,  in  dem  Bund  der  Landwirte,  der  in  seinem  Pro- 
gramm von  1893  verkündete:  „Schärfere  staatliche  Beaufsichtigung 
der  Produktenbörse,  um  eine  willkürliche,  Landwirtschaft  und  Kon- 
sum gleichmäßig  schädigende  Preisbildung  zu  verhindern".  Zur 
Begründung  war  u.  a.  auf  den  Hamburger  Zuckercorner  von  1888 
und  auf  den  „Zuckerkrach"  in  Magdeburg  von  1889  hingewiesen 
worden. 


ccQ  VI.  Abschnitt.     Die  "Zeit  von   1890 — 191 4. 

Die  Reichsregierung  verhielt  sich  jetzt  gegen  die  vielfach 
lautgewordenen  Wünsche  nicht  mehr  gleichgültig.  Schon  1892 
wurde  eine  Enquetekommission  eingesetzt,  die  dann  93  Sitzungen 
abhielt  und  in  den  stenographischen  Berichten  einen  wertvollen 
Stoff  zur  Beurteilung  veröffentlichte,  1895  folgte  die  Vorlage  und, 
nachdem  der  Reichstag  mehrere  einschneidende  Änderungen  durch- 
gesetzt hatte,  1896  das  Reichsbörsengesetz.  Seitdem  es  25  Jahre  in 
Kraft  ist,  wird  man  es  im  ganzen  bei  der  Schwierigkeit  der  großen 
Materie  für  eine  gelungene  Schöpfung  halten  dürfen,  wenn  auch 
unverkennbar  einige  Mißgriffe  gemacht  waren,  die  durch  die  No- 
velle von  1908  zum  größeren  Teile  beseitigt  worden  sind.  Es  hat 
eine  gleichmäßigere,  grundsätzliche  Ordnung  für  alle  deutschen 
Börsen  geschaffen  und  die  staatliche  Aufsicht  prinzipiell  gutge- 
heißen. Für  jede  Börse  ist  eine  Börsenordnung  zu  erlassen,  die 
der  Genehmigung  durch  die  Landesregierung  bedarf,  und  mit  der 
zugleich  bestimmte  Vorschriften,  z.  B.,  daß  die  Landwirtschaft 
und  die  Müllerei  im  Vorstand  der  Produktenbörse  Vertretung  ha- 
ben müssen,  verbunden  sind.  Die  Zusammensetzung  des  Verwal- 
tungsorgans, des  Börsen  Vorstandes,  wird  im  übrigen  den 
Börsen  selbst  überlassen,  so  daß  Zahl  und  Wahl  der  Mitglieder  in 
Deutschland  durchaus  verschieden  sind.  Unter  seiner  Aufsicht  wer- 
den die  Börsenkurse  festgestellt,  wobei  er  sich  der  beeidigten  privi- 
legierten, in  Gruppen  eingeteilten,  in  einer  Kammer  organisierten 
Kursmakler,  neben  denen  noch  andere  für  besondere  Bedürfnisse 
tätig  sind,  zu  bedienen  hat.  Es  ist  bestimmt  worden,  welche  Per- 
sonen vom  Börsenbesuch  ausgeschlossen  sind,  weibliche,  in  Zah- 
lungsunfähigkeit geratene,  wegen  Bankerottes  verurteilte,  solche, 
denen  die  bürgerlichen  Ehrenrechte  aberkannt  sind.  Gegen  die 
Einsetzung  eines  überwachenden  Staatskommissars  erhoben  die  Kauf- 
leute zuerst  heftigen  Widerspruch,  den  sie  später  fallen  ließen,  als  sich 
die  ihm  gewährten  Befugnisse  als  nicht  tiefgreifend  herausstellten. 
Um  so  mehr  widersetzten  sich  die  Mitglieder  der  Berliner  Pro- 
duktenbörse der  Zuziehung  von  Landwirten  in  den  Vorstand.  Sie 
sahen  darin  einen  Angriff  auf  ihre  Berufsselbständigkeit  und 
Standesehre  und  stellten  den  offiziellen  Börsenhandel  ein.  Der  Ver- 
such, einen  freien  Verkehr  ohne  Usancen,  amtliche  Preisnotierung, 
Makler  und  Schiedsgericht,  zum  Ersatz  zu  nehmen,  scheiterte 
an  dem  staatlichen  Verbot.  Die  Geschäfte  wurden  nun  von  Kontor 
zu  Kontor  abgeschlossen,  und  Berlin  büßte  damit  seine  Stellung 
als  Roggenweltmarkt  ein.  Erst  1900  wurde  die  Produktenbörse 
wieder  eröffnet,  nachdem  die  Wahl  der  landwirtschaftlichen  Vor- 
standsmitglieder aus  10  Kandidaten  des  Landesökonomiekollegium.s 
den  „Ältesten  der  Kaufmannschaft"  zugestanden  worden  war. 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  c  c  £ 

Die  an  der  Börse  vorgenommenen  Geschäfte  wurden  1896 
neuen  Normen  unterworfen.  Das  Emissionsgeschäft  oder 
die  Ausgabe  und  Unterbringung  von  Wertpapieren  hatte  mit  dem 
allgemeinen  Aufschwung  der  Volkswirtschaft  einen  entsprechenden 
Umfang  angenommen.  Der  ,, Deutsche  Ökonomist"  brachte  für  die 
Zeit  der  Börsenreform  folgende  Angaben: 


fahre 

Gesamtsumme  der 

Davon  ausländische 

Emissionen 

Papiere 

1895 

1374  Millionen  M. 

317  Millionen  M. 

1896 

1895 

568 

1897 

1944 

632 

1898 

2407 

709 

Das  waren  freilich  nicht  bloß  direkte  Kapitalneubildungen. 
Es  steckten  in  ihnen  auch  Konversionen  und  Umwandlungen  von 
Privat-  in  Aktienkapital,  und  auch  Ausländer  mochten  sich  gele- 
gentlich beteiligt  haben.  Andererseits  wurden  auch  in  Deutschland 
ersparte  Gelder  in  auswärtigen  Emissionen  zur  Anlage  gebracht, 
wobei  an  die  berüchtigten  englischen  Goldshares  und  an  amerika- 
nische, in  New  York  aufgelegte  Eisenbahnaktien  und  Obligationen 
erinnert  sein  mag.  Man  hat  für  die  Jahrhundertwende  angenom- 
men, daß  Deutschland  einen  jährlichen  Kapitalzuwachs  von  2 1/2  bis 
3  Milliarden  Mark  hätte,  von  dem  auf  die  Wertpapieranlage  min- 
destens I  Milliarde  entfallen  wäre. 

Die  zur  Emission  bestimmten  Effekten  müssen  ausdrücklich 
und  formell  zur  amtlichen  Notierung  zugelassen  werden.  Der 
Zweck  ist,  das  Publikum  vor  Übervorteilungen  zu  schützen,  das 
nicht  in  der  Lage  sei,  selbst  die  Werte  zu  beurteilen.  An  jeder 
Börse  ist  eine  kollegial  gegliederte  Zulassungsstelle  zu  errichten, 
an  der  keine  Personen  mitwirken  dürfen,  die  von  der  Ausgabe  ge- 
schäftliche Vorteile  erwarten.  Sie  kann  ohne  Angabe  von  Gründen 
die  „Kotierung"  verweigern,  auch  zugelassene  Papiere  wieder  aus- 
schließen. Für  Reichs-  und  deutsche  Staatsanleihen  gilt  sie  nicht. 
Der  Schutz  der  Erwerber  besteht  zunächst  in  den  formellen  Maß- 
regeln: I.  der  Vorlegung  der  urkundlichen  Unterlagen,  die  für  den 
Wert  der  Effekten  entscheidend  sind,  2.  der  öffentlichen  Bekannt- 
gabe aller  zur  Beurteilung  des  Papiers  wichtigen  rechtlichen  und 
tatsächlichen  Verhältnisse  in  einem  Prospekt.  Darüber  hinaus  geht 
die  nicht  leicht  zu  verwirklichende,  materielle  Bestimmung,  „Emis- 
sionen nicht  zu  gestatten,  durch  welche  erhebliche  allgemeine  In- 
teressen geschädigt  werden  oder  die  offenbar  zu  einer  Schädigung 
des  Publikums  führen".  Für  die  Richtigkeit  der  offiziellen  An- 
kündigung haben  die  Emittenten,  d.  h.  der  Kapitalsucher  und  die 


ec2  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

vermittelnden  Banken  zu  haften,  außerdem  ist  derjenige  strafbar 
—  da  der  Tatbestand  des  Betruges  oft  nicht  nachweisbar  ist  — , 
der  für  Mitteilungen  in  der  Presse,  durch  die  auf  den  Kurs  einge- 
wirkt werden  soll,  Vorteile  gewährt  oder  verspricht,  die  im  auf- 
fälligen Mißverhältnis  zu  der  Leistung  der  Reklame  stehen. 

Durch  die  Einrichtung  der  Zulassungsstelle  ist  auch  die  poli- 
tische Einwirkung  auf  die  Einführung  auswärtiger  Staatspapiere 
gesichert,  da  vor  der  Kotierung  die  Staatsregierung  benachrichtigt 
wird.  Das  wird  übrigens  nur  selten  von  Wichtigkeit  sein,  da  die 
Emissionsbanken  sich  meist  vorher  mit  dem  Auswärtigen  Amt  in 
Verbindung  gesetzt  haben  werden.  Eine  zielbewußte  nationale 
Wirtschafts-  und  auswärtige  Politik  läßt  sich  mit  der  Zulassung 
oder  Ablehnung  der  Auslandsanlagen  betreiben,  von  denen  übri- 
gens bei  der  dafür  nicht  ausreichenden  Befähigung  der  deutschen 
Diplomatie  nur  wenig  Gebrauch  gemacht  worden  ist. 

Mit  besonderer  Schärfe  wandte  sich  die  Börsengesetzgebung, 
um  das  Spiel  zu  beschränken,  gegen  die  Zeitgeschäfte.  Zunächst 
wird  dem  Bundesrat  ganz  allgemein  die  Befugnis  erteilt,  den 
Terminhandel  in  bestimmten  Waren  oder  Wertpapieren  zu  unter- 
sagen oder  von  Bedingungen  abhängig  zu  machen,  wovon  er  auch 
z.  B.  bei  dem  Kammzug  Gebrauch  gemacht  hat.  Ferner  ist  nur 
denjenigen  Personen  der  Terminhandel  mit  rechtlicher  Wirkung 
gestattet,  die  in  ein  öffentliches  Börsenregister  eingetragen  sind, 
wobei  man  hoffte,  alle  diejenigen  vom  Spiel  auszuschließen,  die 
sich  nicht  berufsmäßig  mit  solchen  Geschäften  befassen,  und  da 
niemand  von  diesen  Neigung  haben  werde,  sich  öffentlich  als 
Jobber  zu  legitimieren.  Außerdem  wurde  der  Terminhandel  in 
Getreide  und  Mühlenfabrikaten,  in  Anteilen  von  Bergwerks-  und 
Fabrikunternehmungen  und  anderen  Erwerbsunternehmungen,  de- 
ren Grundkapital  weniger  als  20  Millionen  Mark  beträgt,  gesetz- 
lich verboten.  Die  erstere  Vorschrift  erfolgte  auf  Andrängen  der 
Agrarier,  die  der  Baissespekulation  einen  unheilvollen  Preisdruck 
zuschrieben,  die  zweite,  weil  Industrielle  als  Börsenspekulanten 
die  Preise  ihrer  Waren  nach  der  Lage  ihrer  Börsenengagements 
zu  regeln  bemüht  gewesen  wären,  und  der  Kredit  von  Unterneh- 
mungen durch  Börsenmanöver  untergraben  werden  könnte. 

Diese  Gesetzgebung  hat,  wie  sich  bald  herausstellte,  ihre  Ziele 
nur  teilweise  erreicht.  Bei  der  Leichtigkeit,  mittels  des  Telegraphen 
und  Telephons  an  ausländischen  Börsen  Effekten  zu  handeln, 
haben  Spieler  and  Differenzmacher,  ohne  Registereintragung,  ge- 
nug Gelegenheit,  ihren  Neigungen  weiter  zu  fröhnen.  Außerdem 
wurden  Papiere  am  freien  Markt  gehandelt  und  hierbei  statt  des 
Ultimogeschäftes  das  Kassengeschäft  mit  der   Nebenabrede  abge- 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  ec^ 

schlössen,  daß  die  Zahlung  des  Kaufpreises  bis  ultimo  kreditiert 
sein  sollte,  wobei  der  Verkäufer  die  Effekten  als  Pfand  zurück- 
behielt (New  Yorker  System).  Endlich  konnten  in  das  Register 
eingetragene  Banken  und  Bankiers  für  ihre  Kunden  eintreten,  in 
der  Hoffnung,  daß  dieselben  sich  an  den  Auftrag  moralisch  ge- 
bunden halten  würden. 

Daß  sich  die  Börsenspekulanten  „mit  Aalesglätte"  den  gesetz- 
lichen Beschränkungen  entziehen  würden,  hatte  schon  B  i  s  m  a  r  c  k 
1885  bei  der  Beratung  einer  Börsensteuer  prophezeit.  Nun  machte 
man  die  Erfahrung.  Aber  es  ergab  sich,  daß  auch  volkswirtschaft- 
liche Nachteile  nicht  ausgeblieben  waren.  Ein  Teil  des  Effekten- 
geschäftes wanderte  nach  Amsterdam  und  London,  womit  Provi- 
sionen und  Kurtagen  den  dortigen  Banken  und  Maklern  zuflössen. 
Anlagen  in  Auslandskapital  neigten  zur  Übertreibung,  da  die  aus- 
wärtigen Börsen  den  deutschen  Käufern  entgegenkamen.  „Die 
Börse  ist",  sagte  schon  1870  Rodbertus,  „ein  kosmopolitisches 
Institut  und  kann  also  auch  wirksam,  nur  durch  die  Vereinigten 
Staaten  Europas  zugleich,  am  Kragen  gefaßt  werden".  Ein  Ausfall 
an  der  Stempelsteuer  blieb  der  Reichskasse  nicht  erspart.  Die  deut- 
schen Banken  waren  genötigt,  größere  Kassenbestände  zu  halten, 
da  die  Geschäfte  mehr  als  früher  Zug  um  Zug  erledigt  werden 
mußten,  womit  die  produktive  Verausgabung  des  Kapitals  geschmä- 
lert und  eine  Rückwirkung  auf  die  Steigerung  des  Zinsfußes  be- 
hauptet wurde. 

Eine  der  unerfreulichsten  Erscheinungen  war  die  durch  das 
Börsenregister  hervorgerufene  Verwirrung  der  Rechtsbegriffe.  Die 
Zahl  der  Eintragungen  blieb  gering.  1907  waren  in  ganz  Deutsch- 
land für  Wertpapiere  nur  201,  für  Waren  208  Personen  oder  Firmen 
angemeldet  worden.  Rechtlich  unzulässige  Verträge  wurden  zwi- 
schen der  ausführenden  Bank  und  dem  Kunden  abgeschlossen,  um 
Käufe  zu  ermöglichen.  Als  nun  bei  unglücklicher  Spekulation  sich 
gewissenlose  Leute  nicht  scheuten,  die  Zahlung  zu  verweigern,  weil 
einer  der  Kontrahenten  nicht  eingetragen  sei,  öfters  auch  Testa- 
mentsvollstrecker und  Konkursverwalter  es  für  ihre  Pflicht  hielten, 
schlechtverlaufene  Zeitgeschäfte  nicht  anzuerkennen,  mußte  die  un- 
entbehrliche Eigenschaft  des  Kaufmannes,  die  Verläßlichkeit  auf 
Treu  und  Glauben,  erschüttert  werden.  So  ist  es  denn  verständ- 
lich, daß  in  der  Neufassung  des  Börsen gesetzes  von  1908  das  Re- 
gister fallen  gelassen  wurde.  Die  Börsentermingeschäftsfähigkeit 
als  Bedingung  der  beiderseitigen  rechtlichen  Verbindlichkeit  wird 
den  in  das  Handelsregister  eingetragenen  Vollkaufleuten  und  einge- 
tragenen Genossenschaften  zugesprochen  und  solchen  Personen, 
die  berufsmäßig  Börsentermin-  und  Bankiergeschäfte  betreiben  und 


ecA  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   i8qo — 1914. 

an  einer  Börse  zugelassen  sind.  Das  Termingeschäft  in  Ge- 
treide und  Mühlenfabrikaten  blieb  aber  grundsätzlich  verboten. 
Ihm  wurde  die  Benachteiligung  der  Produzenten  durch  den  Preis- 
druck der  Blankoabgaben  weiter  nachgesagt.  Als  aber  dem  unter 
genauen  Nachweisen  entgegengehalten  wurde,  daß  diese  Verkäufe 
die  übertriebene  Hausse  mit  nachfolgender  Krise  zu  verhindern  im- 
stande sei,  und  der  Preissturz  bei  sinkender  Konjunktur  durch  Auf- 
käufe aufgehalten  werde,  fand  die  bisherige  strenge  Bestimmung 
bei  der  Regierung  und  der  Majorität  des  Reichstages  keine  Stütze 
mehr  und  wurde  durch  die  wichtige,  eigentlich  entscheidende  Aus- 
nahme durchbrochen,  daß  sie  nicht  gültig  sein  solle  für  die  han- 
delsrechtlichen Zeitgeschäfte,  wenn  der  Abschluß  unter  Geschäfts- 
bedingungen erfolgt,  die  der  Bundesrat  genehmigt  hat,  und  als  Ver- 
tragschließende beteiligt  sind:  ,, Erzeuger  und  Verarbeiter  von 
Waren  derselben  Art,  wie  die,  die  den  Gegenstand  des  Geschäftes 
bilden,  und  solche  Kaufleute  oder  eingetragene  Genossenschaften, 
zu  deren  Geschäftsbetrieb  der  Ankauf,  Verkauf  oder  Beleihung  von 
Getreide  oder  Erzeugnissen  der  Getreidemüllerei  gehört". 

Anteile  an  Bergwerks-  und  Fabrikunternehmungen  können  seit 
1908  wieder  in  den  Terminhandel  eingehen  —  vorausgesetzt,  daß 
das  Kapital  der  Unternehmungen  20  Millionen  Mark  überschreitet, 
—  falls  der  Gesellschaftsvorstand  zustimmt  und  der  Bundesrat 
seine  Genehmigung  gibt.  Die  letztere  ist  auch  in  zahlreichen  Fällen 
für  montane  und  elektrische  Aktien  gewährt  worden. 

Man  hat  die  Frage  aufgeworfen,  ob  die  Blütezeit  der  deut- 
schen Börsen  nicht  bereits  vorüber  sei,  und,  wenn  man  sie  bejaht, 
die  andere,  ob  die  Gesetzgebung  von  1896  daran  Schuld  sei.  Das 
letztere  ist  schwerlich  zuzugeben,  da  man  andere  Gründe  als  die 
entscheidenden  nachweisen  kann.  Der  Rückgang  des  Effekten- 
börsenverkehrs an  den  Provinzialbörsen  ist  unbestritten.  Die  Kon- 
zentration des  Geschäftes  in  Berlin  und  Frankfurt  a.  M.  läßt  es 
für  die  Interessenten  vorteilhaft  erscheinen,  sich  dahin  zu  wenden, 
wo  die  Aufträge  am  schnellsten  und  sichersten  Erledigung  finden. 
Für  diese  beiden  Zentralpunkte  meinte  man  vor  19 14,  daß  die 
Großbanken  das  Haupteffektengeschäft  an  sich  gezogen  und  es  in 
ihre  Büros  verlegt  hätten.  Wir  werden  darauf  zurückzukommen 
haben.  Die  Warenbörse  hat  zwar  vier  schwere  Jahre  nach  1896  ge- 
habt, belebte  sich  dann  wieder,  freilich  um  bald  über  etwas  anderes 
zu  klagen.  Man  behauptet  bei  Getreide,  Baumwolle,  Kaffee,  Petro- 
leum, Tabak  die  steigende  Abhängigkeit  vom  Ausland.  Der  Welt- 
marktpreis des  Weizens  werde  in  New  York  und  Chicago  gemacht, 
wo  die  größten  Kapitalien,  die  vollkommenste  Handelstechnik  und 
die  rücksichtsloseste  Spekulation  eine  Überlegenheit  besitzen.   Auch 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  eee 

der  amerikanische  Baumwollmarkt  sei  der  maßgebende,  der  mit 
seinen  Trusts  und  Cornern  das  Geschäft  ganz  beherrsche,  und  die 
Kaffeebörse  habe  Rio  zu  folgen,  wo  die  brasilianische  staatliche 
Valorisation  ein  Monopol  an  sich  gerissen  habe,  bei  deren  Aufbau 
deutsche  Bankhäuser  finanziell  mitgeholfen  haben  sollen.  Eine 
nationale  Verselbständigung  hat  der  deutsche  Getreideimporthandel 
wenigstens  seit  1904  insofern  gewonnen,  als  er  sich  von  englischen 
Brokern,  Kontrakten  und  Schiedsgerichten  auf  Initiative  Berlins, 
besonders  des  Präsidenten  des  Deutschen  Handelstages  D  r. 
K  a  e  m  p  f  und  seines  Generalsekretärs  Dr.  Soetbeer,  durch  den 
deutsch-niederländischen  Kontrakt  befreite,  der  mit  Rußlands,  Ru- 
mäniens, Bulgariens,  Serbiens  und  Hollands  Getreideexporteuren 
die  direkte  Verbindung  herstellte.  Wenn  zwischen  1895  und  191 4 
den  deutschen  Effektenbörsen  das  Kapital  zu  festverzinslichen  An- 
lagen nicht  so  zuströmte  als  in  den  25  vorausgehenden  Jahren,  so 
lag  dies  auch  in  dem  deutschen  volkswirtschaftlichen  Aufschwung 
begründet,  der  es  bei  hohen  Gewinnen  in  die  Produktion  hineinzog. 
Diese  Börse  genießt  immer  dann  die  höchste  Beachtung  in  der  ge- 
nannten Richtung,  wenn  das  produktive  Geschäft  nicht  recht  vor- 
wärts will,  wie  das  in  Deutschland  wiederholt  erlebt  worden  ist, 
was  ehedem  schon  im  18.  Jahrhundert  die  Niederlande  und  ,nach 
1880  auch  England  und  Frankreich  unter  der  Tendenz  zur  Rentner- 
staatbildung gezeigt  haben. 

Vor  dem  Kriege  beherrschten  die  großen  Berliner  Banken  die 
Börsen  zusehends  und  ließen  sie  nur  fortbestehen,  weil  sie  sie 
brauchten.  Aber  auch  diese  wie  viele  andere  ökonomische  Ent- 
wicklungen haben  sich  nach  dem  Kriege  unter  der  Flut  des  Papier- 
geldes nicht  fortgesetzt,  die  zu  mächtig  war,  als  daß  die  Banken  sie 
zu  ihrem  Nutzen  in  ihren  Reservoirs  hätten  einschließen  können. 


Die  Gründung  der  großen  deutschen  Kreditbanken 
ist  in  einem  früheren  Abschnitt  mitgeteilt  worden.  Die  Aufgaben, 
die  sie  sich  ursprünglich  stellten,  waren  nicht  die  gleichen.  Die 
Direktion  der  Diskontogesellschaft  verfolgte  185 1  den 
Zweck,  ,, durch  Diskontierung  von  Wechseln  oder  durch  bare  Vor- 
schüsse Handwerkern  und  kleinen  Geschäftsleuten  Kredit  zu 
geben",  die  Darmstädter  Bank  1853,  „der  deutschen  Industrie 
vorübergehend  die  zu  ihrem  Betriebe  dienenden  Kapitalien  verzins- 
lich in  laufender  Rechnung  zu  überweisen,  ohne  jedoch  dabei  der 
Agiotage  Vorschub  zu  leisten  und  das  Kapital  zu  unproduktiven 
Börsenspekulationen  anzuregen".  Viel  allgemeiner  drückt  sich  1856 
die  Berliner  Handelsgesellschaft  aus,  die  „den  Betrieb 


ce6  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 1914. 

von  Bank-,  Handels-  und  industriellen  Geschäften  aller  Art  sowie 
die  Begründung,  Vereinigung  und  Konsolidation  von  Aktiengesell- 
schaften" in  Aussicht  nahm.  Die  Deutsche  Bank  von  1870  will 
Bankgeschäfte  jeder  Art  betreiben,  „insbesondere  die  Förderung 
und  Erleichterung  der  Handelsbeziehungen  zwischen  Deutschland, 
den  übrigen  europäischen  Ländern  und  überseeischen  Märkten" 
sich  angelegen  sein  lassen.  Die  Dresdner  Bank  von  1872  setzt 
sich  als  Ziel  „den  Betrieb  des  Bank-  und  Kommissionsgeschäftes  in 
allen  seinen  Teilen". 

Das  geschichtliche  Ergebnis  ist  gewesen,  daß  die  Tätigkeit 
der  genannten  und  ähnlicher  Banken  sich  stark  vereinheitlicht  hat, 
und  daß  der  umfassendste  Zweck  der  Dresdner  Bank  für  alle  gilt. 
Das  schließt  nicht  aus,  daß  eine  vorzugsweise  z.  B.  mit  der  Textil-, 
eine  andere  mit  der  elektrischen,  eine  dritte  mit  der  chemischen 
Industrie  Beziehung  pflegt,  oder  daß  bald  das  Ausland,  bald  das 
Inland  mehr  Beachtung  findet,  oder  daß  die  Formen  der  Geschäfts- 
ausdehnung nicht  immer  die  gleichen  gewesen  sind. 

Eine  berufliche  Arbeitsteilung  ist  hingegen  im  Bankwesen 
überhaupt  vorhanden,  zwischen  Noten-,  Hypotheken-  und  Kredit- 
banken. Außerdem  haben  sich  die  Volksbanken  oder  Kreditvereine 
und  die  Sparkassen  für  den  Kleinverkehr  ausgesondert.  Unter  den 
Kreditbanken  kann  man  die  großen,  die  eine  nationale,  die  mitt- 
leren, die  eine  provinziale,  und  die  kleinen,  die  eine  örtliche  Bedeu- 
tung haben,  unterscheiden.  Bei  dem  Auslandsgeschäft  haben  sich 
die  Großbanken  nach  Ländern,  wenn  auch  nicht  streng  gegliedert, 
z.  B.  in  der  Bevorzugung  des  russischen,  türkischen,  südamerika- 
nischen Kapitalmarktes.  Die  Großbanken  folgen  einem  ähnlichen 
Prinzip  wie  das  Warenhaus,  betrieben  in  einem  gewaltigen  Palast 
mit  besonderen  Abteilungen  verschiedenartige  Geschäfte  unter  ein- 
heitlicher Direktion  und  begründen  Filialen  in  anderen  Städten, 
um  den  Kundenkreis  zu  erweitern.  Anders  ist  die  Entwicklung  in 
England  gewesen,  wo  die  selbständige  arbeitsteilige  Bankverfas- 
sung einem  kaufmännischen  Spezialismus  zu  vergleichen  ist.  Die 
deutschen  Banken  sind  im  Konkurrenzkampf  bemüht  gewesen,  sich 
gegenseitig  durch  Anwendung  neuer  Mittel  zu  übertrumpfen.  Das 
Anwachsen  der  Kapitalien  und  des  Beamtenheeres,  das  Streben 
nach  Selbstversicherung,  das  Stabilisieren  der  Dividenden,  um  der 
Firma  Ansehen  zu  schaffen,  nötigte  die  geschichtlich  gegebene 
Vielseitigkeit  der  Geschäfte  zu  behaupten.  Sie  sind:  Die  Emission 
privater  und  öffentlicher  Effekten,  die  Umwandlung  privater  in 
Aktienunternehmungen,  eventuell  die  Sanierung  der  letzteren  bei 
dauernder  Unterbilanz,  Kauf  und  Verkauf  von  Effekten  für  eigene 
und  fremde  Rechnung,  das  Depositen-,  Giro-,  Lombard-,  Diskonto- 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  eej 

Reportgeschäft,  der  Akzeptkredit,  das  Kontokorrent-,  das  Rem- 
boursgeschäft, der  Erwerb,  selbst  der  Betrieb  von  Bergwerken, 
Fabriken,  Bahnen,  die  Terrainspekulation. 

Die  Bruttoeinnahme  der  9  Berliner  Großbanken  um  1913  kam 
zu  540/0  aus  Zinsen  und  Wechseln,  zu  32  aus  Provisionen,  zu  14  aus 
dem  Effekten-  und  Konsortialkonto.  Seit  Jahrzehnten  sind  die 
beiden  ersten  Posten  gestiegen,  der  dritte  ist  zurückgegangen,  woraus 
man  geschlossen  hat,  daß  das  Kredit-Mobilierwesen  abgeflaut  ist. 
Doch  handelt  es  sich  hier  um  relative  Zahlen,  während  die  abso- 
luten bei  der  Kapitalvergrößerung  der  Banken  keineswegs  zu  sin- 
ken brauchten.  Immerhin  ist  es  richtig,  diese  Banken  heute  nicht 
mehr  Effekten-,  sondern  Kreditbanken  zu  nennen. 

Die  Gesetzgebung  hat  sich  um  sie  wenig  gekümmert.  Es  ist 
der  Ausdehnung  der  Betriebsform,  der  Wahl  der  Geschäfte  volle 
Freiheit  gelassen,  die  nur  durch  das  Handelsgesetzbuch,  das 
Börsen-  und  das  Depotgesetz  einige  Einschränkung  erfahren  hat. 
Während  die  Notenbanken  einer  speziellen  Gesetzgebung  unter- 
worfen wurden,  weil  das  gesamte  Zahlungswesen  von  ihnen  ab- 
hängt, hat  seit  60  Jahren  die  Meinung  gegolten,  daß  die  Kredit- 
banken ihren  Pflichten  gegen  die  Gesamtheit  am  besten  nachkom- 
men würden,  wenn  man  sie  nach  ihrem  Ermessen  gewähren  lasse. 
Auf  einem  Gebiete  konnten  sie  nun  selbstverständlich  keine  Be- 
freiung beanspruchen,  das  für  alle  Großunternehmen  galt.  Die 
Sozialpolitik  fand  auch  bei  ihnen  Anwendung.  Der  Einführung  der 
Angestelltenversicherung  mußten  sie  um  so  mehr  zustimmen,  als 
der  Zentral  verband  des  deutschen  Bank-  und  Bankiergewerbes  schon 
1909  die  Schaffung  eines  Beamten-Versicherungsvereins  in  die  Wege 
geleitet  hatte. 

Das  Depotgesetz  von  1896  regelt  die  Pflichten  bei  dem 
Aufbewahren  fremder  Wertpapiere.  Die  unverschlossenen  zum  Depot 
übergebenen  Effekten  müssen  erkennbar  abgesondert  und  in  einem 
Handelsbuch  verzeichnet  werden.  Über  neu  gekaufte  Stücke  müssen 
den  Kunden  die  vorgeschriebenen  Angaben  eingesandt  werden, 
außerdem  wird  im  Verhältnis  des  Lokalbankiers  zum  Zentralban- 
kier, der  die  Käufe  und  Verkäufe  ausführt,  für  die  Sicherung  der 
Auftraggeber  gesorgt.  Die  Gelddepositen  sind  durch  solche  Maß- 
regeln nicht  berührt  worden.  Die  Kommission  des  Depotgesetzes 
hatte  noch  imter  dem  Eindruck  des  Zusammenbruches  angesehener 
Firmen  des  Jahres  1891  einen  Gesetzentwurf  auch  über  sie  ange- 
regt, aber  erst  nach  weiteren  schweren  Vorkommnissen  auf  dem 
Kapitalmarkt  um  1907  wurde  die  Frage  von  neuem  aufgenommen. 
Die  Bankgesetzkommission  legte  dem  Reichstag  eine  Resolution  vor, 
die  auch  angenommen  wurde,  die  Regierung  möge  ein  Gesetz  aus- 


ccg  VI.  Abschnitt     Die  Zeit  von  1890 — 1914. 

arbeiten  „zur  Bekämpfung  der  Gefahren,  die  dem  Publikum  durch 
Banken  und  Bankiers  erwachsen,  die  zur  Anlage  von  Depositen 
oder  Spargeldern  durch  öffentliche  oder  schriftliche  Aufforderung 
anreizen".  Gedacht  war  das  Gesetz  in  der  Weise,  daß  erstens  eine 
Veröffentlichung  des  Status  der  Banken  regelmäßig  zur  Beurtei- 
lung durch  Außenstehende  stattzufinden  habe,  daß  zweitens  eine 
Kontrolle  eingerichtet  werde,  die  die  Richtigkeit  der  Angaben 
nachzuprüfen  habe.  Zu  einer  Vorlage  im  Reichstage  ist  es  nicht 
gekommen,  angeblich  weil  in  der  auch  unbeanstandeten  Veröffent- 
lichung ein  ausreichender  Schutz  der  Deponenten  nicht  gesehen 
werden  könne.  Ein  Sperling  in  der  Hand  ist  mehr  wert  als  eine 
Taube  auf  dem  Dache. 

Dem  Wunsch  nach  der  Aufstellung  von  Zwischenbilanzen  ist 
von  einem  anderen  Standpunkt  aus  entsprochen  worden.  Auf 
Drängen  der  Reichsbank  haben  die  Großbanken  mit  Ausnahme  der 
Berliner  Handelsgesellschaft  ein  Bilanzschema  angenommen,  aus 
dem  sich  die  Liquidität  ihrer  Aktiven  ersehen  lassen  soll,  die  sich 
bisher  nur  auf  wenige  Prozente  der  eingegangenen  Verpflichtungen 
stützte,  während  eine  loo/oige  Sicherung  im  Interesse  des  Zahlungs- 
verkehrs für  wünschenswert  erachtet  wurde.  Die  Beurteilung  des 
Liquiditätsgrades,  oder  des  prozentuellen  Verhältnisses  der  greif- 
baren Forderungen  zu  den  fälligen  Verbindlichkeiten,  ist  deshalb 
so  schwierig,  weil  je  nach  der  wirtschaftlichen  imd  politischen  Lage 
der  Begriff  der  Greifbarkeit  besonders  auszulegen  ist,  daher  die 
IG 0/0  etwas  Relatives  sind,  aber  doch  immer  mehr  als  gar  keine 
Sicherheit  bedeuten.  Mit  vollem  Recht  wurde  nicht  daran  gedacht, 
den  Banken  eine  Verstärkung  ihres  Goldschatzes  aufzugeben.  Das 
hätte  Aufgaben  der  Reichsbank  zu  übernehmen  geheißen,  denen 
bisher  immer  vollkommen  genügt  wurde. 

Die  weitgehende  Verzweigung  des  Großbankgeschäftes  in 
Tochtergesellschaften,  Filialen,  Kommanditen,  Depositenkassen,  In- 
teressengemeinschaften bildet  für  die  Liquidität  eine  besondere 
Gefahr.  Es  stehen  zu  viele  Türen  offen,  in  die  das  von  einer  Panik 
erfaßte  Publikum  eindringen  kann,  um  seine  Guthaben  zu  be- 
gehren. Andererseits  bringt  eine  solche  Ausweitung  der  Groß- 
unternehmung unverkennbare  Vorteile.  Verfolgen  wir  kurz,  wie  sie 
in  die  Wege  geleitet  wurde.  Die  Kapitalvermehrung  der  Berliner 
Banken  hat  sich  seit  ihrer  Gründung  in  dieser  Weise  vollzogen: 

(Tabelle  s.  folgende  Seite.) 

Hinzuzufügen  ist,  daß  die  Diskontogesellschaft  191 4  ihr  Kapi- 
tal auf  300  Millionen  Mark,  die  Deutsche  Bank  auf  250  weiter  er- 
höht haben. 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport. 


559 


Gründungs- 
jahr 

Bank 

Erstes  Aktienkapital 
Millionen  M. 

Voll  eingezahltes 
Aktienkapital 
I.  Januar   19 14 
Millionen  M. 

1848 

Schaafhausen 

15.6 

145 

1851 

Diskonto-Gesellschaft 

30,0 

200 

1853 

Bank  für  Handel  und  Industrie 

17,1 

160 

1856 

Berliner    Handelsgesellschaft 

16,8 

HO 

1856 

Mitteldeutsche  Kreditbank 

24,0 

60 

1870 

Deutsche  Bank 

15,0 

200 

1870 

Kommerz-  und  Diskontobank 

15,0 

85 

1872 

Dresdner  Bank 

9,6 

200 

1881 

Nationalbank  für  Deutschland 

20,0 

90 

Neben  diesen  Berliner  Instituten  bestanden  19 13  im  übrigen 
Reich  noch  folgende  Kreditbanken  von  einzelstaatlicher  oder-pro- 
vinzialer  Bedeutung  mit  mindestens  je  50  Millionen  volleingezahlten 
Grundkapitals:  Die  Allgemeine  Deutsche  Kreditanstalt,  Leipzig,  mit 
HO,  die  Rheinische  Kreditbank  und  die  Rheinisch-Westfälische  Dis- 
konto-Gesellschaft mit  je  95,  der  Barmer  Bankverein  mit  88,75,  ^^^ 
Bergisch-Märkische  Bankverein  mit  80,  die  Essener  Kreditanstalt 
mit  72,  die  Mitteldeutsche  Privatbank  mit  60,  die  Pfälzische  Bank 
und  der  Schlesische  Bankverein  mit  je  50.  Im  ganzen  zählte  man 
421  Banken,  von  denen  die  Berliner  Großbanken  (d.  h.  ohne  die 
Mitteldeutsche  Kreditbank)  1908  74 0/0  aller  Bankkraft  vermittelst 
eigenen  Kapitals  und  ihrer  Konzerne  kontrollierten. 

Die  Konzentration  dieser  Großbanken  äußert  sich  außer  in 
der  Kapitalzusammenfassung  in  der  Verörtlichung,  d.  h.  des  Sitzes 
in  Berlin,  in  dem  Aufsaugen  kleiner  Banken,  in  dem  Abschluß  von 
Interessengemeinschaften,  bei  denen  sie  führend  sind,  und  in  der 
Verzweigung  der  Niederlassungen. 

Von  den  Berliner  Großbanken  traten  seit  1871  die  Darm- 
städter Bank,  1873  die  Mitteldeutsche  Kreditbank  (Meiningen), 
1881  die  Dresdner  Bank,  1891  der  Schaafhausensche  Bankverein 
(Köln),  1898  die  Kommerz-  und  Diskontobank  (Hamburg)  in  der 
Reichshauptstadt  auf,  wohin  sie  dann  nach  und  nach  ihren  Schwer- 
punkt verlegen.  Der  Wettbewerb  überhaupt,  insbesondere  an  dem 
wichtigsten  Börsenplatz,  der  Berlin  seit  1871  unter  Verdrängung 
Frankfurts  wurde,  war  für  diese  Umgruppierung  ebenso  maß- 
gebend wie  der  Sitz  der  Reichsregierung,  vor  allem  der  Reichs- 
bank, das  industrielle  und  kommerzielle  Großwerden  Berlins 
ebenso  wie  das  gesellige  und  anregende,  immer  das  Neueste  brin- 
gende Milieu  der  oberen  Zehntausend. 

Die  Konzentration  vollzog  sich  in  den  Jahren  der  Hoch- 
konjunktur 1897  — 1899  und  1902— 1906  am  auffälligsten  und  außer- 


c6o  VI,  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 1914. 

dem  als  Ausdruck  besonders  scharfer  Konkurrenz  im  Jahre  191 4, 
bei  dessen  Anfang  die  neun  Berliner  Banken  ein  Aktienkapital  von 
1250  Millionen  Mark  besaßen,  zu  dem  noch  ein  aus  dem  Agio  bei 
der  Ausgabe  junger  Aktien  vornehmlich  errichteter  Reservefonds 
von  389,4  Millionen  Mark  hinzukam,  den  man  im  Durchschnitt  üb- 
rigens im  Vergleich  zu  den  großen  Londoner  Banken  für  so  mager 
hielt,  daß  man  ihm  nur  den  Namen  eines  Reservekontos  hatte  zu- 
billigen wollen. 

Diesem  Anwachsen  der  großen  geht  ein  Aufsaugungsprozeß 
der  mittleren  Banken  und  der  großen  Privatunternehmungen 
parallel.  Die  Dresdner  nahm  1892  die  Anglo  Deutsche,  1895 
die  Bremer,  1899  die  Niedersächsische,  1904  Erlanger  &  Söhne, 
1910  die  Breslauer  Wechsler-  und  die  Württembergische  Landes- 
bank auf,  die  Deutsche  zuerst  die  Duisburg-Ruhrort,  191 4  die 
Bergisch-Märkische,  die  Diskont  oge  Seilschaft  1895  die 
Norddeutsche  in  Hamburg  und  Bamberger  &  Co.  in  Mainz,  die 
Handelsgesellschaft  1891  die  Internationale  Bank,  die 
Darmstädter  1902  die  Bank  für  Süddeutschland,  1904  Robert 
Warschauer  &  Co.,  191  o  die  Bayerische  für  Handel  und  Industrie, 
Schaafhausen  1904  die  Niederrheinische  Kreditbank,  Krefeld, 
und  die  Westdeutsche,  Bonn.  Schließlich  kam  es  unter  den  Ber- 
liner Banken  selbst  zu  einer  Fusion,  indem  die  letztgenannte  in  die 
Diskontogesellschaft  eingegliedert  wurde.  Es  vollzog  sich  dieser 
Vorgang  wie  meist  auch  bei  den  vorgenannten  Fusionen  ähnlich 
wie  bei  der  Bildung  der  amerikanischen  Trusts.  Das  Vermögejn 
ging  als  ganzes  ohne  Liquidation  über,  die  Aktionäre  von  Schaaf- 
hausen erhielten  z.  B.  Diskontogesellschaftsanteile  gegen  Einlief e- 
rung  ihrer  Aktien.  Die  Verwaltung  des  Schaafhausenschen  Bank- 
vereins blieb  als  Betriebseinheit  bestehen,  womit  ihr  die  alten 
Kunden  erhalten  wurden.  Die  Konkurrenz  ist  beseitigt,  die  Ober- 
leitung ist  in  Berlin. 

Eine  andere  Form  der  Konzentration  ist  die  dauernde  In- 
teressengemeinschaft derart,  sei  es,  daß  eine  Großbank,  wie  z.  B. 
die  Darmstädter,  Aktienbanken  an  geeigneten  Orten  begründete, 
einen  großen  Teil  der  Aktien  übernahm  imd  die  Leitung  einem 
ihr  ergebenen  Manne  anvertraute,  sei  es,  daß  durch  Aktienerwerb 
oder  Aktienaustausch  das  gleiche  erreicht  wurde,  sei  es,  daß  nur 
ein  Vertrag  über  das  Hand  in  Hand-Arbeiten  und  die  Beseitigung 
störenden  Miterwerbes  verabredet  wurde. 

Daß  diese  Zusammenfassung  die  Wahrnehmung  volkswirt- 
schaftlicher und  nationalpolitischer  Ziele  in  erhöhter  Weise  ermög- 
lichte, wurde  meist  bejaht,  da  das  Geschäft,  wie  in  den  Industrie- 
kartellen, planmäßiger,  imd  die  Einwirkung  auf  das  Ausland  bei 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  ^6l 


Krediten  und  Emissionen  stärker  wurde.  Die  Verwirklichung  sol- 
cher Aufgaben  hing  übrigens  auch  von  den  führenden  Personen  ab, 
von  denen  Deutschland  über  ausgezeichnete  verfügt  hat.  Sie  muß- 
ten es  u.  a.  verstehen,  mit  der  Staatsverwaltung  Fühlung  zu  halten. 
Daß  verdiente  Staatsmänner  in  wirtschaftliche  Unternehmungen 
eintraten,  ist  wiederholt  vorgekommen  und  war  ersprießlich,  um 
Beziehungen  zwischen  diesen  und  der  Regierung  zu  halten.  Wie 
im  modernen  Staat  einseitige  Bürokraten  zur  Staatsleitung  im 
großen  nicht  taugen,  so  auch  keine  ausschließlichen  Dividenden- 
und  Tanti^memacher  an  der  Spitze  großer  Konzerne  und  Kartelle. 

Wenn  man  dem  alten  System  der  räumlichen  Bankverteilung 
nachrühmte,  daß  es  den  Ortsbedürfnissen  besser  entsprochen  habe 
als  die  spätere  Vereinheitlichung,  so  begegneten  die  Großbanken 
diesem  Einwurf  mit  der  Errichtung  von  Kommanditen,  Filialen, 
Agenturen  und  Depositenkassen,  die  die  frühere  Vielseitigkeit  (er- 
setzen sollten  und  den  Vorzug  der  größeren  Sicherheit  für  die 
Kunden  böten  als  ehedem  der  Privatbankier  oder  die  Kleinbank 
mit  ihren  beschränkten  Mitteln. 

Ob  die  Privatbankiers  noch  eine  volkswirtschaftliche  Berech- 
tigung haben,  wurde  verschieden  beantwortet.  Die  wenigen  ganz 
großen  von  ihnen,  die  noch  übrig  waren,  wie  Mendels ohn 
&  Co.,  S.  Bleichröder  in  Berlin,  Merck,  Fink  &  Co.  in 
München,  M.  M.  Warburg  in  Hamburg,  Speyer  Ellisen  in 
Frankfurt  a.  M.,  wo  die  Firma  Rothschild  erloschen  ist,  konnten 
nicht  anders,  als  die  Geschäftsführung  der  Aktienbanken  möglichst 
nachmachen.  Sie  scheiden  für  die  Frage  aus.  Zugunsten  der  klei- 
nen wird  angeführt,  daß  die  persönliche  Vertrauensbeziehung  zu 
den  Kunden  bei  der  Beratung  der  Geldanlage  und  des  Effekten- 
verkaufes viel  wert  sei,  und  daß  die  Kreditwürdigkeit  der  Bank- 
schuldner am  besten  aus  persönlicher  Fühlung  beurteilt  werden 
könne.  Einen  staatlichen  Schutz  der  kleinen  Bankiers  hat  man 
darin  finden  wollen,  daß  man  sie  bei  der  Ausgabe  staatlicher 
Schuldverschreibungen  berücksichtigt.  Darüber  hinaus  Begünsti- 
gungen zu  gewähren,  wird  man  nicht  leicht  zugestehen  und  würde 
auf  Opposition  stoßen,  da  eine  Schädigung  der  Deponenten  durch 
unreelle  oder  unvorsichtige  Privatbanken  nur  zu  oft  erlebt  wurde. 
Der  genossenschaftliche  Weg  steht  auch  den  Privatbankiers  offen, 
den  zu  betreten  sie  kaum  versucht  haben.  Sie  könnten  sich  ge- 
meinsam solchen  Geschäften  zuwenden,  mit  denen  sich  die  Groß- 
banken wenig  befassen,  wie  dem  Handel  mit  Kuxen  und  Börsen- 
werten ohne  Kursnotiz.  Nach  dem  Kriege,  als  alle  Welt  anfing, 
unter  der  Inflation  zu  spekulieren,  um  an  Vermögenswerten  zu 
retten,  was  nur  möglich  war,   sind  wieder  bessere  Zeiten  für  die 

A.  Sartorius  v.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        36 


502 


VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 


Privatbankiers  gekommen.  Die  Prophezeiung  ihres  Unterganges 
aus  der  „Entwicklung"  des  Großbetriebes  ist  daher  zunächst  nicht 
•eingetroffen. 

Welch  ein  gewichtiges  Wort  die  größeren  deutschen  Aktien- 
banken bei  Industrie,  Handel  und  Börse  mitzusprechen  haben,  er- 
läutert nachfolgende  von  der  Dresdner  Bank  19 13  veröffentlichte 
Tabelle: 


Entwicklung    der    deutschen    Aktienbanken    mit    mehr    als     i    Million    M. 

Aktienkapital. 


Exklusive  Noten-  und 
Hypothekenbanken 


1911 


I  Steigerung 


Anzahl 

Gesamtkapital 

Reserven 

Reserven  vom  Aktienkapital     .    .   . 

Summe  der  Aktiva 

Bruttogewinn 

davon  aus  Zinsen 

davon  aus  Provisionen      .... 

Reingewinn 

Dividende 

Dividende  vom  Aktienkapital  .  .  . 
Abschreibungen    und  Reservezugang 


71 

705,6  Mill. 

90,8      „ 

12,9% 
1961,7  Mill. 
84,0 
35,0 
19.9 
59,8 
49.3 
6,99  % 
3,2  Mill. 
1884 


M. 


M. 


M. 


158 
2  928,9  Mill.  M 
801,7      „ 

27.4  % 
16649,8  Mill.  M 

514,4      ,• 

250.0  „ 

134,7      „ 

307,4  M 

222.1  „ 

7,84  % 
41,4  Mill.  M 


2,2 

4,1 
8,8 

2,1 

8.5 
6,1 

7,1 
6,8 

5,1 
4,5 
1,1 
12,9 


Die  Verbindung  dieser  Banken  mit  der  Industrie  ist  von  1895 
bis  191 4  so  eingehend  gepflegt  worden,  daß  man  bei  nicht  wenigen 
darin  den  Schwerpunkt  ihres  Geschäftes  gesehen  hat.  Handel  und 
Börse  haben  öfters  zurücktreten  müssen,  weil  die  Gelder  bereits 
von  der  Industrie  mit  Beschlag  belegt  waren.  Die  an  dritter  Stelle 
stehenden  Großlandwirte  hatten  zur  Befriedigung  persönlichen  Kre- 
dits mit  den  Provinzialbanken  vornehmlich  Beziehungen,  am 
meisten  diejenigen,  die  in  Branntwein  imd  Zucker  ein  Nebenge- 
werbe betrieben. 

Die  dem  Realkredit  der  Landwirtschaft  und  in  zunehmender 
und  sie  übertreffenden  Weise  dem  städtischen  Grundbesitz  die- 
nenden Hypothekenbanken  haben  ihre  Zahl  seit  1 900  auf 
38  gehalten,  deren  Hypothekensumme  von  6,5  auf  11,4  Milliarden 
Mark  im  Jahre  19 13  gestiegen  ist.  1899  wurde  das  Reichs-Hypo- 
thekenbankgesetz  erlassen,  das  die  Ausgabe  von  Pfandbriefen  auf 
den  I5fachen  Betrag  des  Grundkapitals  festsetzt.  Die  Beleihung 
des  Bodenwertes  kann  bis  ^/^^  ausnahmsweise  bei  ländlichen  bis  ^/^ 
der  Taxe  gehen,  die  den  Banken  nach  behördlicher  Anweisung  zu 
ermitteln    gestattet    ist.     Abgesehen    von    der   jährlich    bekannt   zu 


VI.   Handel,  Bankwesen  und  Transport.  '\6% 

gebenden  Bilanz  mit  Gewinn-  und  Verlustkonto  ist  der  Status  der 
Banken  über  Pfandbriefe  und  deren  Deckung  zweimal  im  Jahre 
öffentlich  darzulegen.  Eine  Kontrolle  der  Banken  zum  Schutze 
der  Pfandbrief  Inhaber  ist  durch  den  „Treuhänder"  geschaffen  wor- 
den, der  die  vorschriftsmäßige  Deckung  der  Pfandbriefe  zu  prüfen 
hat  und  die  Hypothekenurkunden,  Wertpapiere  und  Gelder  unter 
Mitverschluß  hält.  Der  Zusammenbruch  zweier  großer  Banken 
mit  ihren  Filialen  konnte  jedoch  hierdurch  nicht  verhindert  werden, 
so  daß  in  Preußen  durch  Vermehrung  technisch  vorgebildeter 
Bankinspektoren  die  Staatsaufsicht  über  Geschäftsbücher  und  Gene- 
ralversammlungen verschärft  worden  ist.  Die  bisher  lose  Bezie- 
hung zwischen  Hypotheken  und  Pfandbriefen  ist  dadurch  um 
einiges  befestigt  worden,  daß  bei  dem  Konkurse  der  Gesellschaft 
die  Pfandbriefforderungen  anderen  Forderungen  bei  der  Befriedi- 
gung aus  eingetragenen  Hypotheken  und  Wertpapieren,  auf  Grund 
deren  z.  B.  Städten  und  Kleinbahngesellschaften  Darlehen  gegeben 
sind,  vorangehen. 

Von  den  industriellen  Unternehmungen  hat  man  ge- 
sagt, „daß  die  Kreditbanken",  um  auf  sie  wieder  zurückzukommen, 
„sie  von  der  Gründung  bis  zur  Auflösung  begleiten,  ihnen  bei  allen 
gewöhnlichen  imd  außergewöhnlichen  finanziellen  Vorgängen  hel- 
fend und  ihrerseits  profitierend  zur  Seite  stehen".  Die  Beziehungen 
beginnen  bei  den  Privatunternehmern  mit  dem  Depositen-,  Giro-« 
und  Kontokorrentverkehr.  Ist  das  Vertrauen  seitens  des  Schuld- 
ners gegeben,  so  kann  der  real  ungedeckte  Akzeptkredit  hinzu- 
kommen. Das  ist  meist  für  die  Bank  unbedenklich,  solange  es  den 
laufenden  Betrieb  zu  unterhalten  gilt.  Werden  hingegen  mit  dem 
Darlehen  neue  Anlagen  geschaffen,  so  werden  die  Bankgelder  ,in 
bedenklicher  Weise  festgelegt.  Ist  das  industrielle  Werk  groß  ge- 
worden und  der  Bank  zugleich  verschuldet,  so  ist  der  Zeitpunkt  für 
die  Umwandlung  in  die  Gesellschaftsform  gekommen.  Die  Bank 
übernimmt  die  Emission  der  Aktien  und  gleicht  mit  ihnen  ihre 
Forderungen  aus.  Die  enge  Verbindung  zwischen  ihr  und  der 
neuen  Gesellschaft  ist  weiterhin  gegeben.  Sie  kann  in  dem  Auf- 
sichtsrat vertreten  sein  imd  auf  die  Richtung  der  industriellen 
Tätigkeit  Einfluß  gewinnen,  besonders  wenn  sie  einen  Teil  der 
Aktien  im  Portefeuille  behalten  hat.  Obligationen  des  Werkes  wer- 
den von  ihr  vertrieben.  Geht  das  industrielle  Geschäft  dauernd 
nicht  gut,  so  besorgt  sie  durch  Aktienreduktion  die  Sanierung. 
Auch  die  Kartellgründung  kann  von  ihr  ausgehen,  wenn  sie  mit 
gleichartigen  Unternehmungen  auch  sonst  verknüpft  ist. 

Daß     somit     die     Bank    zur    Beherrscherin    von     Industrien 
werden  kann,  ist  nicht  zu  verkennen  gewesen,  freilich  nicht  selten 

36' 


e()A  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

auf  Kosten  ihrer  Liquidität,  je  nachdem  sie  von  ihrer  eigenthchen 
Aufgabe  der  Kapitalvermittelung  abwich  und  Gelder  festlegte.  Die 
Erhöhungen  der  Bankkapitale  wurden  aus  solchen  Vorgängen  mit- 
erklärt. Andererseits  sind  die  großen  Kartelle  und  Unterneh- 
mungen, besonders  in  der  Schwerindustrie,  sich  der  Gefahr  der  Ab- 
hängigkeit wohl  bewußt  gewesen  und  haben  sich  durch  erhebliche 
Guthaben  ihre  Selbständigkeit  zu  wahren  gewußt.  Es  kam  dann  zu 
Interessengemeinschaften,  denen  zufolge  Aufsichtsräte  ausgetauscht 
wurden,  von  denen  jeder  nach  seiner  besonderen  Vorbildung  finan- 
ziell oder  produktionstechnisch  beratend  eingreift.  Welcher  Kapi- 
talmacht der  beiden  großen  Berufsgruppen,  der  bankmäßigen  oder 
der  industriellen,  in  der  Zeit  vor  dem  Kriege  die  erste  Stelle  zuzu- 
schreiben gewesen  ist,  wurde  verschieden  beantwortet,  sicher  war 
nur  dies,  daß  da,  wo  ein  ersprießliches  Zusammenarbeiten  erzielt 
wurde,  die  weltwirtschaftliche  Stellung  des  Reiches  gehoben  wurde. 

Die  Deutsche  Bank  hatte,  wie  oben  erwähnt,  die  Pflege 
des  Außenhandels  durch  finanzielle  Maßregeln  zu  dem  ersten 
Programmpunkt  gemacht.  In  England,  Nord-  und  Südamerika, 
in  Österreich,  in  der  Türkei  und  Belgien  hat  sie  Niederlassungen 
eingerichtet.  Man  hatte  dies  Bestreben  anfangs  als  etwas  Uto- 
pisches verspottet,  aber  im  Verlaufe  der  Jahre  haben  auch  andere 
Banken  die  Wichtigkeit  des  Auslandsgeschäftes  anerkannt,  sei  es, 
daß  sie  im  Auslande  mit  dortigen  Firmen  in  feste  Beziehung '  traten, 
sei  es,  daß  sie  Filialen  errichteten,  sei  es,  daß  sie  einzeln  oder  .ge- 
meinsam Überseebanken  gründeten. 

Ein  Ziel  war  darauf  gerichtet,  das  finanzielle  Dazwischentreten 
Englands  zu  beseitigen  und  der  deutschen  Währung  auch  in  der 
Fremde  Ansehen  zu  verschaffen. 

Das  ist  auch  mittels  der  ausländischen  Filialen,  der  Brasilia- 
nischen Bank  für  Deutschland,  der  Deutschasiatischen  Bank,  der 
Bank  für  Chile  und  Deutschland,  der  Deutschen  Überseebank,  der 
Deutschen  Palästinabank  u.  a.  m.  teilweise  gelungen,  indem  sowohl 
die  deutschen  Ausfuhrhändler  Vorschüsse  auf  ihre  Waren  erhielten 
oder  ihre  Wechsel  diskontieren  ließen,  als  auch  die  Einfuhrhändler 
im  Ausland  ihre  Zahlungen  unmittelbar  beglichen  und  Kredite 
auf  ihre  bezogenen  Waren  erhielten,  ehe  sie  weiter  verkauft  hatten. 
Indem  den  Großbanken  über  lombardierte  Waren  ein  Verfügungs- 
recht eingeräumt  wurde,  wurden  sie  genötigt,  dem  Warengeschäft 
besondere  Sorgfalt  zuzuwenden,  ihre  auswärtigen  Verbindungen 
auszuweiten  und  den  Auslandsmarkt  zu  erforschen.  Kapitalanlagen 
im  Ausland  ^vurden  vermittelt,  womit  auch  gelegentlich  politischer 
Einfluß  gewonnen  wurde.  Haben  die  Großbanken  so  dem  Außen- 
handel wertvollen  Dienst  geleistet,  so  wurde  auch  der  binnenlän- 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  c()c 

dische  nicht  vernachlässigt.  Da  bei  diesem  die  Kredite  kürzer 
laufen  als  im  überseeischen  Verkehr,  konnte  die  Provinzialbank 
hier  auch  manches  leisten.  Die  Zahlungen  der  kreditbenutzenden 
Käufer  erfolgten  vielfach  durch  Scheck  oder  Giro  bei  ihrer  Bank, 
so  daß  der  alte  Warenwechsel  zurückgedrängt  worden  ist. 

Im  Verhältnis  der  Banken  zu  der  Börse  ist  zu  bemerken, 
daß  mit  dem  Wachsen  des  deutschen  Reichtums  die  Emission  der 
Wertpapiere  und  die  sonstige  Wechselwirkung  zwischen  beiden 
wohl  umfangreicher  wurde,  aber  die  große  Kundschaft  der  Banken 
führte  dahin,  daß  sie  emittierte  Aktien  und  Obligationen  oft  zum 
größten  Teil  ohne  Vermittlung  der  Börse  aufnahm.  Auch  tritt  der 
offene  Markt  dadurch  in  den  Hintergrund,  daß  viele  Aufträge  zum 
Kauf  oder  Verkauf  von  Effekten  in  den  Bankbüros  erledigt  werden, 
natürlich  nach  börsenmäßigen  Usancen,  aber  ohne  daß  an  den 
Markt  gegangen  wird,  indem  die  vielen  eingegangenen  Aufträge 
sich  kompensieren  lassen.  Die  Lombards  und  Reports  sind 
bei  den  neun  Berliner  Großbanken  von  1890 — 19 10  von  219  auf 
II 52  Millionen  Mark  gestiegen.  In  ruhigen  Zeiten  brachten  sie 
keine  Bedenken,  beim  Kriegsausbruch  bereiteten  sie  den  Banken 
und  Börsen  manche  schwere  Stunde. 

Die  großartige  Entwicklung  Deutschlands  seit  1895  ist  ohne 
die  spekulative  Tätigkeit  der  Kreditbanken  nicht  zu  verstehen. 
Für  staatliche  Funktionen  ist  für  sie  kein  Platz  gewesen.  Die 
Reichsbank  hat  zur  Regelung  des  Geldverkehrs  ausgereicht.  Sie 
ist  eine  festgebaute  Gesamtmaschinerie  und  gleicht  der  Achse,  um 
die  sich  die  beweglichen  Flügel  der  Kreditbanken  drehen.  Der  von 
allen  Seiten  wehende  Wind  wird  aufgenommen,  und  die  erhaschte 
Kraft  wird  auch  mittels  des  Diskontogeschäftes  dem  Mittelpunkt 
der  Geldzirkulation  zugeführt.  Damit  das  in  der  Mühle  gewonnene 
Mehl  der  Volkswirtschaft  erhalten  bleibt,  muß  der  patriotische 
Wille  des  Mittelpunktes  auch  in  die  Radien  fortwährend  überge. 
leitet  werden.  Die  Gefahr,  daß  der  Geschäftsgewinn  und  die  selbst- 
herrliche Geschäftsstellung  alles  entscheidet,  tritt  an  den  Groß- 
bankkapitalismus leicht  heran,  auch  dann  bisweilen,  wenn  er  sich 
mit  ausländischen  Konkurrenten  zu  verständigen  hat.  Die  ver- 
einigte Macht  kann  sich  dann  zu  einer  „goldenen  Internationale" 
verdichten,  der  nicht  mindere  Bedenken  begegnen  als  der  roten, 
die  aufdringlich  in  der  Öffentlichkeit  hervortrat,  während  jene 
sich  in  die  Stille  der  Beratungszimmer  der  Direktoren  und  Auf- 
sichtsräte stets  zurückzuziehen  verstanden  hat. 


Hatten  auch  die  Eisenbahnen  in  einer  früher  als  der  hier 
beschriebenen    Periode   bereits    ihren    eigentlichen    Siegeszug    ge- 


r56  VI.  Abschnitt.      Die  Zeit  von    1890— 1914. 

feiert,  so  ruhten  sie  doch  auf  den  gewonnenen  Lorbeeren  nicht  aus. 
Mancherlei  Fortschritte,  meist  wenig  beachtet  im  Flusse  des  hasti- 
gen Lebens,  vollzogen  sich  in  der  neuesten  Zeit.  Die  Schnellzugs- 
lokomotive beförderte  19 13  einen  Zug  von  400  Tonnen  Gewicht  mit 
90 — 100  km  Geschwindigkeit  die  Stunde  gegen  iio  Tonnen  mit 
75  km  vor  25  Jahren.  Sie  wog  soviel  als  der  ganze  Schnellzug.  Die 
Reisegeschwindigkeit  wurde  zudem  durch  Verlängerung  der  aufent- 
haltslosen Strecken  gewonnen,  wie  z.  B.  die  677  km  lange  Linie 
Berlin — München  für  einen  Zug  nur  Halli  und  Nürnberg  als  Halte- 
stellen kannte.  Die  Güterwagen  sind  so  vergrößert  worden,  daß 
der  20  Tonnenwagen  mit  einer  toten  Last  von  40  0/0  den  10  und 
15  Tonnenwagen  mit  50 0/0  verdrängt  hat.  Eine  Vermehrung  des 
festgelegten  Kapitals  unter  relativem  Zurücktreten  des  rollenden 
ist  die  Anlage  besonderer  Geleise  für  Güter-  und  Personenverkehr. 
So  sind  z.  B.  die  Strecken  Berlin — Halle  oder  Mannheim — Heidel- 
berg viergeleisig  ausgestaltet  worden.  Der  Bau  der  Großbahnhöfe 
zum  Personen-,  Güter-  und  Rangierverkehr  beruhte  auf  demselben 
kostenersparenden  Prinzip,  womit  freilich  die  übertrieben  luxuriöse 
Ausstattung,  die  der  deutsche  Reichtum  sich  glaubte  leisten  zu 
können,  nicht  zu  verwechseln  ist.  In  solchen  Übertreibungen,  die 
mit  partikularistischen  Eigenwilligkeiten  gepaart  sein  mochten,  wird 
man  einen  Übelstand  des  Staatsbahnsystems  nicht  zu  übersehen 
haben,  der  nur  durch  strengste  Finanzkontrolle  zu  beseitigen  ist. 
Die  Anlagen  des  Nürnberger  Bahnhofes  haben  35,  des  Karlsruher 
53,  des  Leipziger  135  Millionen  Mark  verschlungen. 

Die  elektrische  Beleuchtung  erhielten  auch  viele  kleinere  Bahn- 
höfe, was  zugleich  der  Sicherheit  wegen  geboten  war,  die  auch 
durch  die  allgemein  durchgeführte  Weichen-  und  Signalzentrali- 
sierung, die  Streckentelephone  und  die  mechanisch  wirkende  elek- 
trische Streckenblockung  erhöht  wurde. 

Dem  reisenden  Publikum  wurden  immer  mehr  Annehmlich- 
keiten in  der  Vermehrung  der  Fahrgelegenheit,  insbesondere  auch 
durch  die  billige  kleine  Zugseinheit  im  Nahverkehr  unter  Benutz- 
ung elektrischer  oder  benzolelektrischer  Triebwagen,  und  in  der 
Einstellung  von  Schnellzügen  mit  Durchgangswagen  und  Falten- 
balgverbindung  (zuerst  1892),  Expreß-Luxuszügen  der  internatio- 
nalen Schlafwagengesellschaft  und  Schlaf-  und  Speisewagen  ge- 
boten. Der  Schnellzugskilometer  kostete  der  Verwaltung  trotz  er- 
heblicher Mehrausgabe  an  Kohlen  und  Schienenabnutzung  und  bei 
der  teueren  Lokomotive  und  der  Waggonbelastung  nicht  mehr  als 
der  Personenzugkilometer,  weil  durch  die  Zeitausnutzung  bei  dem 
Personal  und  dem  soliden  Bau  des  Bahnkörpers  die  Aufwendungen 
kompensiert  wurden. 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  c()j 

Die  Ersetzung  des  Dampf-  durch  den  elektrischen  Betrieb, 
der  sich  im  städtischen  Vorortverkehr  bewährte,  ist  auf  den  Haupt- 
bahnen über  Versuche  nicht  hinausgekommen,  wie  auf  der  Strecke 
Dessau — Bitterfeld  durch  die  preußische  Verwaltung  oder  .  im 
Wiesental  durch  die  badische.  Auch  das  Problem  der  elektrischen 
Schnellbahn  mit  150 — 200  km  wurde  durch  den  Ausbruch  des 
Krieges  191 4  beiseite  gelegt. 

Obwohl  die  Materialkosten,  die  Preise  von  Grund  und  Boden 
und  die  Arbeitslöhne  rasch  gestiegen  waren,  und  dem  Frachtver- 
kehr mehr  Schnelligkeit  und  Pünktlichkeit  geboten  wurde,  waren 
die  Vorteile  des  Großbetriebes,  der  Arbeitsteilung  und  der  vorer- 
wähnten Erhöhung  des  festen  Kostenanteils  so  bedeutend,  daß  die 
Fracht,  die  1876  5  Pfg.  auf  den  Tonnenkilometer  betrug,  19 13 
auf  3,58  herabgesetzt  war.  Dazu  kamen  ein  vereinfachtes  Abferti- 
gungsverfahren, eine  Erleichterung  der  Zollordnung  und  eine  Reihe 
von  niedrigen  Ausnahmetarifen,  wie  bei  Rohstoffen  und  Lebens- 
mitteln, womit  der  volkswirtschaftliche  Umsatz  belebt  wurde. 

Wenn  die  Tarife  für  die  Personenbeförderung  solchen  Er- 
mäßigungen nicht  folgen  konnten,  so  lag  der  Grund  in  der  Fahr- 
kartenbesteuerung des  Reiches,  die  durch  dessen  Finanznot  diktiert 
wurde.  Doch  verzeichneten  in  der  Einführung  eines  einheitlichen 
Personen-  und  Gepäcktarifes  auf  allen  deutschen  Staatseisen- 
bahnen seit  1907  die  deutschen  Fahrgäste,  die  auf  den  Kopf  ;der 
Bevölkerung  jährlich  600  km  zurücklegten  und  von  1888 — 191 2 
2 1/2 mal  soviel  Geld  verfuhren,  eine  neue  Erleichterung. 

Das  Staatsbahnsystem  hat  unter  fester  zielbewußter  Verwal- 
tung reiche  Früchte  getragen,  von  denen  mit  Recht  jemand,  der 
ganz  Europa  bereist  hatte,  unparteiisch  sagen  mußte,  daß  in 
keinem  Lande  eine  größere  Ordnung  und  Zuverlässigkeit  des  Be- 
triebes als  in  Deutschland  herrschte.  Auch  wurden  die  Leistungen 
der  Sozialpolitik  für  die  700000  Beamte,  Arbeiter  und  Ange- 
stellte nirgends  übertroffen.  Die  Leistungen  der  Versicherung 
gehen  in  besonderen  Kassen  oft  über  das  allgemein  Gebotene  hin- 
aus, die  Arbeitszeit  ist  unter  Beachtung  der  notwendigen  Produk- 
tivität des  Betriebes  abgekürzt  worden,  reinliche  Unterkunfts-  und 
Übernachtungslokale,  Badegelegenheit  u.  a.  m.  wurden  eingerichtet. 
An  100  000  Wohnungen  für  das  Personal  unterstehen  der  öffent-» 
liehen  Verwaltung.  Die  Disziplin  war  immer  so  gewahrt  worden, 
daß  von  den  schweren  Schädigungen  durch  Eisenbahnerstreiks  die 
deutsche  Volkswirtschaft  bis  zur  Revolution  von  191 8  verschont 
igeblieben  ist. 

Das  Ergebnis  der  Verstaatlichung  ist  dies  gewesen,  daß  191 2 
nur  277  km  private  Hauptbahnen  und  3353,5  private  Nebenbahnen, 


5  68  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

zum  Anschluß  an  sie  und  dem  Lokalverkehr  dienend,  igegen 
34164  km  Hauptbahnen  und  22726  Nebenbahnen  des  Staatsbe- 
triebes in  dem  gesamten  Netze  Von  60521  enthalten  waren. 
10  Jahre  früher  hatte  es  51964  km  betragen,  und  während  da- 
mals auf  1000  qkm  Fläche  96,1  km  Linien  entfielen,  auf  100  000 
Einwohner  90,  waren  191 2  diese  Zahlen  auf  111,9  und  91,5  ge- 
stiegen. Bisher  handelt  es  sich  nur  um  vollspurige  Bahnen,  ineben 
denen  noch  1069  km  schmalspurige  Staats-  und  1143  km  Privat- 
bahnen standen.  Sie  alle  tragen  den  Charakter  von  Nebenbahnen. 
Die  enge  Spur  hat  sich  nicht  bewährt,  so  daß  1885  Bayern  für  (sie 
die  Normalspur  (1,435  ^  einführte.  Mit  den  angegebenen  Schie- 
nenlängen erschöpfen  sich  die  Fahrgelegenheiten  nicht.  Hinzu 
kommen  die  dem  öffentlichen  Verkehr  dienenden  lengspurigen 
Kleinbahnen,  d.  h.  die  städtischen  und  vorstädtischen  Straßen- 
bahnen mit  4846,3  und  die  nebenbahnähnlichen  Kleinbahnen  des 
nahen  Ortsverkehrs  mit  10871,5  km.  In  Berlin  erfreuen  sich  be- 
sonderer Beliebtheit  die  kommunalen  und  privaten  Schnellbahnen, 
deren  Länge  1917  bis  auf  66  km  sich  ausdehnte. 

Ebenso  wie  ehemals  bei  den  Hauptbahnen  ist  die  Eisenbahn- 
politik bei  den  Anschlußbahnen  je  nach  den  einzelnen  Staaten  ver- 
schieden ausgefallen.  In  Preußen  wurde  ein  besonderes  Netz 
für  sie  vom  Staat  entworfen,  das  dem  bestehenden  Besitz  an  Haupt- 
bahnen niemals  eine  Konkurrenz  bereiten  sollte  und  daher  in 
Einzelheiten  nicht  unangefochten  blieb.  Die  Ausführung  wurde 
konzessionierten  Privatunternehmern  überlassen,  die  mit  Mitteln 
des  Staates,  der  Provinzen,  Kommunalverbände  und  Privaten  unter- 
stützt wurden.  In  Sachsen  übernahm  der  Staat  den  gesamten 
Bau,  in  Württemberg  verfolgte  man  ein  gemischtes  System 
staatlicher  und  privater  Lokalbahnen.  In  Bayern  entstanden 
staatliche  Linien,  bei  deren  Anlage  die  Grunderwerbskosten  von 
den  Interessenten  aufgebracht  werden  mußten.  Die  kleineren 
norddeutschen  Staaten  ahmten  die  preußische  Verwaltung 
nach.  Zur  Vereinheitlichung  der  deutschen  Volkswirtschaft  haben 
alle  diese  Bahnen  viel  beigetragen,  erstens  insofern,  als  Produkte 
des  Bergbaues  und  der  Forst-  und  Landwirtschaft  aus  abgelegenen 
Wäldern  und  entfernten  Tälern  beschleunigt  und  in  größeren 
Mengen  den  verarbeitenden  Mittelpunkten  zugeführt  wurden,  zwei- 
tens, als  die  Arbeiterbevölkerung  sich  zwischen  Stadt  und  Land 
zur  Übernahme  von  Arbeit  leichter  hin-  und  herbewegen  konnte, 
drittens,  als  die  Postverbindung  mit  den  Dörfern  schneller  funktio- 
nierte, viertens,  als  der  Sonntags-  und  Ausflugsverkehr  der  Städter 
eine  neue  Grundlage  erhielt,  fünftens,  als  den  Hauptbahnen  neue 
Transportgelegenheit  vermittelt  wurde. 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport. 


569 


Die  städtischen  Bahnen  wurden  teils  von  der  Gemeinde,  teils 
von  Privaten,  teils  unter  gemischter  Verwaltung  betrieben. 

Die  bisher  angegebenen  Zahlen  geben  kein  Bild  von  der  Zu- 
nahme des  Transportes  in  den  letzten  Jahrzehnten.  Wir  müssen 
noch  folgende  Tabelle  hinzuziehen,  die  für  die  vollspurigen  Haupt- 
und  Nebenbahnen  aufgestellt  worden  ist: 


1885 

1911 

12450 

28088 

22735 

59857 

250640 

596763 

166000 

61870 

7932 

37855 

333  439 

713187 

9722 

17833 

Lokomotiven  und  Triebwagen     . 

Personenwagen 

Gepäck-  und  Güterwagen  .     . 
Beförderte  To.  Km.  (Mill.)     .     . 
Beförderte  Personen  (Km.,  Mill.) 
Beamte  und  Arbeiter    ,     .     .     . 
Anbgekapital  (Mill.  M.)    .     , 


Auch  Über  die  Art  der  beförderten  Güter  unterrichten  uns 
amtliche  Aufzeichnungen.  Allen  voran  steht  191 2  die  Steinkohle 
mit  120,2  Millionen  Tonnen,  an  die  sich  noch  18,3  Braunkohle,  18,9 
Braunkohlenbriketts,  6,0  Steinkohlenbriketts  und  25,4  Steinkohlen- 
koks anschließen.  Das  sind  allein  40 0/0  der  verfrachteten  Güter- 
masse. Eine  zweite  Gruppe  enthält  Metalle,  Steine  und  Erden,  so 
Zement  6,7,  Eisenerz  18,6,  verschiedene  andere  Erze  2ii7->  Erden 
aller  Art  34,5,  Kalk  5,1  Millionen  Tonnen,  zusammen  14,50/0.  Auf 
Land-  und  Forstwirtschaft  entfällt  ungefähr  ebensoviel,  auf  indu- 
strielle Halb-  und  Ganzfabrikate,  fertige  Lebens-  und  Genußmittel 
sowie  auf  verschiedene  Roh-  und  Hilfsstoffe  für  die  Industrie 
der  Rest. 

Der  größte  Betrieb  ist  die  preußisch-hessisch-badische  Ge- 
meinschaft mit  um  1909  rund  10I/2  Milliarden  Mark  Anlagekapital, 
der  bayerisch-pfälzische  folgt  mit  2,15,  der  sächsische  mit  1,12, 
der  württembergische  mit  0,74.  Der  größte  Betrieb  brachte  die 
^•elativ  größten  Einnahmen,  so  1900  6,870/0,  1905  7,13,  1909  5,94, 
während  in  dem  letztgenannten  Jahre  Württemberg  nur  3,13, 
Sachsen  191 1  3,86,  Bayern  4,50/0  verdienten. 

Die  preußischen  Finanzen  gewinnen  nach  Zahlung  der  Zinsen 
für  die  Bahnschuld  erhebliche  Überschüsse  für  andere  Staats- 
zwecke, während  mehrere  andere  deutsche  Staaten  auf  die  Bahnge- 
winne noch  zuzahlen  müssen.  Wie  die  Finanzkraft  der  Bahnen  im 
preußischen  Staatshaushalte  sind,  ersieht  man  aus  folgenden 
Angaben : 


570 


VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 1914. 


Millionen  M. 


Nettoeinnahmen 

Nettoeinnahmen 

Einnahmen 

Jahre 

der 

anderer 

aus 

Staatsbahn 

Erwerbseinkünfte 

Steuern 

1905 

504.6 

98,7 

280,3 

1906 

522,0 

103,2 

297,0 

1907 

536,5 

107,0 

320,0 

1908 

599,0 

107,6 

341.8 

1909 

415,2 

108,5 

423.9 

1910 

449.7 

"9,4 

456.4 

Als  neues  Transportmittel  erschienen  seit  1895  ^i^  Kraftfahr- 
zeuge. Waren  auch  schon  10  Jahre  früher  die  leichten  Explosions- 
motoren erfunden  worden,  so  dauerte  es  doch  noch  die  genannte 
Zeitspanne,  bis  alle  heutigen  Automobilbestandteile,  wie  Pneuma- 
tik, Steuerung,  Bremse,  Wagen,  als  brauchbare  Einheiten  dauernd 
erzeugt  und  zu  einem  Ganzen  vereinigt  wurden.  Die  Zahl  der 
Wagen  wuchs  rasch  an,  nachdem  die  Industrie  sich  im  großen  auf 
ihre  Erbauung  geworfen  hatte.  1907  dienten  25815  vorzugsweise 
dem  Personen-,  121 1  dem  Lasten  verkehr.  Am  i.  Jan.  191 4  ergab 
die  Reichsstatistik  aus  Steueraufzeichnungen  für  die  ersteren 
83  333,  für  die  letzteren  9739.  Für  abgelegene  Landesteile  ent- 
standen Motorpostlinien,  die  z.  B.  in  Bayern  so  gepflegt  worden 
waren,  daß  ihre  Länge  2/3  des  Lokalbahnnetzes  ausmachte. 

Im  großstädtischen  Verkehr  gewann  der  Automobilomnibus 
eine  steigende  Beliebtheit,  und  seine  enthusiastischen  Verehrer 
glaubten,  daß  er  die  Straßenbahn  bald  verdrängen  werde.  Doch 
hat  das  Prinzip  des  Spezialismus  auch  hier  die  Entscheidung  ge- 
bracht. In  Berlin  gediehen  die  verschiedenen  städtischen  Beförde- 
rungsmittel sehr  gut  nebeneinander.  Die  Hoch-  und  Untergrund- 
bahn und  die  Stadtbahn  mit  einer  Reihe  von  Wagen  und  ihrer 
Schnelligkeit  —  sowie  hohen  Baukosten  —  sind  den  Hauptmittel- 
punkten des  Verkehrs  angepaßt,  die  billiger  zu  bauenden  Straßen- 
bahnen vermitteln  sowohl  den  Anschluß  in  den  zwischenliegenden 
Räumen  als  auch  sind  sie  eine  Ausstrahlung  in  die  Vorstädte;  die 
Automobilomnibusse  mit  ihren  vielen  Haltestellen,  bei  ihrer  Fähig- 
keit des  Zeitgewinnes  mittels  steten  Ausweichens  und  des  sich 
Durchschlängeins  durch  belebte  Straßen  sind  eine  wichtige  Ergän- 
zung in  der  inneren  Stadt,  wo  sie  die  durch  die  hohen  Betriebs- 
kosten geforderte  starke  Besetzung  erwarten.  Die  gewöhnlichen 
Kraftfahrzeuge  sind  für  die  Bedürfnisse  der  wohlhabenden  Be- 
quemlichkeit und  für  Leute,  die  keine  Minute  zu  verlieren  haben, 
endlich  die  billigeren  alten  Droschken  blieben  für  den  Nahverkehr 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  cyj 

und  für  wenig  anspruchsvolle  Fahrer,  vor  allem  zum  Bahnhof  mit 
Gepäck,  immer  noch  nützlich. 


Anders  als  bei  den  Eisenbahnen  konnte  mit  den  künst- 
lichen Wasserstraßen  ein  finanzieller  Ertrag  nicht  erzielt 
werden.  Es  wurde  im  dritten  Abschnitt  darauf  hingewiesen,  wie 
zwischen  Eisenbahn  und  Wasserstraße,  nachdem  die  erste  bis  zu 
der  ihr  möglichen  Grenze  den  Sieg  davongetragen  hatte,  sich  eine 
Arbeitsteilung  herausgebildet  hatte.  Überlastung  des  Bahnver- 
kehrs und  das  Bedürfnis  nach  billiger  Massenversendung  führten 
im  letzten  Viertel  des  Jahrhimderts  dahin,  den  Wassertransport 
verstärkt  heranzuziehen. 

Deutschland  ist  mit  natürlichen  und  künstlichen  Wasser- 
straßen keineswegs  so  schlecht  ausgestattet,  wie  zuweilen  behauptet 
wird.  Der  Vorsprung  Frankreichs  besteh^  nicht  mehr.  Die  Länge 
der  schiffbaren  Linien  ist  fast  dieselbe  wie  dort  geworden,  und 
der  Gesamt  verkehr  bei  dem  westlichen  Nachbar  mit  35  Millionen 
Tonnen  wird  von  den  Rheinhäfen  allein  übertroffen.  Die  Angabe 
über  die  Länge  der  schiffbaren  Linien  im  Reich  ist  verschieden, 
je  nachdem  man  den  Begriff  der  Schiffbarkeit  faßt.  Nach  der  Sta- 
tistik von  1908  ist  sie  15269297  km,  davon  sind  8667320  Flüsse 
ohne  Schleusen,  Binnenseestrecken,  Außenfahrwasser  und  Haffe, 
und  2612859  Kanäle,  3313468  kanalisierte  Flüsse  und  Flüsse  mit 
Schleusen,  675650  Binnenseestrecken  mit  künstlichen  Schiffahrts- 
straßen. Mehr  als  1/3  aller  Straßen  waren  von  Schiffen  mit  über 
300  Tonnen  befahrbar. 

Seit  der  Reichsgründimg  ist  manches  getan  worden,  um  die 
Binnenwasserwege  zu  verbessern  und  zu  vermehren.  Das  durch 
seine  breiten  imd  langen  Flüsse  begünstigte  Norddeutschland 
konnte  das  meiste  leisten.  Der  98  km  laufende  Kaiser  Wilhelms- 
Kanal,  der  später  von  9  auf  1 1  m  vertieft  worden  ist,  verbindet  seit 
1895  die  Nord-  mit  der  Ostsee.  Er  war  bei  seiner  Anlage  zu  mili- 
tärischen Zwecken  allein  gedacht  worden,  wurde  daher  auf  öffent- 
liche Kosten  erbaut,  wurde  dann  aber  auch  dem  Gütertransport 
freigegeben.  Der  Rhein  wurde  mit  eine-  tieferen  Fahrrinne  aus- 
gestattet. Die  Weser  wurde  oberhalb  und  unterhalb  Bremens  neu 
reguliert,  die  Unterems  von  Emden  bis  zum  Meere  größeren 
Schiffen  zugänglich  gemacht.  Auch  die  Elbe  oberhalb  Hamburgs 
und  die  Saale  unterhalb  der  Elstermündung  erhielten  einen  bes- 
seren Niederwasserstand.  Im  Gebiete  der  Ostsee  wurden  Oder, 
Weichsel,  Memel  imd  Pregel  vertieft,  den  Nebenwasserstraßen  zu 
ihnen  xmd  ihrem  Zugang  zum  Meere  viel  Aufmerksamkeit  ge- 
schenkt. 


c'12  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890— 1 914. 

191 4  wurde  der  Schiffahrtsweg  Berhn — Stettin  eröffnet,  der 
den  ahen  Finowkanal  ersetzt  und  Schiffe  von  600  Tonnen  Tragfähig- 
keit aufnimmt.  Das  allgemeine  Bestreben  trat  hervor,  die  nord- 
deutschen Ströme  untereinander  zu  einem  Netz  zu  verknüpfen. 
Gebaut  oder  ausgebaut  wurden,  bzw.  mit  Nebenlinien  bereichert, 
der  Oder-Spree-,  der  Elbe-Trave-  und  der  Teltowkanal,  die  Oder- 
Weichsel-Wasserstraße,  der  technisch  mit  18  Staustufen  und  einem 
Schiffshebewerk  hochentwickelte  Dortmund-Ems-,  und  endlich  der 
Rhein-Weserkanal,  der  während  des  großen  Krieges  von  Duisburg 
bis  Minden  dem  Verkehr  übergeben  und  dann  nach  Hannover  zu 
fortgeführt  wurde.  Die  Kanalisierung  der  unteren  Ruhr  und  der 
Lippe  kommen  anschlußweise  in  Frage.  Die  weitere  Fortsetzung 
des  Mittellandkanals  bis  zur  Elbe,  mit  der  die  ost-  und  westdeut- 
schen Fluß-  und  Kanalgebiete  zu  einem  einheitlichen  werden  wür- 
den, scheiterte  zunächst  an  finanziellen  Bedenken  und  an  dem 
Widerstände  der  Agrarier  des  Ostens,  der  mit  dem  Vordringen  aus- 
ländischen billigen  Getreides  vom  Rhein  her  auf  mitteldeutsche 
Märkte  bis  Berlin  begründet  würde.  Daß  aber  Kohlen  und  Bau- 
material ostwärts  auf  dem  Wasserweg  billig  zugeführt  werden  wür- 
den, wurde  von  dieser  Opposition  ebenso  übersehen  wie  die  damit 
ermöglichte  Erleichterung  der  Industrialisierung  mancher  Gegend 
in  Ostelbien,  von  der  die  Landwirtschaft  eine  steigende  Nachfrage 
nach  ihren  Produkten  zu  erwarten  gehabt  hätte. 

Auch  in  Süddeutschland  traten  mancherlei  Zukunftspläne 
hervor.  In  Bayern  haben  sich  die  Kanalfreunde  unter  dem  Pro- 
tektorate des  Prinzen  Ludwig,  des  späteren  Königs,  eifrigst 
hervorgetan.  Die  Kanalisierung  des  Mains  bis  Aschaffenburg  mit 
einer  Fahrrinne  von  2,50  m  für  Schiffe  bis  zu  1500  Tonnen  wurde 
in  Angriff  genommen  und  bis  Bamberg  weiter  zu  bauen  geplant. 
1903  wurde  die  Kettenschiffahrt  bis  nach  Würzburg,  dem  Einfalls- 
tor von  Mittel-  imd  West-  nach  Süddeutschland,  eröffnet,  wo  der 
Schiffsverkehr  um  1900  nur  4985  Tonnen  betragen  hatte.  1905 
stieg  er  auf  50843  und  1913  auf  228459.  Für  einen  Großschiff- 
fahrtsweg  vom  Rhein  bis  zur  Donau  wurden  verschiedene, Projekte 
entworfen,  und  die  Verbesserung  der  Donaustraße  unterhalb  Kehl- 
heim, die  Kanalisierung  des  Flusses  von  Ulm  bis  Regensburg  sind 
ebenso  verheißungsvolle,  wohl  durchdachte  Ideen  wie  der  noch 
einer  ferneren  Zukunft  angehörige  Main-Werrakanal,  die  Neckar- 
kanalisierung  bis  Heilbronn  und  die  Oberrheinregulierung  bis 
Basel,  sogar  bis  zum  Bodensee. 

Der  Wasserstraßenbau  wurde  volkswirtschaftlich,  nicht  vom 
Standpunkt  einzelner  Produzenten,  verteidigt.  Auch  der  erleichterte 
Transport  von  schwerem  Geschütz  und  Munition  wurde  schon  vor 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  cn% 


1914  betont.  Die  preußische  Politik  stützte  ihre  Argumente  auf 
bilhge  Massenbeförderung  und  auf  die  Entlastung  der  Eisen- 
bahnen. Leichter  wäre  ihr  das  geworden,  wenn  die  laufenden  Aus- 
gaben und  die  Verzinsung  des  sehr  wertvollen  Baukapitals  —  in 
den  letzten  25  Jahren  betrug  es  2  Milliarden  Mark  —  aus  den 
Einnahmen  zu  decken  gewesen  wären.  Das  war  aber  nicht  im  ent- 
ferntesten der  Fall.  Von  1 881  — 1890  haben  die  preußischen  Er- 
träge nur  1/13  der  regelmäßigen  Kosten  gebracht,  so  daß  nicht  nur 
die  Verzinsung  durch  den  allgemeinen  Etat  aufgebracht  werden 
mußte.  Jedenfalls  kann  man  die  Benutzung  der  Kanäle  nicht  wie 
die  der  Chausseen  beurteilen,  die  den  einzelnen  Privatwirtschaften 
wohl  verschiedene  Vorteile,  aber  nur  solche  mit  unmeßbarer  Diffe- 
renz für  sie  bringen,  so  daß  man  ihre  Unterhaltung  auf  die  allge- 
meinen Steuerkassen  übernommen  hat.  Sie  werden  ferner  nicht 
wie  die  Landstraßen  über  das  ganze  Staatsgebiet  verbreitet,  son- 
dern bleiben  lokalisiert.  Daher  haben  bestimmte  Provinzen, 
Städte,  Erwerbsgruppen  ihren  nachweisbaren  Nutzen  von  ihnen 
und  haben  nach  dem  Prinzip  der  sozialen  Beiträge  Beihilfe,  sei 
es  bei  der  Anlage,  sei  es  bei  der  Unterhaltung  und  Verzinsung,  zu 
bringen. 

In  dem  Artikel  54  der  Reichsverfassung  sind  die  gesetzlichen 
Aufgaben  des  Staates  für  die  Handelsmarine  dem  Reich  über- 
tragen worden.  Auf  natürlichen  Wasserstraßen  dürfen  Schiff- 
fahrtsabgaben nur  erhoben  werden  für  die  Benutzung  beson- 
derer Anstalten,  die  zur  Erleichterung  des  Verkehrs  bestimmt 
sind,  und  sowohl  bei  natürlichen  wie  künstlichen  Wasserstraßen 
des  Staates  dürfen  diese  Abgaben  die  zur  Unterhaltung  und  ge- 
wöhnlichen Herstellung  der  Anstalten  und  Anlagen  erforderlichen 
Kosten  nicht  übersteigen. 

Als  nun  Preußen  mit  seinem  groß  angelegten  Plan  eines 
Wasserstraßennetzes  1905  hervorgetreten  war,  und  es  nahelag, 
einen  Teil  der  gewaltigen  Kosten  durch  Schiffahrtsabgaben  aufzu- 
bringen, wurde  eine  Vereinfachung  der  hier  nicht  klaren  Reichs- 
verfassung 191 1  durchgeführt,  daß  das  Wort  „besondere"  vor  An- 
stalten fortfiel,  und  daß  als  Höchstmaß  für  staatliche  und  kommu- 
nale Abgaben  die  zur  Herstellung  und  Unterhaltung  erforderlichen 
Kosten  bestimmt  werden.  Die  Herstellungskosten  wurden  derart 
definiert,  daß  die  Zinsen  und  Tilgungsbeträge  der  aufgewendeten 
Kapitalien  darunter  zu  verstehen  sind.  Die  Höhe  der  Schiffahrts- 
abgaben darf  unter  Zugrundelegung  der  Gesamtkosten  für  eine 
Wasserstraße,  ein  Stromgebiet  oder  ein  Wasserstraßennetz  festge- 
legt werden.  Ein  darauf  fußendes  Reichsgesetz  hat  für  Rhein, 
Weser,  Elbe  Strombauverbände  der  an  diesen  Strömen  beteiligten 


574 


VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 1914. 


Einzelstaaten  mit  dem  Rechte  der  Erhebung  von  Schiffahrtsabgaben 
eingerichtet,  mit  denen  die  Schiffbarmachung,  Kanalisierung,  Fahr- 
wassertiefe gefördert  werden  sollen. 

Es  ist  möglich,  daß  mit  einer  praktischen  Ausnutzung  der 
elektrischen  Triebkraft,  mit  der  Vermeidung  der  Umladungen,  mit 
der  Vereinheitlichung  der  Fahrrinne,  im  Westen  für  600  Tonnen-, 
im  Osten  für  400  Tonnenschiffe,  und  vor  allem  mit  der  Verallge- 
meinerung der  großen  Schiffe  und  deren  weiteren  Vergrößerung 
die  Einnahmen  relativ  anwachsen.  Man  glaubt,  daß  die  Über- 
legenheit der  Eisenbahn  dem  kleinen  Schiffe  gegenüber  sich  be- 
sonders geltend  gemacht  habe,  während  bei  dem  großen  die  Vor- 
teile der  relativ  billigeren  Bedienungsmannschaft,  der  geringeren 
Kraftleistung  bei  der  Vorwärtsbewegung,  bei  den  Tatsachen,  daß 
die  Nutzlast  zur  toten  in  weit  besserem  Verhältnis  steht,  und  daß 
das  Schiff  billiger  herzustellen  ist  als  die  seiner  Tragfähigkeit  ent- 
sprechenden Bahnwagen  hervortreten  werden.  Aber  wie  auch  dem 
immer  sein  mag,  der  Staat  wird  bei  den  enormen  Baukosten  zu 
dauernden  Opfern  bereit  sein  müssen,  wenn  das  großzügig  ge- 
plante W^erk  nicht  in  Stockung  geraten  soll.  Darin  haben  sich  in 
dem  letzten  Jahrzehnt  unserer  Periode  weder  Nord-  noch  Süd- 
deutschland beirren  lassen,  was  um  so  mehr  verdient  hervorge- 
hoben zu  werden,  als  auch  die  erwarteten  näheren  volkswirtschaft- 
lichen Ergebnisse  nicht  immer  nach  Wunsch  ausgefallen  sind.  Der 
Dortmund-Emskanal  ist  weder  für  Rheinland-Westfalen  eine  bil- 
ligere Seezufahrt  geworden,  vielmehr  blieb  der  Rhein  in  seiner 
Vormachtstellung  unangetastet,  noch  hat  er  die  deutschen  Nordsee- 
häfen so  mit  Kohlen  versorgen  können,  daß  die  englische  Kon- 
kurrenz zurückgedrängt  wurde.  Die  Kanäle  sind  daher  nicht  nur 
nach  der  gegenwärtigen,  sondern  nach  ihrer  zukünftigen  Leistungs- 
kraft für  die  Volkswirtschaft  zu  würdigen.  Kohlen  sind  nicht  un- 
erschöpflich, und  der  künftige  Eisenbahnbetrieb  wird  von  ihrer 
Preisgestaltung  abhängen.  Der  Wassertransport  bedeutet  heute 
schon  eine  große  Ersparnis  an  Kohle.  Ein  Schleppdampfer  auf 
dem  Rhein  befördert  z.  B.  die  Last  von  13  Güterzügen  und  braucht 
viel  weniger  Heizmaterial  als  diese  zusammen.  Je  mehr  gute 
Wasserstraßen  sich  Deutschland  schafft,  um  so  länger  hält  sein 
Kohlenreichtum  an,  um  so  unabhängiger  vom  Ausland  wird  es 
bleiben. 

Um  einen  Einblick  in  die  Befähigung  der  Binnenschiffahrt  zu 
gewinnen,  sei  hervorgehoben,  daß  von  1887 — 191 2  die  Zahl  der 
Schiffe  von  10  Tonnen  aufwärts  von  20390  auf  29533,  die  Tonnen- 
menge, bei  Schiffen,  bei  denen  die  Tragfähigkeit  nachgewiesen 
ist,   von   2100705   auf  7394657   gestiegen  ist.     Die  Zunahme   der 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  ^75 


Raumausnutzung  wird  dadurch  im  speziellen  nachgewiesen,  daß, 
indem  die  Fahrzeuge  unter  50  Tonnen  nicht  mehr  beansprucht 
haben  als  früher  und  diejenigen  von  100—150  eine  Abnahme  um 
3/5  zeigen,  die  größeren  Schiffe  in  folgender  Weise  beteiligt  ige- 
wesen  sind: 


Tragfähigkeit 

Zahl 

der  Schiffe 

in  Tonnen 

1887 

1902 

1912 

150—250 

1757 

5732 

6316 

250 — 400 

882 

2652 

3710 

400 — 600 

389 

1435 

2317 

600—800 

139 

692 

999 

über  800 

81 

969 

1650 

Nach  den  Erfahrungen  bei  der  Rheinschiffahrt  sind  die  Selbst- 
kosten der  Beförderung  für  die  Tonne  mit  dem  Schiff  von  400  Tonnen 
fast  doppelt  so  hoch  als  mit  dem  von  1 500.  Die  größten  stählernen 
Rheinschiffe  fassen  bis  zu  3500  Tonnen,  von  denen  eins  die  La- 
dung von  250  Bahnwagen  fassen  kann.  Der  Großbetrieb  tritt  auch 
dadurch  hervor,  daß  von  1887— 1912  die  Zahl  der  Schlepper  sich 
vervierfacht,  die  Schleppfähigkeit  versechsfacht  hat,  und  daß  den 
127  Güterdampfschiffen  vom  ersteren  Jahre  mit  einer  Tragfähig- 
keit von  18295  Tonnen  im  letzteren  997  mit  117  382  Tonnen 
gegenüberstanden.  Daß  die  ohne  eigene  Triebkraft,  191 2  mit 
7133602  Tonnen,  denen  mit  eigener,  die  nur  über  261055  ver- 
fügten, so  überlegen  sind,  umgekehrt  wie  bei  der  Seeschiffahrt, 
hängt  mit  der  Natur  des  Fluß-  und  Kanalbetriebes  zusammen. 

Zerlegen  wir  die  Binnenschiffahrt  von  191 2  nach  Stromge- 
bieten, so  steht  die  Elbe  oben  an  mit  14442  Schiffen  und  2  953  158 
Tonnen,  der  Rhein  hat  nur  4389,  die  indessen  2325915  Tonnen 
aufnehmen  können.  Die  Zahl  der  4849  Oder  schiffe  ist  größer 
als  die  des  Rheines,  reicht  nur  für  i  235455  Tonnen.  Die  Weser 
hat  663  mit  183  524  Tonnen,  wird  von  der  Ems  mit  ihrem  Kanal- 
anschluß mit  935  und  196226  Tonnen  übertroffen.  Es  folgt  die 
Weichsel  mit  731  Schiffen  und  124  195  Tonnen,  den  Schluß 
macht  die  Donau  mit  150  und  79831  Tonnen,  Die  Tankschiffe, 
die  von  Rumänien  Petroleum  holen,  haben  seit  1903  8000  Tonnen 
gewonnen.    Der  Verkehr  blieb  sonst  hier  gering. 

Der  Güterverkehr  auf  den  Binnengewässern  belief  sich  im 
ganzen  auf  93481057  Tonnen,  das  war  nur  1/5  von  dem,  was  die 
Eisenbahn  besorgte.  Die  größten  Posten  machten  die  Steinkohlen 
mit  25,3  Millionen  Tonnen  aus,  daran  schlössen  sich  Eisenerz  und 
Erden,  wie  Kies,  Sand,  Mergel  mit  je  10,  Ziegelsteine,  Dachziegel 
usw.   mit   4,  Weizen  mit   2,6,   Zement,   Schwefelkies,   Kali,   Gerste, 


cn()  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

Hölzer,  Braunkohle,  Bausteine,  Pflastersteine,  Steinkohlenbriketts 
mit  I — 2.  Die  einzelnen  Flüsse  variieren  die  Art  ihres  Transportes 
nach  den  Produktionsstandorten.  Bei  dem  Rhein  und  der  Oder 
stehen  deutsche  Kohlen  und  deutsches  Eisen  voran,  auf  der 
Weichsel  fremdes  Holz  und  Getreide,  auf  den  märkischen  Wasser- 
straßen Brennmaterial,  auf  der  Elbe  böhmische  Kohlen. 

Im  Binnenschiffahrtsverkehr  herrschte  der  privatkapitalistische 
Betrieb  vor.  Nur  auf  dem  Boden-  und  Ammersee  gab  es  staat- 
liche Dampfschiffe  schon  in  früherer  Zeit.  Neuerdings  sind  die 
Würmseedampfschiffe  verstaatlicht.  Preußen,  Baden  und  Bayern 
haben  sich  an  dem  Rheinschiffahrtskonzern  beteiligt.  In  dem 
Bayerischen  Lloyd  auf  der  Donau  hat  der  Staat  im  Aufsichtsrat 
der  Gesellschaft  Stimme.  Das  Vordringen  der  staatlichen  Tätig- 
keit tritt  auch  durch  das  Schleppmonopol  im  Kaiser  -  Wilhelm- 
Kanal  hervor,  das  auch  für  den  Mittellandkanal  vorgesehen  ist. 
Auf  dem  Main  errichtete  Bayern  die  Kettenschleppschiffahrt  als 
Monopol,  auf  dem  Elbe-Travekanal  ebenfalls  der  Lübecksche 
Staat.  Der  Kreis  Teltow  läßt  auf  der  Schiffahrtsstraße  zwischen 
Havel  und  Spree  nur  eigene  Dampfer  und  Motorschiffe  laufen  und 
gestattet  nur  die  elektrische  Treidelei  mit  Triebwagen  am  Kanal- 
ufer. Der  Betrieb  der  Häfen  mit  ihren  Lösch-  und  Ladevorrich- 
tungen ist  mehrfach  von  Staat  und  Gemeinden  übernommen  wor- 
den, wie  in  Duisburg,  Ruhrort,  Bremen,  Hamburg,  Altona  und 
Stettin. 

Für  die  staatliche  Verwaltung  der  Binnenschiffahrt  werden 
ähnliche  Gründe  wie  ehedem  für  die  der  Eisenbahn  geltend  ge- 
macht: Die  Sicherstellung  aller  Benutzer  durch  einen  einheitlichen 
Tarif,  die  Vorteile  des  Großbetriebes  in  der  Kostenersparung,  ,die 
Steigerung  der  Leistungsfähigkeit  der  Wasserstraße  durch  Plan- 
mäßigkeit des  Schleusenbetriebes  und  des  Laufens  der  Schiffe  in 
regelmäßigen  Abständen  oder  dicht  hintereinander,  die  Schonung 
des  Kanalkörpers,  die  Ersparung  an  Baukosten.  Auch  bessere 
finanzielle  Ergebnisse  werden  erwartet.  Sind  alle  Wasserstraßen 
einmal  in  öffentlich-rechtlicher  Hand,  so  würde  die  Konkurrenz 
mit  den  Bahnen  fortfallen,  und  die  Arbeitsteilung  zwischen  den 
Beförderungsmitteln  könnte  vollendet  durchgeführt  werden.  Dieser 
Entwicklungsgang  ist  jedoch  einer  späteren  Zukunft  vorbehalten. 


Die  Seeschiffahrt  Deutschlands  ist  im  dritten  Abschnitt 
bis  zum  Anfang  der  siebziger  Jahre  verfolgt  worden.  Das  neue 
Reich  nahm  die  Handelsschiffe  mit  seiner  Kriegsmarine  unter 
seinen  Schutz,  nachdem  im  Jahre  1867  die  deutsche  Flagge  ge- 
schaffen worden  war,  die  das  preußische  Schwarz-Weiß   mit  dem 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport. 


577 


alten  hanseatischen  Rot  vereinigte,  als  das  Symbol  des  Zusammen- 
wirkens kriegerischer  Tüchtigkeit  und  kaufmännischen  Wagemuts. 
Die  Reichsstatistik  gibt  über  die  Kauffahrteischiffe  von  50  cbm 
==  17,65  Bruttoregistertonnen  nachstehende  Auskunft: 


I. 

Sage 

Ischiff  e. 

Jahre 

Ostseegebiet 
Zahl    1  Br.-Reg.-To. 

Nordseegebiet 
Zahl    j  Br.-Reg.-To. 

Zahl 

Deutsches  Reich 
Br.-Reg.-To,   {  Besetzung 

1871 
eingeschl. 
Seeleichter 

1886 

1901 

1913 

2006 

1283 
386 
363 

439089  netto 

298569  netto 
34516 
16802 

2366 

2155 
1884 

2057 

461  272  netto 

556378  netto 

533674 
431068 

4372 

3438 
2270 
2420 

900361  netto 

854947  netto 
568  190 
447870 

34739 

24839 
12922 
12980 

II.  Seeleichter  (Schleppschiffe). 


Jahre 


Ostseegebiet 
Zahl    I  Br.-Reg.-To. 


Nordseegebiet 
Zahl  Br.-Reg.-To. 


Zahl 


Deutsches  Reich 
Br.-Reg.-To.        Besetzung 


1901 
«913 


3 
25 


977 
4080 


33 
218 

307 


6897  netto 

71343 
103 611 


33 
223 
332 


6897  netto 
72320 
107 691 


86 

773 

1053 


III.  Dampfschiffe. 


Jahre 


Ostseegebiet 
Zahl       Br.-Reg.-To. 


Nordseegebiet 
Zahl    I      Br.-Reg.-To. 


Zahl 


Deutsches  Reich 
Br.-Reg.-To.      !  Besetzung 


1871 
1886 
1901 
1913 


76 
327 

452 
562 


10734  netto 
122  797  netto 
313639 
501803 


71 
337 
938 


71  260  netto 
279  808  netto 
I  872  251 


1536   3878545 


147 
664 

1390 
2098 


81  994  netto 
420605   netto 
2  185890 
4380348 


4736 
14006 
36861 
63713 


Der  Rückgang  der  Segelschiffahrt  wird  aus  der  Überlegen- 
heit der  Dampfschiffe  an  Raum,  Schnelligkeit  und  Sicherheit  ver- 
ständlich. Die  Route  durch  den  Suezkanal  hat  ihn  offensichtlich 
beeinflußt.  Er  würde  noch  größer  gewesen  sein,  wenn  sich  nicht 
später  die  Vier-  und  FünfmastvoUschiffe  und  Barken  aus  Eisen 
und  Stahl  bis  zu  10  000  Tonnen  mit  technischen  Fortschritten  zum 
Brassen  der  Segel,  selbst  mit  dampfmaschinellem  Betrieb,  dabei 
für  bestimmte  Fahrten  und  Waren  bewährt  hätten.  Solcher  Schiffe 
gab  es  1896  25,  1905  58. 

Die  Ostseeschiffahrt  setzt  ihren  Niedergang  von  1871  — 1901 
imunterbrochen  fort,  ging  von  449  823  Nettoregistertonnen  auf 
223  769  zurück.  Mit  dem  Aufsch^^alng  der  deutschen  Landwirtschaft, 

A.  Sartoriusv.  Waltershausen,    Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.      37 


cyS  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

auch  infolge  der  Einfuhrscheine  für  Getreide,  tritt  eine  geringe 
Besserung  ein.  Der  Kaiser-Wilhelm-Kanal  bringt  einige  Hoff- 
nungen für  die  Zukunft. 

Von  1871  — 1913  hat  sich  der  Nettoregistertonnen-lnhalt  aller 
Dampfschiffe  auf  das  33fache  gehoben.  In  die  zweite  Hälfte 
dieser  Zeit  fallen  bedeutende  technische  Fortschritte,  die  sich  in 
heftiger  Konkurrenz  mit  England  durchsetzen.  Seit  der  Jahrhun- 
dertwende steht  der  Bau  unter  dem  Einfluß  der  Dampfturbine, 
später  gewinnt  die  Kesselanlage,  Heizer,  Raum  und  Gewicht  spa- 
rende Ölfeuerung  mit  Dieselmotoren  auch  Bedeutung.  Die  Ger- 
maniawerft hatte  bis  191 3  78  Schiffsdiesel  mit  454  Zylindern  und 
63000  P.-S.  erbaut.  21  Firmen  betrieben  den  Bau  von  Ölmotoren 
für  die  Schiffahrt.  Trotzdem  war  der  Sieg  des  Ölmotors  über  die 
Dampfmaschine  um  19 13  nicht  entschieden.  Die  Technik  war  noch 
nicht  zum  Abschluß  der  Vollendung  gebracht  worden,  und  die 
dauernd  hohen  Ölpreise  lasteten  auf  dem  wirtschaftlichen  Erfolg. 

Die  Passagierdampfer  leisten  immer  mehr  an  Behaglich- 
keit, Ausstattung,  Verpflegung,  Sicherheit,  Schnelligkeit.  Der  Ein- 
bau Frahmscher  Schlingertanks  bewährte  sich  zur  Einschränkung 
der  lästigen  Schwankimgen.  Der  Zustrom  an  amerikanischen  Ver- 
gnügungsreisenden, die  Kajütenpreise  von  einigen  tausend  Dollars 
für  die  Überfahrt  von  New  York  ausgeben  und  ihre  Automobile 
als  Reisegepäck  mit  sich  nehmen,  wuchs  zusehends  und  drängte 
die  Engländer  dazu,  durch  Schiffsgröße  und  Schnelligkeit  die  Ham- 
burger und  Bremer  zu  überholen.  Anfangs  des  Jahrhunderts 
bringen  es  die  deutschen  Linien  bis  auf  23I/2  Seemeilen  die  Stunde. 
Die  Gunard-Linie  überbietet  sie  dann  mit  dem  Rekord  von  251/2- 
Die  Schnelldampfer,  die  keine  Fracht  nehmen,  erwiesen  sich  wegen 
des  enormen  Kohlenverbrauchs  als  unrentabel,  die  neuen  deut- 
schen kombinierten  Fracht-  und  Passagierdampfer  fahren  lang- 
samer, aber  bieten  bei  ihrer  Raumerweiterung  mehr  Bequemlich- 
keit für  die  Fahrgäste.  Die  englischen  Olympic  und  Titanic  mit 
46300  Bruttoregistertonnen  wurden  von  dem  Imperator  mit  52000, 
Vaterland  mit  55000  und  Bismarck  mit  57000  überflügelt.  Für 
den  Verkehr  nach  Nordamerika  gereichte  es  der  deutschen  Han- 
delsmarine zur  Gunst,  daß  sie  dauernd  Auswanderer  zu  befördern 
hatte,  erst  deutsche,  dann  osteuropäische,  daß  sie  auf  der  Fahrt 
englische  und  französische  und  belgische  Häfen  aufsuchen  konnte, 
um  Güter  und  Passagiere  aufzunehmen,  daß  sie  im  Konkurrenz- 
kampf mit  England  und  den  Vereinigten  Staaten  über  ein  reich- 
liches Angebot  an  Mannschaften  und  Offizieren  verfügte,  bei  ihrer 
jugendlichen  Frische  an  tatkräftigen  leitenden  Persönlichkeiten 
keinen  Mangel  hatte,  endlich,  daß  die  gesamte  Volkswirtschaft  im 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  cyq 

Aufstreben  begriffen  war,  von  der  sie  viel  empfing,  der  sie  ^ber 
auch  als  ein  Teil  von  ihr  viel  gab.  Allerdings  litt  sie  auch  unter 
den  Krisen  des  allgemeinen  Wirtschaftslebens,  vor  allem  in  den 
siebziger  Jahren,  als  sich  Überkapitalisation,  Überproduktion  an 
Schiffen,  heftige  Konkurrenzkämpfe,  Dividendenlosigkeit  der  Ge- 
sellschaften und  Kapitalreduktionen  geltend  machten.  Erst  Mitte 
der  achtziger  Jahre  treten  geregeltere  Verhältnisse  ein,  als  der 
Norddeutsche  Lloyd  und  die  Hamburg- Amerika-Linie  sich  ver- 
ständigen und  auch  die  kontinentalen  Gesellschaften  zu  einer  Preis- 
konvention (zu  Köln   1885)  schreiten. 

Um  19 13  besaß  Deutschland  33  Riesendampfer,  die  10  000 
Tonnen  überschritten,  und  11  weitere  waren  im  Bau.  England 
gegenüber  mit  seinen  122  war  diese  Summe  immerhin  schon  be- 
achtenswert, glänzend  erschien  sie,  wenn  man  sie  mit  den  1 1  der 
Vereinigten  Staaten,  10  Frankreichs  und  5  der  Niederlande  ver- 
glich. 17  dieser  deutschen  Großschiffe  gehörten  dem  Norddeut- 
schen Lloyd,  15  der  Hamburg-Amerika-Linie,  i  der  Hamburg-Süd- 
amerikanischen Dampf  Schiffahrtsgesellschaft. 

Schon  1872  hatte  der  Norddeutsche  Lloyd  von  Bremen  aus 
jede  Woche  zwei  Fahrten  nach  New  York  und  eine  nach  Balti- 
more eingerichtet.  Die  Hamburg-Amerika-Linie  blieb  nicht  zu- 
rück und  ließ  auch  Schiffe  regelmäßig  nach  Mittelamerika  laufen. 
Neue  Gesellschaften  kommen  auf,  die  Hamburg-Südamerikanische 
(1871)  und  die  Kosmos-Linie  (1872).  Die  Reichssubventionsgesetze 
für  den  Postdienst  von  1885 — 1893  bestimmen  den  Lloyd,  den  Ver- 
kehr nach  Ostasien  und  Australien,  die  Deutsche  Ostafrika-Linie, 
von  Hamburg  nach  der  Kolonie  gleichen  Namens  aufzunehmen. 
Wiederum  werden  neue  Gesellschaften  gegründet.  Nicht  alle  kön- 
nen sich  halten  und  werden  durch  die  kapitalkräftigeren  aufge- 
sogen. Um  19 13  hat  Hamburg  außer  den  schon  genannten  noch 
die  Deutsch-Australische  Dampfschiffahrts-Gesellschaft,  die  Deut- 
sche Levante-Linie,  die  Deutsch-Amerikanische  Petroleumgesell- 
schaft, die  Woermann-Linie,  Rob.  Sloman  jr.  und  die  Continentale 
Reederei;  Bremen  die  Hansa,  die  drittgrößte  Unternehmung 
Deutschlands  um  19 13,  die  ausschließlich  Frachtdampfer  laufen 
läßt,  die  Roland-Linie,  Rickmers,  Neptun,  die  Afrika-Linie,  Argo. 
Die  Überlegenheit  der  beiden  Städte  allen  übrigen  deutschen  Häfen 
geht  daraus  hervor,  daß  etwa  ^/g  des  gesamten  Raumgehaltes 
auf  sie  entfielen.  Den  beiden  großen  Gesellschaften,  der  Hapag 
und  dem  Lloyd,  gehörten  40 0/0  der  Tonnage  an.  Die  Linien  werden 
immer  vielseitiger,  wodurch  eine  Sicherstellung  des  Geschäftes 
gewährleistet  ist.  Außer  den  schon  genannten  wird  der  Dienst 
im  Mittelmeer  und  von   Italien  nach   New  York,  ferner  der  nach 

37* 


c^o  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

Brasilien,  Argentinien,  Mexiko,  Kanada,  Ostindien,  der  Westküste 
Südamerikas  aufgenommen.  Kleinere  Gesellschaften,  auch  aus- 
ländische, werden  aufgekauft,  z.  B.  vom  Lloyd  zur  Küstenfahrt 
in  ostindischen  und  chinesischen  Gewässern;  Tochtergesellschaften 
werden  gegründet,  wie  die  Italia  in  Genua,  von  Hamburg  aus.  Von 
1877 — 1892  steht  J.  G.  Loh  mann  als  geeigneter  tüchtiger  Mann 
an  der  Spitze  des  Lloyd,  seit  1899  ist  H.  Wiegand  der  einfluß- 
reiche erfolgreiche  Generaldirektor.  In  der  Hamburger  Linie 
wirkt  gleichzeitig  Albert  Ballin,  der  die  Auswanderer  aus 
Polen  und  Rußland  zu  gewinnen  und  mit  den  amerikanischen  Kapital- 
mächten zu  paktieren  weiß,  ein  glänzendes  Geschäft  mit  den  Russen 
während  ihres  japanischen  Krieges  macht,  und  neue  Linienfahrten 
begründet.  Vor  dem  Kriege  verfügen  beide  Gesellschaften  über 
ein  Aktienkapital  von  je  100  Millionen  Mark.  Große  Gewinnbe- 
träge werden  zur  Ergänzung  des  Schiffsparks  verwendet,  um  die 
Pflichten  gegen  das  Vaterland  immer  zuverlässiger  erfüllen  zu 
können.  Ein  Teil  der  Schiffe  wird  zum  Hilfskreuzerdienst  für  die 
Kriegsflotte  eingerichtet. 

Die  Seeschiffahrt  untersteht  der  internationalen  Konkurrenz. 
Die  kontinentale  wird  unter  dem  Druck  der  englischen  Linien  ge- 
halten. 1900  werden  die  Amerikaner  mit  dem  Morgantrust,  nach- 
dem er  die  englische  White  Star-Linie  erworben  hat,  wieder  (be- 
deutimgsvoll  auf  dem  atlantischen  Ozean.  Die  beiden  großen  deut- 
schen Gesellschaften  schließen  mit  ihm  eine  Konvention,  unter  der 
er  sich  verpflichtet,  15  Jahre  in  die  Domäne  deutscher  Schiffahrt 
nicht  einzudringen.  Gemeinsam  stemmen  sich  die  Kontrahenten 
gegen  den  englischen  Wettbewerb,  besonders  der  Cunard-Linie. 
Ein  heftiger  Tarifkampf  entbrennt  vor  allem  um  die  Auswande- 
rungsbeförderung, als  es  den  Engländern  gelingt,  mit  Unterstütz- 
ung der  ungarischen  Regierung,  von  Fiume  aus  Schiffe  laufen  zu 
lassen.  Um  1903  halten  es  die  widerstrebenden  Interessenten  an 
der  Zeit,  sich  zu  vertragen.  Der  große  Schiffahrtspool  mit  Ver- 
teilung der  Auswandererscharen  und  unter  sonstiger  Abgrenzung 
der  Arbeitsgebiete  kommt  zustande.  Geordnete  Verhältnisse  und 
gute  Dividenden  fallen  jetzt  zusammen;  letztere  schwanken  zwar 
unter  der  weltwirtschaftlichen  Konjunktur,  die  1908  und  1909  stark 
rückgängig  ist,  im  ganzen  aber  das  Kapital  besser  befriedigen  als 
in  der  Zeit  des  Konkurrenzkampfes. 

Wie  aus  der  Einstellung  immer  größerer  Schiffe,  ergibt  sich 
die  Zimahme  des  Großbetriebes  auch  aus  der  Vermehrung  der 
Kapitalmenge  in  den  Unternehmungen.  Als  Großreeder  sprach 
man  1880  solche  an,  die  über  10000  T'^nnen,  1901  über  20000, 
191 4  über  30000  verfügten.     Das  waren  im  ersteren  Jahre  3,   die 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  egi 

66  Dampfschiffe  besaßen,  im  zweiten  i6  mit  526,  im  dritten  21  mit 
950.  Bis  1880  stand  die  Hamburg- Amerika-Linie  in  der  Reihe  der 
Weltreedereien  an  17.  Stelle,  der  Norddeutsche  Lloyd  an  4.,  um 
1900  standen  sie  an  i.  bzw.  2.  Die  erstere  Gesellschaft  besaß  191 1 
388  Schiffe  mit  i  306819  Bruttoregistertonnen,  die  zweite  425  mit 
889  183.  Die  drittgrößte  Reederei  der  Erde,  Eilermann  Lines, 
zählte  nur  120  Schiffe  mit  einem  Raumgehalt  von  563  136  Brutto- 
registertonnen. Die  übrigen  deutschen  Firmen  treten  zurück,  sie 
schwankten  zwischen  der  17.  und  118.  Stelle.  Übrigens  ist  nicht 
zu  übersehen,  daß  England  an  Raumgehalt  und  Großschiffbesit2! 
im  ganzen  weit  überlegen  war,  da  es  19 14  120  Unternehmungen 
besaß  mit  mehr  als  30000  Tonnen,  Deutschland  21,  die  Vereinigten 
Staaten  12,  Frankreich  11,  Norwegen  9,  Holland  8.  Unter  den 
wichtigsten  25  Schiffahrtsgesellschaften  der  Erde  waren  16  in  Eng- 
land beheimatet. 

Der  Betrieb  der  Seeschiffahrt  wurde  in  allen  Ländern  von  der 
kapitalistischen  Unternehmung  ausgeübt.  Staatsschiffe  kommen  als 
Ausnahme  im  Anschluß  an  Staatseisenbahnen  für  kurze  Fahrten 
vor.  Er  eignet  sich  für  die  öffentliche  Verwaltung  wenig.  Als 
1902  die  Befürchtung  geäußert  wurde,  der  Amerikaner  Morgan 
wolle  sich  in  den  Besitz  der  Majorität  der  Aktien  der  Ham- 
burg-Amerika-Linie oder  des  Bremer  Lloyd  setzen,  wurde  in 
der  Presse  die  Verstaatlichung  beider  Linien  erwogen,  um  ihrer 
Entnationalisierung  vorzubeugen.  Beachtet  man  die  Leistungs- 
fähigkeit der  Kriegsmarine,  so  würde  von  der  technischen  Seite  des 
Baues  und  Betriebes  kein  Einwand  erhoben  werden  können.  Die 
Ablehnung  des  Gedankens  wurzelte  im  Wirtschaftlichen.  Auf  dem 
Ozean  herrscht  freier  Wettbewerb,  bei  dem  rasche  Entschlüsse 
über  Millionen  werte  gefaßt  werden  müssen,  und  verwickelte  ge- 
schäftliche Abmachungen  mit  Feind  und  Freund  viel  kaufmänni- 
schen Sinn  beanspruchen.  Neue  Fahrlinien,  Änderung  der  Fracht- 
sätze, Umbau  und  Umgestaltung  der  Schiffe  haben  sich  der  Kon- 
junktur anzupassen,  und  in  fremden  Häfen  hat  man  auch  Ausländer 
als  Agenten  anzustellen  und  ihnen  Kredite  einzuräumen.  Zu  allen 
diesen  Funktionen  ist  der  Staatsbeamte  mit  seiner  Bindung  an  die 
obere  Verwaltungsbehörde  wenig  geeignet,  und  die  parlamenta- 
rische Etatskontrolle  mit  ihren  finanziellen  und  parteipolitischen 
Bedenken,  die  schon  bei  dem  weit  schematischeren  Eisenbahnbe- 
trieb eine  lästige  Fessel  der  sachverständigen  Einsicht  sein  kann, 
ist  der  notwendig  freien  Bewegung  der  Schiffahrtsgesellschaften: 
abträglich. 

Die  Besorgnis  der  Entnationalisierung  wurde  damit  beseitigt, 
daß  Vorstand  und  Aufsichtsrat  nur  Deutsche  sein  dürfen,  und  daß 


c82  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

wichtige  Beschlüsse,  wie  Verlegung  des  Sitzes  der  Gesellschaft  in 
das  Ausland  oder  Auflösung  der  Gesellschaft,  durch  den  Wider- 
spruch einer  niedrigen  Quote  der  Aktienstimmen,  die  man  mit 
Sicherheit  in  deutschen  Händen  festzuhalten  glaubte,  verhinderte. 

Zeigten  so  die  großen  Dampferlinien  ein  ausreichendes  patrio- 
tisches Verständnis,  so  hielten  sie  bei  wichtigen  internationalen 
Angelegenheiten  auch  Fühlung  mit  der  Reichsregierung.  Manche 
ihrer  Angestellten  waren  Seereserveoffiziere,  so  daß  schon  hier- 
durch Beziehungen  zur  Kriegsmarine  gehalten  wurden.  Umge- 
kehrt sind  frühere  aktive  Seeoffiziere  in  ihren  Dienst  getreten. 

Der  englische  Dampferschiffsbau  war  in  den  siebziger  und 
achtziger  Jahren  dem  deutschen  weit  überlegen.  1887  gab  die 
Hamburg-Amerika-Linie  zuerst  der  deutschen  Gesellschaft  Vulkan 
in  Stettin  den  Auftrag,  die  Augusta  Viktoria,  die  später  den  Ver- 
gnügungsreisenden im  Mittelmeer  so  bekannt  wurde,  zu  bauen. 
Aber  schon  zwischen  1885  — 1898  waren  ^/^  der  neuen  Lloydschiffe 
auf  deutschen  Werften  vom  Stapel  gelaufen.  1895  wurde  eine 
Schiffsbauschule  in  Hamburg,  1902  eine  in  Kiel  errichtet.  Auch 
die  technischen  Hochschulen  in  Charlottenburg  und  Danzig  fördern 
das  Schiffsbaugewerbe,  wie  das  Technikum  in  Bremen  schon  seit 
1894.  Der  Bau  der  deutschen  Kriegsflotte  in  Deutschland  wirkt 
auf  den  der  Handelsschiffe  günstig  zurück.  Der  Schiffsbau  an  der 
Ostsee,  begünstigt  durch  die  Lage  des  materialreichen  Schlesiens, 
ist  in  Kiel,  Stettin,  Danzig,  Lübeck,  Flensburg  'und  Rostock  be- 
deutend geblieben,  obwohl  die  Ostseeschiffahrt  versiegte  (Vulkan, 
Germania,  Neptun,  Oderwerke,  F.  Schichau).  An  der  Nordsee 
betätigten  sich  vor  allem  Hamburg,  Bremerhaven,  Emden,  Vege- 
sack,  Geestemünde  (Blohm  &  Voss,  Rickmers,  Tecklenborg).  Der 
Bau  auch  für  ausländische  Rechnung  setzte  bald  ein,  sowohl  ^für 
Kriegs-,  wie  für  Kauffahrteischiffe.  Im  Bau  befinden  sich  an  letz- 
teren überhaupt  1910  für  15,7,  191 1  30,1,  1912  61,4,  1913  49,0 
Tausend  Tonnen,  während  in  den  gleichen  Jahren  die  Zahlen  ^für 
deutsche  Bestellung  auf  540,6,  855,6,  1224,9,  1296,8  Tausend  lau- 
teten. Vom  Ausland  wurden  für  deutsche  Rechnung  in  diesen 
4  Jahren  nur  für  285  000  Tonnen  auf  Stapel  gelegt.  Die  Schiffs- 
baupolitik des  Reiches  ist,  am  Erblühen  des  Gewerbes  gemessen^ 
die  richtige  gewesen.  Anders  ausgedrückt:  in  die  großartige  Ent- 
wicklung der  deutschen  Volkswirtschaft,  von  der  der  Schiffsbau 
nur  ein  unauslösbarer  Teil  war,  paßten  die  angewandten  Maß- 
regeln hinein. 

Der  englische  Schiffsbau  ist  dadurch  begünstigt,  daß  er  alle 
erforderlichen  Materialien  unter  dem  Freihandel  zu  zollfreien 
Preisen  erhält.     Wollte  der  deutsche  beim  Schiffsverkauf  im  Aus- 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  cSi 

lande  oder  bei  der  Frachthöhe  auf  dem  Ozean  mit  den  Engländern 
konkurrieren,  so  mußte  er  sich  ebenfalls  auf  Weltmarktpreise  der 
Baustoffe  stützen.  Bei  dem  bestehenden  Zollschutz  für  Eisen, 
Stahl,  Holz  und  zahlreiche  Halbfabrikate  wurde  es  daher  nötig,  den 
Seeschiffsbau  im  großen  in  die  Freihafengebiete  zu  legen  und  die 
Zollfreiheit  des  Materials  unter  Kontrolle  zuzugestehen.  Ausge- 
nommen blieben  die  Schiffseinrichtungsgegenstände,  das  Kajüt- 
und  Küchengut,  die  dem  Zollaufschlag  unterliegen  und  fast  ganz 
von  heimischen  Geschäftsleuten  geliefert  wurden.  Die  Eisen-  und 
Stahlindustrie  mußte  sich,  wenn  sie  am  Schiffsbau  teilnehmen 
wollte,  eine  Verminderung  der  Inlandpreise  gefallen  lassen.  Wenn 
sie  den  Weltmarkt  aufsuchte,  ging  sie  zwar  sowieso  im  Preise 
herab,  sie  fand  es  aber  widerspruchsvoll,  wenn  es  sich  um  einhei- 
mische Gewerbe  in  einer  Freizone  handelte.  In  den  Vereinigten 
Staaten  hatte  der  Schiffsbauer  die  inländischen  Materialpreise  zu 
zahlen,  wenn  das  Schiff  unter  amerikanischer  Flagge  fahren  sollte. 
Daher  kam  dort  nur  die  Küstenschiffahrt  in  die  Höhe,  wo  die  euro- 
päische Konkurrenz  fehlte,  im  Verkehr  mit  Europa  blieb  der  eigene 
Schiffsdienst  rückständig. 

Als  die  Postdampfersubventionen  vom  Reich  zugebilligt  wur- 
den, wurde  den  sie  beziehenden  Linien  die  Vertragsklausel  aufge- 
legt, daß  die  von  ihnen  eingestellten  neuen  Dampfer  auf  deutschen 
Werften,  tunlichst  unter  Verwendung  deutschen  Materials,  gebaut, 
und  daß  die  Instandsetzungen,  soweit  möglich,  ebenfalls  daselbst 
vorgenommen  werden  müssen.  Das  ist  dem  deutschen  Schiffsbau 
sehr  zugute  gekommen. 

Es  kam  schließlich  zu  einem  allgemeinen  Kompromiß,  der  für 
das  Schiffsbaugewerbe,  das  nun  mit  den  besten  Stoffen  regelmäßig 
versorgt  wurde,  für  die  sie  herstellende  Großindustrie,  die  ihren 
Absatz  erweiterte,  für  die  Volkswirtschaft,  die  von  England  in 
dem  Sichselbstversorgen  mit  eigenen  Schiffen  unabhängig  wurde, 
segensreich  gewesen  ist:  Die  Werften  zahlten  etwas  höhere  Preise 
als  sie  bei  der  Einfuhr  aus  dem  Auslande  zu  gewähren  haben  wür- 
den, die  inländischen  Industriellen  gingen  von  ihrem  Inlandspreis 
herunter,  und  die  Staatseisenbahnverwaltungen  gewährten  eine 
Tarifermäßigung  bei  dem  Materialtransport.  Die  stete  Fühlung 
aller  beteiligten  Gewerbe  untereinander  wurde  durch  eine  gemein- 
same Verkaufsagentur  gehalten.  Die  Staatseisenbahnen  sichern 
sich  für  das  gewährte  Entgegenkommen  eine  Einnahme,  die  ihnen 
sonst  entgangen  wäre,  haben  also  keineswegs  ihren  Finanzstand- 
punkt aufgegeben  und  den  Schiffsbau  aus  öffentlichen  Mitteln  be- 
günstigt,  wie  das   im  Ausland  behauptet  wurde,  um  die  Leistung 


584 


VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914- 


Deutschlands  herabzuwürdigen.  Eine  allgemeine  Staatsunterstützung 
ist  seiner  Reederei  nicht  zuteil  geworden. 

Wenn  nach  dem  Gesetz  von  1881  die  Küstenfrachtfahrt  der 
deutschen  Flagge  vorbehalten  wurde,  so  sollte  damit  nur  ein  recht- 
lich gesicherter  Tauschgegenstand  für  künftig  abzuschließende  in- 
ternationale Verträge  der  Regierung  in  die  Hand  gegeben  werden, 
wovon  sie  auch  Gebrauch  gemacht  hat.  Die  schon  erwähnten  Post- 
dampfersubventionen erstrecken  sich  nur  auf  zwei  Gesellschaften 
und  hängen  mit  der  Kolonialpolitik  eng  zusammen,  betragen  netto 
6,9  Millionen  Mark,  was  etwa  einem  Drittel  der  von  Frankreich 
oder  England  für  gleiche  Zwecke  gezahlten  Summen  entspricht. 

Gleichzeitig  mit  dem  Schiffsbau  hat  sich  auch  die  Hochsee- 
und  Heringsfischerei  mit  Fischdampfern  herausgemacht.  Das  Ge- 
schäft wird  durch  Aktiengesellschaften  mit  i — 2  Millionen  Mark 
Kapital  von  Altona,  Cuxhaven,  Bremerhaven  und  Rostock  vorzugs- 
weise  ausgeübt. 

Als  ein  Ausdruck  der  gesamten  volks-  und  weltwirtschaft- 
lichen Verkehrsbewegung  können  die  zunehmenden  postalischen 
Ziffern  gelten,  die  aus  der  nachstehenden  Tabelle  in  großen 
Zügen  ersichtlich  werden: 

Es  wurden  von  deutschen  Postanstalten  vermittelt: 


In  Millionen  Stück 


im  ganzen 


davon  innerhalb 
Deutschlands 


im  ganzen 


1911 

davon  innerhalb 
Deutschlands 


Briefe 

Postkarten 

Drucksachen      ....    1 
Geschäftspapiere        .    .    j 

Warenproben 

Zeitungsnummern      .    ,    . 
Außergewöhnliche 

Zeitungsbeilagen    .    .    . 
Pakete   ohne  Wertangabe 
Pakete,  Briefe  und  Käst- 
chen   mit    Wertangabe 


597,8 
276,6 

275-3 

20,3 
324,8 

41.3 
97,8 

12,2 


735,2 
251,4 

218,5 

11,6 
607,5 

41,3 
9>,7 

10,5 


3215,4 
1871,4 

1477,6 

25,5 

103,4 

2278,7 

290,7 
292,3 

13,6 


2712,8 

1617,2 

1243,0 

20,0 

67,4 
2222,2 

290,7 
264,8 

10,9 


Deutschland  hat  von  allen  Ländern  den  größten  Briefverkehr 
und  nach  den  Vereinigten  Staaten  auch  die  meisten  Postanstalten. 
Ebenso  ist  das  Telegraphennetz  das  ausgedehnteste,  und  der  Tele- 
grammverkehr wird  nur  durch  England  übertroffen.  Im  Welt- 
postverein,  der  auf  Deutschland  zurückwirkt,   sind  seit   1878   meh- 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  eßc 

rere  Verbesserungen  zur  Durchführung  gebracht  worden,  wie  die 
Zulassung  der  internationalen  Postanweisung  für  eine  Anzahl  Län- 
der und  die  der  Paketversendung.  An  dem  internationalen  Porto- 
satz wurde  nichts  geändert,  was  von  Deutschland  unliebsam  emp- 
funden wurde,  nachdem  seit  1908  zwischen  England  und  den  Ver- 
einigten Staaten  das  Pennyporto  gültig  wurde,  das  auch  zwischen 
Mutterland  und  Kolonien  besteht.  Es  gelang  der  deutschen  Post- 
verwaltung nur,  daß  für  die  zwischen  dem  Reich  und  den  Vereinigten 
Staaten  auf  dem  direkten  Seewege  auszutauschenden  frankierten 
Sendungen  eine  Erleichterung  Platz  griff.  Im  inneren  Verkehr 
brachten  zahlreiche  Neuerungen  nach  und  nach  manche  Erleichte- 
rung, z.  B.  in  der  Beschleunigung  des  Pakettransportes,  insbe- 
sondere zwischen  Nord-  und  Süddeutschland,  im  Ortsschnelldienst, 
in  der  Mitwirkung  des  Publikums  bei  der  Ausfüllung  der  Postan- 
weisungsquittung, in  der  Zulassung  der  Brieftelegramme,  der  Post- 
kartenblocks, der  Briefmarkenautomaten,  der  gestatteten  Beschrei- 
bung der  halben  Adreßseite  der  Postkarte,  in  der  Vereinfachung 
der  Telegramm-  und  Telephongebühren.  Im  Verkehr  mit  Öster- 
reich wurde  die  Telephongebühr  herabgesetzt  und  auch  andere 
Verbilligung  gewährt. 

Wenn  die  Postanweisungssumme  von  1906 — 191 2  einen  Rück- 
gang zeigt,  so  ist  dies  aus  dem  seit  dem  i.  Jan.  1909  eingeführten 
Postscheckverkehr  zu  verstehen,  der  sich  einer  bedeutenden 
Zunahme  erfreute.  Hervorgegangen  ist  er  aus  dem  Bedürfnis, 
die  Edelmetall-  und  Banknotenzahlungen  einzuschränken,  um  dann 
die  freigewordenen  Beträge  zu  Kreditzwecken  zu  verwenden.  War 
es  auch  eine  falsche  Hoffnung,  die  Knappheit  an  Geldleihkapital, 
die  1906  und  1907  die  Volkswirtschaft  heimsuchte,  damit  beseitigen 
zu  können,  weil  Umsatzmittel  mit  disponiblem  Kapital  verwechselt 
wurden  und  die  Kurse  der  inländischen  Staatsanleihen  durch  die 
Vermehrung"  von  Zahlungsmitteln  zu  heben,  so  ist  es  doch  unver- 
kennbar, daß  der  Zahlungsverkehr  von  der  neuen  Einrichtung 
Nutzen  gezogen  hat. 

Der  Postscheckverkehr  ist  eine  teilweise  Verstaatlichung  des 
Bankgewerbes,  durch  die  den  Banken  eine  Konkurrenz  erwächst. 
Ihre  Provisionen  für  Geldübertragung  wurden  gedrückt.  Anderer- 
seits hatten  sie  für  den  eigenen  Verkehr  auch  Vorteile  gewonnen 
unter  der  Ausnutzung  der  so  zahlreichen  Postanstalten,  Briefkasten 
und  Briefträger,  mit  deren  Massenhaftigkeit  niemals  Bankfilialen 
wetteifern  können.  Sie  wurden  auch  von  den  Zwergschecks  ent- 
lastet, während  die  großen  Summen  der  Privaten,  die  verzinst  wer- 
den sollen,  ihnen  doch  zuflössen,  da  die  Post  keine  Zinsen  zahlt. 
Eine  Arbeitsteilung  zwischen  ihr  und  den  Banken  bildete  sich  also 


c86  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

als  System  heraus,  indem  die  Kunden  die  Post-  und  Banktätigkeit 
nach  ihren  Bedürfnissen  kombinieren  konnten. 

Im  Gebiete  der  Reichspost  wurden  neun  Postscheckämter  er- 
richtet, drei  im  Osten,  in  Berlin,  Breslau  und  Danzig,  drei  in 
Mitteldeutschland,  in  Hamburg,  Hannover,  Leipzig,  drei  im  Westen, 
in  Frankfurt  a.  M.,  Köln,  Karlsruhe.  Dazu  kamen  drei  in  Bayern, 
in  München,  Nürnberg  und  Ludwigshafen,  eins  in  Stuttgart  für 
die  württembergische  Postverwaltung.  Die  Guthaben  der  Kunden, 
die  über  eine  feste  Stammeinlage  hinaus  verfügbar  sind,  sei  es 
im  Wege  der  Giroübertragung  oder  zur  Auszahlung  mittels  steuer- 
freier Schecks,  werden  nicht  verzinst.  Durch  die  Zahlkarte  kann 
von  jedermann  eine  Zahlung  auf  ein  Konto  geleistet  werden.  Alle 
Postanstalten  vermitteln  die  Ein-  und  Auszahlungen  und  Überwei- 
sungen, die  durch  das  ganze  Reich  vorgenommen  werden  können. 
An  dem  Scheckverkehr  nimmt  ein  sehr  großes  Publikum  Anteil, 
da  viele  Banken  an  den  Scheckämtern  ein  Konto  besitzen  und  so 
ihre  Kunden  in  den  Verkehr  einbeziehen.  Das  1908  in  Deutschland 
eingeführte  Scheckgesetz,  das  die  Formalien  des  Schecks  und  die 
passive  Scheckfähigkeit  regelt,  findet  auch  auf  die  Post  An- 
wendung. 

Vom  Beginn  der  Einrichtung  bis  Ende  191 2  stieg  die  Zahl 
der  Konteninhaber  bis  auf  89380,  ihr  Guthaben  auf  180,0  Mil- 
lionen Mark.  Der  Gesamtumsatz  betrug  191 2  35  534,5  Millionen 
Mark,  von  dem  bargeldlos  19791,6  beglichen  wurden,  die  gutge- 
schriebenen Übertragungen  machten  7  334,9,  die  ausgezahlten 
Schecks  und  ausgefertigten  Zahlungsanweisungen  10480,2,  die  gut- 
geschriebenen Zahlkarten  10424,8  Millionen  Mark  aus.  Vervoll- 
kommnet wurde  der  Postscheckverkehr  dadurch,  daß  die  Reichs- 
bank mit  den  Ämtern  in  Verbindung  trat,  und  daß  die  Überwei-) 
sungen  auch  mit  einigen  Ländern  international  geregelt  wurden, 
so  mit  Österreich-Ungarn,  der  Schweiz,  Luxemburg  durch  amt- 
lichen Giroverkehr  für  die  Inhaber  von  Postscheckkonten  der  fünf 
Länder,  mit  Belgien  zuerst  durch  Vermittelung  seiner  National- 
bank, bis  11913  auch  in  Brüssel  ein  Postscheckamt  begründet  .wurde. 
Ein  Erfolg  dieser  weltwirtschaftlichen  Neuerung  auf  großer  Stufen- 
leiter hätte  auf  den  zwischenstaatlichen  Devisenverkehr  und  Han- 
del nicht  ohne  Einfluß  bleiben  können.  Einstweilen  schob  ihm  der 
Krieg  einen  Riegel  vor. 

Um  noch  ein  Wort  über  den  Fortschritt  des  telegraphischen 
und  Femsprechwesens  zu  sagen,  hob  sich  die  Zahl  der  Telegraphen- 
anstalten von  1887 — 1912  von  14565  auf  48  167,  der  eingegangenen 
Telegramme  von  17860  auf  52273  Tausend  Stück,  die  Länge  der 
telephonischen  Leitungen  von  (1888)  56,4  auf  5456,6  Tausend  Kilo- 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  egy 

meter,   die   Zahl  der   vermittelten   Gespräche   von    55,6   auf   2326,7 
Millionen. 

Der  Telegrammdienst  war  durch  die  Verwendung  des  Bronze- 
und  Hartkupferdrahtes  und  die  Vermehrung  der  die  Witterungsstö- 
rungen ausschließenden  unterirdischen  Leitungen  sicherer  gestellt, 
durch  die  Morsehörapparate  auch  beschleunigt  worden.  Vollkom- 
mener wurden  die  vorhandenen  Betriebsmittel  durch  die  Mehrfach-, 
Simultan-  und  Maschinentelegraphie  ausgenutzt.  Das  Fernsprech- 
wesen bediente  sich  neuer  Mittel  in  verbesserten  Mikrophonen  und 
im  Doppelleitungsbetrieb,  um  die  Gespräche  verständlicher  zu 
machen,  die  auf  immer  weitere  Entfernungen  ausgedehnt  wurden. 
Durch  die  selbsttätigen  Umschaltesysteme  imd  selbstkassierenden 
Fernsprechstellen  wurde  der  Bequemlichkeit  der  Benutzer  ent- 
©prochen.  ' 

Deutschland  besaß  auch  Seekabel,  so  nach  den  Vereinigten 
Staaten,  Westafrika,  Brasilien  und  in  der  Ostsee.  Vor  Ausbruch 
des  Krieges  wurde  der  Anteil  deutschen  Eigentums  am  Weltkabel- 
netz auf  8,30/0  angegeben.  Die  Engländer  hatten  es  hier  verstan- 
den, sich  eine  ganz  überlegene  Stellung  im  Weltverkehr  zu  sichern, 
als  die  Erfindung  der  drahtlosen  Telegraphie  dem  politischen 
Monopol  gefährlich  zu  werden  schien.  Aber  auch  die  in  England 
stationierte  Marconigesellschaft  ermöglichte  von  neuem  diesem 
Lande  einen  Vorrang,  bis  ihn  die  deutsche  Telefunkengesellschaft, 
die  eine  Verbindimg  mit  Longisland  (V.  St.),  den  deutschen  Kolo- 
nien und  Ostasien  von  Nauen  aus  herstellte,  durchbrach  und 
Deutschland  während  des  Krieges  große  Dienste  leistete.  So  hatte 
sich  die  deutsche  Wissenschaft,  vor  allem  vertreten  durch  Braun, 
S 1  a  b  y  und  Graf  Arco,  in  Verbindung  mit  der  Technik  wieder- 
um zum  Wohle  des  Vaterlandes  bewährt.  Es  gelang,  die  Reich- 
weite der  Stationen  zu  vergrößern,  die  Geschwindigkeit  der  Nach- 
richtenvermittelung über  die  der  Morseapparate  zu  erhöhen  und 
die  Geheimhaltung  der  funkentelegraphischen  Mitteilung  leidlich 
zu  sichern.  Der  Nauener  Turm  wurde  noch  191 4  dem  Privatver- 
kehr freigegeben.  Auch  die  Stationen  in  Eilvelse  bei  Hannover, 
in  Köln,  in  Norddeich  versorgten  seitdem  überseeische  Länder  mit 
deutschen  Nachrichten  und  hielten  Beziehungen  zu  deutschen  Schif- 
fen auf  der  Fahrt  aufrecht. 

Zusammenfassend  und  die  Lebhaftigkeit  des  deutschen  volks- 
wirtschaftlichen Getriebes  charakterisierend,  ist  von  Post  und  Tele- 
graphie zu  sagen,  daß,  während  Deutschland  von  1887 — 191 1  seine 
Bevölkerung  noch  nicht  um  die  Hälfte  steigerte,  eine  Vermehrung 
eintrat  bei: 


c88  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

Briefen um  das  3^/5  fache 

Postanweisungen  (Stücke)  „  „     2^4     „ 

gewöhnlichen  Paketen     .  „  ,,3 

Zeitungen ,  „     3V3     " 

Postkarten „  „     6^/4 

Telegrammen ,,  „3 

Ferngesprächen  .     .     .     .  „  „20         „ 

Die  ungemein  erleichterte  Fernverständigung  unter  den  Men- 
schen, ohne  sich  vom  Ort  zu  bewegen,  macht  es  begreiflich,  daß 
sie  die  persönliche  Aussprache  aufzusuchen  immer  weniger  nötig 
hatten.  Der  Einzelne  konnte  sich  daher,  wenn  er  wollte,  um  so  in- 
tensiver auf  sich  zurückziehen.  Jedenfalls  hat  eine  Großstadt  trotz 
ihres  Gedränges  und  geschäftlicher  Reibung  verhältnismäßig  viel 
mehr  „Einsame  Menschen"  als  der  Marktflecken  und  das  Dorf. 
Wenn  auch  gleiche  Empfindungen,  gleiche  Urteile,  gleiche  soziale 
Wünsche  durch  die  Massenverbreitung  der  Zeitungen  genährt  wer- 
den, so  ist  die  seelische  Verbindung  von  Individuum  zu  Individuum 
trotz  aller  Organisation  des  Verkehrs  doch  eher  loser  als  fester 
geworden.  Das  mag  auf  verschiedenen  Gründen  beruhen,  der 
hier  angedeutete  spielt  jedenfalls  überall  in  sie  hinein. 


Beim  Abschluß  der  vier  letzten  Kapitel  über  Auslandsge- 
schäft, Landwirtschaft,  Industrie  und  Handel  drängt  sich  uns  eine 
geschichtliche  Vergleichung  auf.  Die  volkswirtschaftliche  Entwick- 
lung von  1890 — 1914  zeigt  ähnliche  Tendenzen  wie  diejenige  von 
1848 — 1873.  Beide  Perioden  sind  merkwürdigerweise  gleich  lang, 
in  ihren  ersten  Jahren  liegt  das  gesamte  Geschäft  darnieder,  dann 
folgt  eine  lange  Zeit  gewaltigen,  allgemeinen,  weltwirtschaftlich 
bedingten  Aufsteigens,  zuletzt  eine  mit  einem  Ruck  hinein- 
brechende, furchtbare,  den  Niedergang  einleitende  Katastrophe, 
wenn  auch  verschiedener  Art  in  beiden  Fällen,  ehemals  als  inter- 
nationale Wirtschaftskrise,  neuerdings  als  Weltkrieg.  Die  quanti- 
tativen Vorgänge  der  Epochen  vollziehen  sich  in  ihren  Einzelheiten 
nicht  gleichartig;  man  kann  beinahe  sagen,  daß  man,  wenn  in  der 
früheren  mit  Millionen,  in  der  späteren  mit  Milliarden  zu  rechnen 
hatte.  Das  ändert  nichts  an  den  Tatsachen  der  Internationalität 
der  Bewegung  —  wenn  sie  auch  1890 — 191 4  auf  weiterer  räum- 
licher Grundlage  ruhte  —  und  an  der  des  Aufkommens  einer 
dauernd  glänzenden  Konjunktur.  Diese  Konjunktur  ist  jedesmal 
nachweisbar  an  steigenden  Gewinnen,  Zinsen,  Grundrenten,  Ar- 
beitslöhnen und  vor  allem  Warenpreisen.  Im  IV.  Abschnitt  wurden 
für    die   erste   Epoche   schon   Angaben    erbracht.     Ergänzend   zum 


VI.   Handel,  Bankwesen  und  Transport 


y 


589 


Vergleich  sei  hier  noch  einiges  der  von  A.  Soetbeer  mitgeteilten 
Hamburger  Warenpreise  (Mark  für  100  kg)  genannt: 


Jahr 

Roheisen 

Blei 

Zink 

Kupfer 

Raffin.  Zucker 

1851 

5.58 

36,8 

29,0 

173.6 

52,0 

1856 

9,18 

47.6 

49,0 

240,2 

77.3 

1861 

6,18 

41,6 

36,0 

192,0 

67.1 

1866 

7,08 

40,9 

43.9 

187,0 

63,1 

'1873 

14,36 

63,1 

55.6 

191.5 

70,4 

Derselbe  Schriftsteller  vereinigt  mit  den  Hamburger  Preisen 
von  100  Warengattungen  die  Preise  von  14  Hauptartikeln  des  eng- 
lischen Ausfuhrhandels  und  gelangt  so  zu  folgenden  Indexziffern: 


Jahr 

Index 

1847/1850 

100 

1851/1855 

112,2 

1856/1860 

120,9 

1861/1865 

123,6 

1866/1871 

123,6 

1873 

138,3 

Aus  dem  großen  statistischen  Material  der  neueren  Zeit  kön- 
nen hier  nur  einige  charakteristische  Zahlen  angegeben  werden, 
die  aus  Untersuchungen  von  L.  Glier  entnommen  sind: 

Durchschnittpreise   i8go — 189g  mit  denen  von    1902 — igii   verglichen. 
Handels-    und    Börsennotierung    in     üblichen    Handelsgewichten    und 

I^andeswähruner. 


Kohle 

England    Gelsenkirchen 

Eisen 
England  1  Hamburg 

England 

Holz 
Ver.  Staaten 

Häute 
Hamburg 

und  Felle 
Reichsstatistik 

10,25 
11.55 

8,14 
10,38 

52,38 
65,40 

56,1 
66,9 

18,95 
23,76 

15.57 
21,05 

37,8 
48,6 

52,1 
66,2 

Metalle  im  allgemeinen 
Hamburg  1  Reichsstatistik 


Zinn 
Ergland       Hamburg 


Hörner,  Knochen  usw. 
Hamburg 


Öle 
England       Hamburg 


30,12 
40,24 


33.92 
5'.47 


4.04 
7,39 


15.8 
23.5 


16,8 

22,7 


5.30 
6,57 


23.4 
29,2 


Textilstoffe   im  allgemeinen 
Hamburg    Reichsstatistik   England 


35.7 
39.7 


50.5 
63,0 


9.91 
11,87 


Alünchen 

67,82 

77.71 


Getreide  im  allgemeinen 
Hamburg  I  Engl. Einf.   N.Y.Börse   V.StAusf. 


55.19 
65,92 


71,9 
73,3 


1,64 

2,11 


1.25 
1.47 


590 


VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 


Schweinefleisch 
Berlin    1  Engl.  Einf.     V.St.  Ausf.     N.Y.Börse 


Rindfleisch 
Berlin     V.  St.  Ausf.     N.  Y.  Börse  I  Engl.  Einf. 


10,26 
11,84 


35.49 
40,17 


6,3 
9.2 


1 1.64 
17,81 


",57 
13,83 


5,5 
6,7 


8,02 
1 1,01 


39,81 
36,10 


Schweineschmalz 
Hamburg      V.  St.  Ausf. 


6,8 
9,1 


7.1 
9,5 


Butter 
München 


17,5 
20,9 


Käse 
Hamburg  Einf. 


10,0 
".5 


Fische 
Hamburg  Einf. 


4,56 
5.83 


Stellen  wir  diesen  Preisen  diejenigen  des  Niederganges  nach 
der  Krise  von  1873  gegenüber,  so  ist  der  Tiefpunkt  für  Kohle, 
Eisen,  Holz,  Häute  und  Felle,  Metalle,  Schweinefleisch  (in  Berlin 
und  England),  Rindfleisch  (in  Berlin  und  New  York)  schon  vor 
1 890/1 899  erreicht  worden.  Für  die  anderen  Produkte  liegt  er  im 
Anfang  der  neunziger  Jahre.  Im  allgemeinen  ist  die  Erhöhung 
auffälliger  in  dem  Jahrzehnt  vor  191 1  als  in  dem  letzten  des  19. 
Jahrhunderts.  Der  binnendeutsche  Preisaufschlag  ist  seit  1906 
bei  den  Lebensmitteln  durch  den  Zoll  beeinflußt  worden,  was  in- 
dessen, wie  von  Glier  nachgewiesen  ist,  innerhalb  der  Gesamt- 
erhöhung nur  wenig  ausmacht,  die  sich  auf  dem  freien  Weltmarkt 
vollzieht.    Die  Rohstoffe  sind  zudem  meist  zollfrei. 

Über  die  Kleinhandelspreise  ist  die  Statistik  nicht  in  der 
Lage,  Auskunft  zu  geben.  Sie  mußten  zunächst  entsprechend  den 
Engrospreisen  steigen,  wobei  es,  wie  die  Erfahrung  lehrt,  nicht 
sein  Bewenden  haben  konnte.  Sie  werden  gewöhnlich  bei  solcher 
Gelegenheit,  imter  Klage  der  Kleinhändler  über  Teuerung  im 
großen,  nach  oben  abgerimdet,  d.  h.  es  wird  aufgeschlagen,  da 
der  Verbraucher  gegen  kleine  tropfenweise  abgezogene  Geldzu- 
gaben nicht  reagiert. 

Der  entscheidende  Grund  der  Steigerung  der  genannten 
Großhandelspreise  lag,  ganz  kurz  ausgedrückt,  darin,  daß  die  Nach- 
frage nach  Rohstoffen  imd  Lebensmitteln  dem  Angebot  stets  dau- 
ernd voraus  war.  Die  Erweiterung  des  Angebots  konnte  dem  Be- 
darf nur  zögernd  nachfolgen,  nur  unter  steigenden  Kosten,  sei  es, 
daß  die  Stoffe  aus  weiterer  oder  schwerer  zugänglicher  Entfernung 
zu  holen  waren,  sei  es,  daß  zu  weniger  fruchtbaren  oder  erst  urbar 
zu  machenden  Standorten  bei  der  Produktion  übergegangen  wurde, 
sei  es,  daß  jungfräulicher  Boden  erschöpft,  sei  es,  daß  die  Ar- 
beitskosten hinaufgesetzt  waren. 

Daß  die  Nachfrage  einer  solchen  nur  schrittweisen  Bewegung 
zur    Mehrproduktion    sprunghaft    voraneilte,    ergab    sich    nicht    aus 


VI.  Handel,  Bankwesen  und  Transport.  cgj 

der  zunehmenden  Bevölkerung  schlechthin  —  sie  war  auch  von 
1873 — 1890  in  der  ganzen  Welt  gestiegen,  ohne  eine  allgemeine 
Hochkonjunktur  hervorzubringen,  obwohl  man  sagen  darf,  daß 
bei  damals  unverändert  gebliebener  Bevölkerungszahl  die  Preise 
noch  stärker  gefallen  wären  — ,  sondern  aus  einer  immer  zahlungs- 
fähigeren, anspruchsvolleren,  größeren  Bevölkerung,  also  aus  einer 
Tatsache,  die  in  steigenden  Löhnen,  Gewinnen,  Renten,  Zinsen 
einen  Ausdruck  fand,  die  ihrerseits  einer  verstärkten  Unterneh- 
mungslust nachgefolgt  waren.  Daß  eine  solche  vorhanden  war, 
war  erstens  in  der  Ausnutzungsmöglichkeit  der  in  der  langen  ru- 
higen Friedenszeit  ersparten  Kapitalien  gegeben,  zweitens  in  der 
Summe  von  Entdeckungen  (z.  B.  Goldfunden),  Erfindungen  der 
Produktion  und  des  Verkehrs,  von  neuen  Organisationsgedanken, 
drittens  in  dem  psychischen  Moment,  daß  die  Gründerzeit  und  der 
so  lange  den  Mut  dämpfende  Niedergang  vergessen,  und  der 
Optimismus  des  Verdienens  wieder  hochgekommen  war,  viertens, 
last  not  least,  in  einer  erweiterten  Industrialisierung  bisher  rück- 
ständiger Länder,  wie  in  Rußland,  Kanada,  Italien,  den  Vereinigten 
Staaten,  die  alle  den  Agrarcharakter  ebenso  abzustreifen  gewillt 
waren,  wie  Deutschland,  Österreich  und  die  Schweiz  nach  1850. 

Schließlich  wird  man  auch  der  Arbeiterbewegung  einen  An- 
teil an  dem  ganzen  Vorgang  beizumessen  haben.  Zunächst  da- 
durch, daß  sie  zu  erhöhten  Löhnen  gedrängt,  also  mit  diesen  die 
Kaufkraft  breiter  Schichten  gehoben  und  in  denjenigen  Gewer- 
ben, die  für  den  Arbeiterverbrauch  produzieren,  mehr  Arbeit  veran- 
laßt hatte.  Dann  führten  die  erhöhten  Löhne  und  sozialen  Kosten 
in  den  Industrieländern  das  kapitalistische  produktionstätige  Unter- 
nehmertum dazu,  Länder  mit  farbigen  billigen  Rassenarbeitern 
mehr  als  bisher  aufzusuchen,  um  bessere  Durchschnittsprofite  zu 
erzielen.  Das  waren  tropische  imd  subtropische  Gebiete,  die  land- 
wirtschaftlich oder  bergwerksmäßig  zu  erschließen  waren.  Es 
klingt  paradox,  zu  sagen,  der  Sozialismus  habe  den  Imperialismus 
hervorgebracht.  Unter  der  gegebenen  allerdings  beschränkten  Per- 
spektive ist  der  Satz  indessen  nicht  unrichtig. 

VV^ie  lange  die  ganze  Aufwärtsbewegung  noch  weitergegangen 
wäre,  wenn  der  Krieg  nicht  dazwischen  gekommen  wäre,  zu  dessen 
wirtschaftlichen  Ursachen  auch  die  gehört,  daß  die  deutsche  Kon- 
kurrenz an  Ganzfabrikaten,  die  übrigens  als  solche  überhaupt,  wo 
sie  auch  herstammten,  überall  in  der  Welt  immer  schwerer  abzu- 
setzen waren,  je  mehr  davon  über  den  gesicherten  Bedarf  hinaus 
produziert  wurde,  beseitigt  werden  sollte,  ist  nicht  zu  sagen.  Daß 
aber  das  Ende  der  Hochkonjunktur  einmal  eintreten  müßte,  wurde 
mit  Sicherheit  erwartet.    Der  Pessimismus  über  die  Weltwirtschaft- 


CQ2  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

liehe  Entwicklung  war  Iq  den  letzten  Jahren  vor  191 4  schon  ziem- 
lich verbreitet,  man  fürchtete  zwar  weniger  eine  große  Börsen-  und 
Handelskrise,  als  die  weitere  Verteuerung  der  Rohstoffe  und  Le- 
bensmittel, die  dem  System  der  einseitigen  Industriestaatbildung 
ein  Ende  zu  bereiten  drohte,  so  daß  das  Massenproletariat  vieler 
Länder  arbeitslos  werden,  und  das  angelegte  Kapital  sich  entwerten 
würde.  Ein  solcher  Vorgang  hätte  sich  ohne  proletarische  Revo- 
lution schwerlich  abspielen  können.  Das  wäre  eine  Krise  neuer 
schlimmer  Art  gewesen,  aus  der  zu  gesunden  längere  Zeit  nötig 
gewesen  wäre,  als  die  bösen  Jahre  nach  1873  gewesen  sind. 

Die  Konjunktur  in  Deutschland  und  vielen  anderen  Ländern 
war  jedenfalls  von  1895 — 1913  eine  so  günstige,  daß  die  Geschäfts- 
gewinne trotz  der  sich  verteuernden  Rohstoffe  und  Lebensmittel 
hoch  waren,  viel  höher  als  in  den  20  Jahren  der  vorangehenden 
Epoche.  Das  erklärte  sich  entweder  daraus,  daß  an  Kosten  anderer 
Art  infolge  verbesserter  Technik  und  wirtschaftlicher  Organisation 
mehr  gespart  werden  konnte,  als  die  Preisheraufsetzung  der  Ma- 
terialien ausmachte,  oder  aus  der  Lebhaftigkeit  des  Verkehrs  und 
der  Schnelligkeit  des  Kapitalumschlages,  die  die  Preise  von  Halb- 
fabrikaten und  Fabrikaten  hochzuhalten  noch  zuließen,  wobei  die 
Kreditwirtschaft  und  der  Glaube,  daß  der  Rückschlag  noch  auf- 
zuhalten sei,  nicht  gering  zu  veranschlagen  waren. 

Die  Preisgestaltung  in  einem  Lande  ist  unter  den  Verhält- 
nissen, wie  wir  sie  heute  auf  der  Erde  kennen,  nur  weltwirtschaft- 
lich und  zugleich  nur  geschichtlich  zu  verstehen.  Vor  100  Jahrert 
beeinflußte  der  Auslandsmarkt  Deutschland  viel  weniger  als  191 3, 
hingegen  waren  damals  die  Preise  ebenso  nur  aus  den  Zuständen 
der  Vergangenheit  zu  erklären.  Eine  theoretische  Nationalöko- 
nomie, die  nur  aus  Angebot  und  Nachfrage,  aus  Kosten,  Zahlungs- 
fähigkeit der  Käufer,  psychischen  Motiven,  subjektivem  Wert  u.  a.  m, 
die  Preisgestaltung  analysiert,  bleibt  immer  etwas  Formales,  die 
die  tatsächlichen  Zustände  in  ihrer  Realität,  d.  h.  das  Verhältnis 
der  Preise  zueinander,  nicht  begreifen  läßt.  Hier  bedarf  es  der 
historischen  Ergänzung.  Eine  gegebene  wirtschaftende  Zeit  kann 
man,  wie  überhaupt  eine  Zeit,  vollkommen  nur  im  Werden  zur  An- 
schauung bringen.  Daher  kann  auch  die  Volkswirtschaftslehre 
ohne  diesen  Standpunkt  niemals  auskommen,  wenn  sie  die  Wirk- 
lichkeit erforschen  oder  Wirklichkeitspolitik  betreiben  will.  Das 
schließt  selbstverständlich  nicht  aus,  daß  dauernde  natürliche  oder 
soziale  Notwendigkeiten,  so  verschieden  das  wirtschaftliche  indi- 
viduelle Dasein  auch  verlaufen  mag,  die  Entwicklung  nach  oben 
oder  den  Rückgang  bedingen  oder  beiden   Schranken  ziehen,   die 


VII.  Schlußbetrachtung  zu  1890 — 19 14.    Ergänzungen.    Allgemeine  Rückblicke,      cqx 

ebenfalls    zu    erkennen    eine    wichtige   Aufgabe    der    allgemeinen 
Lehre  ist: 

Alles  entsteht  und  vergeht  nach  Gesetz;  doch  über  des  Menschen 
Leben,  den  köstlichen  Schatz,  herrschet  ein  schwankendes  Los. 

Das  Kaleidoskop  ergibt  mit  jeder  Drehung  ein  neues  beson- 
deres Bild,  das  sich  ähnlich,  aber  genau  vielleicht  niemals  wieder- 
holt, und  doch  ist  die  individuelle  Erscheinung  an  die  festen  Tat- 
sachen der  Spiegel,  der  Vergrößerungsgläser,  der  Zahl  und  Art 
der  durcheinandergewürfelten  Stücke  gebunden.  Wir  geraten  in 
das  Uferlose,  wenn  wir  jede  Gesetzmäßigkeit  der  menschlichen 
Natur,  des  Raumes  und  Standortes  in  der  Volkswirtschaft  leugnen. 
Daraus  folgt  allerdings  nicht,  daß  nicht  auch  falsche  Gesetze  auf- 
gestellt werden  können. 

VII.  Schlußbetrachtung  zu  1890 — 1914.  Ergänz- 
ungen. Allgemeine  Rückblicke.  Eine  so  gewaltige,  das 
ganze  Volk  in  allen  seinen  Berufszweigen  und  sozialen  Schichten 
erfassende  Umwälzung,  wie  sie  sich  durch  25  Jahre  hindurch  voll- 
zog, kann  nicht  ohne  engsten  und  vielseitigen  Zusammenhang  mit 
der  Bevölkerungsbewegung  verstanden  werden :  Erstens  bot 
die  rasch  wachsende  Menschenzahl  die  geistigen  und  körperlichen 
Kräfte  für  die  neue  Güterherstellung  und  den  verstärkten  Verkehr, 
zweitens  blieben  das  rasche  Reichwerden  und  die  Verteilung  des 
Reichtums  und  seine  örtliche  Umgruppierung  nicht  ohne  direkte 
und  indirekte  Einwirkung  auf  die  Psychologie  des  Sexuallebens, 
drittens  war  die  Ernährung  des  deutschen  Volkes  mit  dessen  Wach- 
sen teilweise  von  der  Einfuhr  ausländischer  Lebensmittel  abhängig 
geworden,  imd  darauf  mußten  Industrie  und  Handel  eingestellt 
werden. 

Die  dritte  dieser  Kausalreihen  ist  schon  erörtert  worden, 
greift  aber  auch  in  die  beiden  anderen  ihrerseits  mittelbar  ein. 

Die  ortsanwesende  Reichsbevölkerung  machte  1890  49,762, 
1900  56,046,  1914  67,812  Millionen  aus,  hat  sich  im  jährlichen 
Durchschnitt  dieses  Zeitraumes  um  770000,  im  Anfang  um  521  000, 
am  Ende  um  881  000  vermehrt.  In  diesen  Zahlen  findet  die  zuneh- 
mende Wehr-,  Steuer-  und  wirtschaftliche  Produktivkraft  einen  Aus- 
druck. Da  das  Volk  mehr  erwarb  und  besser  lebte  als  je  zuvor, 
war,  wie  oben  mitgeteilt,  die  Auswanderung  sehr  zurückgegangen, 
andererseits  die  Zuwanderung  aus  dem  Ausland  bedeutend  gewor- 
den, so  daß  das  Wort  Übervölkerung  arg  verpönt  war. 

Trotz  der  glänzenden  Ziffern  der  Volksvermehrung,  um  die 
uns  Frankreich  und  England  beneideten,  sind  die  deutschen  Be- 
völkerungspolitiker  seit   der   Jahrhundertwende   in   einer   schweren 

A.  Sartoriusv.  Waltershausen    Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        38 


594 


VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von  1890 — 19 14. 


Sorge  befangen  gewesen.  Sie  meinten,  daß  die  deutsche  Volks- 
kraft noch  weit  mehr  hätte  zunehmen  müssen,  wenn  nicht  der  Ge- 
burtenrückgang ein  so  auffallender  gewesen  wäre.  Um  diese  Klage 
zu  verstehen,  ist  es  nötig,  auf  einen  längeren  Zeitraum  zurückzu- 
greifen : 

Auf  1000  Einwohner  kamen: 


Jahre 

Ehe- 

Geborene 

Gestorbene 

Geburten- 

schließungen 

einschließl 

Totgeborenen 

überschuß 

1851/1860 

7.8 

36,8 

27,8 

9,0 

1861/1870 

8.5 

38,8 

28,4 

10,3 

1871/1880 

8,6 

40.7 

28,8 

II.9 

1881/1890 

7,8 

38,2 

26,5 

1 1,7 

1891/1900 

8,2 

37.3 

23,5 

13.9 

1901/1910 

8,0 

33,9 

19,7 

•4,3 

Die  Eheziffer  hat  sich  nur  wenig  verändert.  Die  zunehmende 
Ehescheu,  die  infolge  der  Bequemlichkeit  des  Junggesellenlebens, 
der  überhaupt  wachsenden  Lebensbedürfnisse,  der  Zunahme  der 
direkten  Besteuerung  des  Familieneinkommens,  der  die  Männer  ab- 
stoßenden Erscheinungen  der  Weiberemanzipation  behauptet  wird, 
läßt  sich  in  der  großen  Zahl  nicht  nachweisen,  wenn  sie  auch  einige 
Gruppen  der  Bevölkerung  befallen  haben  mag.  Es  liegt  also  kein 
Grund  vor,  die  Verheiratungsrate  mit  Gesetzesmitteln  heben  zu 
wollen,  da  solche  auch  Familiengründungen  nach  sich  ziehen  könn- 
ten,  bei   denen   die   wirtschaftliche   Grundlage   nicht   gesichert   ist. 

Die  Geburtenreihe  zeigt  seit  den  siebziger  Jahren  eine  ab- 
nehmende Tendenz,  die  seit  1901  recht  auffällig  wird.  In  den 
einzelnen  Teilen  des  Reiches  bestehen  übrigens  große  Verschieden- 
heiten. Auf  1000  Frauen  im  Alter  bis  zu  50  Jahren  kamen  ehelich 
Geborene : 


im 


1872 

1910/11 

Reich 

298 

201 

Preußen 

301 

209 

Bayern 

305 

22  I 

Baden 

315 

205 

Württemberg 

334 

215 

Hessen 

285 

177 

Sachsen 

286 

156 

Hamburg 

278 

131 

Bremen 

299 

160 

Berlin 

281 

1 1 1 

Die   letzten    vier    städtisch   industriellen    Gebiete    zeigen    den 
stärksten  Absturz. 


VII.  Schlußbetrachtung  zu  1890 — 191 4.    Ergänzungen.    Allgemeine  Rückblicke,      rgr 

Die  Literatur  zur  Erklärung  ist  umfangreich.  Einige  näher 
liegende  Ursachen  der  Geburtenabnahme  werden  ziemlich  allge- 
mein anerkannt,  doch  fehlen  sichere  Unterlagen  über  ihre  verhält- 
nismäßige Bedeutung  untereinander. 

Eine  derselben  geht  dahin,  daß  der  Rückgang  der  Kinder- 
sterblichkeit für  die  Geburtenabnahme  entscheidend  sei.  Sei  das 
Hinsterben  groß,  so  sorge  die  Natur  für  eine  Wiederauffüllung,  sei 
sie  gering,  so  sei  der  Bestand  der  Art  bereits  gesichert.  Allein 
abgesehen  davon,  daß  die  Abnahme  der  Sterblichkeit  überhaupt 
von  der  der  Geburtenzahl  seit  1901  weit  übertroffen  wird,  und 
jiicht  einzusehen  ist,  warum  langlebige  Erwachsene  weniger  Kin- 
der haben  sollen,  als  kurzlebige,  bleibt  diese  Kompensation  in  das 
Dunkel  des  Waltens  einer  mystischen  Triebkraft  gehüllt. 

Es  wird  zweitens  darauf  hingewiesen,  daß  infolge  des  leich- 
ten inneren  Wanderns  und  der  Demokratisierung  der  Gesellschaft 
die  rassenverschiedene  Heirat  häufiger  geworden,  und  daß  diese 
Mischung  einer  starken  Nachkommenschaft  abträglich  sei.  Wie- 
weit eine  solche  Tatsache,  die  für  Weiße  und  Farbige  erwiesen  ist, 
auch  für  die  Rassendifferenz  unter  den  Weißen  stimmt,  etwa  für 
die  nordische,  alpine  und  Mittelmeerrasse,  oder  für  Germanen 
und  Slaven  oder  Juden,  bedarf  noch  der  Aufklärung,  und  im  be- 
jahenden Falle  ist  es  nicht  leicht,  zu  glauben,  daß  so  entschei- 
dende Ausfälle,  wie  sie  vorliegen,  auf  sie  zurückgeführt  werden 
können. 

Ein  dritter  Grund,  der  von  Ärzten  betont  wird  und  viel  Zu- 
stimmung erfahren  hat,  erklärt  die  sinkende  Nachkommenschaft 
aus  verbreiteten  Geschlechtskrankheiten,  die  namentlich  in  den 
großen  Städten  unter  Vermittlung  der  Prostitution  auf  die  gesun- 
den Ehefrauen  von  ihren  Männern  übertragen  würden.  Obwohl 
Ärzte  aus  ihrer  Praxis  wahrhaft  erschreckende  Zahlen  glaubhaft 
gemacht  haben,  kann  doch  ein  weiterer  quantitativer  Schluß  auf 
die  ganze  Bevölkerung,  selbst  in  den  Großstädten,  nicht  gezogen 
werden. 

Als  eine  vierte  Ursache,  die  bei  den  meisten  Forschern  lals 
die  wichtigste  gilt,  wird  die  künstliche  Unfruchtbarkeit  der  Ehen 
durch  Mittel  genannt,  deren  dauernde  Anwendung  die  Sterilität 
der  Frau  überhaupt  nach  sich  ziehen  könne.  Die  psychischen  Vor- 
aussetzungen solcher  Praktiken  werden  verschieden  gedacht:  Die 
wirtschaftliche  Lebensschwierigkeit  bei  wachsenden  Kulturan- 
sprüchen, die  den  „Kinderluxus"  nicht  gestatte,  der  Wunsch,  die 
bestehende  Lebenshaltung  nicht  herabzusetzen,  um  die  gewonnene 
soziale  Lage  zu  behaupten,  die  Bedenklichkeit,  sich  mit  größerer 
Familie  persönliche  Unbequemlichkeiten  aufzulegen,  die  Abneigung 

38* 


cg6  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

vergnügungssüchtiger  Frauen  gegen  die  Monate  der  Schwanger- 
schaft, der  Lebensberuf  vieler  Frauen  außerhalb  des  Hauses,  zu 
dem  das  Kinderaufziehen  nicht  paßt,  die  Tatsache,  daß  schon  Kin- 
der da  sind,  deren  Erziehung  bei  weiterem  Nachwuchs  leiden 
werde,  der  Wunsch,  das  Vermögen,  den  landwirtschaftlichen  Grund- 
besitz und  die  Kapitalrenten  nicht  unter  zu  viele  Erben  zu  zer- 
splittern. 

Ferner  wird  gesagt,  die  antikonzeptionellen  und  abortiven 
Unsitten  seien  zuerst  den  höheren  und  besitzenden  Klassen  be- 
kannt gewesen,  die  schon  früher  „ihr  Sexualleben  rationalisiert" 
(J.  Wolf)  hätten,  wären  dann  in  den  Beamten-,  Angestellten-  und 
Arbeiterstand  übertragen  worden,  wo  sie  in  der  Massenbevölkerung 
verheerend  hätten  wirken  müssen.  Der  Herd  des  Lasters  seien  die 
Großstädte,  wo  die  Verbreitung  der  Mittel  leicht  sei  und  von  Ge- 
schäftsleuten zu  Gewinnzwecken  ausgenutzt  werde,  während  das 
Land  noch  relativ  gut  stehe.  Stärker  seien  protestantische  als 
katholische  Gegenden  heimgesucht,  wenigstens  als  solche,  in  denen 
die  Geistlichkeit  auf  die  Beichtkinder  einen  verhindernden  Ein- 
fluß besitze,  stärker  physisch  und  sittlich  dekadente  Familien  als 
solche,  in  denen  noch  die  alte  Zucht  gewahrt  werde. 

Ein  quantitativer  Anhaltspunkt  ist  ebenfalls  für  diese  Ur- 
sachenreihe nicht  vorhanden,  wenn  man  sie  auch  als  verbreitet 
annehmen  darf.  Vergleiche  mit  anderen  Ländern,  namentlich  mit 
Frankreich,  auch  England,  Nordamerika  und  Australien,  haben  sie 
für  Deutschland  wahrscheinlich  gemacht,  da  sie  in  jenen  Ländern 
als  stark  eingreifend  als  sicher  behauptet  wird.  Nicht  unwahr- 
scheinlich ist,  daß  das  ganze  Problem  nicht  einseitig,  vielmehr  aus 
einer  Reihe  von  Umständen  zu  erklären  ist.  Zu  den  angeführten 
mögen  noch  andere  hinzukommen.  In  allen  Kulturländern  sterben 
die  herrschenden  Rassen  aus,  wie  das  die  Geschichte  von  Rom  und 
Hellas  berichtet.  So  gibt  es  heute  gar  manche  Familie  in  Europa, 
die  eine  Nachkommenschaft  haben  möchte,  aber  sie  nicht  haben 
kann.  Hier  liegt  eine  physische  Erschöpfung  vor,  die  man  der 
übermäßigen  Geistes-  und  Nervenkraftausgabe  der  vorhergehen- 
den Generationen  zuschreibt.  Fraglich  ist  auch  hier,  wie  weit  man 
rverallgemeinern  darf. 

Der  zunehmende  Wohlstand  ist  jedenfalls  in  der  letzten 
Spalte  der  zuerst  gegebenen  Tabelle  bei  der  sinkenden  Sterblichkeit 
ausschlaggebend.  Alle  Altersklassen  haben  daran  ihren  Anteil. 
Kinder  vom  i. — 9.  Lebensjahre  haben  um  1909/10  eine  um  50 0/0 
geminderte  Sterbenswahrscheinlichkeit  gegen  30  Jahre  zuvor,  Män- 
ner im  Alter  von  20 — 30  Jahren  haben  in  gleicher  Weise  39,2, 
Frauen    von    30 — 40    38,2    gewonnen.     Das    sind    die    glänzendsten 


VII.  Schlußbetrachtung  zu  1890 — 1914.    Ergänzungen.    Allgemeine  Rückblicke.      egn 

Zahlen.  Aber  auch  der  geringere  Gewinn  im  späteren  Alter  ist 
noch  ein  erheblicher,  wenn  er  auch  mit  ihm  schritttweise  abnimmt. 
Die  Ernährung  und  die  Behausung  sind  besser  geworden. 
Ferner  ist  die  öffentliche  Hygiene  auf  erweiterter  Grundlage  ge- 
schaffen worden.  Die  Bekämpfung  der  Epidemien,  der  Trunksucht, 
der  Nahrungsmittelf älscherei,  die  Einrichtung  von  Säughngshei- 
men,  die  Ferienkolonien  u.  a.  m.,  die  Arbeiterversicherung  sind 
vielerorts  gelungen.  Ein  übriges  hat  die  allgemeine  Bildung  getan, 
mit  der  physiologische  und  pathologische  Belehrung  in  weitere 
Kreise  eindrang,  und  die  zu  einer  rechtzeitigen  Herbeiziehung  eines 
Arztes  und  zur  Befolgung  seiner  Vorschriften  führte. 

Wir  ersehen  aus  der  Statistik,  daß  die  abnehmende  Sterblich- 
keit den  Geburtenrückgang  mehr  als  kompensiert  hat.  Wenn  dem- 
nach Deutschland  eine  Bevölkerungsvermehrung  von  800000  Men- 
schen in  den  letzten  Jahren  vor  dem  Kriege  gehabt  hat,  so  dürfte 
es  übereilt  sein,  zu  behaupten,  daß  wir  den  französischen  sta- 
bilen Zuständen  mit  Windeseile  zusteuerten. 

Indessen  war  es  berechtigt,  über  eine  günstige  Gegenwart  die 
Gefahren  der  Zukunft  nicht  zu  vergessen,  selbst  wenn  eine  rasche 
Bevölkerungszunahme  in  einem  abhängigen  Industrielande  nicht 
erwünscht  ist,  solange  nicht  neuer  nationaler  landwirtschaftlicher 
Boden  gewonnen  wird.  Man  betonte  mit  Nachdruck,  daß  die 
Sterblichkeit  immer  langsamer  sinken  werde,  während  der  Ge- 
burtenrückgang bis  zur  Bevölkerungsabnahme  hintreiben  könne. 
Es  sei  ihm  daher  jetzt  schon  mit  allen  Kräften  entgegenzutreten. 
Eine  goldene  Mittelstraße,  eine  mittlere  Zunahme  könne  als  ein  er- 
wünschtes Ziel  niemals  aufgestellt  werden.  Denn  sie  sei  in  sozialen 
Angelegenheiten  schwieriger  als  in  individuellen  aufrechtzuerhalten. 
Der  einzelne  Gebildete  vermöge  wohl  Maximen  gegen  sich  durch- 
zusetzen, wenn  er  energisch  sei,  die  Masse  bestehe  aus  solchen  Ein,- 
sichtigen  nicht  und  unterliege  der  Suggestion  des  Beispiels,  die  nur 
als  Extrem  zu  wirken  pflege.  Man  glaubte  daher  vor  191 4  nicht 
Unrecht  zu  haben,  wenn  man  den  Feldzug  gegen  die  abnehmende 
Geburtenziffer  betrieb.  Erst  wenn  wieder  eine  hohe  Auswanderung 
heraufkommen  sollte,  wird  man  mit  dem  Wechsel  der  Anschauung 
zu  rechnen  haben. 

Die  Kampf  maß  regeln  waren  verschieden  gedacht  worden,  je 
nachdem  man  die  Beweggründe  des  Geburtenrückganges  bewer- 
tete: Belehrung  über  die  gesundheitsschädliche  Anwendung  der 
Präventiv-  und  Abortivmittel,  staatliches  Verbot  und  Aufsicht  über 
Verkauf  und  Reklame  solcher  Gegenstände,  entschlossenes  Vor- 
gehen gegen  die  Geschlechtskrankheiten.  Wie  weit  die  Macht  des 
Staates   auf  diesem   Gebiete   reiche,   war   streitig.     Viele  Aufgaben 


cg8  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

blieben  den  Ärzten  zu  lösen,  als  von  einer  Körperschaft,  die  alle 
ihre  Mitglieder  unter  strenge  Disziplin  zu  nehmen  habe. 

Kurz  vor  dem  Kriege  wurde  eine  Gesetzesvorlage  gegen  die 
Feilhaltung  und  geschäftliche  Anpreisung  der  verderblichen  Mittel 
tyom  Reichstage  erwartet. 

Daß  daneben  der  Verminderung  der  Sterblichkeit,  besonders 
derjenigen  der  Säuglinge,  noch  mehr  Aufmerksamkeit  zugewandt 
werden  müsse,  ist  den  Gemeinden,  Vereinen  und  Privaten  dringend 
empfohlen  worden,  nicht  als  eine  Angelegenheit  zur  Unterhaltung 
für  unbeschäftigte  wohltätige  Damen,  die  sich  bemerklich  machen 
wollen,  sondern  als  eine  öffentliche  Pflicht,  die  unter  der  Aufsicht 
von  sachverständigen  Männern  geübt  werden  soll. 

Man  wird  sich  indessen  nicht  verhehlen  können,  daß  die 
psychischen  Beweggründe  des  „Zweikindersystems"  tief  in  allge- 
meinen politischen,  sozialen  und  wirtschaftlichen  Zuständen  ge- 
wurzelt haben,  die  das  Ergebnis  des  letzten  halben  Jahrhunderts 
waren,  also  schließlich  nur  mit  deren  Abänderung  verschwinden 
werden.  Wie  die  Dinge  daher  lagen,  gerieten  die  Anschauungen 
über  diese  soziale  Frage  leicht  in  tiefe  Widersprüche  hinein.  Vieles 
mühsam  Erreichte  wollte  man  nicht  preisgeben,  und  doch  sollten 
die  Folgen  desselben  für  die  Bevölkerungsbewegung  fortfallen. 
Den  Reichtum  wollte  man  weiter  vermehren,  die  ökonomische  Kon- 
zentration hielt  man  für  produktiv,  aber  aus  den  damit  gegebenen 
Menschenanhäufungen  der  Großstädte  sah  man  eine  zu  beseiti- 
gende sittliche  Verworfenheit  emportauchen.  Die  protestantische 
Geistlichkeit  verkannte  die  geschlechtliche  Verirrung  des  Zeitalters 
keineswegs,  indessen  war  sie  weit  entfernt  davon,  sich  die  Beein- 
flussungsmethode ihrer  konfessionellen  Gegner  anzueignen.  Die 
Großlandwirte  hielten,  um  die  Arbeiterschaft  auf  dem  Lande  zu 
vermehren,  eine  Rückwanderung  aus  der  Stadt  für  erwünscht,  sie 
mußten  aber  auch  dagegen  sein,  weil  die  geschlechtlichen  Stadt- 
sitten damit  auf  das  Land  hinausgetragen  wurden. 

In  diesem  Buche  ist  wiederholt  von  dem  Gegensatz  des  orga- 
nischen und  individualistischen  Volkstums  gesprochen  worden.  Das 
letztere,  das  das  Ziel  allen  Daseins  in  dem  zufriedenen  Wohl-  und 
Glücksbefinden  aller  Einzelner  gegenwärtig  Lebender  erblickt,  ist 
tief  in  die  Gesellschaft  eingedrungen,  und  die  Masse  hält  daran 
zähe  fest.  Die  Demokratisierung  in  Recht,  Lebensauffassung  und 
Sitte  ist  Quelle  und  Sammelbecken  der  Beweggründe  zur  Rationa- 
lisierung des  Geschlechtslebens  geworden.  Das  Wort  von  dem  Ge- 
burtenstreik der  Frauen  ist  der  Idee  des  Klassenkampfes  mit  seiner 
Forderung  des  größten  Glückes  der  größten  Menge  entsprungen. 
Die  demokratische  Arbeiterfamilie  mit  dem  Wunsche  nach  der  Le- 


VII.  Schlußbetrachtung  zu  1890 — 19 14.    Ergänzungen.    Allgemeine  Rückblicke.      cqq 

bensweisc  des  kleinen  und  mittleren  Bürgertums  ist  der  Kinder- 
beschränkung besonders  günstig.  Der  Groß-  und  Kleinbauer,  der 
Gärtner,  der  Kleinkaufmann,  der  Handwerker,  der  Hausindustrielle 
finden  in  den  heranwachsenden  Kindern  immer  mitarbeitende  Hilfs- 
kräfte, welche  Einsicht  als  Gegenmotiv  gegen  die  Kürzung  ihrer 
Nachkommenschaft  wirkt.  In  der  „aufgeklärten"  Lohnarbeiter- 
schaft können  Mann  und  Frau  ohne  Kinder  bequem  täglich  auf  Ar- 
beit gehen  und  mit  dem  reichlichen  Einkommen  sich  abends 
großstädtisch  amüsieren.  Sie  verheiraten  sich  zwar,  denn  sie 
brauchen  ja  nur  so  lange  zusammenzuleben,  als  es  ihnen  gefällt. 
Diese  von  Fr.  Engels  gepriesene  Idealehe  ist  sicher  nicht  kinder- 
reich. Der  viel  gelästerte  Kapitalismus  und  der  Imperialismus 
haben  es  jedenfalls  seit  der  merkantilistischen  Zeit  bewiesen,  daß 
sie  auf  den  nationalen  Kinderreichtum  besser  aufgepaßt  haben,  als 
es   die   moderne   Sozialdemokratie  jemals   von   sich  erwarten  darf. 


Die  Städte  mit  ihrer  heutigen  Massenbevölkerung  sind  ein 
politisches  Ganzes  für  sich  mit  eigener  Verwaltung  und  eigenen 
Finanzen,  wenn  auch  vom  Staate  in  ihrer  Kompetenz  der  Selbst- 
verwaltung abhängig.  Auch  in  der  Volkswirtschaft  können  sie  als 
eine  wirtschaftliche  Sonderheit,  als  ein  Organismus  für  sich  aufge- 
faßt werden,  soweit  sie  den  Verbrauch  ihrer  Bewohner  mit  der 
eigenen  Produktion  in  Einklang  gebracht  haben.  Das  ist  ihnen 
nur  unvollkommen  gelungen.  Denn  Lebensmittel  und  überwiegend 
Rohstoffe  zur  Verarbeitung  werden  durchweg  von  außen  zugeführt. 
Doch  scheinen  die  Bestrebungen,  sich  durch  eigene  Regie  mit  Fleisch 
und  Milch  und  durch  vorstädtischen  Gartenanbau  mit  Gemüse  zu 
versorgen,  in  der  Zunahme  begriffen  zu  sein.  In  der  Kriegszeit 
traten  sie  unverkennbar  verstärkt  hervor,  und  man  lernte  ihren 
Wert  schätzen. 

Wir  geben  zunächst  den  Vergleich  von  zwei  Volkszählungen, 
um  das  Wachsen  der  Städte  in  der  hier  zu  besprechenden  Periode 

zu    veranschaulichen:  (Tabelle  s.  folgende  Seite.) 

Neben  diesem  ungeheueren  Anschwellen  der  Großstädte  ist 
auch  hervorzuheben,  daß  es  um  1900  194  Mittelstädte  mit  20  bis 
100  000  Einwohnern,  1910  223  gab,  in  denen  jetzt  8677955  Men- 
schen lebten.  In  48  Städten  mit  über  100  000  wohnten  gleichzeitig 
13823348.  Die  Bevölkerung  des  Reiches  war  seit  der  Jahrhundert- 
wende um  15,20/0,  die  der  Mittelstädte  um  12,2,  die  der  Städte  mit 
mehr  als  100  000  Einwohnern  um  52  angewachsen.  Die  ländlichen 
Gemeinden  hatten  eine  annähernd  stillstehende  Ziffer,  die  Klein- 
städte erreichten  den  Reichsdurchschnitt  nicht  ganz,  womit  beide 
in    der    Landesbevölkerimg    zu    einer    geringeren    Quote    geworden 


6oo 


VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914- 


Großstädte  in  Deutschland  mit  über  200000  Einwohnern 
in  Tausenden 


Städte 

1890 

1910 

Städte 

1890 

1910 

Berlin 

1579 

2071 

Essen 

79 

295 

Hamburg 

324 

932 

Chemnitz 

139 

287 

München 

349 

595 

Stuttgart 

140 

286 

Leipzig 

295 

588 

Magdeburg 

202 

280 

Dresden 

277 

547 

Bremen 

126 

247 

Köln 

282 

516 

Königsberg 

162 

246 

Breslau 

335 

512 

Neukölln 

36 

237 

Frankfurt  a.  M. 

180 

415 

Stettin 

116 

236 

Düsseldorf 

HS 

358 

Duisburg 

59 

229 

Nürnberg 

143 

333 

Dortmund 

90 

214 

Charlottenburg 

77 

305 

Kiel 

69 

211 

Hannover 

164 

302 

waren.  Mehr  als  ein  Drittel  der  deutschen  Gesamtzahl  wohnte  in 
Orten  mit  über  20000  Einwohnern,  mehr  als  ein  Fünftel  in  solchen 
mit  100  000  und  mehr. 

Die  Ursache  der  städtischen,  vor  allem  der  großstädtischen 
Bevölkerungs  -  Konzentration  ergibt  sich  zunächst  daraus,  daß 
Deutschland  den  Industriestaat  mit  seiner  Massenerzeugung  an 
Waren  seit  1890  verstärkt  hervorgekehrt  hat.  Doch  ist  dabei  nicht 
zu  übersehen,  daß  auch  der  geldmäßig  hoch  gesetzte  Verdienst, 
verbunden  mit  weitgehender  persönlicher  Freiheit,  eine  Anzie- 
hungskraft der  Großstadt  ausmacht.  Hier  ist  die  Reibung  der  In- 
dividuen unter  gegenseitiger  Anregung  und  stetem  Wetteifer,  die 
Schnelligkeit  der  Gedankenübermittelung,  das  Beispiel  der  mit 
zähem  Willen  oder  durch  Glück  Emporgestiegenen  etwas,  was 
mancher  Auswärtige  gern  an  sich  erleben  möchte,  und  ihn  be- 
stimmt, in  den  Strom  einzutauchen,  der  Industrie,  Handel  und 
Verkehr  mit  immer  neuer  Energie  versorgt.  Andere  Faktoren,  die 
mit  dem  Gesagten  zwar  zusammenhängen,  haben  auch  eine  selb- 
ständige Bedeutung  bei  der  städtischen  Verdichtung.  Gute  See- 
häfen sind  nicht  zahlreich.  Wenn  in  den  wenigen  Handel  und 
Schiffahrt  im  Geiste  neuzeitlicher  Ansprüche  gedeihen  sollen,  so 
müssen  sich  Leute  vielerlei  Berufs  in  großen  Mengen  hier  zu- 
sammenfinden. Die  Eisenbahnen  ziehen  an  ihren  Zentralbahn- 
höfen viele  Tausende  zusammen.  Das  Beamtenheer  von  Staat  und 
Stadt  ist  ferner  nicht  bloß  proportional  der  Bevölkerimg  gewach- 
sen, sondern  darüber  hinaus,  da  die  öffentliche  Verwaltung  immer 
neue  Aufgaben,  z.  T.  infolge  der  Bevölkerungsdichte,  wie  bei  der 
Sozialpolitik,  hat  übernehmen  müssen.^  Es  schlägt  seinen  Wohnsitz 


VII.  Schlußbetrachtung  zu  1890 — 19 14.    Ergänzungen.    Allgemeine  Rückblicke.      60 1 

hauptsächlich  in  der  Landes-  oder  Reichshauptstadt  auf.  Dazu 
kommt  die  in  städtischen  Kasernen  untergebrachte  Armee,  die  unter 
dem  Wettrüsten  der  Völker  immer  mehr  anschwoll.  Die  städtische 
Volksvermehrung  glich  einer  Schraube  ohne  Ende.  Je  mehr  pro- 
duktiv tätige  Personen  da  waren,  um  so  mehr  mußten  andere  her- 
anziehen, um  für  den  unmittelbaren  Verbrauch,  für  Luxus,  Ver- 
gnügen, Unterhaltimg  jener  zu  sorgen.  Da  diese  Helfer  selbst  le- 
ben wollen,  müssen  die  produktiven  im  großen  arbeitenden  Ge- 
werbe von  neuem  mehr  Arbeiter  in  sich  aufnehmen. 

Die  typische  Sonderart  der  verschiedenen  Großstädter  lag 
noch  zur  Zeit  der  Reichsgründung  unverkennbar  vor.  Der  Ham- 
burger, Leipziger,  Frankfurter,  Münchener  konnten  nicht  leicht 
verwechselt  werden.  Umgeben  von  Sitte  und  Dialekt  zeigte  der 
Durchschnitt  ihres  Tuns  und  Lassens  feste  Form  und  gab  ihrem 
Dasein  den  Ausdruck  von  etwas  Vollständigem,  das  sich  in  Humor 
und  Witz,  Heiterkeit  und  Unbefangenheit  kundgab.  Der  Macht 
der  bodenständigen  Tradition  unterwarfen  sich  die  Zugezogenen, 
solange  ihre  Zahl  nicht  groß  war  und  überwiegend  aus  der  nähe- 
ren Umgebung  der  Stadt  stammte.  In  den  letzten  30  Jahren  haben 
die  Großstädter  an  diesen  ihren  Eigenschaften  stark  eingebüßt. 
Die  Zählung  von  1900  stellte  im  Durchschnitt  ihre  Stadtgebürtig- 
keit  auf  43,30/0  fest.  München  kannte  nur  36,1,  Dresden  38,5, 
Berlin  40,9.  Die  zusammenziehenden  Fremdlinge  werden  dann 
durch  Heirat  untereinander  oder  mit  den  Einheimischen  zu  einer 
Mischrasse.  Die  alte  örtliche  Inzucht,  die  dem  Typus  Festigkeit 
verlieh,  weicht  dem  angeblichen  Menschenrecht  nach  Laune  und 
ungeprüfter  Neigung,  sich  die  Gattin  zu  suchen,  falls  es  nicht 
dem  Heiratsmarkt  der  Zeitungsannonce  preisgegeben  worden  ist. 
Der  Mensch  des  Rassenchaos  sieht  jeden  anderen  als  seines- 
gleichen an,  er  ist  demokratisch  von  Natur.  Er  liest  dieselbe 
Presse  wie  sein  Nachbar  in  der  Elektrischen,  mit  dem  er  nicht 
viel  Gedanken  auszutauschen  hat,  sondern  deren  Identität  mit  den 
seinigen  er  nur  feststellt,  um  befriedigt  zu  sein.  In  der  großen 
Masse  leben  die  einzelnen  nebeneinander,  nicht  miteinander.  Idea- 
lismus gilt  ihr  als  eine  Scheuklappe,  die  die  Wirklichkeiten  ver- 
deckt. Sich  auszuleben,  ist  ihr  die  Hauptsache.  Sie  ist  leicht  lenk- 
bar von  demjenigen,  der  ihren  Instinkten  entgegenkommt.  Das 
wissen  die  politischen  Drahtzieher,  die  nach  Bedarf  anreizen  und 
abpfeifen,  sehr  wohl.  Die  wirtschaftlichen  Folgen  dieser  massen- 
haftigen psychischen  Gleichartigkeit  treten  in  der  Gleichartigkeit 
des  Verbrauchs  hervor.  Überall  sieht  man  Paletots  und  Hüte  von 
gleicher  Farbe  und  Form  auf  der  Straße,  in  den  Wohnungen 
gleiche  Möbel,  in  den  Restaurants  gleiche  Diners  zu  festen  Preisen. 


6o2  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von    1890 — 1914. 

Den  Produzenten  wird  so  die  Arbeit  erleichtert,  die  typische  Ware 
wird  rentabel  hergestellt. 

Doch  wäre  es  verkehrt,  anzunehmen,  daß  es  in  der  Großstadt 
keine  soziale  Differenzierung  gäbe.  Die  kleinste  einflußreichste 
Klasse  ist  die  des  großen  Besitzes  an  Unternehmungen,  Häusern, 
Geldkapitalien  und  Renten.  Durch  die  Presse  versteht  sie  die  öf- 
fentliche Meinung  plutokratisch  sich  dienstbar  zu  machen.  Die 
zweite  geht  schon  in  die  Breite  und  setzt  sich  aus  hochbezahlten, 
gelernten  Arbeitern,  Handwerkern,  Kleinkauf leuten,  Privatange- 
stellten, unteren  und  mittleren  Staats-  und  Gemeindebeamten 
und  ähnlichen  Leuten  zusammen.  Sie  hat  etwas  zu  verteidigen, 
haßt  die  Anarchie  und  ruft  nach  der  Polizei,  wenn  sie  aus  ihrer 
Ruhe  von  der  dritten  aufgescheucht  wird.  Diese  ist  das  eigentliche 
Proletariat  der  Ungelernten  oder  noch  nicht  angelernten  Jugend- 
lichen mit  einem  Anhang  des  arbeitsscheuen,  verbrecherischen  Ge- 
sindels. Sind  so  die  sozialen  Abstufungen  gegeben,  so  herrscht 
doch  in  jeder  das  Prinzip  der  Gleichheit  vor  und  gleich  sind  alle 
im  Mangel  an  Bodenständigkeit  und  gefestigter  Sitte. 

Die  städtische  Gemeindeverwaltung  hat  keinen  leichten  Stand. 
Den  Hut  in  der  Hand  vor  dem  Modernismus  und  dem  ochlokra- 
tischen  Begehren  steckt  sie  in  steten  Budgetschwierigkeiten.  Sie 
gibt  dem  Drängen  jeder  sozialpolitischen  Richtung  nach,  und  die 
Grenze  der  finanziellen  Notwendigkeit  stemmt  sich  ihm  als  Kritik 
tiicht   entgegen. 

Der  Etat  zeigt  die  Vielartigkeit  der  öffentlichen  Bedürfnisse: 
Ausgaben  für  Schule,  Armenpflege,  Polizei,  Beleuchtung,  Wasser, 
Kanalisation,  Abfuhrwesen,  Straßenbau,  Straßensprengung  und 
-reinigiing,  Wohnungsbau,  Feuerlöschwesen,  Schlachthöfe,  Volks- 
bäder, Straßenbahnen,  öffentliche  Spielplätze,  Wald-  und  Wiesen- 
flächen, Theater  —  und  den  aus  alledem  erwachsenen  Zinsendienst 
für  aufgenommene  Schulden.  Die  Gemeinde  ist  mehr  als  der  Staat 
ein  wirtschaftlicher  Verband  für  die  unmittelbaren  Bedürfnisse 
seiner  Einwohner.  Die  Einzelproduktion  braucht  Kraftquellen,  die 
sich  der  kleine  und  der  mittlere  Betrieb  nicht  immer  selbst  be- 
schaffen können.  Von  87  um  1910  untersuchten  Städten  hatten  59 
Gas-,  58  elektrische  Werke  in  eigener  Regie. 

Der  private  Verkehr  ist  an  erster  Stelle  auf  die  spekulative 
Beschaffung  der  Lebensmittel  durch  die  Händler  angewiesen,  die 
um  so  mehr  zu  leisten  hat,  als  die  hauswirtschaftliche  Eigenversor- 
gung immer  mehr  eingeschrumpft  ist.  Die  Städte  stehen  bezüglich 
der  industriellen,  auch  die  Nahrungsrohstoffe  verarbeitenden  Tä- 
tigkeit nicht  gleich.  Manche,  wie  z.  B.  Chemnitz,  Krefeld,  Essen 
sind  höchst  einseitige  Industriezentren,  so  daß  auch  der  Verbrauch 


VII.  Schlußbetrachtung  zu  1890 — 1914.    Ergänzungen.    Allgemeine  Rückblicke.     503 

der  meisten  gewerblichen  Gegenstände  aus  der  Ferne  gedeckt 
werden  muß.  Besser  daran  sind  die  vielseitigen,  wie  Berlin  oder 
München,  oder  die  Großhandelsstädte,  wie  Hamburg,  Bremen, 
Leipzig,  wo  auch  die  Verkäufer  im  kleinen  stets  unter  dem  Kon- 
kurrenzdruck durch  die  Großen  stehen,  die  sich  ihrer  angestellten 
Vertreiber  bedienen. 

Die  Gemeinde  hat  ihre  besonderen  Aufgaben  für  die  Versor- 
gung der  Familie  zu  erfüllen,  wenn  die  Gefahr  der  privatmonopo- 
listischen  Ausbeutung  vorhanden  ist.  Von  91  danach  durchforsch- 
ten Städten  hatten  um  1910  41  Verträge  mit  großen  Kohlenfirmen 
abgeschlossen.  Öffentlicher  Fischverkauf  wurde  vielfach  übernom- 
men. Die  Aufsicht  über  die  Lebensmittelqualität  wurde  um  so 
strenger  gehandhabt,  je  weniger  die  Hausfrauen  den  Einkauf  ver- 
standen, und  die  Gefahr  des  Massenbetruges  vorlag.  Die  Stadt 
Ulm  hatte  mit  einer  Genossenschaft  für  rationelle  Schweinezucht 
einen  langfristigen  Lieferungsvertrag  geschlossen,  durch  den  sie 
auf  die  Preise  regelnd  einzuwirken  hoffte.  Posen  führte  mit  Er- 
folg Wildlieferungen  durch  Verträge  herbei.  Dieselbe  Stadt  besaß 
eine  sogenannte  städtische  Milchküche,  in  der  gelieferte  Milch  be- 
handelt, und  von  der  sie  an  die  Verbraucher  abgegeben  wurde. 

Die  Stadt  ist  ferner  Arbeitgeber  im  großen.  Sie  läßt  Ge- 
bäude für  öffentliche  und  Vermietungszwecke  aufführen,  Straßen, 
Friedhöfe,  Kanalisationen,  Wassertürme,  Lagerplätze,  Häfen,  Kais 
anlegen  und  erhalten.  Die  Hospitäler  wurden  modernisiert,  auch 
durch  Wöchnerinnen-  und  Säuglingsheime  ergänzt.  Sozialpolitische 
Erwägungen  sind  nicht  bloß  mitbestimmend  bei  dem  Zweck  solcher 
Anlagen,  sie  beherrschen  auch  das  Verhältnis  des  Arbeitnehmers 
zum  -geber.  Das  entspricht  dem  Geist  der  Verwaltung,  die  zu  der 
Armenpflege  den  Arbeitsnachweis  hinzufügte,  Sonntagsruhe,  Wo- 
chen- und  Tagearbeit  unter  ihre  Aufsicht  nahm,  arbeitslosen  Wil- 
ligen Beschäftigung  bei  gutem  Lohn  gewährte,  den  Arbeitern  bei 
öffentlichen  Transportmitteln  Ermäßigungen  zuteil  werden  ließ, 
bei  Volksvorstellungen  billige  Einlaßkarten  in  die  kommunalen 
Theater  abgab  und  den  ortsangehörigen  Handwerkern  bei  Sub- 
missionen entgegenkam,  somit  die  billigere  auswärtige  Konkurrenz 
ablehnte. 

Das  alles  kostet  Geld,  viel  Geld.  Man  hat  berechnet,  daß  der 
Finanzbedarf  aller  kommunalen  Körperschaften  1907  3130  Mil- 
lionen Mark  betragen  hat,  das  waren  3/^  aller  damaligen  Reichs- 
und einzelstaatlichen  Ausgaben.  In  demselben  Jahre  hatten  die  Ge- 
meinden eine  Schuldenlast  von  6,5  Milliarden.  Wie  rasch  sie  sich 
vermehrt  hat,  erfahren  wir  daraus,  daß  die  Städte  mit  über  100  000 


5o4  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

Einwohnern   sie    1881    auf  771,8,    1907   auf   5295,7   Millionen   Mark 
■feststellten. 

Die  städtischen  Einnahmen  fließen  zunächst  aus  den  Erwerbs- 
einkünften, Wasser,  Gas,  Elektrizität,  Straßenbahnen.  Die  Vergü- 
tungen sind  teilweise  schon  so  hoch,  daß  man  sie  als  indirekte 
Verbrauchsbesteuerung  angesprochen  hat.  Die  eigentlichen  Ver- 
brauchsabgaben, etwa  von  Lizenzen  und  Oktroi,  auch  in  der  Form 
der  Miet-  und  der  Hundesteuer,  treten  in  der  neueren  Zeit  den 
Schatzimgen,  d.  h.  den  Zuschlägen  zu  den  direkten  Einkommen- 
und  Vermögensteuern,  und  den  Ertragsteuern,  die  in  Preußen  zu- 
erst, dann  auch  in  anderen  Staaten  ihr  staatliches  Wesen  ganz  oder 
teilweise  verloren  haben,  gegenüber  zurück.  Neuzeitliche  Abgaben 
sind  die  Wertzuwachs-  und  die  Steuer  vom  gemeinen  Wert  bei 
Grundstücken  und  die  Lustbarkeitsabgabe.  Zu  allem  treten  noch 
die  Gebühren  der  Kanalisation,  der  Straßenreinigung,  der  Müll- 
abfuhr, der  Baupolizei  usw.  hinzu.  Alle  größeren  Städte  besitzen 
Sparkassen  —  beiläufig  bemerkt,  eine  deutsche  Erfindung,  die 
1767  im  badischen  Bezirk  Bonndorf  und  1778  in  Hamburg  prak- 
tisch wurde  — ,  die  an  erster  Stelle  dazu  dienen,  die  Wirtschaftlich- 
keit und  den  Sparsinn  zu  fördern,  auch  geringe  Einnahmen  über 
die  Verwaltungskosten  hinaus  bringen.  Ihre  Passivgeschäfte  sind 
so  geartet,  daß  sie  den  kleinen  Sparern  dienen,  und  daß  sie  nicht 
Depositenkassen  für  Kapitalisten  werden  wollen.  Ihre  Aktivge- 
schäfte, Hypothekenanlagen,  Effektenkäufe,  Wechsel,  Lombardfor- 
derungen und  andere  Darlehen  tragen  überwiegend  einen  örtlichen 
Charakter.  Die  Sparkasse  gliedert  sich  in  die  Gemeinde  ein,  in- 
dem sie  die  Gelder,  die  sie  der  Gemeindebevölkerung  entnimmt, 
dieser  im  Wege  des  Kredits  wieder  zuführt. 

Politisch  sind  die  Städte  in  Reich  und  Einzelstaat  unvollkom- 
men vertreten.  Es  gibt  nicht  wenige,  die  einzelne  Bundesstaaten 
an  Volkszahl  übertreffen.  Hamburg  überragt  die  beiden  Mecklen- 
burg zusammen,  jede  Halbmillionenstadt  Oldenburg  oder  Braun- 
schweig, jede  Stadt  von  50000  Einwohnern  Schaumburg-Lippe.  Im 
Bimdesrat  hat  die  Stadt  so  wenig  zu  sagen  wie  die  Industrieprovinz, 
dasselbe  gilt  im  Reichstag.  In  den  ersten  Kammern  der  Bundes- 
staaten werden  Bürgermeister  einiger  Städte  zwar  gehört,  aber  in 
den  wichtigeren  zweiten  können  sie  ihre  Wünsche  mit  Sicherheit 
nicht  zur  Geltimg  bringen,  obwohl  große  Quoten  des  Volksvermö- 
gens durch  sie  vertreten  werden. 

Den  reinen  städtischen  Bodenbesitz  —  unbebaut  oder  mit 
Grundmauern  ohne  Gebäude  —  veranschlagt  A.  Steinmann- 
Bucher  für  191 4  auf  50  Milliarden  Mark,  auf  Vs  des  deutschen 
Volksvermögens.     Die  größte  Wertsteigerung  des  Bodens  hat  sich 


VII.  Schlußbetrachtung  zu   1890 — 19 14.    Ergänzungen.    Allgemeine  Rückblicke      505 

in  den  letzten  25  Jahren  vollzogen,  ein  Ausdruck  der  Entwicklung 
der  Volkswirtschaft  in  dieser  Periode.  Nach  J.  Wolf  war  der 
Boden  wert  Berlins  1830  17  Millionen  Mark,  191 2  5  Milliarden,  3/^ 
des  Ganzen  geht  auf  die  Zeit  nach  1890  zurück.  P,  Voigt  schätzt 
den  Bodenwert  Charlottenburgs  1865  auf  6,  1886  auf  45,  1897  auf 
300  Millionen  Mark;  191 1  ist  er  1500.  Örtlich  hat  sich  die  Boden- 
wertsteigerung sehr  verschieden  vollzogen,  anders  in  den  GeschäftSr 
als  in  den  Wohnstraßen,  anders  an  den  Verkehrsmittelpunkten, 
z.B.  den  Bahnhöfen,  als  in  den  entfernten  Arbeiterquartieren.  1881 
kostete  der  Quadratmeter  unter  den  Linden  480,  in  der  Leipziger 
Straße  340,  der  Friedrichstraße  in  der  Nähe  des  Bahnhofs  gleichen 
Namens  240  Mark,  1910  sind  die  entsprechenden  Zahlen  2250, 
2220,  2250.  Von  den  Wohnstraßen  brachte  der  Hansaplatz,  die 
Gegend  Moabits  30  und  278,  die  Gegend  des  Humboldthains  12 
bis  30  und  108 — 154,  die  Gegend  des  Görlitzer  Bahnhofes  30 — 60 
und  315.  Wo  Raum  war,  den  Umkreis  auszudehnen,  da  ist  es  ge- 
schehen, zugleich  wurde  die  dritte  Dimension  ausgenutzt.  Das 
Hochbauen  wurde  durch  die  ökonomische  Notwendigkeit  geboten, 
das  teuere  Bodenkapital  auszunutzen.  Wo  der  Quadratmeter  mehr 
als  30  Mark  kostete,  nahm  man  an,  daß  sich  der  Bau  von  Einl- 
familienhäusern  für  wenig  Bemittelte  nicht  mehr  ausführen  ließ. 

Die  Stadterweiterung  erwies  sich  überall  als  eine  höchst  wich- 
tige kommunale  Angelegenheit.  So  viel  seit  1890  in  Deutschland 
gebaut  worden  ist  —  wer  nach  20  Jahren  eine  Stadt  besuchte,  die 
er  seitdem  nicht  gesehen  hatte,  fand  ein  gänzlich  verändertes 
Stadtbild  vor  — ,  fast  durchweg  bestand  ein  Mangel  an  Wohnungen, 
der  bei  den  kleinen  am  schärfsten  hervortrat.  Die  Wohnungsfrage 
trägt  daher  ein  zweifaches  Gepräge.  Sie  ist  eine  allgemeine,  inso- 
fern alle  Wohnungen,  eine  spezielle,  insofern  diejenigen  der  klei- 
nen Mieter,  insbesondere  die  der  Arbeiter,  davon  betroffen  werden. 
Die  LTrsache  des  Fehlens  an  Wohnungen  überhaupt  liegt  an  erster 
Stelle  in  dem  rapiden  Wachsen  der  städtischen  Bevölkerung.  Ihm 
gegenüber  steht  der  beschränkte  Bodenraum  für  Wohnungen,  da 
nur  der  geringe  nutzbar  gemacht  werden  kann,  der  von  den  Mittel- 
pimkten  des  gewerblichen,  kommerziellen,  politischen  und  sonsti- 
gen städtischen  Lebens  nicht  gar  zu  entfernt  ist.  Er  wird  zwar 
durch  die  städtischen  Bahnen  erweitert.  Aber  es  dauert  immer 
Zeit,  bis  es  geschehen  ist,  ebenso  wie  das  Hausbauen  sich  nicht  so 
rasch  vollzieht,  als  der  Zustrom  von  Menschen  von  außen  her  an- 
schwillt. Denn  das  ist  sowohl  für  den  Wohnungsmangel,  als  auch 
für  die  hohen  Mietpreise  entscheidend,  daß  die  Begehr  dem  Ange- 
bot immer  vorauslief. 


6o6  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

Zu  den  sekundären  Ursachen  der  allgemeinen  Wohnungsnot 
gehört  die  Spekulation  der  Terraingesellschaften,  die  mit  der  Be- 
bauung wartet,  bis  die  Verkäufe  guten  Gewinn  sichern,  oder  auch 
gelegentlich  die  Verwaltung  der  Städte  selbst,  die  für  städtische 
Gebäude,  Bahnhöfe,  Docks,  Verschönerungen,  Straßenerweite- 
rungen, Plätze,  Parks  Boden  unter  Abbruch  oder  in  neu  zu  er- 
schließenden Gegenden  in  Anspruch  nimmt.  Wenn  auch  für  diese 
Ausscheidung  des  Wohnhausbodens  genügende  Gründe  vorlagen, 
so  konnte  doch  ein  Bebauungsplan  schwerlich  gerechtfertigt  wer- 
den, der  übertrieben  breite  Straßen  in  den  Vororten  guthieß  und 
damit  den  Nutzboden  schmälerte.  Da  für  den  Hausbau  nicht  bloß 
der  Boden  und  sein  Wert,  sondern  auch  die  Materialkosten  und 
die  Löhne  der  Bauarbeiter  in  Frage  stehen,  so  bedeutete  die  stei- 
gende Verteuerung  hieran  eine  Erschwerung  oder  Stockung  der 
Bautätigkeit.  Wie  extrem  diese  Umstände  hindernd  wirken  kön- 
nen, haben  wir  nach  dem  Weltkriege  gesehen.  Aber  auch  schon 
vor  1914  waren  sie  nicht  zu  unterschätzen. 

Daß  die  kleinen  Wohnungen  noch  ihre  besonderen  Ursachen 
des  Mangels  und  der  Teuerung  besitzen,  ergibt  sich  sowohl  dar- 
aus, daß  hier  die  Konkurrenz  der  Suchenden  am  größten  ist,  weil 
sie  es  sind,  die  hauptsächlich  zuwandern,  als  auch  aus  dem  überall 
nachgewiesenen  psychologischen  Motiv,  daß  die  Vermietung  an 
kleine  Leute  ein  wenig  angenehmes  Geschäft  ist.  Ausfälle  an  Mieten 
sind  nicht  selten,  Austreibungen  laden  dem  Hausbesitzer  das  Odium 
des  Blutsaugers  auf,  und  die  Verhandlungen  mit  ungebildeten  Leu- 
ten oder  drohenden  Sozialdemokraten  sind  zeitraubend  und  ab- 
stoßend. Die  Wohnungen  mit  zwei  heizbaren  Zimmern  sind  sehr 
gesucht.  Nach  dem  Kriege  zählte  man  in  Charlottenburg  80000 
Wohnungen,  darunter  nur  43  000  solche  Kleinwohnungen,  in 
Schöneberg  waren  die  Zahlen  47  und  26000,  in  Steglitz  17  und 
8000. 

Das  Ergebnis  des  Wohnungsmangels  war  die  Verdichtung  der 
Menschenmenge  auf  den  ausgenutzten  Raum.  Um  1900  kamen 
z.  B.  auf  ein  bewohntes  Haus  in  Schöneberg  67,1,  Rixdorf  57,8, 
Charlottenburg  51,5,  Berlin  47,7  Personen  und  1905  entsprechend 
68,1,  59,5,  55,3,  50,4.  Auch  Halle,  Magdeburg,  Cassel,  Dortmund, 
Kiel,  Mannheim,  Bremen  zeigen  einen  ähnlichen  nachweisbaren 
Vorgang,  der  teils  auf  den  zunehmenden  Bau  von  Mietskasernen, 
teils  auf  ein  engeres  Zusammenrücken  in  den  vorhandenen  sonsti- 
gen Stockwerkshäusern  zurückgeführt  wird.  Die  gesundheitlichen 
und  sittlichen  Bedenken  dieses  Zusammengepferchtseins  ^vurden 
immer  wieder  hervorgehoben,  wofür  auch  die  Mieter  gelegentlich 
mitverantwortlich  gemacht  wurden,  die  von  ihrem  Einkommen  so 


VII.  Schlußbetrachtung  zu   1890 — 1914.    Ergänzungen.    Allgemeine  Rückblicke.      5o"" 

wenig  wie  möglich  hergeben  wollen,  um  für  minder  wichtige  Aus- 
gaben Geld  verfügbar  zu  halten.  Das  Eingreifen  einer  zielbe- 
wußten Sozialpolitik  des  Staates  und  der  Gemeinde  ist  daher  auf 
der  Tagesordnung  der  Gesetzgeber  geblieben. 

Als  Ideal  wird  ziemlich  allgemein  hingestellt,  daß  die  groß- 
städtische Übervölkerung  in  die  Vororte  bzw.  Villenstadtteile  abge- 
leitet wird,  in  Ein-  oder  auch  daneben  Zweifamilienhäuser  mit 
etwas  Garten,  was  geeignete  Zufahrtgelegenheit  mit  Stadtbahnen 
zur  Seite  haben  muß.  Zahlreiche  Ansätze  sind  gemacht  worden. 
Der  Erfolg  konnte  indessen  nicht  ausreichen,  weil  die  Zunahme 
der  städtischen  Bevölkerung  allen  solchen  Anstrengungen  voraus- 
eilte. Ins  Praktische  gesetzt  wurden  dieselben  durch  die  Bebau- 
ungspläne und  die  Baupolizei  der  Gemeinden,  die  Größe,  Stock- 
werkbau und  hygienische  Bauweise  vorschrieb,  durch  die  Staats- 
verwaltungen mit  der  Aufführung  von  Dienstwohnungen  für  Post- 
und  Eisenbahnbeamte,  durch  die  kommunale  Unterstützung  von 
Baugesellschaften,  deren  man  191 2  1200  zählte,  oder  Gartenstadt- 
gesellschaften und  durch  andere  gemeinnützige  Bautätigkeit  von 
Privaten,  Vereinen,  Stiftungen.  Obwohl  man  berechnet  hat,  daß 
um  191 3  die  Baugenossenschaften  und  Gartenbaugesellschaften  nur 
für  11/2^/0  des  Wohnungsbedarfes  der  wachsenden  Bevölkerung  aus- 
gereicht haben,  so  war  doch  damit  dem  spekulativen  Unternehmer- 
tum eine  Konkurrenz  erwachsen,  die  etwas  regulierend  auf  die 
Mietpreise  eingewirkt  hat.  Die  Gemeinden  haben  häufig  Terrain 
erworben,  um  die  wachsende  Boden  re-^^^  dem  Privatkapital  zu 
entziehen,  und  der  Anteil  an  der  Gesamtfläche  der  Stadt  ist  in 
einigen  recht  bedeutend  geworden,  so  in  Freiburg  i.  B.,  Augs- 
burg, Koblenz,  Frankfurt  a.  M.,  Stettin,  Ulm,  die  über  50 0/0  der- 
selben besaßen.  Wo  eine  Eingemeindung  der  Vororte  nicht  zu- 
stande kam,  wurden  auch  „Zweckverbände"  gebildet,  die  die  Woh- 
nungsfürsorgeübernahmen. Bei  der  Abgabe  von  Boden  an  Baulustige 
sind  die  Gemeinden  verschieden  vorgegangen,  sei  es,  daß  sie  ver- 
kauft haben,  z.  B.  in  Mülhausen,  oder  ein  Wiederkaufsrecht  sich 
vorbedangen,  wie  in  Ulm,  oder  daß  sie  Häuser  gebaut  und  ver- 
mietet haben,  wie  in  Freiburg,  oder  daß  sie  von  dem  Erbbaurecht 
Gebrauch  machten,  wie  in  Straßburg. 

Planmäßig  in  einem  Guß  hergestellte  Gartenstädte  hat  zuerst 
Th.  Fritsch  empfohlen,  allerdings  ohne  ein  praktisches  Ergebnis 
zu  erzielen,  als  eine  Verbindung  von  gesundheitlichen  und  schön- 
heitlichen Aufgaben  mit  wirtschaftlichen,  die  sich  in  besonderen 
Zonen  der  Ansiedelung  zu  erfüllen  haben.  Als  aus  England  erfolg- 
reiche Versuche  bekannt  wurden,  ging  man  auch  in  Deutschland 
zur  Tat  über  und  schuf  gleichzeitig,  je  nach  Zweck  und  Recht,  sehr 


6o8  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

verschiedene  Typen  in  der  Nähe  von  nord-  und  süddeutschen 
Städten.  Die  Obstbaukolonie  Eden  bei  Oranienburg  ist  eine  Ge- 
nossenschaft m.  b.  H.,  mit  Unterstützung  der  Gemeinde  errichtet, 
die  Gartenstadt  Hellerau  eine  Musik-  und  Industriestadt,  Frohnau 
eine  Villenkolonie  in  Reinkultur  als  Aktiengesellschaft  mit  gemein- 
nütziger Ausgestaltung,  Bedburg  eine  Heimstätte  für  Geisteskranke. 
Die  Anlagen  bei  Nürnberg,  Karlsruhe,  Merseburg,  Mannheim  un- 
terstehen in  einiger  Hinsicht  den  gleich  zu  nennenden  bodenrefor- 
matorischen  Gesichtspunkten. 

Zur  Verstärkung  von  jederlei  Ausbau  tritt  die  Citybildung, 
d.  h.  die  allmähliche  Umwandlung  der  inneren  alten  Teile  der 
Großstadt  von  Wohn-  in  reine  Geschäfts-  und  Verkehrsquartiere, 
hinzu.  Geschäfts-,  Kontor-,  Verkaufshäuser  haben  nur  noch  Wohn- 
räume für  Pförtner  und  Aufsichtsleute  zum  Zweck  des  Nacht- 
dienstes. Eine  solche  Verschiebung  der  Bevölkerung  ist  von  1890 
bis  1910  in  einem  Fortzug  bis  zu  der  Hälfte  aus  der  geschäftstäti- 
gen Binnenstadt  ermittelt  worden,  am  auffallendsten  in  Bremen, 
Chemnitz,  Halle,  Hamburg,  Leipzig,  Berlin  und  Stuttgart.  Das 
Ergebnis  dieses  arbeitsteilig  gebotenen  Vorganges  ist  für  die  Woh- 
nungspreise eine  Verteuerung  in  allen  jenen  Stadt gegenden,  die 
sich  kreisförmig  um  den  Geschäftsmittelpunkt  lagern.  Allabend- 
lich leeren  sich  in  Berlin  250000  Schreibstuben,  deren  Insassen 
meist  in  die  Vororte  hinausfahren. 

Die  Forderung  des  weiteren  Ausbaues  wird  immer  von 
neuem  erhoben  trotz  der  manchen  Bedenken,  die  auch  hier  nicht 
fehlen.  Ihr  im  großen  nachzugeben,  heißt  der  Landwirtschaft  fühl- 
bar Boden  entziehen.  Zudem  wird  die  Anziehungskraft  der  Städte 
verstärkt,  je  besser  die  Wohnungsverhältnisse  werden.  Solche  Ein- 
wendungen werden  von  den  Stadtverwaltungen  gering  geachtet, 
denn  die  Verhältnisse  des  sozialen  Lebens  haben  sich  als  politische 
Notwendigkeiten  durchgesetzt,  und  es  blieb  nichts  als  die  Mahnung 
übrig,  mit  dem  vorhandenen  Boden  nicht  zu  verschwenderisch  um- 
zugehen. 

Die  städtische  Bodenrente  ist  von  politischen  Parteien  und 
noch  mehr  von  den  zu  diesem  Zweck  gegründeten  Vereinen  als 
unverdienter  Wertzuwachs  des  Bodeneigentümers  heftig  angegriffen 
worden. 

Als  ländliche  ist  die  Rente  seit  Ricardo  ein  Objekt  der 
wissenschaftlichen  Forschung  gewesen.  Bei  den  zunehmenden  Ge- 
treidepreisen in  Deutschland  von  1840 — 1875  fanden  die  Angriffe 
gegen  sie  auch  in  der  Praxis  Befürworter,  die  hohe  Grundsteuern 
als  gerechtfertigt  erachteten.  Als  dann  die  Agrarkrise  heraufkam, 
wurde  umgekehrt  die  Steuerentlastung  für  notwendig  erklärt  und 


VII.  Schlußbetrachtung  zu   1890 — 1914.    Ergänzungen.    Allgemeine  Rückblicke.      5oq 

auch  in  den  Einzelstaaten  durchgesetzt.  Die  Freihändler  stützten 
sich  gelegentlich  auf  „die  Ungerechtigkeit"  der  Bodenwertsteige- 
rungen durch  erhöhte  Getreidepreise,  um  die  Zölle  auf  landwirt- 
schaftliche Erzeugnisse  zu  bekämpfen. 

Um  so  mehr  fand  die  Lehre  des  Monopol-  imd  Differential- 
einkommens auf  den  großstädtischen  Boden  Anwendung,  als  die 
Städte  so  rasch  anwuchsen.  1886  wurde  „Die  Landliga"  gegründet 
mit  dem  unklaren  Ziel  der  Bodenverstaatlichung,  an  ihre  Stelle 
trat  1888  „Der  deutsche  Bund  für  Bodenbesitzreform",  bei  dem 
eine  so  weitgehende  Forderung  für  die  Gegenwart  zurückgestellt 
wurde,  und  statt  dessen  „als  erster  sofort  zu  verwirklichender 
Schritt  die  Wegsteuerung  des  Zuwachses  der  städtischen  Grund- 
renteneinkommen, und  zwar  in  allmählicher,  friedlicher  Durchfüh- 
rung" anempfohlen  wurde.  10  Jahre  später  wurde  „Der  Bund  deut- 
scher Bodenreformer"  errichtet,  der  unter  seinem  praktisch  tätigen 
und  wissenschaftlich  regen  Vorsitzenden  A.  Damaschke  eine  be- 
deutende Mitgliedschaft  gewann.  Gegenorganisationen  wurden  von 
den  bedrohten  Bodenbesitzern  geschaffen.  Haus-  und  Grundbe- 
sitzervereine sahen  sich  in  ihren  wohlerworbenen  Rechten  geschä- 
digt und  traten  den  Beweis  an,  daß  ihre  Mitglieder  diejenigen  ge- 
wesen seien,  die  der  zunehmenden  Bevölkerung  erst  die  Möglich- 
keit zu  wohnen  eröffnet  hätten.  Die  Terraingesellschaften  schlös- 
sen sich  ihnen  an,  obwohl  ihre  spekulativen  Ausschreitungen  keines- 
wegs von  allen  Grundbesitzern  gutgeheißen  wurden,  da  diese  selbst 
darunter  zu  leiden  gehabt  hatten. 

Ein  Erfolg  ist  den  Bodenreformern  nicht  ausgeblieben.  Wenn 
in  Hunderten  von  Gemeinden  eine  Wertzuwachssteuer  und  die 
Steuer  nach  dem  gemeinen  Wert  bei  unbebauten  auf  den  Verkauf 
harrenden  Grundstücken  eingeführt,  wenn  die  Sicherung  der  For- 
derungen der  Bauhandwerker  gegenüber  bankerotten  Bodenspeku- 
lanten und  Bauunternehmern  durchgesetzt  wurde,  wenn  die  Städte 
Boden  erwarben,  oder  das  Erbbaurecht  gegen  Gesellschaften  oder 
Private  zur  Anwendung  brachten,  so  hat  daran  der  genannte  Bund 
seinen  werbenden  Anteil  gehabt. 

Daß  diese  Politik  einen  zweischneidigen  Charakter  trägt,  läßt 
sich  nicht  verkennen.  Das  Nachlassen  der  Bodenspekulation  und 
der  privaten  Bautätigkeit  werden  als  ihr  Ergebnis  behauptet,  was 
für  einige  Städte  stimmen  wird.  Der  Handel  mit  städtischem 
Grund  ist  riskanter  geworden,  weil  der  Gewinn  beschnitten  wurde, 
aber  der  Verlust  mindestens  derselbe  blieb.  Wenn  nach  30  oder 
35  Jahren  der  Boden  samt  dem  Bau  an  die  Stadt  fällt,  so  kann  sich 
die  Kapitalanlage  in  Häusern  nur  lohnen,  wenn  stark  amortisiert 

A.  Sartorius  v.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.      39 


5io  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

wird.  Das  heißt,  die  Mietpreise  müssen  in  die  Höhe  gesetzt  wer- 
den, und  damit  wird  die  Vermietung  kleiner  werdender  Wohnungen 
vieranlaßt. 

Die  ultima  ratio  des  starken  Eingriffes  in  das  städtische  Pri- 
vateigentum und  dessen  Bewirtschaftung  ist,  daß  die  Stadt  selbst 
baut,  d.  h.  ein  Geschäft  übernimmt,  zu  dem  sie  nicht  sonderlijch 
tauglich  ist.  Die  öffentliche  Verschuldung  nimmt  dann  zu,  und 
wenn  die  Steuerschraube  nicht  weiter  anzudrehen  ist,  müssen  die 
Mietpreise  der  kommunalen  Häuser  erhöht  werden. 

In  einer  sozialistisch  durchtränkten  Zeit  wird  die  produktive 
Kraft,  die  dem  Privateigentum  innewohnt,  regelmäßig  unterschätzt. 

Die  nationalökonomische  und  sozialpolitische  Theorie  der 
Bodenreformer  ist  rückständig  geblieben.  Sie  geht  auf  den  Ameri- 
kaner Henry  George  zurück,  der  in  Arbeit  und  mobilem  Kapi- 
tal zwei  einträchtige  Brüder  erblickte,  die  gegen  den  Bodenmono- 
polisten Front  zu  machen  haben.  Immer  taucht  bei  der  Agitation 
der  Mann  auf,  der  das  Land  billig  erwirbt,  sich  20  Jahre  nicht 
rührt  und  es  dann  für  Millionen  verkauft.  Von  dem  unglücklichen 
Spekulanten  erfährt  man  nichts,  und  ob  der  Ausbau  der  Städte 
ohne  Aussicht  auf  steigende  Grundrente  so  rasch  stattgefunden 
hätte,  wird  nur  flüchtig  untersucht. 

Der  einzelne  soll  den  Wertzuwachs  nicht  verdient  haben,  weil 
er  ihn  nicht  geschaffen  hat.  Daraus  ist  zu  schließen,  daß  er  dem 
Erzeuger  zusteht.  Aber  wer  ist  dieser  nun?  Wenn  eine  uner- 
schlossene  Gegend  von  einer  Privatbahn  durchzogen  wird,  so  stei- 
gen die  Bodenwerte  an  ihrer  Seite,  und  nach  der  Billigkeits- 
theorie müßte  die  Bahn  Anspruch  an  sie  haben,  wie  denn  auch 
nordamerikanische  Bahnen  von  der  Bundesverwaltung  mit  Land- 
schenkungen unterstützt  worden  sind.  Wenn  Hamburg  und  Bremen 
den  Wert  von  Speichern  und  Kontorhäusern  wachsen  sehen,  so 
hängt  dies  mit  der  Warenaus-  und  -einfuhr  zusammen,  ^die  aus 
der  Entwicklung  der  Weltwirtschaft,  an  der  alle  Länder  der  Erde 
beteiligt  sind,  folgen.  Die  rheinische  Industrie  hat  durch  den  An- 
schluß an  das  Meer  gewaltig  verdient.  Bodenwertsteigerungen  in 
Deutschland  stehen  im  Zusammenhang  mit  dem  Aufschwung  von 
Rotterdam,  und  Antwerpen.  Der  Theorie  nach  hätten  auch  diese 
Städte  etwas  von  dem  deutschen  Wertzuwachs  zu  beanspruchen. 
Die  Lehre  der  Bodenreform  bewegt  sich  in  Allgemeinheiten,  weil 
sie  die  vielgestaltige  Wirksamkeit  der  produktiven  Kräfte  für  die 
Hebung  des  Bodenwertes  nicht  in  einwandfreie  selbständige  Teile 
zu  zerlegen  vermag.  Welt-  und  Volkswirtschaft,  Staat,  Provinzen, 
Gemeinden,  einzelne  Betriebe  und  bodenbesitzende  Individuen  ha- 
ben   gemeinsam    den   Wertzuwachs    geschaffen,    der    sich    übrigens 


VII.  Schlußbetrachtung  zu  1890 — 1914.    Ergänzungen.    Allgemeine  Rückblicke.      5ii 

auch  bei  dem  beweglichen  Vermögen  zeigt,  wenn  er  auch  hier  bei 
seinen  Schwankungen  und  Verschleierungen  nicht  so  leicht  sicht- 
bar wird,  so  daß  eine  spezielle  soziale  Gegnerschaft  gegen  ihn 
nicht  begründet  werden  konnte. 

Um  städtische  und  staatliche  Bodensteuern  zu  rechtfertigen, 
reicht  die  Belastung  nach  der  Leistungsfähigkeit  aus,  sei  es  bei 
Vermögens-  und  Erbschaftssteuern,  sei  es  bei  speziellen  Bodenab- 
gaben, die  als  Ergänzung  dienen  sollen,  um  die  Werte  zu  erfassen, 
die  mit  den  regelmäßigen  Abgaben  nicht  ausreichend  getroffen 
werden  können,  Die  Sozialpolitik  in  der  Wohnungsfrage  hat  Mittel 
und  Wege  genug  in  der  Anlage  und  Durchführung  des  Stadt- 
planes, in  der  Baupolizei,  in  dem  Genossenschafts-  und  Vereins- 
wesen, in  gemeinnützigen  Gesellschaften  mancherlei  Art,  um  zu  be- 
friedigenden Ergebnissen  zu  gelangen.  Es  heißt  das  Kind  mit  dem 
Bade  ausschütten,  wenn  man  bei  einer  an  sich  gerechtfertigten 
Politik  den  privaten  Unternehmungsgeist  bindet,  der  in  den  letzten 
50  Jahren  so  außerordentliches  für  den  deutschen  Stadtbau  getan 
hat.  Man  wird  ihn  auch  in  Zukunft  nicht  entbehren  können  und 
sich  nicht  über  ihn  zu  beklagen  haben,  wenn  man  ihn  unter  öffent- 
licher, aber  wohldurchdachter  Kontrolle  walten  läßt. 


Die  großstädtischen  Finanzen  sind  es  nicht  allein,  die  seit 
der  Gründung  des  Reiches,  und  vorne^-"^''irh  in  dem  letzten  Viertel- 
jahrhundert vor  dem  Kriege,  ein  so  stürmisches  Hinaufschnellen 
erfahren  haben.  Die  des  Reiches  stehen  nicht  viel  anders  da  als 
jene,  die  einzelstaatlichen  haben  sich  ihnen  gegenüber  wohl  zurück- 
gehalten, wiesen  aber  doch  auch  ansehnliche  Summen  auf.  Berück- 
sichtigen wir,  daß  die  Bevölkerung  Deutschlands,  der  Reichtum 
und  die  Bedürfnissteigerung  in  allen  Klassen  so  sehr  zugenommen 
haben,  so  ist  die  Erhöhung  des  Finanzbedarfes  an  sich  leicht  ver- 
ständlich, es  ergibt  sich  indessen,  daß  sie  einen  relativ  weiteren 
Umfang  angenommen  hat,  der  noch  besonders  zu  erklären  ist.  Es 
ist  erstens  die  Rüstungsausgabe  des  Reichsetats,  zu  der  das  von 
Feinden  rings  umgebene  Deutschland  gezwungen,  und  die  durch 
die  Fortschritte  der  Kriegstechnik  noch  auffällig  gesteigert  wurde, 
zweitens  die  intensivere  Staatstätigkeit,  die  die  wachsende  soziale 
Differenzierung  des  Volkes  und  die  größere  Schutzbedürftigkeit 
der  einzelnen  nötig  machten,  welche  das  Anschwellen  der  Etats- 
ziffem  hervorgebracht  haben. 

Die  fortdauernden  Ausgaben  des  Reiches  betrugen  ohne  die- 
jenigen der  Erwerbseinkünfte  und  der  Überweisungen  an  die  Ein- 
zelstaaten 1888  506,8  und  1912  1501,9  Millionen  Mark,  ein  durch- 
schnittliches jährliches  Mehr  von  41,5  in  einer  Periode,  in  der  die 

39* 


6l2  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 


Reichsbevölkerung  um  470/0  zunahm.  Dazu  kommen  noch  die  ein- 
maligen und  außerordentlichen  Ausgaben,  die  sich  durchschnittr 
lieh  auf  385  Millionen  Mark  beziffert  haben.  Von  den  fortlaufenden 
Ausgaben  kamen  1888  82,30/0,  191 2  640/0  auf  die  Landesverteidi- 
gung, von  den  einmaligen  und  außerordentlichen  620/0  im  letzteren 
Jahre.  Vermehrt  wurden  sie  noch  dadurch,  daß  der  Hauptbetrag 
der  Pensionsausgaben  und  Zuschüsse  zum  Invalidenfonds  und  min- 
destens die  Hälfte  der  Zinsen  der  Reichsschuld  ihnen  zuzurechnen 
sind.  Seit  1898  sind  die  Kosten  der  Flotte  schneller  als  die  des 
Landheeres  gestiegen. 

Es  ist  unsere  Aufgabe  hier  nicht,  auf  die  Finanzgeschichte 
Deutschlands  des  näheren  einzugehen.  Wir  wollen  sie  nur  inso- 
weit streifen,  als  es  von  dem  Hauptgesichtspunkt  unserer  Arbeit, 
der  Entwicklung  der  Volkswirtschaft,  zu  einem  in  sich  gegliederten 
einheitlichen  Ganzen  geboten  erscheint.  Wenn  wir  uns  die  Ver- 
kehrswirtschaft so  vorstellen,  daß  von  Einzelwirtschaft  zu  Einzel- 
wirtschaft eine  Verbindungslinie  besteht,  in  der  das  ökonomische 
Leben  wechselwirkend  pulsiert,  und  daß  sie  als  ganzes  einem  dicht- 
maschigen  Gewebe  gleicht,  so  können  wir  daneben  die  Tätigkeit 
des  Staates  mit  ihrem  steten  Eingreifen  in  alle  Wirtschaften  als  ein 
weiteres  Bindemittel  für  sie  denken,  das  von  einem  Punkte  außer- 
halb jenes  Netzes  ausgeht,  und  gewissermaßen  jedem  Kreuzungs- 
punkt desselben  einen  Strang  zuführt,  auf  dem  die  öffentliche  Be- 
einflussung ebenso  hingleitet  wie  die  Leistung  der  einzelnen  Wirt- 
schaften für  den  Staat  auf  ihm  zurückgleitet,  und  der  immer  stär- 
ker und  dichter  wird,  je  mehr  die  öffentlichen  Aufgaben  für  das 
private  Leben  quantitativ  und  qualitativ  eine  Steigerung  erfahren. 

Solange  nun  die  souveränen  Einzelstaaten  im  Deutschen  Bunde 
vereinigt  waren,  wohl  aber  der  Zollverein  eine  allgemeine  Ver- 
kehrswirtschaft brachte,  mußte  der  volkswirtschaftliche  Organis- 
mus Deutschlands  dieses  Haltes  außer  seiner  Verknüpfung  von 
Wirtschaft  zu  Wirtschaft  entbehren.  Statt  dessen  zerrten  die  Einzel- 
staaten im  eigenen  Gebiete  an  den  von  ihnen  auslaufenden  Strängen 
in  ungleicher,  willkürlicher  Weise,  so  daß  die  ganze  Fläche  in  un- 
kontrollierbare Schwankungen  versetzt  wurde.  Mit  dem  Norddeut- 
schen Bund  entstand  ein  Zentrum  öffentlich  rechtlichen  Einflusses 
für  die  Länder  nördlich  des  Mains,  mit  dem  Reich  auch  für  Süd- 
deutschland. Die  Verkehrswirtschaft  auf  deutschem  Boden  wird 
durch  den  Schutz  des  Reiches  nach  außen  hin  gesichert  und  durch 
Gesetzgebung  und  Verwaltung,  direkt  durch  wirtschaftliche  Maß- 
regeln, indirekt  durch  alle  anderen,  die  irgendwelche  wirtschaft- 
liche Folgen  haben,  im  Innern  befestigt,  verfeinert,  vertieft.  Das 
Zollwesen,  die  Verbrauchsabgaben  und  andere  Besitzsteuern  schie- 


VII.  Schlußbetrachtung  zu   1890 — 1914.    Ergänzungen.    Allgemeine  Rückblicke.      61  7 

ben  sich  überall  in  das  Wirtschaftsleben  ein  und  bilden  in  ihm 
neue  Zusammenhänge,  die  zwar  auch  anders  hätten  sein  können, 
aber  doch  da  waren  und  neue  Wechselwirkungen  begründeten. 
Sie  hätten  anders  sein  können  —  jawohl  —  vollkommener,  mehr 
durchdacht,  großzügiger,  dann  würde  das  volkswirtschaftliche 
Ganze  nach  außen  hin  und  im  Innern  noch  weit  besser  funktioniert 
ihaben. 

So  haben  wir  die  wunderliche  Tatsache  erleben  müssen,  daß 
sich  das  Reich  in  einer  Periode  des  größten  Reichtums,  wie  sie 
Deutschland  niemals  vorher  verzeichnet  hat,  in  einer  steten  Finanz- 
not befunden  hat.  Das  konstitutionelle  Steuerrecht,  das  eine  Kritik 
der  Regierungsvorlagen  im  Sinne  der  Sparsamkeit  sein  soll,  war 
zu  einer  individualistisch-demokratischen  Obstruktion  entartet. 
Wurden  die  notwendigen  Ausgaben  stückweise,  doch  überall  ver- 
kürzt, schließlich  zugestanden,  so  wollte  sich  der  Reichstag  zu  einer 
ausreichenden  Deckung  niemals  bereitfinden  lassen.  Immer  hieß 
es  Finanzreform  —  und  war  ein  Kompromißwerk  endlich  verab- 
schiedet, so  waren  in  Wahrheit  dem  alten  Rock  nur  ein  paar 
Flicken  aufgenäht  worden,  die  die  Blöße  notdürftig  verdeckten. 

Auf  Grund  der  historischen  Aufzeichnungen  von  K.  T.  v.  E  h  e- 
b  e  r  g  seien  zum  Beweis  des  Gesagten  einige  Tatsachen  vorgeführt. 

In  der  Freihandelszeit  des  Reiches  waren  die  Zolleinnahmen 
bis  auf  100  Millionen  Mark  gesunken,  die  übrigen  Reichssteuern 
gaben  140  Millionen,  die  Matrikularumlagen  90.  Die  französische 
Kriegsentschädigung  war  aufgebraucht,  und  die  ersten  Reichs- 
schulden ließen  nicht  auf  sich  warten.  Die  Finanzbesserung  .durch 
Bismarck  ist  in  den  Zollgesetzen  von  1879,  1885  und  1887 
wenigstens  so  geglückt,  daß,  wenn  auch  jährlich  44  Millionen  Mark 
Schulden  gemacht  wurden,  die  Etats  noch  leidlich  in  Ordnung  blie- 
ben. Bei  den  inneren  Verbrauchsabgaben  versagte  die  Staatskunst 
des  Kanzlers,  die  sich  hier  nicht,  wie  bei  den  Zöllen,  auf  eine  feste 
Majorität  von  Interessenten  stützen  konnte.  Die  vorgelegte  Brau- 
steuer fiel  1879,  die  Tabaksteuer  wurde  wesentlich  erniedrigt.  Die 
Tabakwertsteuer  von  1881,  das  Tabakmonopol  von  1882,  die  Erhö- 
hung der  Biersteuer  von  1880  und  1881  wurden  verworfen.  Nur 
eine  niedrige  Abgabe  auf  Aktien,  Schuldverschreibungen,  Schluß- 
noten und  Lotterielosen  fand  eine  Annahme.  Von  dieser  Zeit  her 
datiert  die  Vielheit  der  kleinen,  wenig  bringenden  Steuern,  ein 
rechtes  Abbild  des  gesamten  Finanzgebahrens. 

Als  1886  Kriegsgefahren  drohten,  Heeresausgaben  nötig  wur- 
den, gelang  es  der  Reichsregierung  nach  langem  Feilschen  und 
wiederholten  Vorlagen,  eine  nur  sehr  mäßige  Branntwein-  und 
Zuckersteuer  durchzusetzen. 


6l4  VI-  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

Die  gebesserte  allgemeine  Wirtschaftskonjunktur  nach  li 
ermöglichte  es,  ein  paar  Jahre  den  Etat  zu  bilanzieren.  Aber  schon 
1891  wurde  eine  Erhöhung  der  Zuckersteuer  und  1894  der  Stempel- 
abgaben erforderlich,  die  auch  nur  für  den  Augenblick  genügte. 
Die  wohlbegründeten  Abgaben  auf  Tabak  und  Wein  wurden  abge- 
lehnt. Unter  den  nachfolgenden  guten  Wirtschaftszeiten  und  mit 
Schuldenmachen  half  sich  das  Reich  wiederum  bis  1900  durch.  Die 
Schaumweinsteuer  und  die  vermehrten  Stempelabgaben  konnten  die 
Finanzen  nicht  aus  der  Verwirrung  reißen.  Das  Defizit  wuchs  an, 
das  auch  durch  die  sogenannte  kleine  Finanzreform,  die  die  gleich 
zu  erwähnenden  Überweisungen  einschränkte  und  zeitweise  Über- 
schüsse dem  außerordentlichen  Bedarf  zuführte,  nicht  beseitigt 
werden  konnte.  Mit  der  „großen  Finanzreform  von  1906",  aus  der 
die  Tabaksteuer  und  der  Quittungsstempel  gestrichen  wurden,  hoffte 
man  zu  geordneten  Verhältnissen  zu  kommen,  allein  auch  die  neue 
Brau-  und  die  Frachturkundensteuer,  die  stark  abgeschwächt  aus 
dem  Reichstage  herauskam.en,  und  die  Zigaretten-,  Erbschafts-, 
Automobil-  und  Tantiemensteuer,  die  Erhöhung  des  Ortsportos,  die 
Fahrkartenabgabe  und  der  Aufschlag  im  Reichsstempelgesetz  reich- 
ten nicht  einmal  für  3  Jahre  aus,  da  sie  den  Erwartungen  nicht 
entsprachen,  und  neue  Ausgaben  nicht  ausblieben.  1909  wurde 
die  Bierabgabe  noch  einmal  heraufgesetzt,  Branntwein-  und  Tabak- 
interessenten wußten  jedoch  die  ihnen  zugemutete  Steuer  zum 
größten  Teil  hinfällig  zu  machen.  Eine  Leuchtmittel-,  Zündmittel-, 
eine  erhöhte  Stempel-  und  Schaumweinsteuer,  die  Schecksteuer 
sollten  420  Millionen  Mark  bringen,  gaben  aber  um  191 1  nur  300. 
Nachdem  191 1  die  Wertzuwachssteuer  von  Grundstücken  und  Häu- 
sern endlose  Scherereien  und  Schikanen,  aber  keine  Sanierung  der 
Finanzen  gebracht,  und  die  Regierung  nicht  dem  Mut  hatte,  mit 
neuen  Verbrauchsabgaben  hervorzutreten,  kam  es  191 3  zu  dem 
Wehrbeitrag,  der  nur  einmalig  erhoben  werden  sollte,  und  zu  der 
von  3  zu  3  Jahren  abzugebenden  Vermögenszuwachssteuer.  Eine 
Anzahl  von  Abänderungen  der  bestehenden  Steuern  wurden  in  Aus- 
sicht genommen,  die  aber  nur  teilweise  zur  Erledigung  kamen,  so 
daß  das  Reich  mit  wiederum  wenig  geordneten  Einnahmen  von 
dem  Kriege  überrascht  wurde. 

Das  Ergebnis  aller  dieser  Gesetze  war  die  zunehmende  Ver- 
schuldung des  Reiches.  Es  fing  ohne  eine  solche  an.  Nach  10  Jah- 
ren seines  Bestehens  belief  sie  sich  auf  278,  1891  11 18,  1901  2396, 
1913  5000  Millionen  Mark.  Ein  nur  geringer  Teil  hatte  produktiv 
im  Post-,  Telegraphen-  und  Eisenbahnwesen  Verwendung  gefunden. 
Nicht  der  Mangel  der  Steuerkraft  ist  die  Ursache  des  großen 
Restes,  sondern  es  wurden,  da  die  Steuererhöhung  am  Widerstände 


VII.  Schlnßbetrachtung  zu  1890 — 1914.    Ergänzungen.    Allgemeine  Rückblicke.      ()i^ 

der   Volksvertretung   scheiterte,   regelmäßig  Ausgaben,   die  in   das- 
Ordinarum  gehörten,  auf  das  Extraordinarium  übernommen. 

Der  auf  demokratischer  Grundlage  gewählte  Reichstag  wollte 
in  seiner  Majorität  in  den  letzten  Jahren  die  Last  auf  allgemeine 
und  partielle  Einkommen-,  Vermögens-  und  Erbschaftssteuern  wer- 
fen, die  im  Prinzip  den  Einzelstaaten  vorbehalten  waren,  und  die 
sie  nicht  missen  konnten,  wenn  sie  den  eigenen,  namentlich  kultu- 
rellen Aufgaben  genügen  wollten,  die  ihnen  bei  der  föderativen 
Verfassung  des  Reiches  überlassen  waren.  Dieser  Grundsatz  wurde 
bei  den  neueren  Finanzmaßregeln  durchbrochen  durch  eine  Torso- 
Erbschaftssteuer,  die  Deszendenten  und  Ehegatten  freiließ,  durch 
die  Besteuerung  der  Aufsichtsräte  der  Aktiengesellschaften,  die 
nichts  Rechtes  einbrachte,  durch  den  erwähnten  Wehrbeitrag,  der 
nur  einmal  zur  Hebung  gelangen  sollte,  durch  die  genannte  Besitz- 
steuer, die  im  Kriege  umgebildet  wurde.  Das  Werk  der  Opposition 
blieb  also  ebenfalls  höchst  unvollkommen. 

Überblickt  man  die  Zusammenfassung  der  Reichseinnahmen, 
wie  sie  seit  1871  geworden  ist,  so  stoßen  wir  19 13  auf  23  Rubriken. 
Außer  den  Zöllen  und  der  Verbrauchsabgabe  von  Branntwein  und 
Zucker  und  der  Brausteuer  sind  die  Posten  nicht  erheblich,  einige 
sogar  minimal.  Die  Essigsäure  steuert  mit  825,  die  Spielkarte  mit 
1900,  das  Kraftfahrzeug  mit  3930,  die  Tantieme  der  Aufsichtsräte 
mit  5880,  der  Scheck  mit  3136  Tausend  Mark  bei.  Laune  und 
Parteilage  hatten  einen  willkürlichen  Maßstab  geschaffen.  So 
brachte  die  Zigarettensteuer  36,5,  die  Tabaksteuer  10,8  Millionen 
Mark,  die  Lotterie  50,8,  die  Zuwachssteuer  davon  i/^q-  Ein  wie 
steuerlich  leistungsfähiges  Objekt  der  Tabak  als  verbreitetes  Ge- 
nußmittel ist,  hat  dann  die  Kriegszeit  erwiesen,  als  19 18  die  Ziga- 
rette 600  Millionen  Mark  der  Reichskasse  einbrachte,  obwohl  .gleich- 
zeitig die  Herstellungskosten  des  Produktes  sehr  gestiegen  waren. 
Um  1908  hat  man  berechnet,  daß  Deutschland  800  Millionen  Mark 
für  Tabak  und  3800  für  alkoholische  Getränke  verausgabt  hat,  das 
waren  12 — 150/0  des  nationalen  Einkommens.  Die  Steuern  auf  sie 
brachten  nur  420  Millionen  Mark  mit  Einschluß  noch  vorhandener 
einzelstaatlicher  und  kommunaler  Abgaben.  Das  waren  ohne  Hin- 
zurechnung des  Trinkgeldtributes  9,10/0  des  Wertes  der  Verbrauchs- 
abgabe. Man  kam  darüber  mit  dem  tröstenden  Schlagworte  hin- 
weg, daß  man  die  Pfeife  und  das  Gläschen  des  armen  Mannes 
nicht  verteuert  habe. 

Mochte  auch  darüber  das  Reich  in  Stücke  gehen!  Weil  nicht 
ausreichend  Geld  in  seine  Kasse  kam,  wurde  die  Landesverteidi- 
gung nicht  ausreichend  durchgeführt.  Wäre  vor  191 4  die  Feld- 
artillerie   verbessert,    die   stehende   Armee   um    einige    Korps   ver- 


6l6  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

mehrt  worden,  so  hätte  der  Vorstoß  nach  Frankreich  erhebhch 
wuchtiger  ausfallen  können,  und  wer  weiß,  ob  ohne  die  unglück- 
liche Marneschlacht  der  Feldzug  zugunsten  Deutschlands  nicht 
schon  entschieden  gewesen  wäre.  Wie  dem  auch  sein  mag,  die 
stete  Finanznot  hatte  mancherlei  Vorkehrungen  für  den  Krieg  zu 
treffen  verabsäumt.  Von  einer  Vorbereitung  der  volkswirtschaft- 
lichen Mobilmachung  war  erst  recht  nicht  die  Rede.  Weder  an  den 
Einkauf  von  Lebensmitteln  noch  Rohstoffen  war  gedacht  worden, 
als  nun  das  Reich  von  allen  Seiten  blockiert  wurde. 

Die  öffentlichen  Ausgaben,  die  gemacht  werden  konnten,  wur- 
den übrigens  keineswegs  immer  nach  zureichend  staatsmännischen 
Zielen  geregelt.  Der  Finanzminister,  der  das  ökonomische  Ge- 
wissen des  Staates  zu  vertreten  hat,  darf  nie  ihre  Gesamtproduk- 
tivität bei  der  Aufstellung  des  Haushaltungsvorschlages  übersehen. 
Unter  dem  Milliardensegen  der  französischen  Kriegsentschädigung 
hielt  Camphausen  es  für  gut,  überall  da  zu  geben,  wo  ein  neues 
Bedürfnis  als  vorhanden  behauptet  wurde.  Wenn  dann  Scholz 
und  Miquel  die  qualitative  Sparsamkeit,  d.  h.  das  Sparen  am 
richtigen  Platz,  wieder  zu  Ehren  brachten,  das  Preußen  früher  ge- 
kannt hatte,  so  wurde  sie  wohl  in  diesem  Lande  von  neuem  ver- 
wirklicht, aber  in  das  Reich  ist  sie  niemals  richtig  eingedrungen. 
Die  Ausgaben  blieben  stets  von  der  parteipolitischen  Stimmung 
und  Meinung  abhängig,  und  wo  das  nicht  der  Fall  war,  ließ  man 
die  Dinge  gehen,  weil  man  auf  der  Beurteilung  der  Einnahmen 
seine  ganze  Kritik  derart  verschwendete,  so  daß  von  den  Steuern 
nicht  einmal  das  bezahlt  werden  konnte,  was  man  selbst  bewilligt 
hatte. 

Leichter  als  das  Reich  hatten  es  die  Einzelstaaten,  ihre  Fi- 
nanzen in  Ordnung  zu  halten,  da  bei  den  bestehenden  Verfassungen 
die  Regierungen  weniger  unter  der  demokratischen  Opposition 
litten,  die  parlamentarisch  schwierig  durchzusetzende  Verbrauchs- 
belastung kaum  in  Frage  stand,  und  lohnende  Erwerbseinkünfte 
vorhanden  waren.  Hier  wurde  das  Rückgrat  der  Steuern  die  Ein- 
kommensteuer, die  unter  dem  Prinzip  der  Belastung  nach  der  Lei- 
stungsfähigkeit derart  ausgestaltet  wurde,  daß  die  Progression  und 
die  Befreiung  der  kleinen  Einkommen  Rechtens  wurde,  woneben 
eine  Vermögenssteuer  als  Ergänzung  stand,  um  das  fundierte  Ein- 
kommen verstärkt  zu  treffen,  und  auch  solchen  Besitz  heranzu- 
ziehen, der  keine  Einnahmen  gewährt,  aber  doch  ein  Ausdruck 
großer  Steuerfähigkeit  sein  kann.  1890  wurden  von  dem  Finanz- 
minister von  Miquel  in  Preußen  in  diesem  Sinne  die  alten  Per- 
sonalsteuern reformiert,  die  auf  ungenauen  Einschätzungen  in  Klas- 
sen   und    Einkommensstufen    beruhten,    und    für    den    ehemaligen 


VII.  Schlußbetrachtung  zu  1890 — 1914.    Ergänzungen.    Allgemeine  Rückblicke      517 


Agrarstaat,  die  Kleinstädterei  und  die  primitive  Industrie  passen 
mochten,  während  jetzt  die  Steuererklärung,  die  mit  den  nötigen 
Kontrollen  ausgestattet  wurde,  zur  Ermittelung  des  Einkommens 
und  des  Vermögens  dienen  sollte.  Im  Verlaufe  der  Jahre  wurde  die 
Steuer  immer  feiner  nach  diesen  Grundsätzen  ausgebildet,  und  die 
übrigen  Einzelstaaten  sind  diesem  Vorbilde  gefolgt,  nur  in  Elsaß- 
Lothringen  und  Mecklenburg  wurde  noch  an  ungleichmäßig  wir- 
kenden alten  Methoden  der  direkten  Abgaben  in  der  Form  der  Er- 
tragsbesteuerung festgehalten.  In  Preußen  wurde  die  Grund-, 
Häuser-  und  Gewerbesteuer,  die  letztere,  nachdem  sie  zeitgemäß 
verbessert  worden  war,  den  Gemeinden  überlassen,  und  auch  dieser 
Vorgang  wurde  in  einer  Reihe  von  Bundesstaaten  nachgeahmt. 

Der  Satz  der  Finanzwissenschaft,  daß  die  Einnahmen  jedes 
politischen  Körpers  sich  auf  die  eigene  Kraft  verlassen  sollen, 
würde  nach  diesen  Neuerungen  in  den  Gliedstaaten  des  Reiches 
wohl  eine  zureichende  Richtschnur  ihrer  Selbständigkeit  geworden 
sein,  wenn  nicht  dieses  sich  störend  mit  seiner  Finanzpolitik  und 
Finanznot  in  ihren  Betrieb  eingemischt  hätte. 

Nach  der  Reichsverfassung  sollen  die  Ausgaben  des  Reiches, 
soweit  die  verfassungsmäßigen  Einnahmen  nicht  genügen  und  neue 
Reichssteuern  nicht  eingeführt  worden  sind,  durch  Matrikularbei- 
träge  der  Einzelstaaten  gedeckt  werden,  die  diese  nach  ihrer  Be- 
völkerungszahl aufzubringen  haben,  mögen  sie  nun  reich  oder  arm, 
agrarisch  oder  industriell,  groß  oder  klein  sein. 

Diese  Hilfsleistung  war  als  etwas  Subsidiäres  gedacht  worden, 
wurde  aber  bald  zu  etwas  Regelmäßigem,  da  das  Reich  nicht  aus- 
kam, sollte  nur  etwas  Provisorisches  sein,  wurde  aber  zu  etwas 
Definitivem,  da  die  den  Bedarf  deckenden  Reichssteuern  nicht 
kamen.  Von  den  Einzelstaaten  wurde  sie  schon  1879  als  eine 
drückende  Last  empfunden,  die  Bismarck  durch  seine  vorgeschla- 
genen Finanzgesetze  beseitigen  wollte.  Statt  dessen  wurde  die  oben 
erwähnte  Frankenstein  sehe  Klausel  in  das  Zollgesetz  ge- 
bracht, nach  der  der  konstitutionellen  Garantien  wegen  die  Beträge 
der  Zölle  und  der  Tabaksteuer  über  130  Millionen  Mark  den  Einzel- 
staaten überwiesen  und  dann  als  Matrikularbeiträge  wieder  be- 
willigt wurden,  wenn  das  Reich  das  Geld  gebrauchte.  Seit  1881 
und  1887  wurden  auch  Branntweinabgabe  und  Reichsstempel  so 
behandelt.  Je  nach  der  allgemeinen  volkswirtschaftlichen  Kon- 
junktur und  je  nach  der  Begleichung  der  bewilligten  Reichsaus- 
gaben durch  Anleihen  wurden  bald  die  Bundesstaaten  „Kostgänger 
des  Reiches"  oder  dieses  wurde  ein  solcher  jener.  So  hatten  1883 
bis  1892,  1894  und  1901  die  Staaten  nichts  zu  leisten,  sondern 
hatten  nur  zu  empfangen.    Das  war  ihnen  zunächst  angenehm,  aber 


6i8  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

in  ihre  Etats  kamen  Posten  der  Unsicherheit,  da  die  Zuschüsse 
ausfallen,  jedenfalls  in  ihrer  Höhe  nicht  vorausgesagt  werden 
konnten.  Noch  schlimmer  war,  daß  in  guten  Jahren  neue  wieder- 
kehrende Ausgaben  gesetzlich  festgelegt  wurden,  für  die  die  Deck- 
ungsmittel beim  Fortfall  der  Überweisungen  fehlten.  1904  wurde 
dem  Reichstage  zugestanden,  die  Matrikularumlagen  aus  einer  vorläu- 
figen zu  einer  dauernden  Einrichtung  zu  machen.  1906  wurden  sie,  so- 
weit sie  40  Pfg.  auf  den  Kopf  überschritten,  gestundet,  1909  dann 
vom  Reiche  übernommen,  da  der  Betrag  nicht  aufgebracht  werden 
konnte,  aber  zugleich  für  die  Zukunft  auf  80  Pfg.  erhöht,  mit  wel- 
cher Neukontingentierung  wenigstens  eine  Stetigkeit  für  eine  An- 
zahl Jahre  gewonnen  wurde. 

Die  Finanzwirtschaft  der  Bundesstaaten  war  dadurch  erleich- 
tert, daß  sie  über  bedeutende  Erwerbseinkünfte  verfügten,  die  aber 
den  Nachteil  hatten,  daß  ihre  Erträge  nach  der  allgemeinen  Kon- 
junktur schwankten,  wobei  die  Matrikularbeiträge  noch  lästiger 
empfunden  \vurden,  wenn  die  Zeiten  ungünstig  waren,  wie  z.  B. 
1892 — 1894  oder  1901  und  1902.  Die  Ausgaben  der  Erwerbsein- 
künfte machten  nach  dem  preußischen  Voranschlag  191 2  2345,2 
Millionen  Mark  aus  bei  dem  sonstigen  Bedarf  der  Staatsverwal- 
tung in  der  Höhe  von  1114,3.  ^^  Bayern  waren  die  entsprechen- 
den Zahlen  331,1  und  213,9,  in  Sachsen  226,5  und  136,8,  in  Würt- 
temberg 105,5  ^^^  75}3,  in  Baden  95,2  und  79,3.  Die  hohe  Dauer- 
verschuldung vieler  Bundesstaaten  entsprach  der  Ausnutzung  der 
Erwerbseinkünfte.  Die  preußische  Staatsschuld  betrug  9,4,  die 
bayerische  2,2,  die  sächsische  0,8,  die  württembergische  0,6  Mil- 
liarden. 

Dem  gewaltigen  volkswirtschaftlichen  Aufschwung,  den 
Deutschland  von  1895  —  IQH  erlebte,  hat  sich  sein  finanzwirtschaft- 
liches Dasein  nicht  angepaßt.  Man  sieht  daraus,  daß  die  Ent- 
wicklung der  ökonomischen  Kräfte  einem  Volke  nur  dann  zum  vol- 
len Segen  gereicht,  wenn  es  fähig  ist,  sie  auch  politisch  nutzbar 
zu  machen.  Die  relativ  bessere  Ordnung  in  den  einzelstaatlichen 
Finanzen  konnte  dem  Reiche  nicht  genügen,  weil  unter  ihnen  nur  ein 
Teil  der  öffentlichen  Zweckbestimmung  verwaltet  wurde.  So  hat  es 
unter  der  Schwäche  des  politischen  Charakters  und  der  mangelhaft 
sozialen  Intelligenz  seiner  Bürger  leiden  müssen,  welche  Fehler 
man  damals  freilich  nicht  zugeben  wollte,  da  der  Krieg  noch  ver- 
mieden wurde,  und  der  Wohlstand  im  Frieden  weiter  wuchs.  Erst 
zum  Extrem  entartet,  wurden  sie  in  ihrer  ganzen  Tragweite  er- 
kannt, als  die  Nation  diejenige  Konsequenz  aus  ihrer  Lage  nicht  zu 
ziehen  vermochte,  wie  einst  die  Römer,  als  der  Ruf  Hannibal  ad 
portas  erscholl. 


VII.  Schlußbelrachtung  zu   1890 — 1914.    Ergänzungen.    Allgemeine  Rückblicke.      61Q 

Das  lebhafte  und  kräftige  Emporsteigen  der  deutschen  Volks- 
wirtschaft während  der  letzten  25  Jahre  vor  191 4  hat  sich  ebenso- 
wenig wie  in  den  vorausgehenden  40  ohne  Unterbrechungen  voll- 
zogen. Der  periodische  Kreislauf  der  Konjunktur  bewegte  sich 
in  der  Weise,  daß  von  1888 — 1890  eine  rasche,  fast  zu  rasch  ein- 
setzende Haussezeit,  wie  wir  sie  deutlich  an  der  Börse  —  in  Berlin 
stiegen  z.  B.  die  Aktien  der  Berg-  und  Hüttenwerke  mit  einem  Ge- 
samtkapital  von  421  Millionen  Mark  um  380/0  —  verfolgen  können, 
heraufgekommen  war,  die  mit  einer  empfindlichen  Baisse  jäh  ab- 
schloß. Der  Anstoß  zu  dieser  war  von  England  mit  dem  Zu- 
sammenbruch des  Hauses  Baring  Brothers  &  Co.  ausgegangen,  das 
sicli  mit  argentinischen  Emissionen  übernommen  hatte,  während 
zugleich  die  Mac  Kinley  Bill  die  deutsche  Ausfuhr  zu  lähmen 
drohte,  und  der  Zollkrieg  mit  Rußland  bevorstand.  Der  Über- 
treibung in  Neugründungen  und  Kreditaufnahmen  zu  produktiven 
Zwecken  stand  eine  zu  große  Warenmenge  zur  Seite,  die  der  er- 
starkte, aber  noch  nicht  genügend  befestigte  innere  Markt  nicht 
allein  aufzusaugen  vermochte. 

Der  nun  folgende  Niedergang  dauert  4  Jahre  lang  und  wird 
durch  die  amerikanische  Krise  von  1893  zu  einem  Tiefpunkt  ge- 
führt. Der  Umschlag  zum  Besseren  tritt  1895  ein,  und  ihm  schließen 
sich  4I/2  Jahre  der  Hochkonjunktur  an.  Im  Sommer  1900  verfallen 
die  Preise  einem  Sturz,  der  indessen  bald  zu  einem  Stillstand  ge- 
langt. Schon  im  Winter  1902/03  geht  das  Geschäft  wieder  flott 
und  hält  bis  zum  Herbst  1907  als  gutes  an,  bis  es  durch  den  nord- 
amerikanischen Kupfer-  und  Bankkrach  aus  seiner  aufsteigenden 
Linie  herausgedrängt  wird,  da  es  sich  von  neuem  in  eine  Übertrei- 
bung hineingearbeitet  hat.  Im  Börsenniedergang  verlieren  die 
Bankwerte  20 0/0,  die  industriellen  40 — 50.  Konkurse,  Arbeitslosig- 
keit, Rückgang  der  Bautätigkeit,  der  Eisen-,  elektrischen,  Textil-, 
Maschinen-,  Automobil-,  Fahrrad-Industrie  bringt  das  Jahr  1908. 
Der  Großbetrieb  und  die  Kartelle  halten  sich  besser  als  die  mitt- 
leren und  die  vereinzelten  Werke.  Schon  1909  ist  diese  Störung, 
an  der  das  Ausland  viel  Schuld  trägt,  durch  eigene  Kraft  über-? 
wunden,  woneben  die  Entdeckung  der  Diamantfelder  in  Deutsch- 
Südwestafrika  und  die  neue  Aufnahmefähigkeit  der  Vereinigten 
Staaten  die  Stimmung  optimistisch  beeinflussen. 

Bis  zum  Frühjahr  191 4  bleibt  die  deutsche  Volkswirtschaft  in 
günstiger  Lage.  Man  kann  also  von  dem  hier  geschilderten  Ab- 
schnitt von  24  Jahren  sagen,  daß  15  fette  mit  9  mageren  abgewech- 
selt haben,  und  von  den  letzteren,  daß  eigentlich  nur  in  den  vier 
ersten  ein  schwerer  Druck  auf  dem  ganzen  Wirtschaftsleben  lastet. 
Den  Hauptanteil  der  glänzenden  Geschäftsperiode  hat  Deutschland 


620  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 


sich  selbst  zu  verdanken,  obwohl  wir  hier  wiederholen  wollen,  daß 
seit  1895,  wie  in  den  fünfziger  und  sechziger  Jahren,  ein  internatio- 
nales Aufstreben  besteht,  dessen  Rückwirkungen  nicht  zu  über- 
sehen sind.  Nordamerika  hat,  ähnlich  wie  Deutschland,  aus  dieser 
allgemeinen  Konjunktur  lebhafte  Anregung  gewonnen,  mehr  wie 
Frankreich,  England,  Rußland,  Österreich-Ungarn,  Hemmungen 
im  Weltverkehr  bringen  der  spanisch-amerikanische,  der  Buren-, 
der  russisch-japanische  und  der  Balkankrieg  und  die  Marokkokrise. 
Sie  werden  im  Reiche,  da  die  Kriege  lokalisiert  blieben,  verhältnis- 
mäßig leicht  überstanden.  Das  Steigen  der  Preise,  Gewinne,  Zin- 
sen, Löhne  wird  durch  die  der  produktiven  Anlage  harrenden  Kapi- 
talansammlungen der  langen  Friedenszeit  in  Deutschland  und  vielen 
anderen  Ländern,  durch  die  Steigerung  der  Goldproduktion  in  Süd- 
afrika, Australien  und  im  Klondyke-Gebiet,  durch  die  gegenseitige 
Erschließung  neuer  Absatzgebiete  in  der  Weltwirtschaf  t  unterstützt. 

Der  Zinsfuß  folgt  dem  erhöhten  Gewinn,  der  bei  den  Aktien- 
gesellschaften leicht  nachweisbar  ist,  sowohl  beim  Lombardieren 
und  Diskontieren,  als  auch  bei  Obligationen  und  Hypotheken. 
Festverzinsliche  Wertpapiere  büßen  an  Kurs  ein,  was  die  Finanz- 
wirtschaft des  Reiches  bei  ihrem  unsicheren  Finanzgebahren  und 
selbst  der  Einzelstaaten  mit  Sorge  erfüllt.  Noch  ehe  die  Periode 
des  steigenden  Zinsfußes  einsetzt,  die  der  des  niedergehenden  seit 
1873  folgt,  hat  man  damit  begonnen,  die  40/0  Konseis  in  31/2  0/0  zu 
konvertieren.  Man  glaubt,  dazu  befugt  zu  sein,  da  die  31/2%  Reichs- 
anleihen den  hohen  Stand  von  104,44  erreicht  haben,  1899  ist  der 
Kurs  99,77,  1900  95,80,  1901  wieder  99,54.  Dann  überschreitet 
er  4  Jahre  die  Parität,  senkt  sich  weiterhin  rasch  und  zwar  1908 
auf  92,58.  Dieser  Verlauf  ist  typisch,  und  alle  Versuche,  den  Preis 
zu  halten,  scheitern,  solange  die  hohen  Gewinne  anhalten.  Der 
Zinssatz  für  private  Hypotheken,  der  sich  in  abgerundeten  Zahlen 
bewegt,  steigt  von  3I/2  bis  auf  41/4,  die  Hypothekenbanken  gehen 
noch  i/g  bis  140/0  höher. 

Ist  die  starke  Nachfrage  nach  Kapital  hauptsächlich  durch 
die  privatwirtschaftlichen  Anlagen  hervorgerufen  worden,  so  kommt 
noch  anreizend,  den  Zins  steigernd,  der  öffentliche  Bedarf  hinzu. 
Das  Reich  erscheint  auf  dem  Markt,  um  seine  mangelhafte  Finanz- 
wirtschaft zu  balanzieren,  Einzelstaat  und  Gemeinde  stehen  vor 
Jieuen  teueren  Kulturausgaben. 

Die  Konvertierung  bringt  allen  den  Rentnern,  die  ihren  Be- 
sitz in  Staatspapieren  angelegt  haben,  fühlbare  Einbußen.  Am 
meisten  sind  Leute  mit  kleinen  Vermögen  betroffen,  da  die  mit 
größeren  auch  Aktien  besaßen,  die  sie  in  der  Zeit  des  allgemeinen 
Aufschwunges    mit    steigenden    Dividenden    schadlos    hielten.     Die 


VII.  Schlußbetrachtung  zu  1890 — 1914.    Ergänzungen,    Allgemeine  Rückblicke.      521 


Preissteigerung  nach  1895  wird  von  allen  Verbrauchern  empfunden, 
am  auffälligsten  von  denen,  die  wie  Beamte,  Pensionäre,  Rentner 
sich  am  Wirtschaftsleben  nicht  beteiligen  können.  Wie  bei  allen 
großen  volkswirtschaftlichen  Bewegungen  wechseln  die  Familien, 
die  der  eigentlich  reichsten  Schicht  angehören.  Emporkömmlinge 
aus  der  Industrie  und  dem  Handel  bekunden  mit  ihren  Automo- 
bilen, mit  ihren  Ankäufen  von  Schlössern  und  Landgütern  ihren 
geschäftlichen  Erfolg,  der  ihnen  von  der  allgemeinen  Meinung 
nicht  mißgönnt,  der  eher  als  Geschicklichkeit  bewundert  wird, 
ganz  im  Gegensatz  zu  dem  der  späteren  Kriegsgewinnler,  die  sich 
aus  der  Not  des  Volkes  bereichert  hatten. 

Wenn  man  die  ganze  Zeitspanne  des  großen  Aufschwunges 
seit  1890  in  wenigen  Zahlen  zusammenfassen  will,  kann  man  sich 
an  Schätzungen  des  Volkseinkommens  und  -Vermögens  halten.  Es 
liegen  darüber  verschiedene  Untersuchungen  vor,  die  im  einzelnen 
und  in  der  Gesamtsumme  wohl  voneinander  abweichen,  aber  es 
doch  übereinstimmend  zum  Ausdruck  bringen,  daß  eine  ungeheuere 
Vermehrung  Platz  gegriffen  hatte.  K.  Helfferich  schreibt: 
„Das  deutsche  Volkseinkommen  beträgt  heute  (1913)  rund  40  Mil- 
liarden Mark  jährlich  gegen  22 — 25  um  das  Jahr  1895.  Das  deut- 
sche Volksvermögen  beträgt  heute  mehr  als  300  Milliarden  Mark 
gegen  rund  200  um  die  Mitte  der  neunziger  Jahre  des  vorigen  Jahr- 
hunderts". A.  Steinmann-Bucher  stimmt  der  ersten  An- 
gabe zu  mit  dem  Zusätze,  daß  hierin  nur  eine  untere  Grenze  zu  er- 
blicken sei.  Das  Volksvermögen  setzt  er  bedeutend  höher  und 
kommt  zu  dem  Betrage  von  376 — 397  Milliarden,  In  der  Mitte  be- 
wegen sich  die  Berechnungen  von  Ballod  mit  331,  Hesse  mit 
350,  J,  Wolf  mit  360  (1914/15).  In  dem  Volksvermögen  ist  außer 
dem  werbenden  auch  das  Nutzvermögen  enthalten  (Wohnhäuser, 
Mobiliar,  Schmuck,  Kunstgegenstände). 

Ohne  auf  die  Schätzungsmethoden  und  deren  Wert  eingehen 
zu  können,  seien  die  Einzelergebnisse  der  Forscher  hier  zusammen- 
gefaßt : 

Deutsches  Volksvermögen   1 913/14.     (Milliarden  Mark.) 


Abteilungen 

Gegen  Feuer  versicherte  Mobilien 
und  Immobilien 

Grund  und  Boden  

Bergwerksanlagen  unter  Tage 

Güter  auf  Transport,  Schiffe, 
Metallgeld 

Öffentliches  Vermögen  (Eisen- 
bahnen usw.) 

Ausländische  Kapitalanlagen  . 

Gesamtes  Volksvermögen  . 


Helfferich 


200 
5-6 


30—35 


Ballod 


20 
310 


JOD 

55 


40 

25 

331 


Steinmann- 
Bucher 


200  —  220 
100 
5-6 


40 

25 
400 


Hesse 


240 

70 

6 


40 

25 

550 


622 


VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 


Daß  die  Einkommensvermehrung  keineswegs  nur  in  den  obe- 
ren Schichten  der  Gesellschaft  sichtbar  ist,  ergeben  die  Statistiken 
der  Einkommensteuer.  Für  Preußen  ist  folgende  Zusammenstel- 
lung veröffentlicht  worden: 


Haushaltungsvorstände 
und  Selbständige 


Es  hatten  ein  Einkommen  in  M. 
unter '900  900—3000    I     über  3000 


Durchschnitts- 
einkommen in  M. 


1914 


75,1% 
49,1% 


22,0°o 

45,4% 


2.9  °/o 

5.3% 


1334 


Auch    die    preußische    Vermögenssteuer   gewährt    einen   wich- 
tigen sozialstatistischen  Einblick: 


1896 

1914 

Zahl    der    zur    Ergänzungssteuer    Veranlagten,    über  6000  M.- 
Vermögen   

I  166  700 
64  024 

45.7 
54900 

I  940  500 
115  270 

53,0 
59400 

Gesamtes  steuerpflichtiges  Vermögen  (MiJl.  M.)    .     .     ,     .     . 
Es    hatten   ein   Vermögen  von  über  6000  IM.    in   "l^^    der  Be- 
völkerung (ausschl.  Angehörige) 

Durchschnittliches  Vermögen  der  Zensiten  in  M 

Von  den  40  Milliarden  Einkommen  entfallen  nach  H  e  1  f  f  e  - 
rieh  etwa  7  auf  den  öffentlichen  Finanzbedarf,  25  auf  die  eigent- 
liche Konsumtion,  der  Rest  wurde  kapitalisiert.  Der  jährliche  auto- 
matische Wertzuwachs  wTirde  daneben  auf  i — 2  Milliarden  ge- 
schätzt. Die  jährliche  Vermehrung  des  Volksvermögens  vor  dem 
Kriege  wird  demnach  etwa  10  Milliarden  betragen  haben,  während 
sie  15  Jahre  vorher  noch  nicht  die  Hälfte  gewesen  sein  soll.  Andere 
Schätzungen  setzen  statt    iio  nur  81/2   Milliarden. 

Unter  dieser  glänzenden  wirtschaftlichen  Lage  begann  191 4 
der  Weltkrieg,  der  die  Aufwärtsbewegung  zum  Stillstand  brachte. 
Er  zeigte,  daß  die  deutsche  Volkswirtschaft  in  starken  Produktiv- 
kräften materieller,  ethischer  und  intellektueller  Art  begründet  war, 
und  daß  ein  ökonomisch  soziales  Ganzes  bestand,  das  zwar  seine 
Unvollkommenheiten  in  seiner  Abhängigkeit  vom  Auslande  hatte, 
aber  doch  in  sich  so  gefestigt  war,  daß  -"'^  die  Ausschaltung  aus 
den  wichtigsten  Teilen  der  Weltwirtschaft  an  drei  Fronten  4  Jahre 
ertragen  konnte,  als  die  ganze  Erde  ihm  feindlich  gegenüberstand. 
Wenn  die  Kriegswirtschaft  Deutschlands  schließlich  nicht  durch- 
hielt, so  ist  die  Übermacht  des  Feindes  und  die  Aushungerung 
sicherlich  nicht  mehr  schuld  daran  gewesen  als  der  Zusammen- 
bruch des  Staatswesens,  der  ebenso  infolge  der  unzureichenden 
äußeren  und  inneren  Politik  wie  schließlich  der  inneren  Anarchie 
unvermeidlich  geworden  war. 


Vn.  Schlußbetrachtung  zu  1890 — 1914.    Ergänzungen.    Allgemeine  Rückblicke.      522 


Die  wirtschaftliche  Kraftentfaltung  Deutschlands  ist  nur  zu 
begreifen  aus  seiner  nationalen  Vereinheitlichung.  Die  erste  Wirk- 
lichkeitsform der  nationalen  Idee  war  der  Zollverein,  unter  dem 
die  Volkswirtschaft  ihre  erste  große  Blüte  von  1850 — 1870  erlebte, 
die  zweite  das  Reich,  dessen  wirtschaftliche  Glanzperiode  wiederum 
20  Jahre,  1895 — 1904,  andauerte.  Jede  der  beiden  Epochen  ist 
durch  die  politische  Unterwühlung  von  seiten  des  inneren  Feindes 
aufs  schlimmste  bedroht  worden:  Der  Zollverein  durch  den  einzel- 
staatlichen Partikularismus,  dessen  Preußen  unter  Bismarck  1866 
und  1870  glücklicherweise  Herr  A^oirde,  das  Reich  durch  die  Sozial- 
demokratie, die  in  dem  Augenblick  zur  Revolution  schritt,  als  der 
äußere  Feind  die  deutschen  Heere  in  die  gefährlichste  Lage  ge- 
drängt hatte.  Zeigte  sich  auch,  daß  das  Einheitswerk  so  stark 
gezimmert  worden  war,  daß  es,  wenn  auch  nach  heftigem  Wanken 
und  Schwanken,  zwar  verkleinert  und  politisch  geschwächt  stehen 
blieb,  so  war  doch  sein  wirtschaftlicher  Inhalt  nur  noch  ein  großes 
Trümmerfeld  von  dem,  was  die  letzten  100  Jahre  mühsam  geschaffen 
hatten,  wie  wir  dies  in  dem  vorstehenden  Buche  in  Umrissen  dar- 
zustellen versucht  haben.  Der  Wiederaufbau  kann  nur  gelingen, 
wenn  die  Deutschen  von  dem  Satz  durchzdrungen  sein  werden,  daß 
ihnen  niemand  in  der  Welt  hilft  als  sie  sich  selbst.  Nur  aus  einem 
damit  erreichten  Erfolge  allein  kann  der  nationale  Gedanke  neu 
belebt  werden,  der  höher  steht  und  wertvolleres  auch  volkswirt- 
schaftlich leistet  als  Individualismus,  Demokratismus,  und  Sozialis- 
mus zusammen.  Ob  die  100  Jahre  der  nationalen  aufsteigenden 
Volkswirtschaft  nur  eine  Episode  der  deutschen  Geschichte  ge- 
wesen sind,  die  in  sich  vollendet  wurde,  oder  ein  Teil  eines  sich 
über  viele  Jahrhunderte  hinziehenden  größeren  Ganzen,  muß  die 
Zukunft  lehren. 

Blicken  wir  auf  den  hundertjährigen  Verlauf  der  Einkom- 
mensverteilung in  Deutschland  zurück,  so  haben  die  historischen 
Schemata,  die  nationalökonomische  und  sozialistische  Theoretiker 
für  die  kapitalistische  Epoche  aufgestellt  haben,  keine  Bestätigung 
gefunden.  Daß  die  großen  Kapitalisten  auf  Kosten  des  arbeitenden 
Volkes  eine  immer  größere  Quote  des  Einkommens  an  sich  reißen 
würden,  wie  Marx  meinte,  ist  in  diesem  Abschnitt  widerlegt  wor- 
den. Auch  Rodbertus  will  den  Aufstieg  der  arbeitenden  Klassse 
nicht  sehen  und  ist  zudem  in  der  Anschauung  einer  dauernd  an- 
schwellenden ländlichen  Grundrente  befangen,  die  Deutschland  da- 
mals nur  vorübergehend  besessen  hat.  Ricardo  glaubt  an  ein 
dauerndes  Sinken  des  Gewinnes,  das  er  aus  der  Zunahme  der  Be- 
völkenmg  und  der  Beschränktheit  des  Ackerbodens  herleitet.  Die 
Menschenzahl  eines  Landes  wächst  nach  ihm  unter  Zunahme  der 


52  4  VI-  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

allgemeinen  Produktivität,  da  sie  sich  dieMalthusianischeBeschrän\- 
kung  nicht  zu  eigen  macht.  Nun  steigen  die  Getreidepreise  und 
damit  die  Grundrenten.  Die  Arbeitslöhne  bleiben  zwar  auf  dem 
sachlichen  Existenzminimum,  stellen  aber  einen  steigenden  Geld- 
wert dar,  da  sie  sich  nach  den  erhöhten  Preisen  der  Lebenshaltung 
zu  richten  haben.  Daher  nehmen  die  Arbeiter  von  dem  ganzen  Ein- 
kommen einen  wachsenden  Wertteil  in  Anspruch,  ebenso  wie  die 
Landbesitzer  mit  ihren  Renten.  Der  Gewinn  wird  von  zwei  Seiten 
eingeengt  und  verfügt  also  nur  über  eine  sinkende  Quote  des  Ge- 
samteinkommens. Wie  wenig  zutreffend  diese  Verhältnisberech- 
nung von  einem  realhistorisch-sozialen  Standpunkte  gewesen  ist, 
von  dem  die  Gesamtentwicklung  stets  überschaut  werden  soll,  er- 
gibt sich  daraus,  daß  sie  das  englische  Wirtschaftsleben  erklären 
soll,  das  von  1815 — ^1880  das  glänzendste  war,  das  Industrie  ,und 
Handel  dort  jemals  erlebt  haben.  Wir  können  Ricardo  nur  ver- 
stehen, wenn  wir  ihn  als  Anwalt  der  Kapitalistenklasse  nehmen,  der 
er  angehörte.  Seine  Theorie  ist  ein  Kampfruf  gegen  die  Land- 
aristokratie, deren  Rentenbezug,  weil  er  ohne  Arbeit  und  persön- 
lichen Unternehmungssinn  gewonnen  ist,  für  ungerecht  gehalten 
wird,  und  die  durch  einen,  wenn  auch  nicht  unvermittelt  herzu- 
stellenden Freihandel  ihres  politischen  Einflusses  entkleidet  werden 
soll,  ein  literarisches  Vorspiel  zu  den  sich  bald  nach  seiner  Zeit 
vollziehenden  Ereignissen.  Wäre  England  eine  abgeschlossene 
Volkswirtschaft  gewesen  und  geblieben,  so  würde  eine  dauernd 
steigende  Grundrente  für  Handel  und  Gewerbe  die  bedenklichsten 
Folgen  gehabt  haben.  In  Wahrheit  war  es  aber  in  die  Weltwirt- 
schaft so  verflochten,  daß  das  Gesamteinkommen  des  Landes  im 
steten  Steigen  begriffen  war,  und  das  bedeutete  eine  Erhöhung, 
nicht  eine  Schmälerung  der  Gewinne,  wenn  nicht  etwa  eine  Han- 
delskrise den  Verkehr  zeitweise  zum  Stocken  brachte. 

In  Deutschland  haben  wir  von  18 15  — 1835  die  Zeit  der  sin- 
kenden Grundrente,  des  sinkenden  Zinses,  des  prozentuell  nied- 
rigen Gewinnes,  des  Stillstandes  der  an  sich  niedrigen  Arbeits- 
löhne bei  geringem  Bedürfnisstand  der  Arbeiter.  Dies  war  eine 
Kombination,  die  nach  der  Ricardo  sehen  Abstraktion  unmög- 
lich ist.  Von  1833 — 1873  steigt  die  Grundrente  —  auch  die  städti- 
sche — ,  ebenso  und  zwar  stark  der  Gewinn  und  der  Zins  in  seinem 
Gefolge,  ebenso  der  Lohn,  wenn  auch  nur  im  langsameren  Takt- 
maß, obwohl  am  Schluß  der  Periode  sprunghaft  nach  vorwärts 
eilend.  Von  1873— 1895  geht  die  ländliche  Grundrente  zurück,  die 
städtische  hält  sich  besser,  der  Gewinn  und  im  Anschluß  an  ihn 
der  Zins  sinken,  auch  die  Löhne  fallen  zuerst,  um  bald  wieder  zu 
steigen.     Die   letzte    Epoche    1895  — 191 4    bringt    wieder    erheblich 


VII.  Schlußbetrachtung  zu  1890 — 19 14.    Ergänzungen.    Allgemeine  Rückblicke.      62  s 

Steigende  Gewinne,  im  weiteren  Verlauf  entsprechende  Zinsen.  Die 
Löhne  schnellen  geldmäßig  und  real  in  die  Höhe.  Dasselbe  gilt 
von  der  städtischen  Bodenrente,  während  die  ländliche  zuerst  noch 
sinkt,  dann  sich  hält,  am  Schluß  des  Zeitraumes  im  allgemeinen 
hinaufgeht,  was  alles  wiederum  in  Ricardos  Schema  nicht  paßt. 

Sozialgeschichtlich  entscheidend  für  ein  Volk  ist  der  Vergleich 
einer  Epoche  mit  der  vorangehenden.  Die  Größe  des  Volksein- 
kommens, mag  sie  auf  die  Binnenwirtschaft  oder  den  Weltverkehr 
zurückgehen,  ist  entscheidend.  Der  Genuß  im  größeren  Verbrauch, 
die  leichtere  Betätigung  des  wirtschaftlichen  Machtwillens,  die  Mög- 
lichkeit zum  Aufsteigen  in  eine  höhere  soziale  Schicht  geben  die 
subjektive  Befriedigung.  Das  relative  Verhältnis  der  Einkommens- 
quoten zwischen  den  Klassen  oder  zwischen  den  Produktionszwei- 
gen ist  zwar  etwas  nicht  zu  Übersehendes,  aber  ist  doch  zweiten 
Grades.  Wer  dieses  Verteilungsproblem  höher  einschätzt  als  das 
allgemeine,  durch  den  produktiven  Fortschritt  hervorgebrachte 
Wachsen  des  Einkommens,  verfährt  wie  ein  Kaufmann,  der  einen 
unberechtigten  Schnitt  bei  einem  einzelnen  Stück  machen  will  und 
damit  die  Masse  der  Kunden  vertreibt,  die  ihn  durch  die  Abnahme 
vieler  Stücke  hätten  reich  machen  können. 

Das  nationale  Einkommen  Deutschlands,  wie  man  es  sich 
auch  entstanden  denkt,  individualistisch  durch  die  summierte  Tätig- 
keit der  Einzelwirtschaft  oder  soziologisch  durch  das  Zusammen- 
wirken aller  produktiven  Kräfte  der  Volkswirtschaft,  ist  von  1815 
bis  1914  dauernd  gestiegen,  am  schnellsten  seit  1895,  am  langsam- 
sten von  181 5 — 1840,  verhältnismäßig  rascher  von  1840 — 1873  ^Is 
von  dem  Endpunkt  dieser  Periode  an  während  der  beiden  folgen- 
den Jahrzehnte.  Es  hat  das  Arbeitseinkommen  in  der  zweiten 
Hälfte  des  Jahrhunderts  eine  größere  und  wachsende  Quote  von 
dem  Gesamteinkommen  an  sich  gezogen,  als  in  der  ersten.  Wir 
haben  die  Ursachen  dieser  Verteilung  kennen  gelernt. 

Die  Bildung  großer  Vermögen  von  1850 — 1873  ist,  was  aus 
dem  vorher  Gesagten  folgt,  an  erster  Stelle  durch  die  gesteigerte 
nationale  Produktion  ermöglicht  worden,  aber,  da  die  Bezieher  der 
Arbeitseinkommen  mit  ihren  Ansprüchen  noch  zurückhielten,  auch 
deshalb.  In  der  Epoche  nach  1895  konnte  sie  wiederum  ins  Große 
gehen,  weil  trotz  der  Erhöhung  der  Löhne,  Gehälter  und  Aufwen- 
dungen von  Staat  und  Gemeinde  für  die  unteren  sozialen  Klassen 
das  Gesamtergebnis  der  Produktion  dafür  so  viel  übrig  ließ.  Die 
Unternehmer  zogen  als  Erfinder,  Organisatoren,  Benutzer  der  Kon- 
junktur   von    dem    Besitzeinkommen    relativ    am    meisten    an    sich, 

A.  Sartorius  v.  Waltershausen,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  2.  Aufl.        40 


626  VI.  Abschnitt.    Die  Zeit  von  1890 — 1914. 

Grundrente  und  Zins  hoben  sich  ebenfalls,  aber  nicht  in  gleicher 
Weise. 

Wir  möchten  an  den  gegebenen  Rückblick  auf  die  Änderung 
der  Einkommensquoten  einen  zweiten  naheliegenden  anschließen, 
der  die  Verteilung  der  agraren  und  industriellen  Macht  in  der  deut- 
schen Politik  erörtert,  wobei  neben  wirtschaftlichen  Verschiebungen 
andere:   geschichtlich  gegebene  Einflüsse  nicht  zu  übersehen   sind. 

In  der  ersten  Periode  unserer  Darstellung  von  1815 — 1833  ist 
die  Klasse  der  großen  Landbesitzer  in  Preußen,  Sachsen,  Mecklen- 
burg, auch  in  einigen  Kleinstaaten  deshalb  so  einflußreich,  weil 
sie  mit  der  Monarchie  und  der  Beamtenschaft  von  altersher  sozial 
eng  verbunden  ist,  weil  Gutsherren  und  Staat  sich  gegenseitig 
stützen,  wenn  dieser  auch  jene  politisch  ganz  unterworfen  hat.  Die 
Agrarkrise  mit  den  schlechten  Einnahmen,  dem  Besitzwechsel  und 
der  Verarmung  eines  Teiles  des  Adels  hält  die  Machterweiterung 
der  herrschenden  Klasse  zwar  zurück,  aber  bricht  die  Vorherrschaft 
nicht,  da  das  gewerbliche  Bürgertum,  das  erst  mit  der  Julirevo- 
lution von  Frankreich  her  einiges  Selbstbewußtsein  gewonnen  hat, 
zu  schwach  ist,  an  ihre  Stelle  zu  treten  und  auch  von  der  Staats- 
■regierung  nichts  zu  erwarten  hat. 

Dazu  kommt,  daß  durch  die  Agrarreform  und  die  Einführung 
der  verbesserten  Feldsysteme  das  Land  die  sich  hier  mehrende 
Bevölkerung  festhält,  also  den  Städten  die  Schwungkraft  nicht 
verleiht,  die  sie  von  dem  einwandernden  ländlichen  Volksüberschuß 
hätten  zu  ziehen  vermögen.  Das  wird  erst  am  Ende  der  dreißiger 
Jahre  anders,  als  die  landwirtschaftlichen  Betriebe  wenigstens  teil- 
weise mit  Arbeitskraft  gesättigt  sind,  so  daß  die  unzufriedenen 
ländlichen  Proletarier  und  Kleinstellenbesitzer  nicht  mehr  so  in 
Anspruch  genommen  werden.  Sie  wandern  um  so  leichter  in  die 
entstehenden  industriellen  Gebiete  ab,  wenn  sie  nicht  Amerika  als 
Wanderziel  vorziehen,  als  das  Gewerbe  im  Zollverein  erblüht. 

Von  1833 — 1848  lernten  wir  die  gemeinsame  wirtschaftliche 
Entwicklung  von  Industrie  und  Handel  unter  dem  Eisenbahnwesen 
einerseits,  von  Landwirtschaft  andererseits  kennen.  Die  sogenannte 
Junkerklasse  verfügt  nicht  bloß  über  steigende  Renten,  sondern 
ist  auch  sittlich  durch  die  Verallgemeinerung  der  Selbstbewirt- 
schaftung gehoben  worden,  anders  als  in  England,  wo  die  Verpachr 
tung  die  Grundeigentümer  dem  Lande  entfremdet.  Sie  stellt  dau- 
ernd Minister,  hohe  Beamte  und  Offiziere  und  bleibt  mit  dem  Staat 
eng  verbunden,  erweist  sich  auch  politisch  befähigter  als  das  un- 
erfahrene, ökonomisch  erst  heraufkommende  Bürgertum.  Daher 
mißglückt  die  Revolution  von  1848  als  ein  voreiliger  Versuch  un- 
reifer Bestrebungen. 


VII.  Schlußbetrachtung  zu  1890 — 19 14.    Ergänzungen.    Allgemeine  Rückblicke.      627 

In  den  Jahren  1850— 1873  gewinnen  Industrie,  Handel,  Ban- 
ken, Geldkapital  rasch  an  wirtschaftlicher  Kraft,  die  Landwirt- 
schaft kann  diesem  Tempo  nicht  folgen.  Ein  politisches  Ergebnis 
ist  die  Durchsetzung  der  sozialen  Freiheitsrechte,  Gewerbefreiheit, 
Freizügigkeit,  Zinsfreiheit,  Aktienfreiheit,  Freihandel  seitens  des 
gewerblichen  Liberalismus.  Die  Agrarklasse  ist  bei  dem  Frei- 
handel, anders  als  in  England,  nicht  in  der  Opposition,  da  sie 
noch  exportiert,  durch  den  noch  unvollkommenen  Ferntransport 
vom  Ausland  her  auf  den  heimischen  Markt  geschützt  ist  und  durch 
die  steigende  Nachfrage  der  städtischen  Bevölkerung  nach  Le- 
bensmitteln mit  guten  Preisen  verdient.  Der  eigentlich  politische 
Klassenkampf  vollzieht  sich  in  Preußen  während  der  Konfliktszeit 
um  Heeresorganisation  und  Steuerbewilligung.  Von  der  Beamten- 
schaft spaltet  sich  ein  Teil  zugunsten  des  politischen  Liberalismus 
ab.  Landrat  imd  Kreisrichter  stehen  im  Gegensatz.  Bismarck  be- 
greift die  Zeit  und  einigt  die  sich  bilanzierenden  Mächte  unter  Ab- 
ziehung  von  ihren  Sonderinteressen  zur  deutschen  Einheit. 

Die  Periode  von  1 873/1 890  bringt  zuerst  einen  demoralisie- 
renden Niedergang  der  sto  ff  verarbeitenden  und  der  verteilenden 
Gewerbe.  Bald  wird  auch  die  Landwirtschaft  rückgängig,  wenn 
sie  auch  nicht  so  plötzlich  wie  jene  durch  die  Krise  getroffen  wird. 
Beide  Klassen  sind  aufeinander  angewiesen,  und  der  Reichskanzler 
vereinigt  sie  geschickt  zu  einer  nationalen  Wirtschafts-,  Finanz- 
und  Sozialpolitik.  Der  linke  Flügel  des  Liberalismus  verfällt  in 
eine  demokratische  Ablehnung  und  ermöglicht  dem  Sozialismus 
das  rasche  Emporsteigen. 

In  dem  letzten  Abschnitt  unserer  Geschichte  1 890/191 4 
pflückt  die  unter  dem  Schutzzoll  erstarkte  Industrie  ihre  goldenen 
Früchte.  Der  Industriestaat  wird  über  dem  agraren,  der  der  frem- 
den Konkurrenz  nicht  gewachsen  ist,  unter  den  C  a  p  r  i  v  i  sehen 
Handelsverträgen  Herr.  Die  Bürokratie  rückt  stärker  nach  links. 
Die  industrielle  Arbeiterschaft  wird  immer  mächtiger,  und  die 
Monarchie  verliert  unter  Unsicherheit  und  Schwankung  der  Regie- 
rung an  Ansehen.  Wiederum  rafft  sich  die  agrare  Gutsbesitzer- 
klasse im  Bund  der  Landwirte  auf  und  erreicht  unter  der  B  ü  1  o  w  - 
sehen  Handelspolitik  eine  beachtenswerte  Selbständigkeit,  die  sie 
bis  zum  Kriegsausbruch  behauptet,  da  sich  die  Regierung,  von  der 
steigenden  Flut  der  Sozialdemokratie  bedrängt,  ihr  zuneigt. 

Die  demokratische  und  sozialistische  Revolution  gegen  den 
vom  auswärtigen  Feinde  aufs  äußerste  bedrängten  Staat  macht  die 
Teilung  der  großen  Güter  zum  Programm,  um  die  Macht  der 
Agrarier  für  immer  zu  brechen.  Der  mittlere  und  kleine  Grund- 
besitz, der  im  Kriege  viel  verdient  hat,  zum  Teil  schuldenfrei  ge- 

40* 


628  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 19 14. 

worden  ist,  steht  aber  als  antirevolutionäre  Klasse  da,  der  es  zu- 
nächst noch  an  Organisation  und  Bewußtsein  seiner  Kraft  fehlt, 
um  seine  Ansprüche  an  die  Politik  anmelden  zu  können. 

Das  wirtschaftliche  Ganze,  dessen  Entstehen  wir  an  der  Hand 
unserer  kurzen,  oft  nur  skizzenweisen,  aber,  wie  wir  hoffen,  über- 
sichtlichen Aufzeichnung  durch  loo  Jahre  begleitet  haben,  erscheint 
zunächst  als  etwas  aus  sich  selbst  heraus  Geschaffenes.  Eine  Tat- 
sache schloß  sich  an  die  andere  an,  indem  die  Nation  mit  ihrem 
Tätigkeits-,  Forschungs-,  Erfindungs-  und  Machtwillen,  verkörpert 
in  ungezählten,  selbstdisponierenden  Einzelmenschen,  die  ihren  Be- 
dürfnissen, Wünschen,  Interessen,  Hoffnungen,  Spekulationen  bald 
im  langsamen,  bald  eiligen  Zeitmaß  nachgingen,  dahinter  stand. 
Aus  der  primitiven  wird  schrittweise  die  vollkommenere  Technik, 
oder  unerwartete  Entdeckungen  wälzen  die  bisherigen  Einrich- 
tungen der  Gütererzeugung  und  des  Verkehrs  rasch  um.  Die  Pro- 
duktion drängt  unter  der  Anwendung  neuer  Mittel  über  den  orts- 
nahen zum  entfernten  Absatz  hin,  und  dieser  wieder  zum  ver- 
besserten arbeitsteiligen  Betrieb  in  zunehmender  Größe,  der  sich 
spezialisierend  von  anderen  Betrieben  abtrennt.  Die  Industrie  be- 
fruchtet die  Landwirtschaft,  und  diese  verleiht  jener  eine  steigende 
Verkaufsfähigkeit.  Beide  geben  in  ihren  Fortschritten  dem  Handel 
zu  tun,  der  seinerseits  wieder  die  Güterherstellung  anregt.  Überall 
bedarf  man  der  vermehrten  Zahlungs-  und  Ausgleichsmittel,  die 
die  geeignete  Grundlage  zum  Kredit  werden,  womit  sich  von  neuem 
eine  Ausweitung  der  Produktion  verbindet.  Alles  dies  und  noch 
vieles  andere  steht  unter  dem  Zeichen  der  Wechselseitigkeit  und 
trägt  damit  die  Eigenschaft  des  sozialen  Gebildes.  Tausende  von 
starken  Seilen  und  feinen  Fäden  sind  hin-  und  hergezogen  und 
gesponnen  worden,  die,  an  Treu  und  Glauben  und  an  gegenseitigen, 
nahen  und  fernen  Interessen  befestigt,  persönliche,  familienhafte, 
firmenhafte  Beziehungen  pflegen  unter  einem  wohlgeordneten  und 
schnellen  Nachrichtendienst,  pünktlichem  Eintreffen  von  Waren, 
rechtzeitiger  Bereitwilligkeit  zu  Leistungen  und  sachgemäßer  Preis- 
bildung. Die  richtigen  Männer  treten  an  die  Spitze  der  Unterneh- 
mungen, die  Arbeiter  werden  zum  Fleiß  und  Wissen  angelernt  und 
gewöhnen  sich  in  ihre  Stellung  im  Werke  ein,  eine  Hierarchie  von 
technischen  und  kaufmännischen  Angestellten  führt  unter  Anlei- 
tung der  Direktion  die  Aufträge  von  oben  weiter  aus. 

Allein  wir  haben  auch  gesehen,  wie  dies  kunstvolle  und  man- 
nigfaltige Herauswachsen  aus  inneren  Antrieben  sich  keineswegs 
immer  glatt  vollzieht,  sich  nicht  ohne  egoistische  Hemmungen,  ohne 
Widerstände  der  Individuen,  der  Klassen,  der  politischen  Parteien, 
der   Berufsstände,   nicht  ohne   Kampf,   erbitterte   Konkurrenz,    Not 


VII.  Schlußbetrachtung  zu  1890 — 18 14.    Ergänzungen.    Allgemeine  Rückblicke.      tZQ 

und  Elend,  Enttäuschungen,  rücksichtslose  Selektion,  Niedertreten 
der  schwächeren  Elemente,  zum  Fortschritt  durchsetzt.  Die  Auf- 
gaben des  Staates  und  der  politischen  Selbstverwaltung,  der  Ge- 
meinden, Kreise,  Provinzen  häufen  sich,  je  intensiver  die  Volks- 
wirtschaft wird.  Ausschreitungen,  Ausbeutungen,  Reibungen  wer- 
den nach  Kräften  beseitigt,  positive  Einrichtungen  zum  gesell- 
schaftlichen Ausgleich,  zum  produktiven  Fortschritt  der  Zurück- 
gebliebenen, zur  Unterstützung,  zur  Belehrung,  zur  Sicherstellung 
von  Tausenden  geschaffen.  Die  Vernunft  im  Dienste  der  Gesamt- 
heit und  die  Ethik  der  zweckmäßigen  Unterordnung  oder  in  an- 
deren Fällen  der  Gleichberechtigung  suchen  Herr  zu  werden  über 
die  Kurzsichtigkeit  oder  Böswilligkeit  der  Sonderbestrebungen  und 
gesellschaftlicher  Abschließungen . 

So  kommt  es,  daß  trotz  mancherlei  schädlicher  Gegenströ- 
mungen, die  aus  ihrem  Innern  sich  herausbildende,  vielgestaltige, 
organische  Volkswirtschaft  aus  ihrer  großen  Linie  der  Entwick- 
lung nicht  hinausgeworfen  wird.  Die  einmal  eingeschlagene  Rich- 
tung wird  ein  Jahrhundert  lang  beibehalten.  Unvollkommenheiten 
bleiben,  sie  sind  von  allem  Menschlichen  untrennbar.  Außerwirt- 
schaftliche Eingriffe  bringen  Unstimmigkeiten,  wie  bei  der  aus- 
wärtigen oder  der  Nationalitätspolitik  in  Polen  oder  Elsaß-Loth- 
iringen. 

Wir  haben  weiter  gesehen,  wie  Deutschland  anderen  Ländern 
gegenübersteht,  die  seine  äußere  Wirtschaftspolitik  beeinflussen, 
die  es  in  bestimmte  Abhängigkeit  versetzen,  die  von  ihm  Rücksicht 
zu  nehmen  verlangen,  die  aber  auch  bei  der  Verfolgung  mancher) 
seiner  Ziele  ihm  sich  nützlich  erweisen.  Die  Weltwirtschaft  sowohl 
wie  die  auswärtige  Politik  werden  gelegentlich  auch  für  Maßregeln 
und  Ziele  im  Innern  mitbestimmend. 

Wir  suchen  nach  einem  Maßstab,  um  die  Fortschritte  begreif- 
lich werden  zu  lassen.  Die  Statistik  bringt  die  Unterlagen  zu  ihm 
in  der  Zählung  der  Bevölkerung,  des  Außenhandels,  der  Kapital- 
ansammlungen, der  Betriebe,  in  den  Verkehrsziffern,  den  Größen 
der  Bankgelder,  der  Sparkasseneinlagen  u.  a.  m.  Aber  alles  dieses 
gibt  uns  doch  kein  volles  Verstehen  für  die  eigentliche  Produktions- 
und Verkehrsfähigkeit  der  Volkswirtschaft.  Denn  hier  entscheidet 
das  Qualitative,  nicht  das  Quantitative,  das  nur  ein  Resultat  von 
jenem  ist. 

Wenn  wir  unser  heutiges  Wirtschaftsleben  als  ein  kapitalisti- 
sches bezeichnen,  so  ist  das  doch  nur  eine  einseitige  Wendung.  So 
richtig  es  ist,  daß  die  Privatwirtschaft  dem  Gewinnstreben  unter- 
stellt gewesen  ist  und  es  mit  Recht  war,  so  blieb  es  doch  nicht  ihr 
alleiniges  Motiv,  und  in  allen  sozialen  bewußten  und  unbewußten 


630  VI.  Abschnitt.     Die     Zeit  von  i8go — 1914. 

Vereinigungen,  deren  Kenntnis  uns  erst  zum  Verständnis  des  Gan- 
zen bringt,  sind  soziale  Willenskräfte  vorhanden,  die  tief  und  breit 
die  Menschen  durchdringen  und  vorwärts  treiben.  Der  Kapitalis- 
mus kann  daher  nicht  zur  Betrachtung  der  Volkswirtschaft  ein  aus- 
reichender Standpunkt  sein,  und  er  ist  auch  in  diesem  Buche  nicht 
dazu  gewählt  worden.  Das  Kapital  in  seiner  Größe  ist  nur  ein  Er- 
gebnis der  steten  Reproduktivkraft  der  Nation,  und  sein  Anwachsen 
ist  ein  Zeichen  des  erhöhten  produktiven  Wollens. 

„Das  Kapital",  schreibt  J.  S.  Mill,  „wird  von  einem  Zeitalter 
aufs  andere  nicht  durch  Aufbewahrung,  sondern  durch  beständige 
Wiederhervorbringung  erhalten.  Jeder  Teil  desselben  wird  mei- 
stens sehr  bald  nach  seiner  Hervorbringung  gebraucht  und  ver- 
nichtet, aber  diejenigen,  welche  es  verbrauchen,  sind  inzwischen 
beschäftigt,  mehr  als  das  Verbrauchte  wieder  hervorzubringen.  Das 
Anwachsen  des  Kapitals  gleicht  dem  Anwachsen  der  Bevölkerung. 
Jedes  Individuum,  das  geboren  wird,  stirbt,  aber  in  jedem  Jahre 
übersteigt  die  Zahl  der  Geborenen  die  Gestorbenen;  die  Bevölke- 
rung wächst  daher  immer,  obwohl  alle  diejenigen,  welche  sie  bil- 
den, erst  seit  verhältnismäßig  kurzer  Zeit  am  Leben  sind". 

So  ist  es  in  Deutschland  von  181 5  — 191 4  gewesen.  Der  Reich- 
tum, der  am  Ende  dieses  Zeitraumes  vorhanden  war,  war  nicht 
etwa  während  desselben  nach  und  nach  produziert  und  aufgespei- 
chert worden.  Das  meiste  von  ihm  war  erst  vor  kurzem  (entstanden, 
nur  ein  mäßiger  Teil  der  Produktivmittel  war  älter  als  10  Jahre, 
nur  bei  dem  Gebrauchsgut  an  Häusern,  Kunstgegenständen,  Samm- 
lungen dürfen  wir  ein  erheblich  höheres  Alter  ansetzen. 

Der  eigentliche  Volkswohlstand  beruht  daher  in  dem  Wissen, 
Können  und  Wollen  der  Menschen,  das  sich  von  einem  zum  andern 
überträgt  und  von  einer  Generation  zur  anderen  unter  steter  Übung 
erhalten  und  erweitert  wird.  Hierbei  haben  wir  nicht  zu  über- 
sehen, daß  die  produzierenden  Menschen  in  sozialen  Verbänden 
leben.  Die  vorhandenen,  ungezählten  gegenseitigen  Verknüpfungen 
sind  ebenfalls  auf  Erfahrungen  aufgebaut,  ausgeprobt,  angepaßt, 
befestigt.  Die  produktiven  Kräfte  sind  daher  Gliederungen,  Ein- 
richtungen, Beziehungen,  die  der  sachlichen  Grundlage  nicht  ent- 
behren, dieselbe  umschaffen,  neuschaffen,  auch  wiederschaffen, 
wenn  sie  durch  Natur-  oder  Kriegsgewalt  zerstört  sein  sollten. 

Der  Reichtum  der  Gesellschaften,  schreibt  K.  Marx  im  An- 
fang des  ersten  Bandes  des  Kapitals,  erscheint  als  eine  „unge- 
heuere Warensammlung".  Nichts  ist  bezeichnender  als  dieser  Satz 
für  seine  materialistische  Denkweise.  Die  Sache  wird  personifiziert, 
anstatt  daß  die  Person  als  Herrin  über  die  Sache  vorgestellt  wird. 
Was  bedeuten  die  Waren,  wenn  der  Kontakt  unter  den  Menschen 


VII.  Schlußbetrachtung  zu  1890 — 1914.    Ergänzungen.    Allgemeine  Rückblicke.      63 1 

unterbrochen  ist,  sie  zu  vertreiben?  Welche  Mengen  gehen  in 
jeder  großen  volkswirtschaftlichen  Krise,  wie  viel  mehr  in  einem 
langen  Kriege  zugrunde!  Nehmen  wir  an,  alle  Waren  verschwin- 
den, und  sie  verschwinden  tatsächlich  durch  den  Verbrauch,  und 
die  Organistion  der  Volkswirtschaft,  die  ihren  Wohnsitz  in  den 
Köpfen  der  Menschen  hat,  bleibt,  so  sind  die  Waren  bald  wieder 
da.  Laßt  die  Menschen  hingegen  verdummen,  verkommen,  dahin- 
siechen, in  Anarchie  verfallen,  so  gibt  es  auch  keine  Waren  mehr. 

Der  Ausgang  für  seine  nationalökonomische  Forschung  histo- 
rischer Art  war  dem  Verfasser  mit  dieser  nationalen  und  persönlich- 
menschlichen  Auffassung  gegeben. 

Als  der  Weltkrieg  kam,  hielt  die  deutsche  Volkswirtschaft 
den  ungeheueren  Anprall  zunächst  aus.  Sie  wurde  aber  langsam 
innerlich  zerrieben,  da  ihr  die  Reproduktionsmöglichkeit  zerstört 
wurde,  zunächst  soweit  ihr  die  Zufuhr  von  außen  abgeschnitten 
wurde.  Die  allgemeine  Erneuerungskraft  hatte  zwar  schon  während 
des  Krieges  unter  dem  Mangel  an  Übung,  unter  technischen  Um- 
stellungen und  mancherlei  Verschiebung  und  Schiebung  gelitten, 
aber  ihren  eigentlichen  Zusammenbruch  hat  doch  die  Revolution 
verschuldet,  die  dann  der  äußere  Feind  ausnutzte,  um  ihn  zu  vol- 
lenden. Der  unselige  Wirtschaftszustand,  in  den  Deutschland  seit 
19 19  hineingeraten  war,  wurde  dadurch  am  deutlichsten  charak- 
terisiert, daß  die  seit  so  langer  Zeit  gepflegten  und  herangezüch- 
teten zahlreichen  engen  Beziehungen  zerrissen  wurden,  daß  das 
wertvolle  Ineinandergreifen  der  psychischen  Verankerungen  zwi- 
schen Landwirtschaft  und  Industrie,  Arbeitgeber  und  -nehmer,  Stadt 
und  Land,  Handel  und  Produktion  aus  den  Fugen  geriet.  Wenn 
man  sich  vergegenwärtigt,  welche  Mühe,  welche  Nachhaltigkeit, 
welche  Zähigkeit  durch  ein  Jahrhundert  aufgewandt  worden  sind, 
um  den  so  hohen  Stand  der  deutschen  Güterproduktion  zu  ermög- 
lichen, so  wird  man  sich  auch  dem  Optimismus  nicht  hingeben, 
daß  er  in  der  kurzen  Zeitspanne  von  wenigen  Jahren  wieder  er- 
reicht werden  wird.  Und  doch  lehrt  uns  die  Vergangenheit  dies, 
daß  die  seelischen  Verknüpfungen  das  gewaltig  Schöpferische  ge- 
wesen sind,  aus  dem  der  materielle  Reichtum  hervorgesprossen 
ist.  Sie  müssen  und  können  aus  dem  guten  Willen  des  Volkes  her- 
aus neu  belebt  werden,  und  dieser  gute  Wille  wird  am  ehesten  dann 
schwungvoll  und  idealrein  hervorbrechen,  wenn  er  im  Gefühle  der 
nationalen  Freiheit  wurzelt.  Sie  wieder  zu  gewinnen,  ist  die  wich- 
tige Voraussetzung  für  den  volkswirtschaftlichen  Aufbau. 

Als  der  Verfasser  vor  Vollendung  der  ersten  Auflage  dieses 
Buches  um  19 19  einen  Herbstwald  durchwanderte,  sah  er  ein  zwi- 
schen zwei  Bäumen  ausgesponnen  gewesenes,  fein  und  kunstreich 


632  VI.  Abschnitt.     Die  Zeit  von   1890 — 1914. 

gefügtes  Netz  einer  großen  Spinne  von  einem  herabgestürzten 
morschen  Zweig  durchrissen  und  die  in  der  Sonne  glitzernden 
Fäden  im  Winde  hilflos  hin-  und  herflattern.  Aber  schon  war  das 
geschäftige  Tier  aus  tief  innerstem  Trieb  der  Selbsterhaltung  daran, 
neue  Linien  zu  ziehen,  um  seine  Versorgung  —  seine  Wirtschaft 
wieder  beginnen  zu  können.  Es  hatte  keinen  Augenblick  gezögert, 
gezweifelt. 

Auch  der  deutsche  Geist  ist  nicht  unter  dem  Einsturz  seines 
Hauses  begraben  worden.  Er  lebt.  Möchten  wir  auch  aus  unserer 
Wirtschaftsgeschichte  im  Rückblick  auf  das,  was  wir  geleistet 
haben,  lernen,  welche  Kräfte  wir  besitzen,  und  möchten  wir  auch 
das  begreifen,  was  wir  verkehrt  angefangen  haben.  Ziehen  wir  das 
wertvollste  Fazit  des  Gedeihens,  das  auf  die  glückliche  Verbindung 
von  wirtschaftlichem  Vorwärtswollen  und  nationaler  Politik  lautet, 
so  werden  wir  den  kürzesten  Weg  zur  Gesundung  nicht  verfehlen. 
Vertrauen  zu  sich  selbst  läßt  den  Glauben  an  die  Zukunft  nicht 
zuschanden  werden. 

Literatur. 

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Statistisches  Jahrbuch  der  Stadt  Berlin   1890 — 19 14. 

Berliner  Jahrbuch  für  Handel  und  Industrie    1900 — 1913. 

Sondernummer  des  Berliner  Börsencouriers  „Los  von  Berlin"  Febr.    19 19. 
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Schriften  der  Zentralstelle  für  Vorbereitung  der  Handelsverträge  seit   1898. 

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L.  Pohle,  Deutschland  am  Scheidewege,   1902. 
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Volkswirtschaft  Bayerns  und  Staatswirtschaft  während  der  letzten  25  Jahre,   19 12. 

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Druck   Yon  Ant.  Kämpfe,  Jena. 


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